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Tenor
Auf den Antrag des Klägers wird die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Oldenburg - 12. Kammer - vom 5. Dezember 2019 zugelassen, soweit der Kläger begehrt, die Rechtswidrigkeit und Nichtvollziehbarkeit des Genehmigungsbescheids des Beklagten vom 25. Oktober 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. November 2017 aufgrund der Unrechtmäßigkeit der Umweltverträglichkeitsvorprüfung festzustellen. Im Übrigen wird der Antrag auf Zulassung der Berufung abgelehnt
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Gründe
1
I. Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung hat teilweise Erfolg, weil der Kläger bezogen auf die fehlende Rechtmäßigkeit der Vorprüfung (i. S. d. § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b, Satz 2 UmwRG) den Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils des Verwaltungsgerichts nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO noch hinreichend dargelegt hat und dieser auch gegeben ist.
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Ernstliche Zweifel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO sind zu bejahen, wenn auf Grund der Begründung des Zulassungsantrags und der angefochtenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts gewichtige gegen die Richtigkeit der Entscheidung sprechende Gründe zutage treten, aus denen sich ergibt, dass ein Erfolg der erstrebten Berufung mindestens ebenso wahrscheinlich ist wie ein Misserfolg. Das ist der Fall, wenn ein tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird (BVerfG, Beschl. v. 23.6.2000 - 1 BvR 830/00 -, DVBl. 2000, 1458). Die Richtigkeitszweifel müssen sich allerdings auch auf das Ergebnis der Entscheidung beziehen; es muss also mit hinreichender Wahrscheinlichkeit anzunehmen sein, dass die Berufung zu einer Änderung der angefochtenen Entscheidung führen wird.
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Um ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils darzulegen, muss sich der Zulassungsantragsteller substanziell mit der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzen. Welche Anforderungen an Umfang und Dichte seiner Darlegung zu stellen sind, hängt deshalb auch von der Intensität ab, mit der die Entscheidung des Verwaltungsgerichts begründet worden ist. Je intensiver diese Entscheidung begründet ist, umso eingehender muss der Zulassungsantragsteller die sie tragende Argumentation entkräften (vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 23.2.2016 - 12 LA 126/15 - und Beschl. v. 18.6.2014 - 7 LA 168/12 -, NdsRpfl 2014, 260 ff.).
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Indem der Kläger unter I. und dem „Vorspann“ seiner Zulassungsbegründung auf die - nach dem angegriffenen Urteil ergangene - Entscheidung des Senats vom 26. Februar 2020 - 12 LB 157/18 - verweist und eine erhebliche Beeinträchtigung des Schutzgutes „Mensch“ damit begründet, dass auch im vorliegenden Fall die für den Regelfall geltenden Schallimmissionswerte an einem Immissionspunkt (hier IP 9) überschritten würden, hält er dem erstinstanzlichen Urteil gerade noch hinreichend Argumente entgegen, die sich im Berufungszulassungsverfahren nicht ausräumen lassen. Denn in der genannten Entscheidung hat der Senat ausgeführt, dass „erhebliche nachteilige Umweltauswirkungen" i. S. d. § 3c Satz 1 UVPG a. F. anzunehmen sind, wenn für die Zulassung eines Vorhabens die Anwendung von Nr. 3.2.1 Abs. 3 TA Lärm erforderlich ist. Trotz der Inanspruchnahme dieser Regelung wurde jedoch vorliegend in der Vorprüfung vom 17. April 2016 in der Fassung vom 9. November 2017 angenommen, das genehmigte Vorhaben habe keine solchen erheblichen Umweltauswirkungen. Das Ergebnis der Vorprüfung ist damit jedenfalls insoweit nicht „nachvollziehbar“ i. S. d. § 3a Satz 4 UVPG a. F. (= § 5 Abs. 3 Satz 2 UVPG); einer Rechtsverletzung des Klägers bedarf es insoweit nicht. Mit der Überschreitung des Regelwertes hat sich das Verwaltungsgericht im Urteil nicht näher auseinandergesetzt.
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Vor diesem Hintergrund kann offenbleiben, ob der Nachvollziehbarkeit der Vorprüfung zusätzlich entgegensteht, dass darin die Auswirkungen der Querung und Umlegung von Gräben, die beim Beklagten mit einem wasserrechtlichen Genehmigungsantrag gesondert beantragt wurden (vgl. Umweltbericht zum Vorhabenbezogenen Bebauungsplan Nr. 76, 4.10), offenbar nicht berücksichtigt wurden, und ob dieser Gesichtspunkt seitens des Klägers mit Blick auf § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO hinreichend dargelegt worden ist. Vergleichbares gilt für die Frage der hinreichenden Berücksichtigung der Überplanung einer Kompensationsfläche. Die weiteren beiden vom Kläger unter I. 4. und 5. ebenfalls unter dem Aspekt der Vorprüfung thematisierten Gesichtspunkte dürften für sich genommen die Zulassung hingegen wohl nicht rechtfertigten. Dies ist es jedoch letztlich angesichts der (beschränkten) Zulassung ebenso wenig relevant wie die diesbezüglich, d. h. bezogen auf Mängel der Vorprüfung, mangelhafte Darlegung des Zulassungsgrundes der Divergenz.
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Eine nach § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b, Satz 2 UmwRG unzureichende Vorprüfung kann in einem ergänzenden Verfahren behoben werden und führt daher nach § 4 Abs. 1b) Satz 1 UmwRG nicht zur Aufhebung der Genehmigung, so dass insoweit nur ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils gegeben sind, als dieses auch die Rechtmäßigkeit der Vorprüfung und die Vollziehbarkeit der Genehmigung bestätigt hat.
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II. Der weitergehende, sich auf eine Verletzung in subjektiven Rechten beziehende Zulassungsantrag des Klägers hat hingegen keinen Erfolg.
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Der Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 1 Nr. 1 VwGO), auf den er sich insoweit unter II. seines Zulassungsantrags allein beruft, ist bereits nicht hinreichend dargelegt.
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Das Verwaltungsgericht hat zu dem (materiell-rechtlichen) Aspekt des Lärms ausgeführt:
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„Der Kläger ist nicht unzumutbar von Lärmimmissionen betroffen.
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Soweit er die Grundlagen und Ergebnisse des Schallgutachtens des Ingenieurbüros für Energietechnik und Lärmschutz - IEL - vom 20. November 2015 angreift, folgt ihm das Gericht nicht.
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Zunächst ist festzustellen, dass das Gutachten sich - obwohl es bereits im Bebauungsplanverfahren erstellt wurde - konkret zu dem geplanten Vorhaben verhält, d.h. zu den konkret geplanten WEAen 1 bis 3 (vgl. Kartenmaterial und Koordinaten-Bezugssystem Kap. 2 und 3 des Gutachtens) und bzgl. der Vorbelastung zu den konkret bestehenden 5 Bestandsanlagen (Kap. 7.1) und den bestehenden Gewerbeflächen (Kap. 7.2). Anhaltspunkte dafür, dass die Untersuchungen nicht die konkreten Standorte der Anlagen berücksichtigt hätten - wie der Kläger meint - liegen nicht vor. In dem Gutachten ist hierzu vermerkt, dass auf digitale Daten bzgl. der Standorte und Luftbilder zurückgegriffen worden sei (Kap. 7.1). Dies ist auch der insoweit bestätigenden Aussage des IEL im Schreiben vom 12. Dezember 2019 zu entnehmen.
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Weiterhin wurde die tatsächliche Vorbelastung der Bestandsanlagen und der Gewerbeflächen berücksichtigt und in die Berechnungen miteinbezogen (Kap. 7). Dass das IEL dabei keine neuen eigenen Messungen vorgenommen, sondern bzgl. der Bestandsanlagen auf die Schallimmissionsermittlung des Deutschen Windenergieinstituts vom 29. Mai 2001 zurückgegriffen und bzgl. der Gewerbefläche unter Berücksichtigung der „Erläuterungen zur Festsetzung von flächenbezogenen Schallleistungspegeln im B-Plan“ des ehemaligen Nds. Landesamtes für Ökologie einen flächenbezogenen Schallleistungspegel zugrunde gelegt hat, ist - entgegen der Auffassung des Klägers - nicht erkennbar (rechts)fehlerhaft. Denn gem. Ziffer A.2.3.2 des Anhangs - Ermittlung der Geräuschimmissionen - der hier anzuwendenden Sechsten Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum BImSchG - Technische Anleitung zum Schutz gegen Lärm - TA-Lärm - können als Eingangsdaten für die Berechnung Messwerte, aber auch Erfahrungswerte oder Herstellerangaben verwendet werden, soweit sie den Anforderungen nach Ziffer A.2.2 Abs. 3 entsprechen. In Ziffer A.2.2 Abs. 3 ist vorgegeben, dass Schallleistungspegel möglichst nach einem Messverfahren der Genauigkeitsklasse 1 oder 2 bestimmt worden sein sollten, wie sie in den DIN-Normen für Maschinen und Industrieanlagen beschrieben sind. Dass hier diesen Vorgaben zuwiderlaufende Werte mit dem Ergebnis einer geringeren Schallbelastung für die Umwelt und damit auch zu Lasten des Klägers zugrunde gelegt wurden, ist weder vom Kläger über seine pauschale Behauptung hinaus im Einzelnen dargetan worden, noch sonst ersichtlich. Vielmehr wurden entsprechend der maßgeblichen Vorgaben Messungen eines Fachinstituts bzgl. der Bestandsanlagen und Angaben eines Fachamtes zu Beurteilung von Gewerbeflächen verwendet. Zudem wurden vom IEL jeweils noch Sicherheitszuschläge von 2 dB (A) veranschlagt“
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Der Kläger hält der ausführlichen Begründung des Verwaltungsgerichts pauschal entgegen, es sei fehlerhaft, für die fünf bereits bestehenden Windenergieanlagen nicht ihrem Schallpegel, sondern die Schallimmissionsermittlung des Deutschen Windenergieinstituts zugrunde zu legen. Er setzt sich indessen nicht mit dem Argument des Verwaltungsgerichts auseinander, dieses Vorgehen sei gemäß A.2.3.2 des Anhangs zur TA Lärm zulässig. Soweit er behauptet, „Herstellerangaben“ würden „selbst zu erkennen geben, dass die Angaben unter anderen rechtlichen Vorgaben stattfanden, weil die Erkenntnisse damals weniger weit fortgeschritten waren, so dass … eine systematische Unterschätzung“ vorliege, fehlt jede Konkretisierung dieses Vorbringens. Worum es sich bei den „Herstellerangaben“, aus denen der Kläger das Genannte schließen will, handeln soll, wird ebenso wenig konkretisiert wie die These näher erläutert, der Erkenntnisfortschritt habe belegt, dass die Anlagen tonhaltig seien und bei einer 95%igen Nennleistung ein höherer Wert ermittelt werde als bei den der damaligen Berechnung zugrunde gelegten 8 m/s. Belege für diese schwerverständlichen Ausführungen fehlen gänzlich. Allein der pauschale Verweis auf den nicht näher konkretisierten Erkenntnisgewinn, der sich in „entsprechenden Vorgaben der LAI“, „den DIN-Vorgaben“ und „den Herstellerangaben“ manifestiert habe, reicht ersichtlich nicht aus, um darzulegen, dass auf die Schallimmissionsermittlung des Deutschen Windenergieinstituts vom 29. Mai 2001 nicht mehr zurückgegriffen werden dürfe. In welcher Hinsicht sich die Erkenntnisse weiterentwickelt haben und welche konkreten Folgerungen dafür hinsichtlich der vorliegenden Gutachten zu ziehen sind, legt der Kläger nicht dar.
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Sein Einwand, es sei gegen die TA Lärm verstoßen worden, weil entgegen ihrer Vorgabe bei den fünf Bestandsanlagen keine Messungen, Herstellerangaben oder Erfahrungswerte berücksichtigt worden seien, erschließt sich angesichts der Argumentation des Verwaltungsgerichts nicht. Denn dieses hat - wie oben zitiert - ausdrücklich darauf abgestellt, dass entsprechend der maßgeblichen Vorgaben der TA Lärm Messungen eines Fachinstituts bzgl. der Bestandsanlagen verwendet wurden.
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Soweit der Kläger unter II. 2. seiner Zulassungsbegründung den Aspekt des Körperschalls thematisiert und damit wohl ebenfalls den Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils begründen will, fehlt es erneut bereits an der hinreichenden Darlegung.
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Das Verwaltungsgericht hat insoweit ausgeführt:
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„Weiterhin wurde in dem genannten Schallgutachten das Thema Ton-, Impuls- und Informationshaltigkeit der Anlagen abgearbeitet (Kap. 6.2). Dazu ist nachvollziehbar ausgeführt, dass gemäß den schalltechnischen Vermessungen des Anlagentyps Senvion 3.4M114 keine immissionsrelevanten ton- und impulshaltigen Geräusche auftreten würden. Auch eine Informationshaltigkeit sei nicht gegeben. Eine fehlerhafte Lärmermittlung unter diesem Gesichtspunkt ist daher nicht anzunehmen. Das Thema tieffrequenter Schall/Infraschall ist in Kap. 6.3 des Gutachtens erörtert. Dort ist unter Bezugnahme auf eine Reihe von wissenschaftlichen Untersuchungen und Ausarbeitungen insbesondere dargelegt, dass durch diese Art von Schall keine Gesundheitsgefahren ausgehen, weil er in den für den Schutz vor Lärm im hörbaren Bereich notwendigen Abständen unterhalb der Wahrnehmungsschwelle liege (vgl. hierzu auch Nds. OVG, Beschluss vom 19. Dezember 2016 - 12 ME 85/16 - Rn 22; VGH Bad-Württ., Beschluss vom 6. Juli 2016 - 3 S 942/16 -, Rn 22f, beide juris). Eine fehlhafte Bewertung ist diesbezüglich daher nicht festzustellen.
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Ergänzend nimmt das Gericht insoweit Bezug auf die Ausführungen im Beschluss vom 19. Oktober 2017 - 4 B 4438/17 -, mit dem dem Antrag des Klägers auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes teilweise stattgegeben wurde.“
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Mit diesen Erwägungen setzt sich der Kläger nicht hinreichend auseinander. Soweit er geltend macht, Schallwellen aus dem tieffrequenten Bereich seien messbar, sie seien auch in der TA Lärm geregelt, ist den Ausführungen des Verwaltungsgerichts Gegenteiliges nicht zu entnehmen. Auf das maßgebliche Argument, dass Windenergieanlagen zwar tieffrequente Geräusche verursachen können, diese in den für den Schutz vor Lärm im hörbaren Bereich notwendigen Abständen jedoch unterhalb der Wahrnehmungsschwelle liegen, geht der Kläger nicht ein.
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Was er konkret meint, wenn er pauschal ausführt, der „Schallleistungspegel von Windenergieanlagen“ sei „gesundheitsschädlich“, und welche Relevanz dies für den hier vorliegenden Sachverhalt angesichts der gegebenen Abstände etc. hat, erschließt sich nicht. Der bloße Verweis auf eine nicht vorgelegte, englischsprachige Studie, die sich offenbar mit den Auswirkungen von windenergieanlagenbedingten Immissionen auf den Schlaf befasst, ersetzt die Auseinandersetzung mit den konkreten Ausführungen des Verwaltungsgerichts nicht.
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Auch die Ausführungen des Klägers unter II. 3., die sich mit dem Wasserhaushalt befassen, stellen keine Auseinandersetzung mit der Argumentation des Verwaltungsgerichts dar. In dem Urteil heißt es insoweit:
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„Seiner Behauptung, durch die Errichtung der Durchlassbauwerke werde tief in den Boden eingegriffen, bei der Herstellung der Zuwegungen würden große Stoffmengen in den Boden eingebracht und zudem Materialien, die insgesamt zu Barrieren im Boden führten, sowie seinem Einwand, die Einbringung von Fundamenten für die Anlagen und die Errichtung von Zuwegungen führe - insbesondere durch den Einsatz von Maschinen - zu einer Bodenverdichtung in Gestalt von Bodenbarrieren, die zu erheblichen Veränderungen der Wasserführung bzw. Fließrichtung des Wassers im Boden und letztendlich zu Überschwemmungen auf seinem Grundstück führten, stehen einerseits die Entfernung seines Grundstücks zu den Baumaßnahmen, vor allem aber die gutachterlichen Erkenntnisse aus dem Bebauungsplan- und dem Zulassungsverfahren entgegen.
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In dem Geotechnischen Bericht des Ingenieurgeologen Dr. I. vom 24. November 2015 ist ausgeführt, die oberen Schichten der Flächen, auf denen die streitbefangenen Anlagen geplant seien, bestünden aus Torf und Kleiboden (bis ca. 10m Tiefe). Darunter befinde sich Sand (bis ca. 23 m Tiefe erkundet). Bei den Bohrarbeiten sei im Sommer 2015 Grundwasser in einer Tiefe ab 0,7 m bis 1,5 m angetroffen worden je nach lokaler Wasserwegsamkeit. Je nach Niederschlagsmenge könne der Grundwasserspiegel bis zur Geländeoberkante ansteigen. Im Bereich der Sandschicht handele es sich um einen größeren, zusammenhängenden Grundwasserkörper. Alle Bodenschichten seien stark wassergesättigt. Die oberen Bodenschichten seien als Baugrund nicht geeignet, die Sandschicht dagegen sei gut geeignet. Es sei daher für die Windenergieanlagen nach einem Abschieben der Torfschicht eine Pfahlgründung erforderlich. Für die Erstellung der Zuwegungen und für die Kranstellplätze werde zur Kompensierung des wenig tragfähigen Bodens der Einbau von speziellen Materialien (Geotextilien und Geogitter, spezieller Schotter etc.) bzw. der Einsatz von Spezialtiefbauverfahren oder ebenfalls Pfahlgründung empfohlen. Auch für die Durchlassbauwerke seien Gründungen erforderlich (z.B. aufgeständerte Gründungspolster, flächige Lastenverteilungsflächen mit vertikalen Tragelementen). Schließlich enthält der Abschnitt - VII. Hinweise zur Bauausführung - etliche Empfehlungen zur Sicherung der Bauarbeiten und für eine sichere und erfolgreiche Gründung und Errichtung der geplanten Bauwerke (Windenergieanlagen, Zuwegungen, Durchlässe).
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Die Erkenntnisse des Gutachtens finden sich ebenso in der gutachterlichen Ausarbeitung „Windpark J. K. - Planungs- und Projektierungsphase - Bodenkundliche Baubegleitung - Aufgabenheft“ des Ingenieurbüros L. und Partner vom 6. Februar 2017 wieder. Dort ist auch die Problematik der möglichen Verdichtung des Bodens erfasst und dargestellt (Ziffer 5.1.7). In dieser Ausarbeitung finden sich umfängliche Vorgaben zur Vermeidung und Verminderung von Bodenbeschädigungen insbesondere durch den Einsatz besonderer Maschinen mit besonderen Laufwerken (lastenverteilend) und der Beschränkung ihres Einsatzes auf vorbereiteten Wegetrassen. Unter Ziffer 5.2 ist ein umfangreiches Konzept von Bodenschutzmaßnahmen erarbeitet, welches insbesondere die Sichtung und Erfassung bodenschutzrelevanter Daten, die Festlegung von notwendigen Schutzmaßnahmen, die Überwachung und Kontrolle der Maßnahmen, die Begleitung der Rekultivierung und Maßnahmen der Schadensbehebung sowie die Schlussabnahme der wiederhergestellten Flächen umfasst.
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Weder dem Gutachten vom 24. November 2015 noch der Ausarbeitung vom 6. Februar 2017 sind Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, dass großflächig irreparable Schäden für den Boden und den Wasserhaushalt der Planungsfläche, wie sie der Kläger vorträgt, hinzunehmen oder zu befürchten seien. Gegen die Annahme des Klägers, es werde zu bleibenden Verdichtungen und das Grundwasser betreffende Barrieren im Boden kommen, spricht auch der Umstand, dass es sich bei den für das Vorhaben erforderlichen Eingriffen jeweils um sehr kleinflächige (Pfahlgründungen) oder nicht sehr tiefgründige (Zuwegungen, Durchlässe) handelt, die nicht erkennbar maßgeblichen Einfluss auf den großen, zusammenhängenden Grundwasserkörper, wie er ermittelt wurde, haben. Zudem haben sich im Laufe des Verfahrens Umstände ergeben, die eine Errichtung der Anlagen ohne Bodenaushub und Wasserhaltungsmaßnahmen möglich machen. Der Beigeladene zu 1) hat hierzu mit E-Mail vom 18. August 2016 mitgeteilt, die Überarbeitung des Fundamentdesigns habe dies ergeben. Es könne auf Wasserhaltungs- und ggfls. Behandlungsmaßnahmen sowie die Entsorgung potentiell sulfatsaurer Böden verzichtet werden. Die Annahme des Klägers hat sich zudem auch nicht nachweislich bestätigt. Insbesondere ist es im Planungsgebiet und auch auf dem Grundstück des Klägers nicht erkennbar nachweislich in diesem Zusammenhang zu Überschwemmungen gekommen.“
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Die Behauptung des Klägers, vorliegend sei nur der reine Abstand von 600 m als Begründung dafür angegeben worden, dass eine Überschwemmung seines Grundstücks nicht eintreten könne, trifft - wie sich dem entnehmen lässt - ersichtlich nicht zu. Allein sein nicht näher konkretisierter Verweis auf erstinstanzlich vorgelegte Zeugenaussagen, eine „Fotodokumentation“ sowie die Angaben zu den geänderten Umständen sind ungeeignet, die ausführlichen und auf gutachterlichen Stellungnahmen beruhenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts in Zweifel zu ziehen, zumal er sich insoweit auf eine Kombinationswirkung mit der wasserrechtlichen Genehmigung beruft, die aber nicht Gegenstand dieses Verfahrens ist. Gleiches gilt für die Aussage „Wasser fließt nach unten und nicht nach oben“. Es ist weder dargelegt noch ersichtlich, dass das Verwaltungsgericht oder die zugrundeliegenden Gutachten von etwas Anderem ausgegangen wäre(n).
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Der letzte Absatz unter II. 3. ist unverständlich. Dem Wortlaut folgend („so, dass eine Gehörsrüge nicht in Betracht kommt“) geht der Senat davon aus, dass damit nicht der Zulassungsanspruch des Verfahrensfehlers geltend gemacht werden soll. Falls dies anders sein sollte, fehlen insoweit jedenfalls die erforderlichen Ausführungen. Unter dem Gesichtspunkt des Zulassungsgrundes der „ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit“ enthält der Absatz keine neuen Aspekte.
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III. Im Ergebnis wird die Berufung entgegen des Zulassungsvorbringens nur hinsichtlich des aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Klagebegehrens zugelassen. Im Übrigen, d. h. soweit in dem im Tenor näher bezeichneten Urteil des Verwaltungsgerichts ein Anspruch auf Aufhebung der Genehmigung oder ihre Erklärung für rechtswidrig und nicht vollziehbar im Übrigen abgelehnt worden ist, ist dieses Urteil nämlich teilbar (vgl. Senatsbeschl. v. 11.5.2020 - 12 LA 150/19 -, juris, Rn. 17; Külpmann, NVwZ 2020, 1142, 1145 f.; BVerwG, Urt. v. 4.6.2020 - 7 A 1/18 -, Rn. 32), sind aus den unter zuvor unter II. genannten Gründen keine Zulassungsgründe gegeben und ist das Urteil mit der Ablehnung des Zulassungsantrags insoweit durch diesen Beschluss mithin teilrechtskräftig.
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Soweit die Berufung zugelassen worden ist, wird das Zulassungsverfahren als Berufungsverfahren unter dem neuen Aktenzeichen
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fortgeführt; der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht (§ 124a Abs. 5 Satz 5 VwGO). Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Beschlusses über die Zulassung der Berufung zu begründen. Die Begründung ist schriftlich bei dem Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht, Uelzener Straße 40, 21335 Lüneburg, oder Postfach 2371, 21313 Lüneburg, oder in elektronischer Form nach Maßgabe des § 55a der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (ERVV) einzureichen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden verlängert werden. Die Begründung muss einen bestimmten Antrag enthalten sowie die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe). Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Berufung unzulässig (§ 124a Abs. 3 Sätze 3 bis 5 und Abs. 6 VwGO).
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
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Tenor
Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 29. April 2020 - 14 K 1274/19 - wird abgelehnt.Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 987,68 EUR festgesetzt.
Gründe
1 Der Antrag ist unbegründet. Entgegen der Ansicht des Klägers bestehen an der Richtigkeit des Urteils des Verwaltungsgerichts Stuttgart keine ernstlichen Zweifel (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).2 1. Der Kläger begehrt die rückwirkende Befreiung von der Rundfunkbeitragspflicht für seine Zweitwohnung und die Rückerstattung der bereits geleisteten Beiträge.3 Im Hinblick auf eine Mitteilung des Einwohnermeldeamts schrieb der Beklagte den Kläger an und setzte ihn davon in Kenntnis, dass er für seine Zweitwohnung in Neuwied beitragspflichtig sei. Hierauf teilte der Kläger mit Schreiben vom 14.11.2013 mit, im Hinblick auf die mögliche Verfassungswidrigkeit des neuen Rundfunkbeitrags „möchte“ er einer Zahlungsaufforderung nur unter Vorbehalt und erst nach einer schriftlichen Bestätigung, dass gegebenenfalls eine Rückerstattung erfolge, nachkommen. Unter dem 16.12.2013 informierte der Beklagte den Kläger daraufhin darüber, dass eine Vorbehaltszahlung bei öffentlichen Abgaben, wozu auch der Rundfunkbeitrag zähle, nicht möglich sei, es bestehe vielmehr eine unbedingte gesetzliche Pflicht zur Zahlung der geschuldeten Rundfunkbeiträge. Soweit die Rechtsgrundlage für die Rundfunkbeitragspflicht des Klägers durch eine rechtskräftige höchstrichterliche Entscheidung entfalle, würden die geleisteten Rundfunkbeiträge auf Antrag im Rahmen der dreijährigen Verjährung erstattet. Der Kläger beglich ab November 2013 die Beiträge für die Zweitwohnung durch Überweisung, wobei er jeweils im Betreff vermerkte: „Zurückerstatten bei Entfall der Rechtsgrundlage“.4 Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 18.07.2018 (- 1 BvR 1675/16, u.a. - juris), mit dem die Unvereinbarkeit der Beitragspflicht für Zweitwohnungen mit Art. 3 Abs. 1 GG festgestellt wurde, beantragte der Kläger die Befreiung von der Beitragspflicht für die Zweitwohnung rückwirkend ab November 2013 und forderte die Rückerstattung der gezahlten Beiträge nebst Zinsen.5 Mit Bescheid vom 07.01.2019 befreite der Beklagte den Kläger ab dem 01.07.2018 von der Beitragspflicht für die Zweitwohnung und erstattete ein entsprechendes Guthaben in Höhe von 70,-- EUR, eine rückwirkende Befreiung erfolgte nicht.6 Die daraufhin vom Kläger - nach Durchführung des Vorverfahrens - erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht Stuttgart mit Urteil vom 29.04.2020 abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Das Bundesverfassungsgericht habe in seinem Urteil vom 18.07.2018 (aaO) festgestellt, dass die Rundfunkbeitragspflicht für Zweitwohnungen verfassungswidrig sei. Nach dieser Entscheidung sei das bisherige Recht bis zu einer Neuregelung mit der Maßgabe weiter anwendbar, dass ab dem Tag der Verkündung dieses Urteils bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung diejenigen Personen, die nachweislich als Inhaber einer Wohnung ihrer Rundfunkbeitragspflicht nach § 2 Abs. 1 und Abs. 3 RBStV nachkämen, auf Antrag von einer Beitragspflicht für weitere Wohnungen zu befreien seien. Sei über Rechtsbehelfe noch nicht abschließend entschieden, könne ein solcher Antrag rückwirkend für den Zeitraum gestellt werden, der Gegenstand des jeweils angegriffenen Festsetzungsbescheids sei.7 Ein Anspruch auf rückwirkende Befreiung ab dem 01.11.2013 ergebe sich für den Kläger danach nicht. Das Bundesverfassungsgericht habe die rundfunkrechtlichen Regelungen zur Beitragspflicht für Zweitwohnungen lediglich für mit der Verfassung unvereinbar erklärt und zur Begründung ausgeführt, dass bei einer rückwirkenden Nichtigkeit der Normen die nach Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG verfassungsrechtlich geforderte Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks gefährdet wäre, wenn die als verfassungswidrig anzusehende Regelung nicht mehr angewendet werden dürfte und Beitragsschuldnern die Möglichkeit der Rückforderung bereits geleisteter Beiträge eröffnet wäre. Um die finanziellen Einbußen möglichst gering zu halten, solle grundsätzlich keine rückwirkende Befreiung möglich sein. Lediglich in solchen Fällen, in denen noch nicht bestandskräftige Festsetzungsbescheide bereits vor dem 18.07.2018 vom Beitragsschuldner angefochten worden seien und eine abschließende Entscheidung noch nicht vorliege, könne auf Antrag auch rückwirkend für den Zeitraum der noch nicht bestandskräftigen Festsetzungsbescheide von der Beitragspflicht befreit werden. Diese Ausnahmekonstellation liege hier nicht vor, da gegenüber dem Kläger keine Festsetzungsbescheide ergangen seien. Die Mitteilungen des Beklagten zur Beitragspflicht wiesen lediglich auf eine gesetzlich bestehende Zahlungspflicht hin, begründeten diese aber nicht selbst. Hätte das Bundesverfassungsgericht eine rückwirkende Befreiung für alle Fälle vorsehen wollen, in denen es an einer bestandskräftigen Festsetzung der Beitragspflicht fehle, würde entgegen der erklärten Absicht die ganz überwiegende Zahl der Fälle erfasst, da regelmäßig keine Festsetzungsbescheide erlassen würden, sondern nach § 10 Abs. 5 Satz 1 RBStV nur dann, wenn rückständige Rundfunkbeiträge beigetrieben werden sollten.8 Ein Anspruch des Klägers auf rückwirkende Befreiung ergebe sich auch nicht daraus, dass er seine Beiträge jeweils mit dem Vermerk „Zurückerstatten bei Entfall der Rechtsgrundlage“ gezahlt habe. Das Bundesverfassungsgericht habe den rückwirkenden Befreiungsanspruch nur den beitragspflichtigen Zweitwohnungsinhabern zugesprochen, die sich mit einer Nichtzahlung dem Erlass eines Festsetzungsbescheids und einem anschließenden Rechtsbehelfsverfahren sowie dem Risiko des erfolglosen bestandskräftigen Abschlusses vor einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ausgesetzt hätten. Die Zweitwohnungsinhaber, die demgegenüber mit einer rechtzeitigen Zahlung - wenn auch unter Vorbehalt - weder das Kostenrisiko der mit Festsetzungsbescheiden regelmäßig verbundenen Säumniszuschläge noch das der anschließenden Rechtsbehelfsverfahren auf sich genommen hätten, seien davon nicht erfasst.9 Ein Befreiungsanspruch folge auch nicht daraus, dass dem Kläger durch Schreiben vom 16.12.2013 auf seine verfassungsrechtlichen Einwendungen hin in Aussicht gestellt worden sei, die Zahlungen im Falle der Rechtsgrundlosigkeit später zurückfordern zu können. Hier sei nur der Gesetzeswortlaut des § 10 Abs. 3 RBStV wiedergegeben worden, eine rückwirkende Befreiung sei jedoch nicht zugesichert worden. Die Zahlungen erfolgten auf Grundlage des § 2 Abs. 1 RBStV und damit im hier maßgeblichen Zeitraum nicht rechtsgrundlos. Aus den dargestellten Gründen habe der Kläger auch keinen Anspruch auf Rückzahlung der geleisteten Beiträge in Höhe von 987,68 EUR nebst Zinsen.10 2. Gegen diese Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts wendet sich der Kläger ohne Erfolg. Zu Recht hat das Verwaltungsgericht angenommen, dass dem Kläger - über die gewährte Befreiung ab 01.07.2018 hinaus - kein Anspruch auf Befreiung von der Beitragspflicht für seine Zweitwohnung ab November 2013 zusteht und er deshalb auch keinen Anspruch auf Erstattung der gezahlten Rundfunkbeiträge für seine Zweitwohnung ab dem 01.11.2013 hat.11 a) Die Frage, ob der Kläger Anspruch auf rückwirkende Befreiung und entsprechende Erstattung seiner Rundfunkbeiträge hat, dürfte sich auf Grundlage der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in seinem Urteil vom 18.07.2018 (- 1 BvR 1675/16, u.a. - juris) nicht beantworten lassen. Das Bundesverfassungsgericht hat - soweit hier einschlägig - entschieden, dass die Zustimmungsgesetze und Zustimmungsbeschlüsse der Länder zu Art. 1 des 15. Staatsvertrags zur Änderung rundfunkrechtlicher Staatsverträge vom 15. Dezember 2010, soweit sie § 2 Abs. 1 des Rundfunkbeitragsstaatsvertrags in Landesrecht überführen, mit Art. 3 Abs. 1 GG insoweit unvereinbar sind, als Inhaber mehrerer Wohnungen über den Beitrag für eine Wohnung hinaus zur Leistung von Rundfunkbeiträgen herangezogen werden. Das Bundesverfassungsgericht hat die verfassungswidrige Regelung in § 2 Abs. 1 RBStV lediglich für mit der Verfassung unvereinbar erklärt und dies damit begründet, dass bei einer rückwirkenden Nichtigkeit die nach Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG verfassungsrechtlich geforderte Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks gefährdet wäre, wenn die als verfassungswidrig anzusehende Regelung nicht mehr angewendet werden dürfte und Beitragsschuldnern die Möglichkeit der Rückforderung bereits geleisteter Beiträge eröffnet wäre (Urteil vom 18.07.2018, aaO juris Rn. 152 und 153). Danach sind ab dem Tag der Verkündung des Urteils bis zu einer gesetzlichen Neuregelung diejenigen Personen, die nachweislich als Inhaber ihrer Erstwohnung ihrer Rundfunkbeitragspflicht nachkommen, auf ihren Antrag hin von einer Beitragspflicht für weitere Wohnungen zu befreien. Wer bereits Rechtsbehelfe anhängig gemacht hat, über die noch nicht abschließend entschieden ist, kann einen solchen Antrag rückwirkend für den Zeitraum stellen, der Gegenstand eines noch nicht bestandskräftigen Festsetzungsbescheids ist. Bereits bestandskräftige Festsetzungsbescheide vor der Verkündung dieses Urteils bleiben hingegen unberührt (Urteil vom 18.07.2018, aaO juris Rn. 155).12 Auf Grundlage des dargestellten Ausspruchs des Bundesverfassungsgerichts haben diejenigen Personen, die hinsichtlich der Beitragspflicht für ihre Zweitwohnung einen Rechtsbehelf anhängig gemacht hatten, über den noch nicht abschließend entschieden worden war, Anspruch auf rückwirkende Befreiung und Erstattung der gezahlten Beiträge. Die Beitragsschuldner, die keine Rechtsbehelfe anhängig gemacht hatten, sondern ihrer gesetzlichen Pflicht zur Entrichtung des Rundfunkbeitrags, die mit dem Ersten des Monats beginnt, in dem der Beitragsschuldner erstmals die Wohnung innehat (§ 7 Abs. 1 Satz 1 RBStV), selbständig nachgekommen sind und den Beitrag bis zum Ergehen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts geleistet haben, haben demgegenüber keinen Anspruch auf Rückforderung bereits geleisteter Beiträge.13 Für die hier zu beurteilende Fallkonstellation, in der der Beitragsschuldner zwar seiner gesetzlichen Zahlungspflicht nachgekommen ist, die Leistung jedoch nur unter Vorbehalt bewirkt hat, hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich keine Regelung getroffen. Auch vor diesem Hintergrund bedarf es keiner abschließenden Bewertung, ob bereits auf Grundlage der Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts im Hinblick auf die von diesem in den Vordergrund gerückte verfassungsrechtlich geschützte Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks auch bei einer Zahlung unter Vorbehalt die Rückforderung bereits geleisteter Beiträge ausgeschlossen sein soll; nach Auffassung des Verwaltungsgerichts Greifswald (Urteil vom 30.07.2019 - 2 A 210/19 HGW - juris Rn. 40) lässt sich aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 18.07.2018 (aaO) die Annahme ableiten, dass die Zweitwohnungsinhaber, die mit einer rechtzeitigen Zahlung - wenn auch unter Vorbehaltserklärung - weder das Kostenrisiko der mit Festsetzungsbescheiden regelmäßig verbundenen Säumniszuschläge noch das der anschließenden Rechtsbehelfsverfahren auf sich genommen haben, für zurückliegende Zeiträume keinen Anspruch auf Erstattung haben.14 b) Ein Anspruch des Klägers auf rückwirkende Befreiung bzw. Erstattung der Rundfunkbeiträge für seine Zweitwohnung besteht aber jedenfalls deshalb nicht, weil das Rundfunkbeitragsrecht eine Zahlung des Beitragsschuldners „unter Vorbehalt“ nicht zulässt.15 Im Zivilrecht ist eine Leistung unter Vorbehalt eine ordnungsgemäße Erfüllung, wenn der Schuldner lediglich die Wirkung des § 814 BGB (Kenntnis der Nichtschuld) ausschließen und sich den Herausgabeanspruch wegen ungerechtfertigter Bereicherung nach § 812 BGB für den Fall vorbehalten will, dass er das Nichtbestehen der Forderung oder der Empfangsberechtigung beweist. Anders liegt es, wenn der Schuldner unter der Bedingung des Bestehens der Forderung leistet und dem Gläubiger weiterhin die Beweislast für das Bestehen der Forderung aufbürdet. Eine Leistung unter einem solchen Vorbehalt darf der Gläubiger zurückweisen, nimmt er aber an, so kann darin ein Einverständnis mit dem Vorbehalt liegen (vgl. dazu Grüneberg in Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 79. Aufl., § 362 Rn. 14).16 Diese zivilrechtlichen Grundsätze, die im Wesentlichen die Verteilung der Beweislast zwischen Vertragspartnern regeln, können auf das öffentliche Recht, in dem die Beteiligten häufig in einem Über- und Unterordnungsverhältnis zueinander stehen, nicht unbesehen übertragen werden. Die Abgabenordnung, die auf Steuerschuldverhältnisse und kraft landesrechtlicher Verweisung im Kommunalabgabengesetz auch auf Kommunalabgaben anwendbar ist, kennt eine Zahlung unter Vorbehalt nicht (vgl. etwa Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO § 224 Rn. 7; Alber in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 224 AO Rn. 22; für kommunale Abgabenbescheide Ruff, ZKF 2011, 275). Deshalb wird im Steuer- bzw. Abgabenrecht der Schuldner mit einer Zahlung unter Vorbehalt häufig Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts, mit dem die Steuer festgesetzt worden ist, zum Ausdruck bringen wollen. Im Regelfall kann der bloße Vorbehalt aber nicht als Rechtsbehelf gegen einen Festsetzungsbescheid angesehen werden, er hindert daher weder den Einritt der Bestandskraft des anspruchsfestsetzenden Verwaltungsakts noch ersetzt er die förmliche Einlegung des Rechtsbehelfs. Bei dieser Auslegung berührt die Zahlung unter Vorbehalt die schuldbefreiende Wirkung der Zahlung nicht (vgl. etwa BFH, Beschlüsse vom 14.08.1987 - III B 4/87 - juris Rn. 9 und vom 14.05.1986 - XII B 159/85 - juris Rn. 7). Kann hingegen die Erklärung, es werde unter Vorbehalt gezahlt, im Hinblick auf individuelle Besonderheiten als Einlegung eines Rechtsbehelfs ausgelegt werden, so verhindert sie bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens die Bestandskraft des Steuer- bzw. Abgabenbescheids.17 Diese Grundsätze können auf das Verfahren zur Heranziehung von Rundfunkbeiträgen übertragen werden. Hier besteht die Besonderheit, dass anders als sonst im Beitragsrecht die Pflicht zur Entrichtung des Rundfunkbeitrags - ebenso wie die Fälligkeit des Beitrags - bereits kraft Gesetzes besteht bzw. eintritt (vgl. § 7 RBStV) und es deshalb eines vorherigen Erlasses eines Beitragsbescheids durch den Beklagten (zur Aktualisierung der Beitragspflicht) nicht bedarf. Die Zahlungspflicht des Beitragsschuldners entsteht danach auch unabhängig von einer Zahlungsaufforderung durch den Beklagten oder gar einer Anerkennung seiner Zahlungsverpflichtung.18 Auch diese Konstruktion des Gesetzgebers ermöglicht für den Beitragsschuldner aber ausreichende Rechtsschutzmöglichkeiten. Nach der Rechtsprechung des Senats verstößt das Verfahren der „bescheidlosen Beitragserhebung“ nicht gegen die Garantie der Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) und auch nicht gegen das Rechtsstaatsprinzip in Art. 20 Abs. 3 GG (Urteil vom 13.02.2017 - 2 S 1610/15 - juris Rn. 32 ff.; Urteil vom 03.03.2016 - 2 S 896/15 - juris Rn. 41 und 42; vgl. auch OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 30.11.2016 - 2 A 3058/15 - juris Rn. 31). Ein Beitragsschuldner, der aufgrund seiner gesetzlichen Verpflichtung den Rundfunkbeitrag entrichtet, aber zugleich meint, dass die Zahlung ohne Rechtsgrund entrichtet worden ist, kann von der Rundfunkanstalt die Erstattung des entrichteten Beitrags fordern (§ 10 Abs. 3 Satz 1 RBStV). Lehnt die Rundfunkanstalt die Erstattung in Form eines Verwaltungsakts ab, so kann Hauptsacherechtsschutz in Form der Verpflichtungsklage und vorläufiger Rechtschutz in Form der einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO geltend gemacht werden. Auch der Beitragsschuldner, der meint, dass von ihm kein Rundfunkbeitrag verlangt werden kann, und der deshalb der gesetzlichen Verpflichtung aus § 7 Abs. 1 und 3 RBStV nicht nachkommt, bleibt nicht rechtsschutzlos. Ihm ist zuzumuten, zunächst die Reaktion der Landesrundfunkanstalt abzuwarten. Diese wird im Regelfall den in § 10 Abs. 5 RBStV vorgezeichneten Weg gehen und die rückständigen Beiträge förmlich festsetzen. Auch in diesem Fall hat der Beitragsschuldner ausreichende Rechtsschutzmöglichkeiten. Darüber hinaus kann nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts effektiver Rechtsschutz auch im Wege einer Feststellungsklage nach § 43 Abs. 1 VwGO erlangt werden (BVerwG, Urteil vom 27.09.2017 - 6 C 32.16 - juris Rn. 14; vgl. auch Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 21.08.2018 - 7 BV 18.7 - juris Rn. 17). Will danach ein Rundfunkbeitragsschuldner festgestellt wissen, ob er dem Grunde nach verpflichtet ist, den Rundfunkbeitrag zu bezahlen, dann ist die Feststellungsklage jedenfalls dann nicht subsidiär im Sinne von § 43 Abs. 2 Satz 1 VwGO, wenn es am Erlass eines anfechtbaren Verwaltungsakts über rückständige Rundfunkbeiträge fehlt.19 Danach sind für einen Beitragsschuldner, der - wie hier der Kläger - verfassungsrechtliche Bedenken gegen den Rundfunkbeitrag geltend machen will, umfängliche und zumutbare Rechtsschutzmöglichkeiten eröffnet, mit denen die Rechtmäßigkeit der Beitragspflicht in einem förmlichen Verfahren überprüft werden kann. Mit diesem Verfahren wird gleichzeitig sichergestellt, dass die Rundfunkanstalten im Falle eines Obsiegens des Beitragsschuldners bereits bezahlte Beiträge zurückzuerstatten haben.20 Angesichts der dargestellten Rechtsschutzmöglichkeiten für den Beitragsschuldner verbietet sich die Annahme, dieser könne sich allein durch die Zahlung der Beitragsschuld „unter Vorbehalt“ für den Fall einer möglichen Verfassungswidrigkeit der Regelung die Rückzahlung seiner Beiträge sichern. Gerade im Falle einer Massenverwaltung wie im Rundfunkbeitragsrecht ist die Behörde darauf angewiesen, Einwendungen der Beitragsschuldner in einem rechtlich geordneten Verfahren abzuarbeiten. Könnte die Zahlungspflicht durch den Beitragsschuldner womöglich über lange Zeiträume durch einseitige Willenserklärung „offengehalten“ werden, würde dies die finanzielle Absicherung der staatlichen Daseinsvorsorge - hier die verfassungsmäßige Finanzausstattung der Rundfunkanstalten - gefährden. Der Beitragsschuldner muss deshalb - will er seine Zahlungspflicht verhindern - auch das mit einem Rechtsbehelfsverfahren verbundene Kostenrisiko in Kauf nehmen.21 c) Der Kläger kann sich auch nicht mit Erfolg darauf berufen, der Beklagte habe ihn im Hinblick auf die Ausführungen in seinem Schreiben vom 16.12.2013 von der Durchführung eines Rechtsbehelfsverfahrens abgehalten. Der Beklagte hat den Kläger in diesem Schreiben ausdrücklich darauf hingewiesen, dass eine Vorbehaltszahlung im Rundfunkbeitragsrecht nicht möglich sei. Angesichts der bereits kraft Gesetzes bestehenden Beitragspflicht des Klägers musste der Beklagte ihn auch nicht ausdrücklich auf bestehende Rechtsschutzmöglichkeiten hinweisen bzw. ihm gar - ohne dass rückständige Beiträge angefallen waren - einen rechtsmittelfähigen Bescheid zukommen lassen. Es kann vom Beitragsschuldner verlangt werden, dass er sich selbst über die dargestellten Möglichkeiten, effektiven Rechtsschutz zu erlangen, kundig macht.22 d) Zu Unrecht meint der Kläger schließlich, der Beklagte habe im Schreiben vom 16.12.2013 eine bindende Zusicherung erteilt, dass er die gezahlten Rundfunkbeiträge im Falle der Verfassungswidrigkeit der entsprechenden Regelung rückwirkend erstatten werde. Der Beklagte hat im Schreiben vom 16.12.2013 die Erstattung geleisteter Rundfunkbeiträge nicht unbeschränkt zugesichert, sondern nur „soweit die Rechtsgrundlagen für die Beitragspflicht entfallen würden“. Danach kann nicht beanstandet werden, dass eine Erstattung nur nach Maßgabe der dargestellten Grundsätze der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und damit für gezahlte Beiträge vor dem 01.07.2018 nur im Falle noch anhängiger Rechtsbehelfe erfolgt. Für die hier streitgegenständlichen Beiträge ist die Rechtsgrundlage - wie dargestellt - gerade nicht entfallen.23 Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung aus § 52 Abs. 3 GKG.24 Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). | {
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Tenor
Der Vollzug von § 1 der Ordnungsbehördlichen Verordnung über das Offenhalten von Verkaufsstellen an Sonn- und Feiertagen im Gebiet der Stadt Ibbenbüren vom 3.9.2020 wird im Wege der einstweiligen Anordnung ausgesetzt, soweit die Öffnung von Verkaufsstätten am 11.10.2020, 8.11.2020 und am 13.12.2020 zugelassen wird.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 15.000,00 Euro festgesetzt.
Gründe:
1Der Antrag,
2§ 1 der Verordnung der Stadt Ibbenbüren über das Offenhalten von Verkaufsstellen an Sonn- und Feiertagen im Gebiet der Stadt Ibbenbüren im Wege einer einstweiligen Anordnung außer Vollzug zu setzen, soweit die Öffnung von Verkaufsstätten am 11.10.2020, 8.11.2020 und am 13.12.2020 zugelassen wird,
3ist zulässig und begründet.
4Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 47 Abs. 6 VwGO liegen vor. Nach dieser Bestimmung kann das Normenkontrollgericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist.
5Das ist hier der Fall. Schon gemessen an dem für eine normspezifische einstweilige Anordnung allgemein anerkannten besonders strengen Maßstab erweist sich die angegriffene Regelung als offensichtlich rechtswidrig und nichtig.
6Die umstrittene Verordnungsregelung ist von der Ermächtigungsgrundlage des § 6 Abs. 4 i. V. m. Abs. 1 LÖG NRW nicht gedeckt. Sie wird dem darin konkretisierten verfassungsrechtlichen Schutzauftrag aus Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV, der ein Mindestniveau des Sonn- und Feiertagsschutzes gewährleistet und für die Arbeit an Sonn- und Feiertagen ein Regel-Ausnahme-Verhältnis statuiert, zweifelsfrei nicht gerecht (dazu 1. und 2.). Ihre Umsetzung beeinträchtigt die Antragstellerin so konkret, dass eine einstweilige Anordnung deshalb dringend geboten ist (dazu 3.).
71. Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV entziehen Sonn- und Feiertage grundsätzlich der werktäglichen Geschäftigkeit.
8Vgl. BVerwG, Urteil vom 22.6.2020 ‒ 8 CN 1.19 ‒, juris, Rn. 35, m. w. N.
9Die Institution des Sonn- und Feiertags ist unmittelbar durch die Verfassung garantiert, die Art und das Ausmaß des Schutzes bedürfen aber einer gesetzlichen Ausgestaltung. Verfassungsrechtlich geschützt ist der allgemein wahrnehmbare Charakter eines jeden Sonn- und Feiertags als grundsätzlich für alle verbindlicher Tag der Arbeitsruhe. Eine Freigaberegelung muss nach ständiger gefestigter höchstrichterlicher Rechtsprechung zur Wahrung des verfassungsrechtlich geforderten Mindestniveaus des Sonntagsschutzes die Sonn- und Feiertage als Tage der Arbeitsruhe zur Regel erheben. Ausnahmen darf er nur aus zureichendem Sachgrund zur Wahrung gleich- oder höherwertiger Rechtsgüter zulassen; das bloß wirtschaftliche Umsatzinteresse der Verkaufsstelleninhaber und das alltägliche Erwerbsinteresse potentieller Kunden genügen dazu nicht. Außerdem muss sichergestellt sein, dass die Ausnahmen als solche für die Öffentlichkeit erkennbar bleiben. Danach genügt es nicht, die Zahl der jährlich zulässigen Sonn- und Feiertagsöffnungen gesetzlich zu beschränken. Darüber hinaus muss der Normgeber nach Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV sicherstellen, dass entsprechende Ermächtigungen nur Sonntagsöffnungen ermöglichen, die durch einen zureichenden Sachgrund von ausreichendem Gewicht bezogen auf den zeitlichen, räumlichen und gegenständlichen Umfang der jeweiligen Sonntagsöffnung gerechtfertigt und für das Publikum am betreffenden Tag als Ausnahme von der sonntäglichen Arbeitsruhe zu erkennen sind. Eine Sonntagsöffnung darf nicht auf eine weitgehende Gleichstellung mit den Werktagen und ihrer geschäftigen Betriebsamkeit hinauslaufen.
10Vgl. zuletzt BVerwG, Urteile vom 22.6.2020 ‒ 8 CN 3.19 ‒, juris, Rn. 15 f., und ‒ 8 CN 1.19 ‒, juris, Rn. 24 und 43, m. w. N.; BVerfG, Urteil vom 1.12.2009 – 1 BvR 2857/07 u. a. –, BVerfGE 125, 39 = juris, Rn. 153 f., 157.
11Bei gebietsweiten und gegenständlich unbeschränkten Sonntagsöffnungen bedarf es besonders gewichtiger Gründe; Sachgründe von geringerem Gewicht können regelmäßig nur räumlich oder gegenständlich eng begrenzte Ladenöffnungen mit geringer prägender Wirkung für den öffentlichen Charakter des Tages rechtfertigen.
12Vgl. BVerwG, Urteile vom 22.6.2020 ‒ 8 CN 1.19 ‒, juris, Rn. 18, und vom 11.11.2015 – 8 CN 2.14 –, BVerwGE 153, 183 = juris, Rn. 22; BVerfG, Urteil vom 1.12.2009 – 1 BvR 2857/07 u. a. –, BVerfGE 125, 39 = juris, Rn. 158, 187.
13Umgekehrt kommt dem Sonntagsschutz und den durch ihn verstärkten Grundrechten aller von einer Sonntagsöffnung Betroffenen (Art. 4 Abs. 1 und 2, Art. 6 Abs. 1 und Art. 8 und 9 GG) im Verhältnis zu Erwerbsinteressen des Handels und der Kunden nach Art. 12 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG umso größeres Gewicht zu, je weitergehend die werktägliche Ladenöffnung freigegeben ist, wie dies in Nordrhein-Westfalen der Fall ist.
14Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 28.8.2020 ‒ 4 B 1261/20.NE ‒, juris, m. w. N.
15a) Die angegriffene Verordnungsbestimmung ist ausweislich der vom Rat beschlossenen Ratsvorlage 220/2020 zur Ratssitzung vom 2.9.2020 unter Hinweis auf den mit Runderlass vom 30.9.2020 aufgehobenen Erlass des Ministeriums für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie des Landes Nordrhein-Westfalen vom 14.7.2020 (2. Neufassung) gestützt auf § 6 Abs. 4, Abs. 1 LÖG NRW. Hiernach ist die zuständige örtliche Ordnungsbehörde ermächtigt, die Tage nach § 6 Abs. 1 LÖG NRW durch Verordnung freizugeben. Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 LÖG NRW dürfen Verkaufsstellen an jährlich höchstens acht, nicht unmittelbar aufeinanderfolgenden Sonn- oder Feiertagen im öffentlichen Interesse ab 13 Uhr bis zur Dauer von fünf Stunden geöffnet sein. § 6 Abs. 1 Satz 2 LÖG NRW regelt vom Gesetzgeber identifizierte, nicht abschließende Ziele, die im öffentlichen Interesse liegen und somit einzeln oder in Kombination mit anderen gewichtige Sachgründe für eine ausnahmsweise Verkaufsstellenöffnung an Sonn- und Feiertagen darstellen. Gemäß Satz 2 Nr. 1 der Vorschrift liegt ein öffentliches Interesse unter anderem insbesondere vor, wenn die Öffnung im Zusammenhang mit örtlichen Festen, Märkten, Messen oder ähnlichen Veranstaltungen erfolgt. Nach § 6 Abs. 1 Satz 3 LÖG NRW wird das Vorliegen eines solchen Zusammenhangs vermutet, wenn die Ladenöffnung in räumlicher Nähe zur örtlichen Veranstaltung sowie am selben Tag erfolgt. Daneben enthält § 6 Abs. 1 Satz 2 LÖG NRW weitere Fallgestaltungen, in denen ein öffentliches Interesse vorliegt. Hierzu zählen sonntägliche Verkaufsstellenöffnungen, die dem Erhalt, der Stärkung oder der Entwicklung eines vielfältigen stationären Einzelhandelsangebots dienen (Nr. 2), dem Erhalt, der Stärkung oder der Entwicklung zentraler Versorgungsbereiche dienen (Nr. 3), der Belebung der Innenstädte, Ortskerne, Stadt- oder Ortsteilzentren dienen (Nr. 4) oder die überörtliche Sichtbarkeit der jeweiligen Kommune als attraktiver und lebenswerter Standort, insbesondere für den Tourismus und die Freizeitgestaltung, als Wohn- und Gewerbestandort sowie Standort von kulturellen und sportlichen Einrichtungen steigern (Nr. 5).
16b) Bei Ladenöffnungen im Zusammenhang mit örtlichen Veranstaltungen nach § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 LÖG NRW muss nach höchstrichterlicher Rechtsprechung gewährleistet sein, dass die Veranstaltung ‒ und nicht die Ladenöffnung ‒ das öffentliche Bild des betreffenden Sonntags prägt. Um das verfassungsrechtlich geforderte Regel-Ausnahme-Verhältnis zu wahren, muss die im Zusammenhang mit der Ladenöffnung stehende Veranstaltung selbst einen beträchtlichen Besucherstrom auslösen. Ferner müssen Sonntagsöffnungen wegen einer Veranstaltung in der Regel auf deren räumliches Umfeld beschränkt werden, nämlich auf den Bereich, der von der Ausstrahlungswirkung der jeweiligen Veranstaltung erfasst wird und in dem die Veranstaltung das öffentliche Bild des betreffenden Sonntags prägt. Die prägende Wirkung muss dabei von der Veranstaltung selbst ausgehen. Die damit verbundene Ladenöffnung entfaltet nur dann eine lediglich geringe prägende Wirkung, wenn sie nach den gesamten Umständen als bloßer Annex zur anlassgebenden Veranstaltung erscheint. Das kann für den Fall angenommen werden, dass die Ladenöffnung innerhalb der zeitlichen Grenzen der Veranstaltung ‒ also während eines gleichen oder innerhalb dieser Grenzen gelegenen kürzeren Zeitraums ‒ stattfindet und sich räumlich auf das unmittelbare Umfeld der Veranstaltung beschränkt. Von einem Annexcharakter kann nur die Rede sein, wenn die für die Prägekraft entscheidende öffentliche Wirkung der Veranstaltung größer ist als die der Ladenöffnung. Die öffentliche Wirkung hängt wiederum maßgeblich von der jeweiligen Anziehungskraft ab. Die jeweils angezogenen Besucherströme bestimmen den Umfang und die öffentliche Wahrnehmbarkeit der Veranstaltung einerseits und der durch die Ladenöffnung ausgelösten werktäglichen Geschäftigkeit andererseits. Daher lässt sich der Annexcharakter einer Ladenöffnung kaum anders als durch einen prognostischen Besucherzahlenvergleich beurteilen. Erforderlich ist dabei, dass die dem zuständigen Organ bei der Entscheidung über die Sonntagsöffnung vorliegenden Informationen und die ihm sonst bekannten Umstände die schlüssige und nachvollziehbare Prognose erlauben, die Zahl der von der Veranstaltung selbst angezogenen Besucher werde größer sein als die Zahl derjenigen, die allein wegen einer Ladenöffnung am selben Tag ‒ ohne die Veranstaltung ‒ kämen. § 6 Abs. 1 Satz 3 LÖG NRW entbindet von einer auf die jeweiligen Besucherzahlen bezogenen Prognose im Einklang mit Verfassungsrecht nur dann, wenn gewährleistet ist, dass atypische Sachverhaltsgestaltungen nicht in die Nachweiserleichterung einbezogen werden.
17Vgl. BVerwG, Urteile vom 11.11.2015 – 8 CN 2.14 –, BVerwGE 153, 183 = juris, Rn. 24 f., und vom 22.6.2020 – 8 CN 3.19 –, juris, Rn. 15 ff., 17 ff., 21, 23, 25 f., letzteres bezogen auf die Auslegung des aktuellen Landesrechts durch OVG NRW, Urteil vom 17.7.2019 – 4 D 36/19.NE –, GewArch 2019, 396 = juris, Rn. 61 ff.
18c) Bezogen auf die hier von der Antragsgegnerin gleichfalls angeführten Ziele nach § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 und 4 LÖG NRW ist bereits letztinstanzlich für das Landesrecht und mit Bundesrecht in Einklang stehend geklärt, dass sie in der Regel allenfalls dann das verfassungsrechtlich erforderliche Gewicht aufweisen können, wenn aus anderen Gründen ohnehin mit einem besonderen Besucherinteresse zu rechnen ist und über den davon erfassten Bereich hinaus zum Ausgleich besonderer örtlicher Problemlagen oder struktureller Standortnachteile der Freigabebereich auf hiervon betroffene Bereiche erweitert werden soll.
19Vgl. OVG NRW, Urteil vom 17.7.2019 – 4 D 36/19.NE –, GewArch 2019, 396 = juris, Rn. 40, 91 ff. 106 ff., m. w. N., ausdrücklich als nicht zu restriktiv interpretiert bestätigt durch BVerwG, Urteil vom 22.6.2020 ‒ 8 CN 3.19 ‒, juris, Rn. 33.
20Denn mit diesen neuen Sachgründen hat sich der Gesetzgeber im Rahmen seines weiten Gestaltungsspielraums zur Ausgestaltung des Sonntagsschutzes gerade nicht auf gesetzliche Tatbestände beschränkt, die Festlegungen von Ausnahmefallgestaltungen für Arbeiten „trotz“ des Sonntags oder „für“ den Sonntag treffen oder zur Wahrung der grundsätzlichen Arbeitsruhe an Sonn- und Feiertagen zumindest gleichrangiger Schutzgüter dienen.
21Vgl. OVG NRW, Urteil vom 17.7.2019 – 4 D 36/19.NE –, GewArch 2019, 396 = juris, Rn. 91 ff., m. w. N., und Beschluss vom 28.8.2020 ‒ 4 B 1261/20.NE ‒, juris, Rn. 26.
222. Nach diesen Maßstäben, die den Beteiligten bekannt sind, trägt die angegriffene Regelung in der Ordnungsbehördlichen Verordnung der Antragsgegnerin dem verfassungsrechtlich geforderten Regel-Ausnahme-Verhältnis für die Arbeit an Sonn- und Feiertagen nicht ausreichend Rechnung.
23Die in Rede stehenden Sonntagsöffnungen für die Ibbenbürener Innenstadt am 11.10.2020 und 13.12.2020 bzw. für den Ortsteil Laggenbeck am 8.11.2020 halten sich offensichtlich nicht mehr als Annex im Rahmen der Ausstrahlungswirkung der in der Ratsvorlage angeführten Veranstaltungen. Die Ladenöffnungen prägen stattdessen, jedenfalls soweit sie über die Ausstrahlungswirkung etwaig geplanter Veranstaltungen hinausgehen, selbst das öffentliche Bild des betreffenden Sonntags.
24a) Die bei der Entscheidung über die Sonntagsöffnung vorliegenden Informationen und sonst bekannten Umstände erlauben jedenfalls nicht die schlüssige und nachvollziehbare Prognose, die Zahl der von der Veranstaltung selbst angezogenen Besucher werde im Zeitraum und Geltungsbereich der Ladenöffnungsfreigabe oder zumindest in einem wesentlichen Teil davon größer sein als die Zahl derjenigen, die allein wegen einer Ladenöffnung am selben Tag ‒ ohne die Veranstaltung ‒ kämen. Die Antragsgegnerin räumt selbst ein, keine derartige Prognose im Hinblick auf die streitgegenständlichen Sonntagsöffnungen angestellt zu haben. Die von ihr allein angeführten Ergebnisse aus Passantenzählungen aus Vorjahren haben keine Aussagekraft für die in diesem Jahr als Anlassveranstaltung geplanten Spezialmärkte, weil die diesjährigen Veranstaltungen und ihre Rahmenbedingungen von denjenigen in den Vorjahren signifikant abweichen. Die Antragsgegnerin geht in der Ratsvorlage selbst davon aus, dass die als Ersatz für die ursprünglich geplanten Veranstaltungen nunmehr beabsichtigten Spezialmärkte „selbstverständlich“ (Ratsvorlage, Seite 4) nicht ähnlich große Besucherströme herbeilocken sollen und können wie die ursprünglich angedachten Veranstaltungen; das sei zu Corona-Zeiten nicht möglich.
25§ 6 Abs. 1 Satz 3 LÖG NRW entbindet hier nicht von auf die jeweiligen Besucherzahlen bezogenen Prognosen. Es fehlt – ungeachtet der nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung gebotenen verfassungskonformen einschränkenden Auslegung dieser Vorschrift – schon an der zur Auslösung der gesetzlichen Vermutungswirkung unter anderem notwendigen räumlichen Nähe zwischen der jeweiligen Veranstaltung und der Sonntagsöffnung. Im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Rates am 2.9.2020 über die streitgegenständlichen Sonntagsöffnungen war der jeweilige Veranstaltungsbereich schon nicht hinreichend umgrenzt.
26In der Ratsvorlage (Drucksache 220/2020) zur Ratssitzung vom 2.9.2020 wird lediglich ausgeführt, dass die Ladenöffnung jeweils in „räumlicher Nähe zum Markt“ (Ratsvorlage, Seite 4) erfolge. Dabei sollte zum einen am Wochenende 10./11.10.2020 als Ersatz für die Veranstaltung „Tolle Knolle“ ein Landwirtschaftlicher Erzeugermarkt mit landwirtschaftlicher Maschinenausstellung und zum anderen am Wochenende 12./13.12.2020 als Ersatz für die Veranstaltung „Ibb’s Christmastime“ ein Adventsmarkt mit musikalischen Darbietungen in Anlehnung an „Ibb’s Christmastime“ vorgesehen seien. Zudem sollte im Ortsteil Laggenbeck an dem Wochenende 7./8.11.2020 der dort etablierte Martinimarkt stattfinden. Weitere Angaben über diese geplanten Märkte, insbesondere über deren räumlichen Veranstaltungsbereich, enthielten weder die Ratsvorlage noch die dieser beigefügten Anträge vom 18.8.2020 der „Werbegemeinschaft Ibbenbüren e. V.“ bzw. des Vereins „Wir für Laggenbeck e. V.“. Angesichts dessen hat der Rat am 2.9.2020 Sonntagsöffnungen beschlossen, ohne hinreichende Kenntnisse über den räumlichen, zeitlichen und gegenständlichen Inhalt der Veranstaltungen zu haben, die die Sonntagsfreigaben rechtfertigen sollen. Die für die Vermutungswirkung des § 6 Abs. 1 Satz 3 LÖG NRW räumliche Beziehung zwischen dem einerseits noch nicht konkret bestimmten Veranstaltungs- und dem anderseits genau festgelegten Freigabebereich kann damit nicht hergestellt werden.
27Diese erforderlichen Kenntnisse konnte der Rat im Zeitpunkt der maßgeblichen Beschlussfassung auch nicht gewinnen, weil die Planungen der jeweiligen Veranstaltungen – sogar bis zuletzt – nicht abgeschlossen waren. Dementsprechend wurde in der Ratsvorlage darauf hingewiesen, dass die Genehmigung und Durchführung der genannten Märkte unter dem Vorbehalt etwaiger Maßgaben aus der Coronaschutzverordnung bzw. sonstiger coronabedingter Vorgaben stehe. Der Antrag für die Veranstaltung „Kleine Tolle Knolle“ ist nach Aktenlage im Übrigen erst am 25.9.2020 gestellt worden. Dass – wie in der Ratsvorlage mitgeteilt – „gleichzeitig“ mit dem Antrag der Werbegemeinschaft bereits für die jeweiligen Sonntage (11.10.2020 und 13.12.2020) Marktfestsetzungen beantragt worden wären, ist den von der Antragsgegnerin dem Senat übersandten Unterlagen nicht zu entnehmen.
28Dass es zum Zeitpunkt der Beschlussfassung mithin an hinreichend konkretisierten Veranstaltungen fehlte, wird besonders an der für den 11.10.2020 geplanten Veranstaltung „Kleine Tolle Knolle“ deutlich. Diese ist nunmehr im Planungsstadium aufgrund von durch die Corona-Pandemie bedingten „Auflagen“ abgesagt worden.
29Im Übrigen hat die Antragsgegnerin für einen am 13.12.2020 geplanten Adventsmarkt schon nach eigenem Bekunden auch bis heute weiterhin keinen räumlichen Veranstaltungsbereich festgelegt, so dass er ebenfalls nicht in Bezug zum festgesetzten Ladenöffnungsbereich innerhalb des Tangentenviertels (beschränkt durch die Bahnlinie, Oststraße/Bahnhofstraße, Weberstraße und Weststraße/Nordstraße) in der Ibbenbürener Innenstadt gesetzt werden könnte. Im Ortsteil Laggenbeck könnte insbesondere angesichts der dortigen örtlichen Gegebenheiten ebenso wenig von einer hinreichenden räumlichen Nähe zwischen der Ladenöffnung und der dort für den 8.11.2020 geplanten Veranstaltung „Martinimarkt“ ausgegangen werden. Wie die Antragsgegnerin im gerichtlichen Verfahren mitgeteilt hat, sei als Veranstaltungsbereich für den Martinimarkt lediglich ein kleiner Bereich in der Nähe des Freibads südlich der Bahnlinie geplant. Demgegenüber erstreckt sich der Freigabebereich an diesem Tag räumlich unbeschränkt auf den gesamten Ortsteil Laggenbeck, in dem sich die Einzelhandelsgeschäfte verstreuen. In unmittelbarer Nähe zum Veranstaltungsbereich befindet sich lediglich der Supermarkt „L“. Die größte Dichte an Nutzungen ist ausweislich des aktualisierten Einzelhandels- und Zentrenkonzeptes der Antragsgegnerin aus November 2016 (Seite 44) im Bereich nördlich der Bahnlinie zu finden. Von der Bahntrasse geht jedoch eine Trennwirkung aus, worauf auch das Einzelhandelskonzept hinweist (Seite 45). Damit ist der räumliche Zusammenhang zwischen Veranstaltungs- und Freigabebereich unterbrochen.
30b) Fehlt es mithin bereits an Veranstaltungen, neben denen sich die beschlossenen Ladenöffnungen zumindest im überwiegenden Teil des Freigabebereichs als bloßer Annex darstellen, reichen die in § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 und 4 LÖG NRW genannten Gesichtspunkte auch ergänzend zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung offensichtlich nicht aus. Denn es geht der Antragsgegnerin gerade nicht darum, einen Bereich, der aufgrund schlüssiger Annahmen durch eine überwiegende Zahl von Veranstaltungsbesuchern wesentlich durch eine Veranstaltung geprägt wird und in dem die Prägekraft der Ladenöffnung in den Hintergrund tritt, zum Ausgleich besonderer örtlicher Problemlagen (z. B. regional begrenzter Fehlentwicklungen oder standortbedingter außergewöhnlich ungünstiger Wettbewerbsbedingungen) um hiervon betroffene eng umgrenzte Bereiche zu erweitern. Solche besonderen örtlichen Problemlagen legt die Antragsgegnerin schon nicht dar. Sie hat in der Ratsvorlage vielmehr lediglich angeführt, das NRW-weite Bild im Einzelhandel gelte auch für Ibbenbüren.
31Letztlich dienen die Öffnungsfreigaben wesentlich der Zielsetzung, verstärkt durch Marketingaktionen mit derzeit nur begrenzter Anziehungskraft an den in Rede stehenden Sonntagen Kaufkundschaft in die Ibbenbürener Innenstadt bzw. den Ortsteil Laggenbeck zu locken und hierdurch den stationären Einzelhandel sowie zentrale Versorgungsbereiche nach der Corona-Krise zu stärken und im Rahmen einer einmaligen vertretbaren Ausnahme ihre Umsatzeinbußen ansatzweise kompensieren zu lassen. Mit diesen Zielrichtungen geht es also um Sonntagsöffnungen mit großer prägender Wirkung für den öffentlichen Charakter des Tages. Von ihnen geht eine für jedermann wahrnehmbare Geschäftigkeit und Betriebsamkeit aus, die typischerweise den Werktagen zugeordnet wird. Sie laufen ohne einen Sachgrund mit überwiegender Prägekraft für den Charakter des Tages im Öffnungszeitraum jeweils auf eine weitgehende Gleichstellung mit den Werktagen und ihrer geschäftigen Betriebsamkeit hinaus, wodurch das verfassungsrechtlich stets zu wahrende Mindestniveau des Sonn- und Feiertagsschutzes jedenfalls unterschritten wird.
32Gerade angesichts von wirtschaftlichen Folgen, denen zwar nicht der ganze stationäre Einzelhandel, aber doch bestimmte Branchen landesweit im Wesentlichen in vergleichbarer Weise ausgesetzt sind, ist kein zureichender Sachgrund ersichtlich, der eine Ausnahme für bestimmte Bereiche Ibbenbürens rechtfertigt, während die Geschäfte in anderen Gemeinden, auch und gerade, soweit sie durch die Pandemie ähnlich betroffen sind, geschlossen bleiben müssen. Ungeachtet dessen, dass den festgesetzten Sonntagsöffnungen – wie ausgeführt – bereits die mit ihnen ausschließlich verbundene werktägliche Geschäftigkeit entgegensteht, bedeutet ihre Festsetzung eine Verletzung der gebotenen Wettbewerbsneutralität.
33Zwar ist die Lage des lokalen Einzelhandels nach wochenlangen Geschäftsschließungen im ganzen Land von fortbestehenden Gesundheitsrisiken und Hygieneanforderungen an den stationären Handel gekennzeichnet und hat sich wegen der durchgehend im Wesentlichen gefahrlosen Verfügbarkeit von Online-Angeboten zumindest zwischenzeitlich verschärft dargestellt. Ein erkennbarer Sachgrund für nur einzelne Bereiche erfassende Freigaberegelungen, die nicht nur der grundsätzlich gebotenen Arbeitsruhe an Sonn- und Feiertagen Rechnung tragen, sondern auch unter Berücksichtigung der gebotenen Wettbewerbsneutralität gerechtfertigt werden können, liegt darin aber offensichtlich nicht. Wo keine hinreichend gewichtigen besonderen örtlichen Sachgründe angeführt werden können, die als solche erkennbar und andernorts nicht gegeben sind, lässt sich eine Ausnahme vom landesweit geltenden Gebot der Arbeitsruhe nicht verfassungsrechtlich rechtfertigen, auch wenn dies während des derzeitigen vorübergehenden Verbots von Großveranstaltungen regelmäßig nicht gelingen wird.
34Selbst seltene ungerechtfertigte Ausnahmen von dem Gebot sonn- und feiertäglicher Arbeitsruhe bleiben ungerechtfertigte Ausnahmen, die einen Teil des Handels angesichts der überwiegend durchgehaltenen sonntäglichen Arbeitsruhe unzulässig begünstigen sowie wegen ihrer Unzulässigkeit nach geltendem Recht auch den Beschäftigten nicht zuzumuten sind und gewerkschaftliche Aktivität über Gebühr erschweren. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht in seinen Urteilen vom 22.6.2020 ebenso klargestellt wie das Erfordernis rechtssicherer Maßstäbe für verfassungsrechtlich tragfähige Ausnahmen vom grundsätzlichen Sonntagsöffnungsverbot. Die vom Senat in einem Hauptsacheverfahren im Interesse zeitnaher Rechtssicherheit für alle betroffenen Kommunen, Händler und Beschäftigten anhand der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zur Auslegung von § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 bis 5 LÖG NRW hat das Bundesverwaltungsgericht, wie ausgeführt, als jedenfalls nicht zu restriktiv bestätigt. Die Anlassrechtsprechung des Senats hat das Bundesverwaltungsgericht hingegen als zu großzügig gegenüber Kommunen und Handel und nicht in jeder Hinsicht verfassungskonform angesehen und korrigiert.
35Vgl. zum Ganzen: OVG NRW, Beschluss vom 3.9.2020 – 4 B 1253/20.NE –, juris, Rn. 43.
36Das selbstverständlich schützenswerte und von der Politik verfolgte Interesse an der Erhaltung des stationären Einzelhandels muss sich im Rahmen der für alle geltenden Gesetze vollziehen und darf nicht auf Kosten derer gehen, die den verfassungsrechtlich fest abgesteckten Rahmen einhalten. Seit über zehn Jahren ist durch das Bundesverfassungsgericht geklärt, dass Ausnahmen von der sonntäglichen Arbeitsruhe eines erkennbaren gewichtigen besonderen Sachgrundes bedürfen, der nicht darin liegen darf, dass der Handel auch an Sonn- und Feiertagen Umsatz erzielen möchte. Dabei hatte seinerzeit bereits das Bundesverfassungsgericht rein tatsächlich nur zu vernachlässigende beschäftigungspolitische Effekte von Sonntagsladenöffnungen festgestellt.
37Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 4.9.2020 ‒ 4 B 1312/20.NE, juris, Rn. 11 f., unter Hinweis auf BVerfG, Urteil vom 1.12.2009 – 1 BvR 2857/07 u. a. –, BVerfGE 125, 39 = juris, Rn. 157, 170.
383. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung ist mit Blick auf die offensichtliche Unwirksamkeit der angegriffenen Regelungen aus Gründen effektiven Rechtsschutzes zur Wahrung der Rechte der Antragstellerin dringend geboten. Auch eine Folgenabwägung geht zu Lasten der Antragsgegnerin aus: Während den Interessen des Einzelhandels durch weitgehende Ladenöffnungsfreigaben in der Woche in erheblichem Umfang Rechnung getragen wird, ist die Bedeutung des grundsätzlich arbeitsfreien Sonntags auch für gewerkschaftliche Betätigungen durch die Corona-Pandemie nicht geringer geworden, zumal viele Beschäftigte über lange Zeit und durch fortbestehende Hygienekonzepte auch weiterhin zusätzlichen Belastungen in ihrer Arbeit ausgesetzt waren und sind. Angesichts einer in der Corona-Krise zunehmend erfolgten Verwischung von Alltagsrhythmen hat der Schutz des grundsätzlich arbeitsfreien Sonntags gerade in der noch nicht überwundenen Krise weiterhin besonderes Gewicht. Den von der Antragsgegnerin geltend gemachten Gefährdungen ihrer Einzelhandelsstruktur kann hingegen zielgerichteter auf andere Weise grundsätzlich an Werktagen begegnet werden.
39Etwas anderes gilt auch nicht für den 13.12.2020 deshalb, weil nach der Erfolglosigkeit des am 30.9.2020 aufgehobenen Ministerialerlasses vom 9.7.2020, aktualisiert vom 14.7.2020, unter anderem für den 13.12.2020 zwischen 13.00 h und 18.00 h nunmehr nur noch unter dem Vorwand der Entzerrung des Einkaufsgeschehens,
40vgl. dazu bereits OVG NRW, Beschluss vom 28.8.2020 – 4 B 1261/20.NE –, juris, Rn. 35 a. E.,
41nach § 11 Abs. 3 der Coronaschutzverordnung ‒ CoronaSchVO ‒ vom 30.9.2020 (GV. NRW. S. 923) ohnehin alle Verkaufsstellen des Einzelhandels im ganzen Land öffnen dürfen. An der Gültigkeit dieser Vorschrift bestehen mit Blick auf ihr Außerkrafttreten mit Ablauf des 31.10.2020 gemäß § 19 CoronaSchVO sowie für den Fall einer Verlängerung ihres Geltungszeitraums mit Blick auf einen offenen Normwiderspruch zu § 4 Abs. 2 LÖG NRW, der begrenzten Reichweite der infektionsschutzrechtlichen Ermächtigungsgrundlage und der unmissverständlichen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den verfassungsrechtlichen Grenzen einer alle Adventssonntage erfassenden Freigaberegelung,
42vgl. BVerfG, Urteil vom 1.12.2009 – 1 BvR 2857/07 u. a. –, BVerfGE 125, 39 = juris, Rn. 174-178,
43erhebliche Zweifel. Mit ihrer Aufhebung nach nochmaliger rechtlicher Prüfung durch die Landesregierung oder Außervollzugsetzung in etwaigen gerichtlichen Verfahren ist ‒ wie der Senat bereits betont hat ‒ daher ernsthaft zu rechnen.
44Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 1.10.2020 – 4 B 1444/20.NE – , juris, Rn. 48 ff.
45Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
46Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG, und trägt dem Umstand Rechnung, dass eine einstweilige Regelung bezogen auf insgesamt drei Sonntagsfreigaben begehrt wird, für die der Senat in ständiger Praxis jeweils den Auffangstreitwert heranzieht.
47Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 10.6.2016 – 4 B 504/16 –, NVwZ-RR 2016, 868 = juris, Rn. 48 ff., m. w. N.
48Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i. V. m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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Tenor
Der Antrag auf Erlass der einstweiligen Verfügung wird auf Kosten des Antragstellers zurückgewiesen.
1Gründe:
2Der Antragsteller begehrt eine einstweilige Verfügung mit folgendem Inhalt:
3Der Antragsgegnerin wird bei Meidung eines vom Gericht für jeden Fall der Zuwiderhandlung festzusetzenden Ordnungsgeldes von bis zum 250.000,- EUR, ersatzweise Ordnungshaft bis zu 6 Monaten, oder Ordnungshaft bis zu 6 Monaten, Ordnungshaft jeweils zu vollstrecken an den Geschäftsführern untersagt,
4ohne Zustimmung des Antragstellers das von dem Antragsteller hergestellte Lichtbild mit dem Namen „G Trainer mit Gruppe draussen“ wie in Abbildung 1 und Anlage K1 abgebildet über das Internet ohne Urhebervermerk öffentlich zugänglich zu machen,
5wenn dies geschieht, wie im Internetauftritt unter der Internetadresse https:// wurde entfernt in Verbindung mit dem Vermerk im Internet „Soweit die Inhalte auf dieser Seite nicht vom Betreiber erstellt wurden, werden die Urheberrechte Dritter beachtet. Insbesondere werden Inhalte Dritter als solche gekennzeichnet“. geschehen.
6I. Der Antragsteller hat das streitgegenständliche Lichtbild hergestellt und über die Plattform G angeboten. Im Rahmen der Antragsstellung hat der Antragssteller Nutzungsbedingungen der G vorgelegt. Diese lauten auszugsweise:
7„[…] So ist Ihnen zum Beispiel die Verwendung, Zurschaustellung oder Änderung des Werks im Zusammenhang mit Folgendem gestattet:
8geschäftliche und gewerbliche Zwecke […]
9redaktionelle Zwecke […]
10Mit Ausnahme der ausdrücklichen Genehmigungen in obigem Abschnitt ist Ihnen Folgendes untersagt: […] Die redaktionelle Verwendung des Werkes ohne zugehörigen Urhebervermerk; dieser Urheberrechtsvermerk muss jedoch nicht angebracht, wenn er nach geltendem Recht für die Nutzung des Werks in einer bestimmten Situation nicht erforderlich ist und wenn die Anbringung des Urheberrechtsvermerks in der speziellen Situation nicht üblich ist […].“
11Die Antragsgegnerin nutzte das Lichtbild als Layoutbild auf ihrer Internetseite zur Bebilderung eines Fortbildungsangebotes (Anlage K 2).
12II. Der Antrag ist nicht begründet. Dem Kläger steht gegen die Antragsgegnerin kein Anspruch auf Unterlassung der öffentlichen Zugänglichmachung des streitgegenständlichen Lichtbildes gemäß § 97 Abs. 1 UrhG zu.
13Es fehlt an der Widerrechtlichkeit der streitgegenständlichen Nutzung ohne Nennung des Antragsstellers als Urheber durch die Antragsgegnerin. Der Antragsteller hat auf das Recht zur Urheberbenennung an dem Lichtbild verzichtet.
141. Die Antragsgegnerin hat durch Vorlage der eidesstattlichen Versicherung ihres Geschäftsführers glaubhaft gemacht, dass sie das Lichtbild über die Plattform G erworben hat (Anlage B3). Soweit der Antragssteller mit Schriftsatz vom 30.09.2020 streitig stellt, dass die Antragsgegnerin das Lichtbild über die Plattform G heruntergeladen hat, steht dies im Widerspruch zu seinem bisherigen Vortrag. Aus der Antragsschrift selbst ergibt sich, dass auch der Antragssteller davon ausgeht, dass die Antragsgegnerin das streitgegenständliche Lichtbild über G erworben hat. Anhaltspunkte dafür, dass die Antragsgegnerin das Lichtbild auf anderem Wege erworben hat, sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Dass die Antragsgegnerin eine entsprechende Lizenz zur Nutzung erworben hat, hat sie zur Überzeugung der Kammer durch Vorlage der eidesstattlichen Versicherung ihres Geschäftsführers glaubhaft gemacht.
152. Der Antragssteller hat auf die Anbringung eines Urhebervermerkes im Rahmen der gewerblichen Nutzung seiner Lichtbilder wirksam verzichtet. Sofern der Antragssteller nunmehr die der Entscheidung zugrundeliegenden Nutzungsbedingungen der G streitig stellen will, steht auch dieser Vortrag im Widerspruch zu seinem bisherigen Vorbringen. So hat der Antragssteller selbst in der Antragsschrift vom 14.08.2020 auf die als Anlage K 6 vorgelegten Nutzungsbedingungen in der Fassung ab 2015 als die Nutzungsbedingungen „in der relevanten Fassung“ Bezug genommen.
16Die Lizenzbedingungen von G , die jedenfalls konkludent, § 151 BGB, durch Upload des streitgegenständlichen Lichtbildes durch den Verfügungskläger sowie Download des Bildes durch die Antragsgegnerin von beiden Parteien akzeptiert wurden und somit zum Vertragsinhalt geworden sind, sehen lediglich für die redaktionelle Verwendung der Lichtbilder die Pflicht zur Anbringung eines Urhebervermerkes vor. Eine Pflicht zur Benennung des Antragsstellers als Urheber im Rahmen der gewerblichen Nutzung schreiben die Nutzungsbedingungen nicht vor. Der Antragssteller hat damit auf sein Recht zur Urheberbenennung im Rahmen der gewerblichen Nutzung verzichtet. Es kann dahinstehen, ob ein genereller Verzicht auf die Urheberbenennung in AGB grundsätzlich unwirksam ist (Dreier/Schulze, § 13, Rn. 25, 6. Auflage, 2018 m.w.N.). Es ist allgemein anerkannt, dass das Urheberbenennungsrecht im Sinne des § 13 UrhG im Kern unverzichtbar ist (Dreier/Schulze, § 13, Rn. 24 6. Auflage, 2018 m.w.N.). Allerdings entspricht es auch der herrschenden Meinung, dass der Urheber im Einzelfall darauf verzichtet kann, als solcher genannt zu werden (Dreier/Schulze, a.a.O.). Ein genereller Verzicht ist hier nicht gegeben. Die Nutzungsbedingungen enthalten keinen generellen und daher unwirksamen Verzicht, sondern differenzieren zwischen redaktioneller und gewerblicher Nutzung der Lichtbilder durch die Kunden. Ausweislich des als Anlage K2 vorgelegten Screenshot bebildert die Antragsgegnerin das von ihr angebotene Fort- bzw. Ausbildungsverfahren für Fitnesstrainer mit dem streitgegenständlichen Lichtbild. Sie verwendet das Lichtbild damit für ihren gewerblichen Tätigkeitsbereich zu Zwecken der Bewerbung ihrer Angebote. Eine redaktionelle Nutzung, welche schon nach dem allgemeinen Sprachgebrauch und überdies auch gerichtsbekannt in einer Vielzahl von Fällen gängiger Weise das Gegenteil von werbender Tätigkeit darstellt, liegt daher nicht vor. Die von dem Antragssteller vertretene Auffassung, dass jede Hinzufügung eines Textbausteines zu einem Bild eine redaktionelle Verwendung darstelle, ist zu weitgehend. Andernfalls würde sich der Anwendungsbereich der gewerblichen Nutzung nur auf die reine Wiedergabe des Lichtbildes beschränken, was erkennbar keinen Mehrwert für einen gewerblich handelnden Kunden und letztlich auch für den von dem Erwerb der Lichtbilder profitierenden Urheber hätte. Das Verständnis der redaktionellen Nutzung wird auch durch den von dem Antragssteller vorgelegten Screenshot der „ursprünglichen Erklärung der Agentur“ (Bl. 352 d. A.) belegt. Dort heißt es: „Folglich sollte ein Käufer, der ein Bild beispielsweise in einem Zeitungsartikel, einem Buch oder auch einer Webpage verwendet, den Namen des Urhebers und G nennen. […] Um diesen Artikel aber auf einem anwenderfreundlichen Niveau zu halten, könnte man die Faustregel aufstellen, dass immer wenn es ein Impressum gibt, auch die Fotografen-Credits angegeben werden müssen, z.B. in Zeitungen oder Magazinen, in Büchern auch auf Websites. Geht es jedoch um werbliche Verwendungszwecke wie Anzeigen, Kataloge, Flyer dann gibt es auch keine Urheberangaben. […]“. Schon aus diesem Auszug ergibt sich, dass mit redaktioneller Verwendung, die Verwendung in Zeitungen, Magazinen und entsprechenden Websites; mit gewerblicher Verwendung indes die Nutzung im Rahmen von werbenden Angeboten gemeint ist.
17Sofern der Antragssteller aus dem Hinweis der erkennenden Kammer vom 03.08.2012 aus dem Verfahren, Az. 14 O 202/12, sowie aus dem Beschluss vom 19.05.2020 in dem Verfahren, Az. 14 O 143/20, eine andere Wertung entnehmen will, so verkennt er, dass es auch in den dortigen Verfahren jeweils um die redaktionelle Nutzung ging. So führte der Antragssteller etwa in dem Verfahren Az. 14 O 202/12 aus, dass es ihm gerade um die Urhebernennung im redaktionellen Bereich geht und er sich aus diesem Grunde auch dafür entschieden hat, seine Lichtbilder auf der Plattform G anzubieten. Der Vortrag des Antragsstellers belegt, dass auch dieser sehr wohl zwischen redaktioneller und gewerblicher Nutzung unterscheidet. Nur geht die Annahme, es handele sich vorliegend um eine redaktionelle Nutzung der Antragsgegnerin, nach Auffassung der Kammer fehl.
18Sofern der Antragssteller darauf verweist, die Antragsgegnerin habe sich durch die Anbringung eines Copyright Vermerkes unrechtmäßigerweise der Urheberschaft berühmt, verkennt er, dass der Copyright Vermerk sich auf den Internetauftritt bzw. die streitgegenständliche Seite der Antragsgegnerin und deren Inhalt bezieht. Insbesondere wird darin auch zwischen eigenen Inhalten und Inhalten Dritter unterschieden, indem im Impressum (Anlage K4) unter dem Stichwort „Urheberrecht“ die Nutzung von Inhalten von der „Zustimmung des jeweiligen Autors bzw. Erstellers“ und damit nicht pauschal von der Zustimmung der Antragsgegnerin abhängig gemacht wird.
19Darüber hinaus bezieht sich der Antragssteller auf die durch die Antragsgegnerin vorgelegten Geschäftsbedingungen von B (B7). Nach diesen handelt es sich aber bei „Stockmedien“ schon ausweislich der Definition in Ziffer 5 um mit einem Wasserzeichen gekennzeichnetes Werk.
20Auch führt die von dem Antragssteller zitierte Rechtsprechung des OLG Hamburg zu keiner anderen Beurteilung. Auch das OLG Hamburg stellt lediglich darauf ab, dass ein „im Voraus vollständiger“ Verzicht in Allgemeinen Geschäftsbedingungen unwirksam ist. Dass auf das Recht zur Urheberbenennung durch den Urheber im Einzelfall verzichtet werden kann, stellt das zitierte Urteil nicht in Frage.
21Rechtsbehelfsbelehrung:
22A) Gegen diesen Beschluss ist die sofortige Beschwerde statthaft, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200,00 EUR übersteigt. Die sofortige Beschwerde ist bei dem Landgericht Köln, Luxemburger Straße 101, 50939 Köln, oder dem Oberlandesgericht Köln, Reichenspergerplatz 1, 50670 Köln, schriftlich in deutscher Sprache oder zur Niederschrift der Geschäftsstelle einzulegen. Die Beschwerde kann auch zur Niederschrift der Geschäftsstelle eines jeden Amtsgerichtes abgegeben werden.
23Die sofortige Beschwerde muss die Bezeichnung des angefochtenen Beschlusses (Datum des Beschlusses, Geschäftsnummer und Parteien) sowie die Erklärung enthalten, dass sofortige Beschwerde gegen diesen Beschluss eingelegt wird. Sie ist zu unterzeichnen und soll begründet werden.
24Die sofortige Beschwerde muss spätestens innerhalb von zwei Wochen bei dem Landgericht Köln oder dem Oberlandesgericht Köln eingegangen sein. Dies gilt auch dann, wenn die Beschwerde zur Niederschrift der Geschäftsstelle eines anderen Amtsgerichts abgegeben wurde. Die Frist beginnt mit der Zustellung des Beschlusses, spätestens mit Ablauf von fünf Monaten nach Erlass des Beschlusses.Hinweis zum elektronischen Rechtsverkehr:
25Die Einlegung ist auch durch Übertragung eines elektronischen Dokuments an die elektronische Poststelle des Gerichts möglich. Das elektronische Dokument muss für die Bearbeitung durch das Gericht geeignet und mit einer qualifizierten elektronischen Signatur der verantwortenden Person versehen sein oder von der verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg gemäß § 130a ZPO nach näherer Maßgabe der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (BGBl. 2017 I, S. 3803) eingereicht werden. Weitere Informationen erhalten Sie auf der Internetseite www.justiz.de.
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Tenor
Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
Die Klägerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Zulassungsverfahrens.
1Gründe:
2Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Aus den im Zulassungsverfahren fristgerecht dargelegten, vom Senat allein zu prüfenden Gründen ergibt sich nicht, dass die Berufung gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 und Abs. 5 Satz 2 VwGO in Verbindung mit § 124 Abs. 2 VwGO zuzulassen ist. Keiner der geltend gemachten Zulassungsgründe ist gegeben.
3Das Verwaltungsgericht hat den geltend gemachten Anspruch der Klägerin auf Gewährung von Eingliederungshilfe in Form der Übernahme der notwendigen und angemessenen Kosten für ihre Beschulung in der I. -Schule in X. für das Schuljahr 2016/2017 im Wesentlichen mit der Erwägung abgelehnt, dass es sich um eine selbst beschaffte Maßnahme handele, die zur Deckung des Hilfebedarfs der Klägerin nicht geeignet sei. Soweit es an einem Angebot einer konkreten Hilfe oder Beratung seitens des Jugendamts fehle, sei nicht jede von den Kindeseltern gewählte Maßnahme als geeignet anzusehen. Die Eltern seien in Ermangelung des besonderen fachlichen Sachverstands eines Jugendamtes berechtigt und auch verpflichtet, eine aus ihrer Sicht geeignete Maßnahme auszuwählen. Maßgeblich sei dabei im Rahmen der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle, ob die Entscheidung als vertretbar angesehen werden könne. Die gewählte Maßnahme müsse auf den Hilfebedarf des Kindes konkret eingehen. Dem genüge die I. -Schule nicht. Soweit dort dem Vortrag der Klägerin zufolge eine Lese-Rechtschreibförderung durch eine entsprechend fortgebildete Lehrerin angeboten werde, folge daraus noch keine besondere Eignung der I. -Schule gegenüber dem öffentlichen Schulsystem. Auch die von der Mutter der Klägerin zunächst ausgewählte Gesamtschule habe eine solche Förderung angeboten. Zudem sei im Falle der Klägerin eine derartige Förderung alleine nicht ausreichend gewesen, was auch für einen Laien erkennbar aus dem Umstand folge, dass die Klägerin eine gleichartige Förderung während ihres etwa über ein Jahr erfolgten Besuchs der J. schule bereits erhalten habe. Allein der danach verbliebene Vorteil, dass die Privatschule eine Beschulung in kleineren Klassen als an öffentlichen Schulen anbiete, reiche für die Annahme der erforderlichen Eignung nicht aus. Aus den vorgelegten schulischen Stellungnahmen und dem Vorbringen der Klägerin ergebe sich nicht, dass sie mit der Klassenstärke besondere Probleme gehabt hätte. Eine eventuelle Angst vor abwertenden Reaktionen der Mitschüler resultiere nicht aus der Klassenstärke, sondern möglicherweise aus einer nicht angemessenen pädagogischen Intervention. Zudem sei bei der zunächst ausgewählten Gesamtschule aufgrund der dort angebotenen inklusiven Beschulung davon auszugehen, dass die Lehrer ein pädagogisches Konzept zur Eindämmung von behinderungsbezogenen Hänseleien hätten. Die I. -Schule stelle für die Klägerin lediglich einen besonders geschützten Rahmen bereit, der sie jedoch nicht in die Lage versetze, die zugrunde liegenden Probleme anzugehen. Dementsprechend biete die Schule keinen auf die Behinderung bezogenen Vorteil gegenüber dem öffentlichen Schulsystem, zumal die Klägerin bei einem Schulwechsel an eine integrative Gesamtschule mit einem anderen pädagogischen Konzept als an ihrer Grundschule die Erfahrung hätte machen können, dass sie ganz "normal" mit anderen Kindern auch ohne besonders geschützten Rahmen lernen könne.
4Dem setzt die Klägerin nichts entgegen, was auf das Vorliegen eines der geltend gemachten Zulassungsgründe führt.
5I. Es bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
6Stützt der Rechtsmittelführer seinen Zulassungsantrag auf diesen Zulassungsgrund, muss er sich mit den entscheidungstragenden Annahmen des Verwaltungsgerichts auseinandersetzen. Dabei muss er den tragenden Rechtssatz oder die Feststellungen tatsächlicher Art bezeichnen, die er mit seinem Antrag angreifen will, und mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage stellen. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils liegen zudem nur vor, wenn nicht nur die Richtigkeit der das Urteil selbständig tragenden Entscheidungsgründe, sondern auch die Ergebnisrichtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung durchgreifend in Frage gestellt ist. Davon ausgehend unterliegt das angefochtene Urteil unter Berücksichtigung des Zulassungsvorbringens keinen ernstlichen Richtigkeitszweifeln.
7Zunächst hat das Verwaltungsgericht angenommen, dass - wovon übereinstimmend auch die Beteiligten ausgehen - bei der Klägerin wegen ihrer diagnostizierten Erkrankungen gemäß § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII mit hoher Wahrscheinlichkeit eine länger als sechs Monate andauernde Abweichung ihrer seelischen Gesundheit von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand vorliegt. Ob das Verwaltungsgericht zu Recht - entgegen der fachlichen Einschätzung der Beklagten - auch die Voraussetzung gemäß § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII als gegeben angesehen hat, kann vorliegend dahinstehen. Denn jedenfalls ist die Einschätzung des Verwaltungsgerichts, dass die selbst beschaffte Beschulung an der I. -Schule nicht die erforderliche Eignung gegenüber dem öffentlichen Schulsystem aufweise, nach dem Zulassungsvorbringen nicht zu beanstanden.
8Im Ansatz treffend geht das Verwaltungsgericht davon aus, dass im Rahmen der Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII mit Blick auf den Vorrang der öffentlichen Schulen nach § 10 Abs. 1 SGB VIII die Kosten der Beschulung an einer Privatschule vom Jugendhilfeträger nur dann zu übernehmen sind, wenn dem Hilfesuchenden eine adäquate Förderung - d. h. die zur Bekämpfung auch der seelischen Behinderung erforderliche und geeignete Hilfe - nur an der besagten Privatschule in zumutbarer Weise zuteilwird und wenn trotz unterstützender Maßnahmen keine Möglichkeit besteht, den Hilfebedarf im öffentlichen Schulsystem zu decken. Dem Betroffenen muss mithin der Besuch einer öffentlichen Schule aus objektiven oder aus schwerwiegenden subjektiven (persönlichen) Gründen unmöglich bzw. unzumutbar sein.
9Vgl. BVerwG, Beschluss vom 17. Februar 2015
10- 5 B 61.14 -, juris Rn. 4; OVG NRW, Beschlüsse vom 5. Mai 2011 - 12 A 2195/10 -, juris Rn. 3 f., und vom 16. Mai 2008 - 12 B 547/08 -, juris Rn. 7 ff.; Stähr, in: Hauck/Noftz, SGB, Stand: Juni 2020, § 35a SGB VIII Rn. 48 und 64.
11Entgegen der Ansicht der Klägerin betrifft § 10 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII nicht nur das Verhältnis zu anderen Sozialleistungen sondern nach dem ausdrücklichen Wortlaut auch zu Verpflichtungen der Schulen.
12Bei der Entscheidung über die Art und Weise der Hilfegewährung, insbesondere über die Geeignetheit und Notwendigkeit einer Jugendhilfemaßnahme, steht grundsätzlich dem Jugendhilfeträger ein Beurteilungsspielraum zu. Dieser unterliegt nur einer eingeschränkten verwaltungsgerichtlichen Kontrolle dahingehend, ob allgemein gültige fachliche Maßstäbe beachtet worden, ob sachfremde Erwägungen eingeflossen und die Adressaten im umfassender Weise beteiligt worden sind.
13Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 12. Dezember 2018
14- 12 B 649/18 -, juris Rn. 4, und vom 11. Oktober 2013
15- 12 A 1590/13 -, juris Rn. 8 ff. m. w. N.
16Der steuerungsverantwortliche Träger der öffentlichen Jugendhilfe muss dementsprechend Gelegenheit erhalten, unter Mitwirkung und Beteiligung des Kindes bzw. Jugendlichen und der personensorgeberechtigten Person sowie ggf. eines begutachtenden Artes oder Therapeuten (Hilfeplanverfahren, vgl. § 36 SGB VIII) über Art und Weise der Hilfegewährung zu entscheiden. Er trägt die Kosten der Hilfe daher gemäß § 36a Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 SGB VIII grundsätzlich nur dann, wenn sie auf der Grundlage seiner Entscheidung nach Maßgabe des Hilfeplans unter Beachtung des Wunsch- und Wahlrechts erbracht wird.
17Wird eine Hilfe davon abweichend vom Leistungsberechtigten selbst beschafft, so ist der Träger der öffentlichen Jugendhilfe zur Übernahme der erforderlichen Aufwendungen gemäß § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII nur verpflichtet, wenn der Leistungsberechtigte den Träger der öffentlichen Jugendhilfe vor der Selbstbeschaffung über den Hilfebedarf in Kenntnis gesetzt hat (Nr. 1), die Voraussetzungen für die Gewährung der Hilfe - hier gemäß § 35a SGB VIII - vorlagen (Nr. 2) und die Deckung des Bedarfs bis zu einer Entscheidung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe über die Gewährung der Leistung oder bis zu einer Entscheidung über ein Rechtsmittel nach einer zu Unrecht abgelehnten Leistung keinen zeitlichen Aufschub geduldet hat (Nr. 3).
18Das "Inkenntnissetzen" umfasst grundsätzlich eine - ausdrückliche oder schlüssige - Beantragung der begehrten Jugendhilfeleistungen, die so rechtzeitig erfolgen muss, dass der Jugendhilfeträger zur pflichtgemäßen Prüfung sowohl der Anspruchsvoraussetzungen als auch möglicher Hilfemaßnahmen in der Lage ist.
19Vgl. zum Antragserfordernis: Vgl. BVerwG, Beschluss vom 17. Februar 2011 - 5 B 43.10 -, juris Rn. 6, zur Rechtzeitigkeit der Antragstellung: BVerwG, Urteil vom 11. August 2005 - 5 C 18.04 -, juris Rn. 19.
20Das Jugendhilferecht ist nämlich kein Recht der reinen Kostenerstattung für selbst beschaffte Leistungen, sondern verpflichtet den Träger der Jugendhilfe zur partnerschaftlichen Hilfe. Nur so kann der Jugendhilfeträger seiner Gesamtverantwortung i. S. d. § 79 Abs. 1 SGB VIII und seiner Planungsverantwortung nach § 80 Abs. 1 Nr. 2, 3 SGB VIII gerecht werden.
21Vgl. OVG NRW, Urteil vom 22. August 2014 - 12 A 3019/11 -, juris Rn. 42.
22Hat demgegenüber das Jugendamt bei hinreichend frühzeitigem Inkenntnissetzen über einen Eingliederungshilfebedarf nach § 35a Abs. 1 SGB VIII nicht rechtzeitig oder nicht in einer den vorgenannten Anforderungen entsprechenden Weise über die begehrte Hilfeleistung entschieden, können an dessen Stelle die Betroffenen den hinsichtlich der Geeignetheit und Erforderlichkeit einer Maßnahme sonst der Behörde zustehenden, nur begrenzt gerichtlich überprüfbaren Einschätzungsspielraum für sich beanspruchen. Denn in dieser Situation sind sie - obgleich ihnen der Sachverstand des Jugendamtes fehlt - dazu gezwungen, im Rahmen der Selbstbeschaffung des § 36a Abs. 3 SGB VIII eine eigene Entscheidung über die Geeignetheit und Erforderlichkeit einer Maßnahme zu treffen. Weil nun ihnen die Entscheidung aufgebürdet ist, eine angemessene Lösung für eine Belastungssituation zu treffen, hat dies zur Folge, dass die Verwaltungsgerichte nur das Vorhandensein des jugendhilferechtlichen Bedarfs uneingeschränkt zu prüfen, sich hinsichtlich der Geeignetheit und Erforderlichkeit der selbst beschafften Hilfe aber auf eine fachliche Vertretbarkeitskontrolle aus der ex-ante-Betrachtung der Leistungsberechtigten zu beschränken haben. Ist die Entscheidung der Berechtigten in diesem Sinne fachlich vertretbar, kann ihr etwa im Nachhinein nicht mit Erfolg entgegnet werden, das Jugendamt hätte eine andere Hilfe für geeignet gehalten.
23Vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Oktober 2012 - 5 C 21.11 -, juris Rn. 31 ff.; zum Systemversagen vgl. auch BVerwG, Urteil vom 12. September 2013 - 5 C 35.12 -, juris Rn. 20 ff.; vgl. ferner OVG NRW, Urteil vom 16. November 2015 - 12 A 1639/14 -, juris Rn. 104.
24Im Rahmen der fachlichen Vertretbarkeitskontrolle darf aber der Vorrang des öffentlichen Schulsystems nicht unberücksichtigt bleiben. Dementsprechend kann die Selbstbeschaffung eines Privatschulplatzes nur dann zulässig sein, wenn aus der ex-ante-Sicht des Hilfesuchenden trotz unterstützender Maßnahmen keine Möglichkeit besteht, den Hilfebedarf im öffentlichen Schulsystem zu decken, und es fachlich vertretbar erscheint, dass der Betroffene den Besuch einer öffentlichen Schule für unmöglich bzw. unzumutbar hält.
25Vgl. zur Berücksichtigung des Vorrangs des öffentlichen Schulsystems als Aspekt bei der Beurteilung der Vertretbarkeit einer selbst beschafften privaten Beschulung auch OVG NRW, Urteil vom 26. Juni 2019 - 12 A 2468/16 -, juris Rn. 81 ff.
26Dies zugrunde gelegt führt das Zulassungsvorbringen der Klägerin nicht auf eine Unrichtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung.
27Dabei lässt der Senat - wie auch das Verwaltungsgericht - dahinstehen, ob die Klägerin das Jugendamt der Beklagten über den Hilfebedarf gemäß § 36a Abs. 3 Nr. 1 SGB VIII rechtzeitig in Kenntnis gesetzt hat. Entgegen der Ansicht der Klägerin dürfte jedenfalls nicht auf den in § 14 Abs. 2 Satz 2 bzw. 4 SGB IX genannten Zeitraum von drei Wochen abzustellen sein. Ebenso wenig dürfte stets eine Bearbeitungsfrist von drei bis vier Monaten einzuräumen sein. Vielmehr dürfte die dem Jugendhilfeträger für die Prüfung zur Verfügung stehende Zeit von den Umständen des Einzelfalls abhängen. Dabei fällt vorliegend ins Gewicht, dass zunächst keine für die Antragsprüfung und Hilfeplanung erforderliche Stellungnahme i. S. v. § 35a Abs. 1a SGB VIII vorgelegen hatte, dass die Mutter der Klägerin mit E-Mail vom 31. Mai 2016 auch noch mitteilte, die Durchführung weiterer Diagnostik nicht durchführen zu können bzw. wollen, und dass sie eine vorherige Zusage seitens des Jugendamtes offenbar ohnehin nicht abwarten wollte. So hat sie bereits vor dem 23. Juni 2016 (Datum der Anmeldebestätigung) die Anmeldung der Klägerin an der I. -Schule vorgenommen, obwohl die beim Jugendamt zur Prüfung eingereichte ärztliche Stellungnahme, die lediglich einen Wechsel auf eine Gesamtschule empfohlen hat, erst vom 20. Juni 2016 datiert. Kurz darauf hat sie ihre Tochter mit Schreiben vom 1. Juli 2016 von der Erich-Fried-Gesamtschule, an der ihr auf eine Meldung aus Januar 2016 bereits zuvor für das Schuljahr 2016/2017 ein Platz zugeteilt worden war, wieder abgemeldet. Damit hat sie vor der Anmeldung an der Privatschule dem Jugendamt keine ausreichende Möglichkeit gegeben, die eher gegen die Erforderlichkeit einer Beschulung auf der I. -Schule sprechende ärztliche Stellungnahme zu prüfen und entsprechend zu reagieren, zumal sie die Anmeldung nicht einmal gegenüber dem Jugendamt angekündigt oder unmittelbar mitgeteilt hat. Damit wäre voraussichtlich die Selbstbeschaffung jedenfalls zu Beginn der Maßnahme von vornherein unzulässig gewesen.
28Vgl. zur Frage, ob eine solche nachträglich zulässig werden kann: OVG NRW, Urteil vom 16. November 2015 - 12 A 1639/14 -, juris Rn. 84 ff. m. w. N.
29Darauf kommt es allerdings nicht an. Denn die Klägerin zeigt mit ihrem Zulassungsvorbringen keine ernstlichen Richtigkeitszweifel an der tragenden Feststellung des Verwaltungsgerichts auf, gemessen an ihrem Hilfebedarf sei die gewählte Schule ungeeignet.
301. Mit dem pauschalen Vorbringen, ihrer Mutter sei "von allen Seiten deutlich signalisiert worden […], für ihre Tochter komme nur die I. -Schule für eine weitere Beschulung infrage", dringt die Klägerin nicht durch. Sie zeigt in diesem Zusammenhang keine Aspekte auf, die die Schlussfolgerung tragen, sie bzw. ihre Mutter habe aus ex-ante-Sicht den Besuch einer öffentlichen Schule aus objektiven oder aus schwerwiegenden persönlichen Gründen für unmöglich bzw. unzumutbar halten und davon ausgehend fachlich vertretbar von einer Geeignetheit und Erforderlichkeit der selbst beschafften Beschulung als Maßnahme der Eingliederungshilfe ausgehen dürfen. Dies gilt namentlich auch mit Blick darauf, dass die Klägerin zunächst für den Besuch einer öffentlichen Schule angemeldet war. Sie legt schon nicht schlüssig dar, welche konkreten Angaben ihr wann und wie gemacht worden sein sollen und inwieweit solche Angaben vor dem Hintergrund einer erkennbar nicht abgeschlossenen Prüfung seitens des Jugendamtes objektiv als Aussage dahingehend gewertet werden konnten, eine Beschulung in der I. -Schule statt im öffentlichen Schulsystem sei zur Deckung eines Eingliederungsbedarfs der Klägerin geeignet. Zweifel an einer trotz des Vorrangs des öffentlichen Schulsystems bestehenden Eignung der I. -Schule hätten bei der Klägerin bzw. ihrer Mutter bereits im Zeitpunkt der Anmeldung an dieser Schule und nicht erst nach dem Fachgespräch vom 17. Juli 2016 bestehen müssen. So hat die Sachbearbeiterin der Beklagten die Mutter der Klägerin zunächst im Mai und Juni 2016 - in E-Mails und offenbar auch in Gesprächen - auf eine fehlende Diagnostik hingewiesen (vgl. E-Mail vom 31. Mai 2016) und deutlich gemacht, dass noch ein Fachgespräch stattfinde, in dem sie versuchen werde, aus den vorliegenden Unterlagen "das Beste […] rauszuholen" (E-Mail vom 2. Juni 2016). Zudem wies die Sachbearbeiterin der Beklagten die Mutter der Klägerin mit E-Mails vom 28. und 29. Juni 2016 darauf hin, dass die zwischenzeitlich nachgereichte ärztliche Stellungnahme der Ärztin V. I2. vom 20. Juni 2016 einen Wechsel auf eine Gesamtschule empfehle, was auch eine öffentliche Gesamtschule umfasse. Wie die Mutter der Klägerin vor diesem fachlich erkennbar noch nicht geprüften Hintergrund vertretbar von einer Eignung der I. -Schule als behinderungsbezogene Maßnahme der Eingliederungshilfe - und nicht nur zu einer Leistungsverbesserung (so der unter Nr. 7 der Bedarfsanalyse vom 22. Juli 2016 vermerkte Wunsch der Kindesmutter) - ausgehen konnte, erschließt sich aufgrund des Zulassungsvorbringens nicht.
312. Die Richtigkeit der Einschätzung des Verwaltungsgerichts unterliegt auch unter Berücksichtigung der weiteren fristgerecht vorgebrachten Erwägungen der Klägerin im Zulassungsverfahren keinen ernstlichen Zweifeln.
32Die Klägerin macht geltend, dass die I. -Schule über eine kleine Klassengröße hinaus auch Angebote einer intensiveren Beschulung - wie etwa gemeinsame Hausaufgabenbearbeitung, Sport-, Spiel-, Kreativ- und anderen Angebote - vorhalte, aufgrund derer sie sich vom öffentlichen Schulsystem unterscheide. Insbesondere unterscheide sich die I. -Schule in Bezug auf die Lese- und Rechtschreibförderung stark von einer öffentlichen Schule. Damit zeigt die Klägerin - sowohl hinsichtlich ihrer ex ante-Perspektive als auch bezogen auf die Einschätzung der Beklagten im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung - nicht auf, dass das Verwaltungsgericht eine Eignung der I. -Schule gegenüber dem öffentlichen Schulsystem hätte bejahen müssen. Mit der Annahme des Verwaltungsgerichts, weder aus der schulischen Stellungnahme noch aus dem Vorbringen der Klägerin ergebe sich, dass diese mit der Klassenstärke besondere Probleme gehabt habe, setzt sich das fristgerechte Zulassungsvorbringen bereits nicht auseinander. Inwieweit die von der Klägerin ohnehin nur pauschal benannten Angebote einer intensiveren Beschulung an der I. -Schule über vergleichbare Angebote im öffentlichen Schulsystem hinausgehen und konkret auf ihren Hilfebedarf eingehen und zur Bekämpfung bzw. Verhinderung einer seelischen Behinderung (sei es mit Blick auf die Lese- und Rechtschreibschwäche, sei es mit Blick auf andere Beeinträchtigungen) erforderlich und geeignet sind, wird innerhalb der Frist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO nicht näher dargelegt und ist auch sonst nicht ersichtlich.
33Hinsichtlich der Lese- und Rechtschreibförderung zeigt die Klägerin - auch bei Zugrundelegung der damaligen ex-ante-Sicht ihrer Mutter - nicht hinreichend schlüssig auf, dass die bei einer Beschulung im öffentlichen Schulsystem zugänglichen Förderungsmöglichkeiten keine adäquate Förderung dargestellt hätten oder dass deren Inanspruchnahme nicht zumutbar gewesen wäre. Aus den beigezogenen Verwaltungsvorgängen ergibt sich, dass die Mutter der Klägerin vor den Sommerferien 2016 zur Beratung das Inklusionsbüro der Beklagten aufgesucht hatte und Kenntnis davon erlangt hat, dass die F. -G. -Gesamtschule über Sonderpädagogen verfüge und auch auf die Thematik Lese-Rechtschreibschwäche eingehen könne. Soweit die Klägerin darauf verweist, dass das Förderangebot an der I. -Schule neben einer schulischen Förderung auch eine zusätzliche Therapie umfasse, die als außerschulische Fördermaßnahme anzusehen sei, legt sie bereits nicht näher dar, dass und warum eine solche für das maßgeblich in Streit stehende Schuljahr 2016/2017 als erforderlich anzusehen war. Es fehlt aber jedenfalls an einer Darlegung dazu, dass und warum ein eventueller zusätzlicher Förderbedarf nicht auch durch (lediglich) ergänzende Eingliederungshilfe hätte gedeckt werden können. Die innerhalb der Beschwerdefrist vorgebrachte pauschale Behauptung, dass die Klägerin jegliche außerschulische Aktivität außerhalb des Schulumfelds abgelehnt habe, findet so in den zur Akte gereichten schulischen, ärztlichen oder therapeutischen Stellungnahmen keinen Ausdruck und ist deshalb nicht ausreichend. Das gilt erst recht, wenn es - wie hier - darum geht, eine für eine zulässige Selbstbeschaffung gemäß § 36a Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII erforderliche Unaufschiebbarkeit der Erlangung einer außerschulischen Förderung im schulischen Rahmen der I. -Schule zu begründen.
34Die Darstellung etwaiger Vorzüge des an der I. -Schule angewandten Modells des Marburger Rechtschreibtrainings und die Angaben zur Therapeutin sowie zur Gruppengröße genügen ebenfalls nicht, um eine fehlende Eignung und eine Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme von Angeboten im öffentlichen Schulsystem (in dem eine Förderung nach diesem Modell auch nicht ausgeschlossen scheint) darzulegen. Soweit die Klägerin im Berufungszulassungsverfahren erstmals einen ganzheitlichen pädagogischen Ansatz als wichtig hervorhebt und insoweit darauf verweist, dass die I. -Schule nach der Montessori-Pädagogik arbeite, ist nicht näher dargelegt und auch sonst nicht ersichtlich, dass sie eine Beschulung mit solchen Methoden derart dringend benötigt hätte, dass eine Förderung im öffentlichen Schulsystem - auch aus damaliger ex-ante-Sicht - nicht mehr als adäquat angesehen werden konnte. Aus den im Verwaltungsverfahren vorgelegten ärztlichen und schulischen Stellungnahmen ist derartiges nicht zu entnehmen, aus der im Zulassungsverfahren außerhalb der Begründungsfrist eingereichten und ohnehin primär den späteren Zustand der Klägerin kennzeichnenden Stellungnahme des Kinder- und Jugendpsychiaters I3. I4. vom 19. Februar 2018 ebenfalls nicht.
35Dass und warum eine erneute Testung der Klägerin im Februar 2017 praktisch keine Verbesserung ihrer Fähigkeiten ergeben habe, ist sowohl für die ex-ante-Beurteilung durch die Klägerin bzw. ihre Mutter im Zeitpunkt der Selbstbeschaffung als auch für die fachliche Beurteilung durch die Beklagte im Zeitpunkt der Behördenentscheidung unerheblich. Ebenso unerheblich ist, ob entgegen dieser Testung ex post betrachtet womöglich doch "stetige Verbesserungen in kleinen Schritten festzustellen" sind oder inwieweit die Klägerin nach einiger Zeit auf der I. -Schule - womöglich als Folge der dortigen Beschulung und Förderung - Fortschritte hinsichtlich der Akzeptanz von Fördermaßnahmen gemacht hat.
36Abgesehen davon ist hinsichtlich sämtlicher möglicher Vorteile der I. -Schule nicht ersichtlich, dass deren sofortiger Erhalt anstelle der im öffentlichen Schulsystem kurzfristig ebenfalls realisierbaren Hilfsmöglichkeiten, auf die sie vom Inklusionsbüro hingewiesen worden ist, seinerzeit keinen zeitlichen Aufschub geduldet hätte, was gemäß § 36a Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII weitere - bisher nicht geprüfte - Voraussetzung für eine zulässige Selbstbeschaffung wäre. Es kann auch zumutbar sein, vorerst auf eine weiterführende Schule des öffentlichen Schulsystems zu wechseln, um die Entscheidung des Jugendamts - nach einem regulären Antrags- und Hilfeplanverfahren - abzuwarten.
37II. Die Berufung ist auch nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO).
38Die von der Klägerin als grundsätzlich bedeutsam aufgeworfene Frage, in welchem Umfang und in welcher Zeit ein Jugendamt nach Eingang eines Eingliederungshilfeantrags tätig werden müsse, hat sich dem Verwaltungsgericht nicht gestellt, da es einen Anspruch auf Kostenübernahme wegen fehlender Eignung der selbst beschafften Leistung abgelehnt hat. Die Klägerin legt zudem die generelle Klärungsfähigkeit dieser Frage nicht ansatzweise dar.
39III. Schließlich weicht die angefochtene Entscheidung des Verwaltungsgerichts entgegen dem Vorbringen der Klägerin auch nicht von der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgericht ab (§ 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO).
40Die Klägerin stellt insoweit zunächst zutreffend darauf ab, dass die Verwaltungsgerichte sich nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats bei einer zulässigen Selbstbeschaffung hinsichtlich der Geeignetheit und Erforderlichkeit der selbst beschafften Hilfen auf eine fachliche Vertretbarkeitskontrolle aus der ex-ante-Betrachtung der Leistungsberechtigten zu beschränken haben.
41Vgl. OVG NRW, Urteil vom 16. November 2015 - 12 A 1639/14 -, juris Rn. 104, m. w. N. aus der Rechtsprechung des BVerwG.
42Unzutreffend ist aber die Annahme, dass das Verwaltungsgericht hiervon abgewichen wäre. Vielmehr hat es ausdrücklich gerade darauf abgestellt, dass die Eltern in Ermangelung des besonderen fachlichen Sachverstands eines Jugendamtes berechtigt und auch verpflichtet seien, eine aus ihrer Sicht geeignete Maßnahme auszuwählen, und dass im Rahmen der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle maßgeblich sei, ob die Entscheidung als vertretbar angesehen werden könne. Soweit das Verwaltungsgericht bei Anwendung dieses obergerichtlich für maßgeblich gehaltenen Maßstab zu einem anderen - zudem nicht ernstlich zweifelhaften (siehe oben unter I.) - Ergebnis kommt als die Klägerin, liegt hierin keine Abweichung von der entsprechenden obergerichtlichen Rechtsprechung. Soweit die Klägerin zur Darlegung einer angeblichen Divergenz selbst auf Erfolge verweist, zu denen der Besuch der I. -Schule geführt haben soll, legt sie - in Abweichung der von ihr angeführten Rechtsprechung - selbst eine ex-post-Betrachtung zugrunde.
43Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 188 Satz 2 Halbsatz 1 VwGO.
44Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
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Tenor
Der Vollzug von § 1 der Dritten Ordnungsbehördlichen Verordnung vom 9.10.2020 über das Offenhalten von Verkaufsstellen in der Stadt Troisdorf an Sonntagen im Jahre 2020 wird im Wege der einstweiligen Anordnung ausgesetzt.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 10.000,00 Euro festgesetzt.
Gründe:
1Der Antrag,
2§ 1 der Dritten Ordnungsbehördlichen Verordnung 2020 über das Offenhalten von Verkaufsstellen in der Stadt Troisdorf an Sonntagen im Jahre 2020 im Wege der einstweiligen Anordnung außer Vollzug zu setzen.
3ist zulässig und begründet.
4Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 47 Abs. 6 VwGO liegen vor. Nach dieser Bestimmung kann das Normenkontrollgericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist.
5Das ist hier der Fall. Schon gemessen an dem für eine normspezifische einstweilige Anordnung allgemein anerkannten besonders strengen Maßstab erweisen sich die angegriffenen Regelungen als offensichtlich rechtswidrig und nichtig. Ihre Umsetzung beeinträchtigt die Antragstellerin so konkret, dass eine einstweilige Anordnung deshalb dringend geboten ist.
6Die umstrittene Verordnungsregelung ist von der Ermächtigungsgrundlage des § 6 Abs. 4 i. V. m. Abs. 1 LÖG NRW nicht gedeckt. Sie wird dem in dieser gesetzlichen Regelung konkretisierten verfassungsrechtlichen Schutzauftrag aus Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV, der ein Mindestniveau des Sonn- und Feiertagsschutzes gewährleistet und für die Arbeit an Sonn- und Feiertagen ein Regel-Ausnahme-Verhältnis statuiert, zweifelsfrei nicht gerecht.
7Nach den den Beteiligten bekannten rechtlichen Maßstäben, die der Senat unter anderem in seinen Beschlüssen vom 28.8.2020 ‒ 4 B 1261/20.NE ‒ und vom 3.9.2020 – 4 B 1253/20.NE – nochmals zusammengestellt hat, tragen die angegriffenen Regelungen in der Ordnungsbehördlichen Verordnung der Antragsgegnerin dem verfassungsrechtlich geforderten Regel-Ausnahme-Verhältnis für die Arbeit an Sonn- und Feiertagen nicht ausreichend Rechnung. Sie stellen bereits nicht sicher, dass die für die Verkaufsstellenfreigabe jenseits bloß wirtschaftlicher Umsatzinteressen der Verkaufsstelleninhaber und alltäglicher Erwerbsinteressen potentieller Kunden angeführten Sachgründe für das Publikum während der freigegebenen Zeiten als gerechtfertigte Ausnahmen von der sonntäglichen Arbeitsruhe zu erkennen sind. Stattdessen prägen die ausweislich der vom Rat am 29.9.2020 beschlossenen Ratsvorlage 2020/0729/1 Sonntagsöffnungen wegen ihrer öffentlichen Wirkung den Charakter des jeweiligen Tages im Ortsteil Troisdorf-Mitte in besonderer Weise. Die Öffnungsfreigaben dienen erklärtermaßen der Zielsetzung, an den festgesetzten Sonntagen Kaufkundschaft in die betreffenden Straßen zu locken und hierdurch Ladeninhabern dort die Möglichkeit zu bieten, Umsätze aufzuholen. Die Freigaben sollten einmalig, ausschließlich und allein im Zusammenhang mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie erfolgen. Sie laufen jedoch nach dem Wegfall ursprünglich geplanter Anlassveranstaltungen nunmehr ohne einen Sachgrund mit überwiegender Prägekraft für den Charakter des Tages im Öffnungszeitraum jeweils auf eine weitgehende Gleichstellung mit den Werktagen und ihrer geschäftigen Betriebsamkeit hinaus, wodurch das verfassungsrechtlich stets zu wahrende Mindestniveau des Sonn- und Feiertagsschutzes jedenfalls unterschritten wird.
8Selbst seltene ungerechtfertigte Ausnahmen von dem Gebot sonn- und feiertäglicher Arbeitsruhe bleiben ungerechtfertigte Ausnahmen, die einen Teil des Handels angesichts der überwiegend durchgehaltenen sonntäglichen Arbeitsruhe unzulässig begünstigen sowie wegen ihrer Unzulässigkeit nach geltendem Recht auch den Beschäftigten nicht zuzumuten sind und gewerkschaftliche Aktivität über Gebühr erschweren. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht in seinen Urteilen vom 22.6.2020 ebenso klargestellt wie das Erfordernis rechtssicherer Maßstäbe für verfassungsrechtlich tragfähige Ausnahmen vom grundsätzlichen Sonntagsöffnungsverbot.
9Gerade angesichts von wirtschaftlichen Folgen, denen zwar nicht der ganze stationäre Einzelhandel, aber doch bestimmte Branchen landesweit im Wesentlichen in vergleichbarer Weise ausgesetzt sind, ist kein zureichender Sachgrund ersichtlich, der eine Ausnahme für bestimmte Straßenzüge in Troisdorf-Mitte rechtfertigt, während die Geschäfte in anderen Stadteilen und Gemeinden, auch und gerade, soweit sie durch die Pandemie ähnlich betroffen sind, geschlossen bleiben müssen. Ungeachtet dessen, dass den festgesetzten Sonntagsöffnungen – wie ausgeführt – bereits die ausschließlich mit ihnen verbundene werktägliche Geschäftigkeit entgegensteht, bedeutet ihre Festsetzung eine Verletzung der gebotenen Wettbewerbsneutralität.
10Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 24.9.2020 – 4 B 1383/20.NE –, juris, Rn. 22 ff.
11Zur weiteren Begründung nimmt der Senat Bezug auf seine den Beteiligten bekannten Ausführungen in seinen Beschlüssen vom 28.8.2020 ‒ 4 B 1261/20.NE ‒ und vom 3.9.2020 – 4 B 1253/20.NE –, die für die hier in Rede stehenden Ladenöffnungsfreigaben entsprechend gelten. Entscheidungserhebliche Besonderheiten sind weder geltend gemacht noch sonst ersichtlich. Insbesondere ist nicht nachvollziehbar, inwiefern die Antragsgegnerin nunmehr im gerichtlichen Verfahren davon ausgeht, die vom Rat beschlossenen Sonntagsfreigaben hätten sich auf einen hinreichen Anlassbezug gestützt. Ausdrücklich heißt es in der Ratsvorlage: „In Abstimmung mit den Gewerbetreibenden schlägt die Pressestelle dem Rat der Stadt Troisdorf nunmehr eine Sonntagsöffnung der Verkaufsstellen ohne Anlassbezug wie folgt vor:“ (Ratsvorlage, Seite 2). Die in der Ratsvorlage im Anschluss erwähnten und nunmehr ins Feld geführten „sehr vereinzelten (Verkaufs-)Stände“, die die verkaufsoffenen Sonntage im Rahmen der aktuellen Regelungen und Möglichkeiten der Coronaschutzverordnung „begleiten“ sollen (Ratsvorlage, Seite 2), stellen nicht ansatzweise ein örtliches Fest, einen Markt, eine Messe oder eine ähnliche Veranstaltung im Sinne des § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 LÖG NRW dar. Folgerichtig geht die Ratsvorlage auch davon aus, dass durch diese – im Übrigen nicht näher beschriebenen – (Verkaufs-)Stände eine anlassgebende (Groß-)Veranstaltung nicht begründet werde. Die Freigabe erfolgte mithin auch nicht auf Grundlage des § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 LÖG NRW, sondern wurde in der maßgeblichen Ratsvorlage 2020/0729/1 allein auf § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 und 4 LÖG NRW gestützt.
12Das Vorgehen der Antragsgegnerin befremdet umso mehr, als sie in Kenntnis der höchstrichterlich geklärten Verfassungsgrundsätze und der Rechtsprechung des Senats sowie ohne Darlegung eines Anlassbezuges oder örtlicher Besonderheiten die streitgegenständlichen Sonntagsöffnungen zunächst beschließt und anschließend in dem Bewusstsein eines angekündigten Normenkontrolleilantrags und trotz der Aufhebung des Erlasses des Ministeriums für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie des Landes Nordrhein-Westfalen vom 14.7.2020 (2. Neufassung) die Ordnungsbehördliche Verordnung noch heute, erst zwei Tage vor der ersten festgesetzten Sonntagsöffnung, bekannt macht. Dieses Vorgehen gibt dem Senat Anlass zu der Anmerkung, dass die Einhaltung und Durchsetzung der Gesetze nicht allein Sache der Gerichte ist. Der Staat erwartet nicht nur von seinen Bürgern, dass sie sich grundsätzlich von sich aus an das geltende Recht halten. Im demokratischen Verfassungsstaat unter dem Grundgesetz besteht diese Erwartung umso mehr gegenüber der kommunalen und staatlichen Verwaltung sowie gegenüber den auf die Verfassung vereidigten Amtsträgern. Auch wenn sie in schweren Zeiten politische Zeichen setzen wollen, haben sie dies innerhalb der Grenzen der gesetzlichen und verfassungsgemäßen Ordnung zu tun.
13Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
14Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG, und trägt dem Umstand Rechnung, dass eine einstweilige Regelung bezogen auf zwei Sonntagsfreigaben begehrt wird, wofür der Senat in ständiger Praxis den Auffangstreitwert heranzieht.
15Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 10.6.2016 – 4 B 504/16 –, NVwZ-RR 2016, 868 = juris, Rn. 48 ff., m. w. N.
16Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i. V. m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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Tenor
1.
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
2.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 2.500,- Euro festgesetzt.
1Gründe
2Der am 21. September 2020 sinngemäß gestellte Antrag,
3die aufschiebende Wirkung der noch zu erhebenden Klage gegen die Ordnungsverfügung der Antragsgegnerin vom 1. September 2020 wiederherzustellen,
4hat keinen Erfolg.
5Der Antrag ist bereits unzulässig.
6Ein Antrag auf Anordnung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ist nur statthaft, wenn ein gegenüber der Antragstellerin noch nicht bestandskräftiger Verwaltungsakt vorliegt, der entweder gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis 3, Satz 2 VwGO kraft Gesetzes oder gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO kraft behördlicher Anordnung sofort vollziehbar ist. Dies ist vorliegend nicht der Fall.
7Die streitgegenständliche Ordnungsverfügung der Antragsgegnerin vom 1. September 2020 ist mangels Klageerhebung bereits bestandskräftig geworden. Dieser mit einer zutreffenden Rechtsbehelfsbelehrung versehene Bescheid ist der Antragstellerin am 5. September 2020 mit Postzustellungsurkunde zugestellt worden. Innerhalb der Klagefrist des § 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO hat die Antragstellerin keine Klage erhoben, so dass der Bescheid bestandskräftig geworden ist und hiergegen mangels erkennbarer Wiedereinsetzungsgründe ein zulässiger Rechtsbehelf, dessen aufschiebende Wirkung angeordnet werden könnte, nicht mehr erhoben werden kann.
8Der Antrag ist zudem unbegründet.
9Die im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO vom Gericht vorzunehmende Interessenabwägung fällt zu Lasten der Antragstellerin aus, weil sich die angegriffene Ordnungsverfügung bei der im Eilverfahren allein möglichen und gebotenen Prüfung der Sach- und Rechtslage als rechtmäßig erweist. Dem von der Antragsgegnerin dargelegten besonderen öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung der Ordnungsverfügung stehen auch im Übrigen keine überwiegenden, schutzwürdigen privaten Interessen der Antragstellerin entgegen.
10Regelungsgehalt der angefochtenen Verfügung der Antragsgegnerin ist unter Berücksichtigung der Änderung vom 8. Oktober 2020 die Räumung der von der Antragstellerin innegehaltenen Wohnung in der X.-------straße 0, 00000 X. mit Ablauf des 2. November 2020 unter Anordnung der sofortigen Vollziehung sowie die Androhung der Zwangsmittel des unmittelbaren Zwangs und der Ersatzvornahme für den 3. November 2020.
11Zunächst begegnet die Anordnung der sofortigen Vollziehung keinen rechtlichen Bedenken. Insbesondere liegt eine schriftliche Begründung entsprechend § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO vor, die erkennen lässt, dass die Antragsgegnerin sich des Ausnahmecharakters der Anordnung der sofortigen Vollziehung bewusst war und diese bezogen auf den konkreten Einzelfall ergangen ist. Maßgeblich ist dabei die sich oberhalb der Rechtsbehelfsbelehrung befindliche Begründung. Die unterhalb der Rechtsbehelfsbelehrung erfolgte, weitere Anordnung der sofortigen Vollziehung, zu dessen Begründung auf „die Obdachlosigkeit der Eingewiesenen“ verwiesen wird, ist als offensichtlicher Schreibfehler unbeachtlich.
12Ermächtigungsgrundlage für die Räumungsaufforderung ist § 14 Abs. 1 OBG NRW.
13Danach können die Ordnungsbehörden die notwendigen Maßnahmen treffen, um eine im einzelnen Falle bestehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren. Diese Voraussetzungen liegen voraussichtlich vor.
14Die Räumungsaufforderung ist in formeller Hinsicht nicht zu beanstanden. Insbesondere ist die Antragstellerin entsprechend § 28 Abs. 1 VwVfG NRW unter dem 14. Juli 2020 zur beabsichtigten Räumung angehört worden. Das Anhörungsschreiben wurde ausweislich eines Aktenvermerks im Verwaltungsvorgang der Antragsgegnerin am 4. August 2020 von der Antragstellerin zur Kenntnis genommen. Sie hat gleichwohl innerhalb der von der Antragsgegnerin verlängerten Anhörungsfrist keine Stellungnahme abgegeben.
15Die Räumungsaufforderung ist auch materiell rechtmäßig. Die Antragstellerin stellt durch ihren Verbleib in der Wohnung nach dem 2. November 2020 eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung, zu welcher auch die Unverletzlichkeit der Rechtsordnung gehört, dar. Die Wohnberechtigung der Antragstellerin folgt aus der Beschlagnahme der Wohnung und der Einweisung der Antragstellerin in diese seit 1. März 2013, zuletzt durch die Verfügung der Antragsgegnerin vom 1. Juli 2020. Diese ist befristet und läuft am 2. November 2020 aus.
16Nach Beendigung einer Wohnungsbeschlagnahme, die nach § 19 Abs. 1 OBG NRW zur Unterbringung Obdachloser erfolgt ist, hat der Hauseigentümer gegenüber der Behörde einen Folgenbeseitigungsanspruch auf Beendigung der Nutzung und Herausgabe der Räume. Zur Erfüllung dieses Anspruchs kann die Behörde gegenüber der eingewiesenen Person eine auf § 14 Abs. 1 OBG NRW gestützte Räumungsverfügung erlassen.
17 Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 25.10.1990 - 9 B 2864/90 -.
18Einen dem entgegenstehenden Anspruch auf erneute Beschlagnahme und Wiedereinweisung hat die Antragstellerin nicht. Die Beschlagnahme einer von der Antragstellerin bewohnten und im Eigentum eines Dritten stehenden Wohnung stellt eine Inanspruchnahme eines Nichtstörers dar. Eine solche ist gemäß § 19 Abs. 1 Nr. 3 OBG NRW nur zulässig, wenn die Gefahr von der Ordnungsbehörde (mit eigenen Mitteln) oder durch Beauftragte nicht abgewehrt werden kann. Die Antragsgegnerin darf einen Vermieter als Nichtstörer durch eine Beschlagnahme- und Wiedereinweisungsverfügung dann nicht in Anspruch nehmen, wenn sie eine obdachlosenrechtlichen Maßstäben genügende Unterkunft beschaffen und dem Betroffenen zuweisen kann, was hier augenscheinlich gegenwärtig der Fall ist. Dabei ist die Ordnungsbehörde im Rahmen ihrer eigenen Bemühungen noch nicht einmal verpflichtet, für eine wohnungsmäßige Voll- und Dauerversorgung des Betroffenen zu sorgen, sondern lediglich für eine obdachmäßige Unterbringung. Zudem ist im vorliegenden Fall der nach der Rechtsprechung höchstens zulässige Beschlagnahmezeitraum von 6 Monaten deutlich überschritten. Hinzu kommt, dass die Wohnungseigentümerin einer weiteren Nutzung durch die Antragstellerin und ihrer Familie ausdrücklich widersprochen hat.
19Ermessensfehler sind in Bezug auf die Räumungsanordnung nicht ersichtlich. Insbesondere die eingeräumte Räumungsfrist zum Ablauf des 2. November 2020 begegnet auch angesichts des mit der vorherigen Anhörung verbundenen zusätzlichen zeitlichen Vorlaufs keinen rechtlichen Bedenken. Die Antragstellerin ist bereits im Rahmen der Anhörung vom 14. Juli 2020 darauf hingewiesen worden, dass die Wohnungseigentümerin wegen wiederholt mietwidrigen Verhaltens nicht mehr mit der Einweisung der Antragstellerin einverstanden ist und dass seitens der Antragsgegnerin ihre Zwangsaussetzung zum nächstmöglichen Zeitpunkt beabsichtigt sei.
20Die Anordnung ist auch verhältnismäßig.
21Die Anordnung, eine Unterkunft zu räumen, ist regelmäßig nur dann als verhältnismäßig anzusehen, wenn die Antragsgegnerin der Antragstellerin eine den Erfordernissen an eine angemessene Unterbringung genügende Unterkunft zur Verfügung stellt und sie nicht in die Obdachlosigkeit entlässt. Dabei ist der Unterbringungsanspruch einer obdachlos gewordenen Person nach § 14 Abs. 1 OBG NRW grundsätzlich lediglich auf die Unterbringung in einer menschenwürdigen Unterkunft gerichtet, die Schutz vor den Unbilden der Witterung bietet sowie Raum für die notwendigsten Lebensbedürfnisse lässt. Dabei müssen Betroffene im Verhältnis zur Versorgung mit einer Wohnung weitgehende Einschränkungen hinnehmen. Beispielsweise ist Einzelpersonen grundsätzlich auch eine Unterbringung in Sammelunterkünften mit Schlaf- und Tagesräumen für mehrere Personen zumutbar. Die Grenzen zumutbarer Einschränkungen liegen erst dort, wo die Anforderungen an eine menschenwürdige Unterbringung nicht eingehalten sind.
22Vgl. so schon OVG NRW, Beschluss vom 04.03.1992 - 9 B 3839/91 -, juris Rn. 7 f.; OVG NRW, Beschluss vom 17.02.2017 - 9 B 209/17 -, juris Rn. 6; zuletzt OVG NRW, Beschluss vom 06.03.2020 - 9 B 187/20 -, juris Rn. 9.
23Dabei kommt es aber immer auch auf die Einzelfallumstände an. Liegen besondere Umstände wie etwa Alter, körperliche und psychische Erkrankungen sowie Pflegebedürftigkeit vor, bedarf es einer einzelfallbezogenen Prüfung, ob eine grundsätzlich zu Unterbringung von Obdachlosen geeignete Unterkunft auch für den jeweiligen Antragsteller bzw. die Antragstellerin zumutbar ist.
24Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 03.02.2016 - 9 E 73/16 -, juris Rn 15, Beschluss vom 07.03.2018 - 9 E 129/18 -, juris Rn. 12 und Beschluss vom 06.03.2020 - 9 B 187/20 -, juris Rn. 10
25Nach ständiger Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen gehört zur menschenwürdigen Unterbringung auch, dass dem Unterzubringenden eine gewisse Mindestfläche zur Verfügung steht, wenngleich die Anschauungen hierüber nach den Zeitumständen Wandlungen unterworfen sein mögen. Ferner kann zu berücksichtigen sein, ob zusätzlich zum Schlafraum Gemeinschaftseinrichtungen wie Küche und Tagesraum zur Verfügung stehen. Zudem ist z.B. Familienmitgliedern oder jüngeren Personen gleichen Geschlechts und Alters zumutbar, auf engerem Raum zu leben als Personen, die weder durch Familienzusammengehörigkeit noch durch vergleichbare Lebensumstände verbunden sind.
26Vgl. schon OVG NRW, Beschluss vom 9. August 1996 - 9 B 1779/96 - (Unterbringung von Eltern mit 6 Kindern zwischen einem Monat und 15 Jahren in einer aus 4 getrennten Räumen – einer Küche, 2 Schlafräumen und einem Aufenthaltsraum – bestehenden Unterkunft von 60 qm zzgl. Sanitärräumen noch eben zumutbar); OVG NRW, Beschluss vom 06.03.2020 - 9 B 187/20 -, juris Rn. 15 – 16 (9 m² je Bewohner über 6 Jahren als Ausgangspunkt für eine einzelfallbezogene Würdigung; auch zur Berücksichtigung von ggf. erforderlichen Rückzugsmöglichkeiten für die einzelnen Familienmitglieder).
27In Anwendung dieser Grundsätze ist die Räumungsverfügung auch unter Berücksichtigung der konkreten Umstände der Antragstellerin verhältnismäßig. Eine Obdachlosigkeit muss die Antragstellerin nicht befürchten. Die Antragsgegnerin hat in Ihrer Verfügung ausgeführt, dass eine anderweitige Unterbringung für sie und ihre Familie sichergestellt wird. Hierbei hat sie die Ersatzunterbringung in einer gewerblichen OBG-Unterkunft (Hotel) konkret benannt. Dass die Antragsgegnerin bei der Zuweisung der neuen Unterkunft auf die gesundheitlichen Besonderheiten der Antragstellerin Rücksicht nehmen will, hat sie im gerichtlichen Verfahren erklärt. Es ist mangels anderweitigen Vortrags trotz entsprechender gerichtlicher Aufforderung nicht ersichtlich, dass die Antragstellerin wegen einer Schwerbehinderung ständig auf einen Rollstuhl angewiesen ist. Die seit Langem und aktuell von ihr bewohnte Wohnung ist nach unwidersprochener Aussage der Antragsgegnerin weder barrierefrei noch behindertengerecht ausgestattet.
28Mit dem Einwand, dass die Enkel bzw. die Nichte und der Neffe der Antragstellerin bei einem Umzug einen weiteren Schulweg zu bewältigen hätten, vermögen sie im Rahmen des Obdachlosenrechts nicht durchzudringen. Es besteht – wie bereits ausgeführt – nur ein Anspruch auf eine Unterbringung in einer Unterkunft, die der Antragstellerin Schutz vor der Witterung bietet und Raum für die notwendigsten Lebensbedürfnisse lässt. Konkret unzumutbare Verhältnisse sind mangels Festlegung der zukünftigen Unterkunft nicht erkennbar.
29Es ist auch keine Unzumutbarkeit des Wohnungswechsels als solchen anzunehmen. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass die Antragsgegnerin bei ihrer Sach- und Rechtsprüfung grundsätzlich nicht in die Bewertung einzustellen hat, inwieweit die Räumung der bisherigen Wohnung der Räumungsschuldnerin zumutbar ist. Die Frage der Zumutbarkeit einer Räumung ist Gegenstand des zivilrechtlichen Räumungsverfahrens, wobei gerade das Vollstreckungsschutzverfahren nach § 765 a ZPO Raum für die Prüfung von besonderen Härten – etwa aufgrund der gesundheitlichen Situation des Räumungsschuldners – bietet. Für eine über diese gesetzliche Zuweisung zu den Zivilgerichten hinausgehende Prüfung der Zumutbarkeit einer Räumung (unter dem Aspekt des Verlassens der bisherigen Wohnung) durch die Ordnungsbehörde ist kein Raum. Etwas anderes ergäbe sich nur dann, wenn jegliche anderweitige Unterbringung notwendigerweise und unabänderlich mit einer erheblichen gesundheitlichen Gefährdung der Antragstellerin einherginge.
30vgl. OVG NRW, Beschluss vom 05.02.1999 - 9 B 3847/89 - und Beschluss vom 26.06.1999, - 9 B 1707/90 -, beide veröffentlicht in juris.
31Dies ist vorliegend weder ersichtlich noch vorgetragen.
32Schließlich begründet auch der sehr lange Zeitraum der Einweisung und des Innehaltens der Wohnung keinen Vertrauensschutztatbestand auf ein noch längeres Innehaben der beschlagnahmten Wohnung.
33Gegen die Rechtmäßigkeit der Androhung des unmittelbaren Zwangs und der Ersatzvornahme bestehen ebenfalls keine durchgreifenden Bedenken; diese entspricht den Vorschriften des Verwaltungsvollstreckungsgesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen (VwVG NRW).
34Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
35Die Festsetzung des Streitwertes folgt aus § 53 Abs. 2 Nr. 2 i. V. m. § 52 Abs. 2 GKG. Sie entspricht der Hälfte des in einem entsprechenden Hauptsacheverfahren anzusetzenden Auffangwertes.
36Rechtsmittelbelehrung
37Gegen Ziffer 1 dieses Beschlusses kann innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, Beschwerde eingelegt werden.
38Statt in Schriftform kann die Einlegung der Beschwerde auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) erfolgen.
39Die Beschwerdefrist wird auch gewahrt, wenn die Beschwerde innerhalb der Frist schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, eingeht.
40Die Beschwerde ist innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht bereits mit der Beschwerde vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV einzureichen. Sie muss einen bestimmten Antrag enthalten, die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinander setzen.
41Die Beteiligten müssen sich bei der Einlegung und der Begründung der Beschwerde durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung im Übrigen bezeichneten ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.
42Gegen Ziffer 2 dieses Beschlusses kann innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, Beschwerde eingelegt werden. Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.
43Die Beschwerde ist schriftlich, zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, einzulegen.
44Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.
45Die Beschwerdeschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.
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Tenor
1. Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
2. Der Streitwert wird auf 2.500,00 € festgesetzt.
1Gründe:
2Der Einzelrichter ist zuständig, nachdem ihm der Rechtsstreit mit Beschluss der Kammer vom 14. August 2020 zur Entscheidung übertragen worden ist (§ 6 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
3Der auf die im Verfahren 9 K 2367/20 erhobene Klage bezogene Antrag,
4die aufschiebende Wirkung dieser Anfechtungsklage gegen die Ordnungsverfügung der Antragsgegnerin vom 08.05.2020 zum Aktenzeichen wiederherzustellen,
5ist bei verständiger Würdigung des Rechtsschutzbegehrens (§§ 122 Abs. 1, 88 VwGO) dahin auszulegen, dass sich der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes auf die Entziehung der Fahrerlaubnis und die Zwangsgeldandrohung, nicht aber auch auf Anordnung der Abgabe des Führerscheins und auf die Verwaltungsgebühr bezieht. Da nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 4 Abs. 9 Straßenverkehrsgesetz (StVG) eine Klage gegen eine auf § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG gestützte Entziehung der Fahrerlaubnis und nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 112 Satz 1 Justizgesetz NRW (JustG NRW) eine Klage gegen eine Zwangsgeldandrohung bzw. Zwangsgeldfestsetzung keine aufschiebende Wirkung entfaltet, ist insoweit ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung sachgerecht und wird als gestellt angesehen. Bezüglich der Gebührenfestsetzung entfällt die aufschiebende Wirkung ebenfalls kraft Gesetzes, nämlich gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO, so dass ebenfalls die Anordnung der aufschiebenden Wirkung beantragt werden müsste. Ein darauf gerichteter Antrag wäre aber unzulässig, wenn ein Antragsteller vor Antragstellung bei Gericht keinen Antrag nach § 80 Abs. 6 Satz 1 VwGO bei der Behörde gestellt hat. Allerdings verbietet sich eine Auslegung, die zu einem unzulässigen Antrag führt. Da der Antragsteller ersichtlich zuvor keinen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung gemäß § 80 Abs. 6 VwGO bei der Antragsgegnerin gestellt hat, geht das Gericht davon aus, dass der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes die Gebührenfestsetzung nicht umfasst.
6Der so verstandene Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ist zulässig.
7Ein Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ist insbesondere dann unzulässig, wenn die in der Hauptsache erhobene Klage offensichtlich unzulässig ist, weil sie offensichtlich nicht fristgerecht erhoben worden ist.
8Vgl. BVerwG, Beschluss vom 10. Januar 2018 – 1 VR 14.17 –, juris Rn. 23; zur Begründung und Herleitung VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 3. Juni 2004 - 6 S 30/04 -, juris Rn. 4; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 5. Mai 2020 – 9 L 32/20 –, juris Rn. 6-7, jeweils m.w.N.; Antrag unstatthaft: OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 14. Dezember 2015 - 5 M 303/15 -, juris Rn. 54; VG Minden, Beschluss vom 7. November 2016 - 10 L 1597/16.A -, juris Rn. 13; kein Rechtsschutzbedürfnis: VG Ansbach, Beschluss vom 25. März 2020 – AN 9 S 19.00941 –, juris Rn. 38, juris; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 24. April 2018 – 8 L 2840/17 –, juris Rn. 11; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 25. April 2018 – 9 L 3648/17 –, juris Rn. 7; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 5. Mai 2020 – 9 L 32/20 –, juris Rn. 11, jeweils statt aller.
9Lässt sich hingegen die Frage, ob der Rechtsbehelf gegen einen Verwaltungsakt fristgerecht eingelegt worden ist, wegen Unklarheiten des Sachverhalts oder der Notwendigkeit der Entscheidung schwieriger Rechtsfragen im Rahmen der summarischen Prüfung nicht entscheiden, ist ein Antrag auf Wiederherstellung oder Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage bzw. des Widerspruchs und einer anschließenden Klage zulässig. Denn solange offen ist, ob der angefochtene Verwaltungsakt unanfechtbar und die beantragte Aufhebung noch möglich ist, kann der Zweck der aufschiebenden Wirkung, die Schaffung vollendeter, möglicherweise irreparabler Tatsachen zu verhindern, noch erreicht werden.
10Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 22. November 1985 - 14 B 2406/85 -, NVwZ 1987, 334; OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 2. August 2012 - 2 M 58/12 -, juris Rn. 8; BayVGH, Beschluss vom 18. November 2019 – 4 CS 19.1839 –, juris Rn. 6; vgl. in diesem Zusammenhang auch BVerwG, Urteil vom 30. Oktober 1992 – 7 C 24.92 –, juris Rn. 21; Sodan/Ziekow, VwGO, Großkommentar, 4. A. 2014, § 80 Rn. 129.
11Nach diesen Maßgaben ist der Antrag zulässig, denn auf Grundlage der hier vorzunehmenden, allein möglichen summarischen Prüfung ist es in Anlehnung an § 173 VwGO i.V.m. § 921 ZPO überwiegend wahrscheinlich, dass die in der Hauptsache erhobene Anfechtungsklage fristgerecht erhoben wurde; soweit im Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes Unklarheiten verbleiben, ist die Klage nach summarischer Prüfung jedenfalls nicht offensichtlich verfristet.
12Gemäß § 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO muss die Anfechtungsklage innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Verwaltungsakts erhoben werden. Nach summarischer Prüfung ist es überwiegend wahrscheinlich, dass die Bekanntgabe des förmlich zugestellten Bescheides vom 8. Mai 2020 nicht vor dem 20. Juni 2020 erfolgte. Insbesondere kann nach summarischer Prüfung nicht angenommen werden, dass die Zustellung am 13. Mai 2020 bewirkt wurde.
13Die wirksame Bekanntgabe mittels Zustellung erfolgt gemäß § 41 Abs. 5 VwVfG NRW nach Maßgabe der §§ 2 Abs. 1, 3 Abs. 1, Abs. 2 des Verwaltungszustellungsgesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen (Landeszustellungsgesetz - LZG NRW) vom 7. März 2006, zuletzt geändert durch Artikel 9 des Gesetzes vom 22. März 2018 (GV. NRW. S. 172) i.V.m. §§ 177 ff. ZPO. Aus der Zustellungsurkunde (§ 3 Abs. 2 Satz 1 LZG NRW i.V.m. § 182 ZPO) ergibt sich, dass der Postbedienstete das Schriftstück am 13. Mai 2020 zu übergeben versucht und in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten oder in eine ähnliche Vorrichtung eingelegt hat, weil die Übergabe in der Wohnung/in dem Geschäftsraum nicht möglich war. Gemäß § 180 Satz 2 ZPO gilt ein Schriftstück mit der Einlegung in den Briefkasten unter den Voraussetzungen des § 180 Satz 1 ZPO als zugestellt. Hiernach kann, wenn die Zustellung nach § 178 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 nicht ausführbar ist, das Schriftstück in einen zu der Wohnung oder dem Geschäftsraum gehörenden Briefkasten oder in eine ähnliche Vorrichtung eingelegt werden, die der Adressat für den Postempfang eingerichtet hat. § 178 Abs. 1 Nr. 1 und 2 ZPO gestatten die Ersatzzustellung, wenn die Person, der zugestellt werden soll (vgl. § 177 ZPO), in ihrer Wohnung, in dem Geschäftsraum oder in einer Gemeinschaftseinrichtung, in der sie wohnt, nicht angetroffen wird.
14Für den Begriff der „Wohnung“ im Sinne der §§ 180 ff. ZPO kommt es grundsätzlich auf das tatsächliche Wohnen, nämlich darauf an, ob der Zustellungsempfänger hauptsächlich in den Räumen lebt und insbesondere, ob er dort schläft. Sie verliert ihre Eigenschaft als Wohnung, wenn der Zustellungsempfänger sie nicht mehr zu den vorgenannten Zwecken nutzt, sondern den räumlichen Mittelpunkt seines Lebens an einen anderen Aufenthaltsort verlagert. Ob dies der Fall ist, ist nach den konkreten Umständen des jeweiligen Einzelfalles zu beurteilen, wobei auch Sinn und Zweck der Zustellungsvorschriften zu beachten sind.
15BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 15. Oktober 2009 - 1 BvR 2333/09 -, juris Rn. 16; BGH, Urteil vom 24. November 1977 - III ZR 1/76 -, juris Rn. 11; BGH, Urteil vom 27. Oktober 1987 - VI ZR 268/86 -, juris Rn. 9; Zöller, ZPO, 30. A. 2014, § 178 Rn. 5; vgl. hieran anschließend VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 16. Januar 2019 – 9 L 1996/18 –, juris Rn. 32-34.
16Zwar erstreckt sich die Beweiskraft der Zustellungsurkunde gemäß § 182 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. § 418 Abs. 1 ZPO bei der Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten nach § 3 Abs. 2 Satz 1 VwZG i. V. m. § 180 ZPO nicht darauf, dass der Zustellungsempfänger tatsächlich unter der fraglichen Adresse wohnt. Die Urkunde stellt insofern jedoch regelmäßig ein beweiskräftiges Indiz für das Vorhandensein einer Wohnung des Zustellungsempfängers unter der Zustelladresse dar. Diese Indizwirkung der Ersatzzustellung und ihre Beurkundung kann regelmäßig nur durch eine plausible, schlüssige Darstellung des Zustellungsempfängers entkräftet werden, er habe seinen Lebensmittelpunkt an einem anderen Ort.
17BVerfG, Kammerbeschluss vom 3. Juni 1991 - 2 BvR 511/89 -, juris Ls. 3 und Rn. 17; BGH, Urteil vom 13. Oktober 1993 - XII ZR 120/92 -, juris Rn. 11; vgl. hieran anschließend VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 16. Januar 2019 – 9 L 1996/18 –, juris Rn. 40-43 m.w.N.
18Der Antragsteller versichert an Eides statt, er habe im Zeitpunkt der Zustellung am 13. Mai 2020 nicht mehr an der in der Zustellungsurkunde vermerkten Anschrift A.-----straße 14, F. , sondern bereits seit dem 1. Mai 2020 an der Anschrift H.---straße 55, F. , gewohnt, und habe an der alten Anschrift auch bereits sein Namensschild entfernt. Als er am 20. Juni 2020 von der Polizei mitgeteilt bekommen habe, er dürfe kein Kraftfahrzeug mehr führen, sei er sicherheitshalber noch einmal zur alten Wohnanschrift gefahren und habe dort den Bescheid vom 8. Mai 2020 sowie ein weiteres, hier nicht gegenständliches Schreiben der Antragsgegnerin vom 20. Mai 2020 im Hausflur vorgefunden. Die Schreiben hätte er mitgenommen. Damit sind im vorliegenden Einzelfall nach Maßgabe der §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO i.V.m. § 173 VwGO Umstände glaubhaft gemacht, die die Indizwirkung der Postzustellungsurkunde. Denn es spricht in Anlehnung an § 921 ZPO aus weiteren Gesichtspunkten eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit des Vortrags, der Antragsteller habe am 13. Mai 2020 nicht mehr an der alten Wohnanschrift gewohnt. Dies ergibt sich aus den vorliegenden, im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes summarisch zu würdigenden präsenten Beweismitteln (§ 294 Abs. 2 ZPO). Das Wohnungsübergabeprotokoll datiert gemäß den Angaben des Antragstellers vom 1. Mai 2020. Gemäß Auskunft aus dem Meldeportal der Behörden vom 27. August 2020 ist für die Anschrift A.-----straße 14 als Auszugsdatum und für die Anschrift H.---straße als Einzugsdatum zwar bereits der 1. April 2020 vermerkt. Die unterschiedlichen Daten sind nicht unauflösbar widersprüchlich. Wohnungsübergabe und Ummeldung können auseinanderfallen; ob der Antragsteller sich möglicherweise zu früh umgemeldet hat, ist hier unerheblich. Denn jedenfalls liegen beide Zeitpunkte vor dem 13. Mai 2020. Damit ist mit überwiegender Wahrscheinlichkeit der Zustellversuch am 13. Mai 2020 gescheitert. Unklarheiten gehen im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nach den oben dargelegten Maßstäben nicht zu Lasten des Antragstellers. Vielmehr spricht mangels anderer Anhaltspunkte derzeit Überwiegendes dafür, dass dem Vortrag des Antragstellers zu folgen ist und ihm der Bescheid frühestens dem 20. Juni 2020 mit der Folge zugegangen sein dürfte, dass der Bescheid gemäß § 8 LZG NRW frühestens dann als zugestellt galt. Die Klagefrist endete damit gemäß § 57 Abs. 1, Abs. 2 VwGO i.V.m. § 222 Abs. 1 ZPO i.V.m. §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 1, Abs. 2 BGB frühestens am 20. Juli 2020. Diese Frist wurde durch Klageerhebung am 27. Juni 2020 gewahrt.
19Der Antrag ist unbegründet.
20Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 Satz 1, Alternative 1 VwGO hängt von einer Abwägung der widerstreitenden Interessen an der Suspendierung der angefochtenen Maßnahme einerseits und der Vollziehung des Verwaltungsaktes andererseits ab. Bei der Abwägung sind auch die Erfolgsaussichten des eingelegten Rechtsbehelfs zu berücksichtigen. Ergibt die im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes allein gebotene summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage, dass der sofort vollziehbare Verwaltungsakt rechtswidrig ist, überwiegt das private Aufschubinteresse des Antragstellers. An der Vollziehung einer rechtswidrigen hoheitlichen Maßnahme kann kein öffentliches Interesse bestehen. Ist hingegen der angegriffene Bescheid rechtmäßig, überwiegt regelmäßig das öffentliche Interesse am Bestand der sofortigen Vollziehbarkeit.
21Vorliegend ergibt die Abwägung des Interesses des Antragstellers einerseits – vorläufig weiter ein Kraftfahrzeug führen zu dürfen – mit dem widerstreitenden öffentlichen Interesse andererseits – die Teilnahme des Antragstellers am motorisierten Straßenverkehr zum Schutze der anderen Verkehrsteilnehmer sofort zu unterbinden –, dass dem öffentlichen Interesse Vorrang einzuräumen ist. Denn die erhobene Klage hat voraussichtlich keinen Erfolg, weil die Entziehung der Fahrerlaubnis und die Zwangsgeldandrohung sich nach der im Eilverfahren allein gebotenen summarischen Prüfung als rechtmäßig darstellen.
22In formeller Hinsicht ist der Bescheid nicht zu beanstanden.
23Insbesondere hat die Antragsgegnerin den Antragsteller mit am 23. April 2020 abgesandten Schreiben gemäß § 28 Abs. 1 VwVfG NRW zu der beabsichtigten Entziehung der Fahrerlaubnis angehört. Es ist analog § 41 Abs. 2 Satz 1 VwVfG NRW nach summarischer Prüfung davon auszugehen, dass das Anhörungsschreiben den Antragsteller noch an seiner alten Wohnanschrift erreicht hat, an der er bis zum 30. April 2020 gewohnt hat.
24Der Bescheid ist voraussichtlich auch materiell rechtmäßig.
25Rechtsgrundlage der Entziehung der Fahrerlaubnis ist § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG. Nach dieser Vorschrift gilt der Betroffene als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen, wenn sich 8 oder mehr Punkte ergeben. Die Fahrerlaubnisbehörde hat dann die Fahrerlaubnis zu entziehen. Die nach Landesrecht zuständige Behörde ist in dieser Hinsicht an die rechtskräftige Entscheidung über die Straftat oder die Ordnungswidrigkeit gebunden (§ 4 Abs. 5 Satz 3 StVG). Sie hat für das Ergreifen der Maßnahmen auf den Punktestand abzustellen, der sich zum Zeitpunkt der Begehung der letzten zur Ergreifung der Maßnahme führenden Straftat oder Ordnungswidrigkeit ergeben hat (Tattagprinzip, § 4 Abs. 5 Satz 4 StVG).
26Rechtsgrundlage der Entziehung der Fahrerlaubnis ist § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG. Nach dieser Vorschrift gilt der Inhaber einer Fahrerlaubnis als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen, wenn sich 8 oder mehr Punkte nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem ergeben. Die Fahrerlaubnisbehörde hat dann die Fahrerlaubnis zu entziehen. Sie hat für das Ergreifen der Maßnahmen auf den Punktestand abzustellen, der sich zum Zeitpunkt der Begehung der letzten zur Ergreifung der Maßnahme führenden Straftat oder Ordnungswidrigkeit ergeben hat (Tattagprinzip, § 4 Abs. 5 Satz 4 StVG).
27Die Voraussetzungen der unwiderlegbaren gesetzlichen Fiktion des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG lagen vor, sodass die Antragsgegnerin dem Antragsteller die Fahrerlaubnis entziehen musste. Im maßgeblichen Zeitpunkt der Begehung der letzten zur Ergreifung der Maßnahme führenden Ordnungswidrigkeit am 9. Juli 2019 ergaben sich nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem 8 Punkte, ohne dass der Punktestand insbesondere durch Tilgungen verringert wurde.
28Gemäß § 4 Abs. 2 StVG sind für die Anwendung des Fahreignungs-Bewertungssystems die in einer Rechtsverordnung nach § 6 Absatz 1 Nummer 1 Buchstabe s StVG – der Fahrerlaubnisverordnung – bezeichneten Straftaten und Ordnungswidrigkeiten maßgeblich. Sie werden nach Maßgabe der in Satz 1 genannten Rechtsverordnung wie folgt bewertet:
291. Straftaten mit Bezug auf die Verkehrssicherheit oder gleichgestellte Straftaten, sofern in der Entscheidung über die Straftat die Entziehung der Fahrerlaubnis nach den §§ 69 und 69b des Strafgesetzbuches oder eine Sperre nach § 69a Absatz 1 Satz 3 des Strafgesetzbuches angeordnet worden ist, mit drei Punkten,
302. Straftaten mit Bezug auf die Verkehrssicherheit oder gleichgestellte Straftaten, sofern sie nicht von Nummer 1 erfasst sind, und besonders verkehrssicherheitsbeeinträchtigende oder gleichgestellte Ordnungswidrigkeiten jeweils mit zwei Punkten und
313. verkehrssicherheitsbeeinträchtigende oder gleichgestellte Ordnungswidrigkeiten mit einem Punkt.
32Gemäß § 40 FeV sind dem Fahreignungs-Bewertungssystem die in Anlage 13 bezeichneten Zuwiderhandlungen mit der dort jeweils festgelegten Bewertung zu Grunde zu legen. Anlage 13 FeV wiederum enthält tabellarisch die Bezeichnung und Bewertung der im Rahmen des Fahreignungs-Bewertungssystems zu berücksichtigenden Straftaten und Ordnungswidrigkeiten.
33Geschwindigkeitsüberschreitungen werden gemäß Ziffer 2.2.3 Anlage 13 FeV als besonders verkehrssicherheitsbeeinträchtigende Ordnungswidrigkeiten mit 2 Punkten bewertet, soweit für ihre Ahndung 9.1 bis 9.3, 11.1 bis 11.3 jeweils in Verbindung mit 11.1.6 bis 11.1.10 der Tabelle 1 des Anhangs (11.1.6 nur innerhalb geschlossener Ortschaften), 11.2.5 bis 11.2.10 der Tabelle 1 des Anhangs (11.2.5 nur innerhalb geschlossener Ortschaften) oder 11.3.6 bis 11.3.10 der Tabelle 1 des Anhangs (11.3.6 nur innerhalb geschlossener Ortschaften) des Bußgeldkatalogs gemäß Bußgeldkatalogverordnung (BKatV) einschlägig sind. Sie werden gemäß Ziffer 3.2.2 Anlage 13 FeV als (schlicht) verkehrssicherheitsbeeinträchtigende Ordnungswidrigkeiten mit 1 Punkt bewertet, soweit für ihre Ahndung 8.1, 9, 10, 11 in Verbindung mit 11.1.3, 11.1.4, 11.1.5, 11.1.6 der Tabelle 1 des Anhangs (11.1.6 nur außerhalb geschlossener Ortschaften), 11.2.2, 11.2.3, 11.2.4, 11.2.5 der Tabelle 1 des Anhangs (11.2.2 nur innerhalb, 11.2.5 nur außerhalb geschlossener Ortschaften), 11.3.4, 11.3.5, 11.3.6 der Tabelle 1 des Anhangs (11.3.6 nur außerhalb geschlossener Ortschaften) des Bußgeldkatalogs einschlägig sind.
34Abstandsverstöße bei einer Geschwindigkeit von mehr als 100 km/h und weniger als 5/10 des halben Tachowertes wergen gemäß Ziffer 3.2.3 Anlage 13 i.V.m. Ziffer 12.6.1 der Anlage i.V.m. der Tabelle 2 zur BKatV mit 1 Punkt bewertet.
35Die Inbetriebnahme eines Kraftfahrzeugs (außer Mofa) oder Anhängers, dessen Reifen keine ausreichenden Profilrillen oder Einschnitte oder keine ausreichende Profil-oder Einschnitttiefe besaß, wird gemäß Ziffer 3.5.7 Anlage 13 zur FeV i.V.m. Ziffer 212 der Anlage zur BKatV mit 1 Punkt bewertet.
36Gemäß § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG ergeben sich Punkte mit der Begehung der Straftat oder Ordnungswidrigkeit, sofern sie rechtskräftig geahndet wird. Die nach Landesrecht zuständige Behörde ist an die rechtskräftige Entscheidung über die Straftat oder die Ordnungswidrigkeit gebunden, § 4 Abs. 5 Satz 3 StVG.
37Aus der Verwaltungsakte ergeben sich die folgenden Eintragungen:
38Bl.
Datum
Zuwiderhandlung
P.
Rechtskraft
Vermerkter Tilgungszeitpunkt
2/3 VV
8. 11. 17
Bereifung und Laufflächen,Mobiltelefon
23. 11. 17
159,00 €
212; 246.1 BKatV
1
13. 12. 17
13. 6. 20
4 VV
3. 5. 18
Abstand bei einer Geschwindigkeit von mehr als 100 km/h weniger als 5/10 des halben Tachowertes
29. 6. 18, 90,00 €
12.6.1 BKatV
1
21. 7. 18
21. 1. 21
5 VV
19. 7. 18
Mobiltelefon
9. 8. 18
125,00 €
246.1 BKatV
1
30. 8. 18
28. 2. 21
6 VV
11. 8. 18
Mobiltelefon
29. 8. 18
150,00 €
246.1 BKatV
1
19. 9. 18
19. 3. 21
19 VV
29. 11. 18
Mobiltelefon
12. 12. 18
100,00 €
246.1 BKatV
1
3. 1. 19
3. 7. 21
7 VV
28. 1. 19
Ermahnung; PZU 8. 2. 2019
21 VV
10. 12. 18
+ 23 km/h (PKW i.o.)
22. 1. 19, 160,00 €
11.3.4 BKatV
1
12. 2. 19
12. 8. 21
22 VV
11. 11. 19
Verwarnung; PZU 13. 11. 2019
34 VV
11. 4. 19
Mobiltelefon
28. 5. 19
150,00 €
246.1 BKatV
1
19. 12. 19
19. 6. 22
36 VV
5. 5. 19
Mobiltelefon
22. 5. 19
150,00 €
246.1 BKatV
1
22. 1. 20
22. 7. 22
55 VV
22. 2. 20
+ 21 km/h (PKW i.o.)
1. 4. 20, 160,00 €
11.3.4 BKatV
1
21. 4. 20
21. 10. 22
39Die Zuwiderhandlungen wurden jeweils den zutreffenden Bestimmungen des Bußgeldkatalogs zugeordnet und nach Maßgabe der Anlage 13 FeV durchgehend korrekt bewertet.
40Von den verwirklichten Punkten wurde im Zeitpunkt des jüngsten Tattags kein Punkt getilgt. Die Tilgung der Punktbewertungen richtet sich nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a) StVG jeweils für die mit einem Punkt bewerteten Ordnungswidrigkeiten – dann zweieinhalb Jahre – und nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe b) StVG hinsichtlich der mit zwei Punkten bewerteten Ordnungswidrigkeiten – dann fünf Jahre. Die Tilgungsfristen beginnen jeweils mit dem Tag der Rechtskraft (§ 29 Abs. 4 Nr. 3 StVG). Im Zeitpunkt des letzten Tattages (vgl. § 4 Abs. 5 Satz 4 StVG) vor der Entziehung der Fahrerlaubnis, frühestens dem 8. Mai 2020, war der erste Tilgungszeitpunkt, nämlich der 13. Juni 2020 für die am 21. April 2020 rechtskräftig geahndete Zuwiderhandlung vom 22. Februar 2020, noch nicht erreicht.
41Weitere Voraussetzung für die Entziehung der Fahrerlaubnis ist, dass das Stufenverfahren nach § 4 Abs. 5 StVG ordnungsgemäß durchgeführt worden ist.
42VG Gelsenkirchen, Beschluss vom heutigen Tage – 9 L 727/20 –; vgl. auch aus dem Zusammenhang des § 2a StVG: VG Gelsenkirchen, Urteil vom 23. Juni 2020 – 9 K 724/20, jeweils zur Veröffentlichung vorgesehen.
43Ergeben sich vier oder fünf Punkte, ist der Inhaber einer Fahrerlaubnis beim Erreichen eines dieser Punktestände schriftlich zu ermahnen (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 StVG). Ergeben sich sechs oder sieben Punkte, ist der Inhaber einer Fahrerlaubnis beim Erreichen eines dieser Punktestände schriftlich zu verwarnen (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG). Gemäß § 4 Abs. 6 StVG darf die nach Landesrecht zuständige Behörde eine Maßnahme nach Absatz 5 Satz 1 Nummer 2 oder 3 erst ergreifen, wenn die Maßnahme der jeweils davor liegenden Stufe nach Absatz 5 Satz 1 Nummer 1 oder 2 bereits ergriffen worden ist (Satz 1).
44Im Fahreignungs-Bewertungssystem entscheidet die Fahrerlaubnisbehörde auf der Grundlage der ihr gemäß § 4 Abs. 8 StVG vom Kraftfahrt-Bundesamt übermittelten Eintragungen im Fahreignungsregister. Dieser Kenntnisstand ist maßgebend für die Rechtmäßigkeit der Maßnahmen nach § 4 Abs. 5 StVG.
45Vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2017 – 3 C 21/15 –, juris Rn. 25; Hamb. OVG, Beschl. v. 8. Jan. 2018 – 4 Bs 94/17 -, juris Rn.14; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 23. Juli 2019 – 9 K 1438/19 –, juris Rn. 53; Dauer, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 45. Aufl. 2019, § 4 StVG Rn. 81.
46Die Antragsgegnerin hat gegenüber dem Antragsteller vor Erlass des Bescheides vom 8. Mai 2020 entsprechend dem in § 4 Abs. 6 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 StVG vorgegebenen gestuften Verfahren die Vorstufemaßnahmen auf Grundlage des sich bei ihr aus den vom Kraftfahrbundesamt übermittelten Eintragungen jeweils ergebenden Kenntnisstandes ergriffen und ordnungsgemäß durchgeführt. Sie hat die maßgeblichen Verfahrensbestimmungen beachtet.
47Die Antragsgegnerin hat den Antragsteller mit Schreiben vom 28. Januar 2019 in Ansehung der ihr vom Kraftfahrbundesamt am 8. Oktober 2018 mitgeteilten Zuwiderhandlungen vom 8. November 2017, 3. Mai 2018, 19. Juli 2018 und 11. August 2018 sowie der weiteren Zuwiderhandlung vom 29. November 2018 wegen des Erreichens von 5 Punkten gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG unter Hinweis auf die Möglichkeit der freiwilligen Teilnahme an einem Fahreignungsseminar (§ 4 Abs. 5 Satz 2 i.V.m. Abs. 7 StVG) ermahnt, die – unter weiteren Voraussetzungen – zu einer Reduktion um einen Punkt führen könne. Eine Bescheinigung über die Teilnahme an einem solchen Seminar hat der Antragsteller ausweislich des Verwaltungsvorgangs der Antragsgegnerin, der keine Anhaltspunkte für eine Unvollständigkeit aufweist, nicht vorgelegt. Die Antragsgegnerin hat in der Anlage zu der Ermahnung die begangenen Verkehrszuwiderhandlungen angegeben (§ 41 Abs. 1 FeV).
48Dass die Antragsgegnerin die Ermahnung auch auf die Zuwiderhandlung vom 29. November 2018 stützte, bevor ihr diese unter dem 4. März 2019 vom Kraftfahrtbundesamt mitgeteilt wurde, ist nicht zu beanstanden.
49Denn für die Relevanz der Kenntnis der Fahrerlaubnisbehörde dürfte es unerheblich sein, ob sie auf einer Mitteilung des Kraftfahrt-Bundesamtes von Amts wegen (§ 4 Abs. 8 StVG) beruht oder auf einer von der Behörde selbst eingeholten Auskunft des Kraft-Bundesamtes aus dem Fahreignungsregister (§ 3 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. § 2 Abs. 7 Satz 2 Alt. 1 StVG). Denn entscheidend dürfte sein, dass in beiden Fällen die Erkenntnisse unmittelbar von dem Kraftfahrt-Bundesamt selbst herrühren.
50OVG Lüneburg, Beschluss vom 3. März 2020 – 12 ME 6/20 –, Rn. 23, juris; vgl. auch OVG NRW, Beschluss vom 20. Juli 2016 – 16 B 382/16 –, juris Rn. 17.
51So liegt es auch hier. In der gemäß § 41 Abs. 1 FeV der Ermahnung beigefügten Auflistung ist vermerkt, dass die im Zeitpunkt der Ermahnung, nämlich seit dem 3. Januar 2019 rechtskräftig geahndete Zuwiderhandlung vom 29. November 2018, beim Kraftfahrtbundesamt am 21. Januar 2019 gespeichert wurde. Damit ist gesichert, dass die entsprechende Information aus einer Auskunft beim Kraftfahrtbundesamt herrührt.
52Nachdem die Antragsgegnerin durch Mitteilung des Kraftfahrtbundesamtes vom 4. März 2019 Kenntnis von der Zuwiderhandlung vom 10. Dezember 2018 erlangt hatte, verwarnte sie den Antragsteller wegen des Erreichens von 6 Punkten mit Schreiben vom 11. November 2019. Dass nach der Begehung der Zuwiderhandlung vom 10. Dezember 2018 bereits eine Maßnahme ergriffen wurden – hier die Ermahnung –, steht einer Berücksichtigung der Zuwiderhandlung bei der Berechnung des Punktestandes nicht entgegen, vgl. § 4 Abs. 5 Satz 6 Nr. 1 StVG.
53Die Verwarnung enthielt nach § 4 Abs. 5 Sätze 2 und 3 StVG die zutreffenden Hinweise auf die Möglichkeit der freiwilligen Teilnahme an einem Fahreignungsseminar, die jedoch zu keinem Punktabzug führen. Die Antragsgegnerin informierte den Antragsteller zudem darüber, dass bei Erreichen von acht Punkten die Fahrerlaubnis entzogen wird. Die Verwarnung erfolgte schriftlich unter Angabe der bis zum Ergreifen der Verwarnung begangenen Verkehrszuwiderhandlungen (§ 41 Abs. 1 FeV).
54Nachdem die Antragsgegnerin durch Mitteilung des Kraftfahrtbundesamtes vom 14. Februar 2020 Kenntnis von den weiteren Zuwiderhandlungen vom 11. April 2019 und vom 5. Mai 2019 erlangt hatte, entzog sie dem Antragsteller wegen des Erreichens von 8 Punkten mit dem hier gegenständlichen Bescheid die Fahrerlaubnis. Dass nach der Begehung dieser Zuwiderhandlungen bereits eine Maßnahme ergriffen wurden – hier die Verwarnung –, steht einer Berücksichtigung der Zuwiderhandlungen bei der Berechnung des Punktestandes nicht entgegen, vgl. § 4 Abs. 5 Satz 6 Nr. 1 StVG.
55Dass die Verwarnung „ins Leere“ ging, weil der Antragsteller bereits zum Zeitpunkt der Verwarnung sämtliche Zuwiderhandlungen begangen hatte, die letztlich die Entziehung der Fahrerlaubnis tragen, führt zu keinem anderen Ergebnis.
56Denn nach der Neufassung des Straßenverkehrsgesetzes wollte der Gesetzgeber eine Abkehr von der Warn- und Erziehungsfunktion des Systems erreichen. Es kommt im neu gefassten Fahreignungsbewertungssystem nicht mehr darauf an, dass eine Maßnahme den Betroffenen vor der Begehung weiterer Verstöße erreicht und ihm die Möglichkeit der Verhaltensänderung einräumt, bevor es zu weiteren Verstößen kommt. Unter Verkehrssicherheitsgesichtspunkten und für das Ziel, die Allgemeinheit vor ungeeigneten Fahrern zu schützen, kommt es vielmehr auf die Effektivität des Fahreignungs-Bewertungssystems an. Hat der Betroffene sich durch eine entsprechende Anhäufung von Verkehrsverstößen als ungeeignet erwiesen, ist er vom Verkehr ausgeschlossen. Die Maßnahmestufen dienen nunmehr in erster Linie der Information des Betroffenen über den Stand im System. Der Hinweis auf eine in bestimmten Konstellationen – wie hier – ausbleibende Chance, sein Verhalten so zu verbessern, dass es zu keinen weiteren Maßnahmen kommt, kann in Abwägung mit dem Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit kein Argument dafür sein, über bestimmte Verkehrsverstöße hinwegzusehen und sie dadurch bei der Beurteilung der Fahreignung auszublenden.
57BT-Drucks 18/2775, S. 9 f.; BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2017 – 3 C 21/15 –, juris Rn. 23; OVG NRW, Urteil vom 28. September 2017 – 16 A 980/16 –, juris Rn. 36 ff. m.w.N.; Dauer, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 45. Aufl. 2019, § 4 StVG Rn. 85 m.w.N. sowie zu einer vergleichbaren Konstellation VG Augsburg, Urteil vom 2. Dezember 2019 – Au 7 K 19.1412 –, juris Rn. 31 f.; vgl. zuletzt VG Gelsenkirchen, Beschluss vom heutigen Tage – 9 L 727/20, zur Veröffentlichung vorgesehen.
58Für eine von der zwingenden Rechtsfolge des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG abweichende Einzelfallbetrachtung ist nach der eindeutigen gesetzlichen Regelung kein Raum.
59Es liegen schließlich keine Umstände vor, die hier ausnahmsweise trotz der fehlenden Erfolgsaussichten des Antragstellers in der Hauptsache ein überwiegendes Aussetzungsinteresse begründen könnten. Die vom Antragsteller ausgehende Gefährdung des Straßenverkehrs aufgrund seiner nach dem Fahreignungsbewertungssystem feststehenden Fahrungeeignetheit lässt es auch in Ansehung der vom ihm angeführten beruflichen und privaten Nachteile nicht zu, diese bis zur Entscheidung in der Hauptsache hinzunehmen.
60Vgl. nur OVG NRW, Beschluss vom 22. Mai 2012 – 16 B 536/12 –, juris Rn. 33 m.w.N.; BVerfG, Kammerbeschluss vom 19. Juli 2007 – 1 BvR 305/07 –, juris Rn. 6.
61Die Aufforderung, den Führerschein unverzüglich bei der Antragsgegnerin abzuliefern, findet ihre Rechtsgrundlage in § 3 Abs. 2 Satz 3 und 4 StVG.
62Ermächtigungsgrundlage der Zwangsgeldandrohung sind §§ 55 Abs. 1, 57 Abs. 1 Nr. 2, 60 und 63 Verwaltungsvollstreckungsgesetz NRW (VwVG NRW). Einer Anhörung bedurfte es gemäß § 28 Abs. 2 Nr. 5 VwVfG NRW nicht. Die Höhe des jeweils angedrohten Zwangsgeldes ist angesichts der drohenden Gefahren für die öffentliche Sicherheit verhältnismäßig. Sie erscheint erforderlich und angemessen, um einen wirtschaftlich Handelnden in der Position des Antragstellers zur Abgabe des Führerscheins zu veranlassen.
63Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
64Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1, 2 und 3 des Gerichtskostengesetzes (GKG). Dabei orientiert sich das Gericht in Anlehnung an die Streitwertpraxis des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen bei der Streitwertbemessung in Hauptsacheverfahren, die die Entziehung oder Erteilung einer Fahrerlaubnis betreffen, nach § 52 Abs. 1 und 2 GKG grundsätzlich am gesetzlichen Auffangwert. Die mit dem Grundverwaltungsakt verbundene Zwangsgeldandrohung wirkt nach Ziffer 1.7.2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht streitwerterhöhend. Die erhobene Verwaltungsgebühr bleibt im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes außer Betracht, weil bei verständiger Würdigung des Rechtsschutzbegehrens nicht davon auszugehen ist, dass der Antragsteller sich entgegen § 80 Abs. 6 Satz 1 VwGO, ohne einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung bei der Behörde gestellt zu haben, die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Gebührenfestsetzung beantragen wollte. Für das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ist der sich für die Hauptsache ergebende Wert von 5.000,00 € nach Ziffer 1.5 des Streitwertkatalogs auf die Hälfte zu reduzieren.
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Tenor
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 22. Juli 2020 - 14 K 1604/20 - wird zurückgewiesen.Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen.Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500.-- EUR festgesetzt.
Gründe
I.1 Der mit A 16 besoldete Antragsteller, der bis zu seiner vorläufigen disziplinarrechtlichen Dienstenthebung gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 LDG im Jahr 2015 und der mit Verfügung des Antragsgegners vom 15.08.2018 gemäß § 21 LDG angeordneten vorläufigen Übertragung der Tätigkeit eines Oberstudienrates i.V.m. einer Abordnung an die E-Schule in E. Schulleiter der H-Schule in K. war, wendet sich gegen die Neubesetzung dieser Schulleiterstelle mit dem Beigeladenen, der sie seit 2015, besoldet mit A 15 + Z, kommissarisch ausfüllt. Sein vorläufiger Rechtsschutz wendet sich gegen das Vorhaben des Antragsgegners, dem Beigeladenen nach zwischenzeitlich erfolgter Ausschreibung mit nur ihm als Bewerber die Schulleiterstelle an der H-Schule nunmehr auch offiziell zu übertragen und ihn zugleich nach A 16 zu befördern sowie den Antragsteller dafür haushaltsrechtlich in eine „funktionslose Lehrerplanstelle“ einzuweisen.2 Das Verwaltungsgericht hat den Eilantrag des Antragstellers mit Beschluss vom 22.07.2020 abgelehnt, weil weder eine Verletzung des Bewerbungsverfahrens-anspruchs noch von Rechten aus Art. 33 Abs. 2 GG gegeben sei. Hiergegen wendet sich der Antragsteller mit seiner Beschwerde und trägt insbesondere vor, effektiver Rechtsschutz bedeute, dass seine Schulleiterstelle an der H-Schule bis zum rechtskräftigen Abschluss des Disziplinarverfahrens nicht neu besetzt werde, d.h. insoweit keine vollendeten Tatsachen geschaffen würden, die seine Rückkehr an diese Schule unmöglich machten. Der Antragsgegner und der Beigeladene halten die Neubesetzung nach zwischenzeitlich über fünfjährigem Schwebezustand an der H-Schule und nicht absehbarem Abschluss des Disziplinarverfahrens für gerechtfertigt.II.3 Nachdem der Antragsteller nunmehr laut Mitteilung des Verwaltungsgerichts vom 27.08.2020 im dortigen Verfahren DL 17 K 1088/19 seine Klage gegen die disziplinarrechtlich verfügte vorläufige, nicht amtsgemäße Verwendung gemäß § 21 LDG vom 15.08.2020 zurückgenommen hat und damit zugleich seine Abordnung an die E-Schule bestandskräftig geworden ist, kann die zulässige, insbesondere fristgerecht eingelegte (§ 147 Abs. 1 VwGO) und begründete (§ 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO) sowie inhaltlich den Anforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO entsprechende Beschwerde keinen Erfolg mehr haben. Nunmehr kann kein Anordnungsanspruch im Sinne des § 123 Abs. 1 VwGO angenommen werden. Denn dem Antragsteller steht jedenfalls zum maßgebenden Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung kein gerichtlich durchsetzbares subjektiv-öffentliches Recht auf vorläufige Untersagung der Besetzung der Schulleiterstelle an der H-Schule mit dem Beigeladenen (mehr) zu (hierzu 1.) sowie weder ein Anspruch auf Verhinderung von dessen Beförderung nach A 16 (hierzu 2.) noch auf vorläufige Untersagung der eigenen haushaltsrechtlichen Einweisung in eine „funktionslose Lehrerplanstelle“ (hierzu 3.).4 1. Dem Antragsteller steht jedenfalls zum maßgebenden Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung kein Recht auf vorläufige Untersagung der Besetzung der Schulleiterstelle an der H-Schule mit dem Beigeladenen (mehr) zu. Durch die Klagerücknahme hat der Antragsteller die Bestandskraft seiner disziplinarrechtlich begründeten „Wegabordnung“ an die E-Schule herbeigeführt. Gemäß § 21 LDG hat er damit akzeptiert, dass ihm eine in Bezug auf sein Amt geringerwertige Tätigkeit übertragen werden kann, weil „er voraussichtlich zurückgestuft wird und eine dem bisherigen Amt entsprechende Verwendung dem Dienstherrn oder der Allgemeinheit nicht zugemutet werden kann“. Durch diese Klagerücknahme räumt er mithin ein, dass auch er davon ausgeht, dass im andauernden Disziplinarverfahren voraussichtlich seine Zurückstufung von A 16 auf möglicherweise sogar A 14 erfolgen wird. Damit hat er zugleich konkludent zur Kenntnis gegeben, dass er selbst davon ausgeht, voraussichtlich keine mit A 16 besoldete Schulleiterstelle - also auch nicht die Schulleiterstelle der H-Schule - mehr beanspruchen zu können. Wesentlich anders als bei einer einvernehmlichen Wegabordnung ohne das disziplinarrechtliche Ziel einer Herabstufung (zu dieser Konstellation s. Senatsbeschluss vom 25.01.1994 - 4 S 3054/93 -, Juris), ist bei einer bestandskräftigen Maßnahme nach § 21 LDG hinreichend klar, dass die bisherige Stelle nicht gegebenenfalls über Jahre hinweg „vorgehalten“ werden muss, weil eine Rückkehr hierauf unrealistisch ist. Deshalb kann sie vom Dienstherrn - auch mit der Absicht einer dauerhaften Lösung - neu besetzt werden.5 Zwar berührt auch die disziplinarrechtlich verfügte Tätigkeitsübertragung nach § 21 LDG die beamtenrechtliche und organisationsrechtliche Zuordnung des Antragstellers zur H-Schule nicht, d.h. er ist dienstrechtlich weiterhin als Rektor der H-Schule zu betrachten. Die beabsichtigte Besetzung dieser Rektorenstelle mit dem Beigeladenen führt somit dazu, dass diese Stelle beamten- und organisationsrechtlich doppelt besetzt wird, was grundsätzlich rechtswidrig ist (vgl. Senatsbeschluss vom 25.01.1994 - 4 S 3054/93 -, Juris Rn. 11 f.). Da im vorliegenden Einzelfall aber sowohl der Antragsgegner als nun auch der Antragsteller davon ausgehen, dass der Antragsteller schon aus disziplinarischen Gründen seine Rektorenstelle nicht wieder wird einnehmen können und zugleich ein andauernder Schwebezustand in der Schulleitung für die H-Schule - auch aus Sicht des Senats für alle dort Beteiligten - nicht länger hinnehmbar erscheint, kann ausnahmsweise die beabsichtigte Doppelbesetzung der Rektorenstelle als rechtmäßig eingestuft werden. Ob dies schon wegen der vorläufigen Dienstenthebung nach § 22 LDG möglich wäre, bedarf daher keiner Entscheidung.6 Sollte wider Erwarten im laufenden Disziplinarverfahren am Ende doch keine statusrechtliche Zurückstufung des Antragstellers erfolgen, müsste der Antragsgegner die Doppelbesetzung der Rektorenstelle an der H-Schule durch Versetzung von einem der beiden Amtsinhaber auflösen. Insoweit müsste dann kein Bewerbungsverfahren durchgeführt werden und es würde nicht zwingend der Grundsatz der Bestenauslese gelten, weil aus dem Anspruch auf amtsangemessene Verwendung ein dienstliches Bedürfnis für die Versetzung folgt (vgl. Senatsbeschluss vom 25.01.1994 - 4 S 3054/93 -, Juris Rn. 14 ff.) und es nicht um die Übertragung eines anderen Statusamtes geht. Da weder der Antragsteller noch der Beigeladene nach seiner Beförderung auf A 16 einen Anspruch darauf haben, auf einer bestimmten Stelle mit den Dienstaufgaben eines Rektors oder eines anderen laufbahngemäßen Amtes betraut zu werden, denn es gibt keinen Grundsatz der „Dienstpostenstabilität“, würde dem Antragsgegner dann ein Ermessen zustehen, das pflichtgemäß auszuüben ist, welcher der beiden Amtsinhaber wohin versetzt wird.7 2. Dem Antragsteller steht auch kein Anspruch auf Verhinderung der Beförderung des Beigeladenen nach A 16 zur Seite. Wie schon das Verwaltungsgericht überzeugend ausgeführt hat, kann sich der Antragsteller insoweit offenkundig weder auf die Garantien des Bewerbungsverfahrensanspruchs aus Art. 33 Abs. 2 GG berufen noch kann er ein Recht auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über eine Bewerbung geltend machen. Denn er hat sich gar nicht auf das ausgeschriebene Statusamt beworben und ist damit kein unterlegener Bewerber im Rahmen eines Konkurrentenstreits. Da im Dienstrecht grundsätzlich zwischen dem Statusamt und dem Dienstposten unterschieden werden muss, kann aus dem Umstand, dass der Antragsgegner beabsichtigt, dem Beigeladenen nach dessen Beförderung auf ein Statusamt gemäß A 16 auch den Dienstposten des Rektors der H-Schule zu übertragen, was der Antragsteller verhindern will, nunmehr aber nicht mehr kann (s.o. 1.), nicht rückgeschlossen werden, dass auch die Beförderung des Beigeladenen auf ein höherwertiges Statusamt abgewehrt werden könnte. Da hier kein funktionsgebundenes Amt vorliegt, bei dem das Amt im statusrechtlichen und im funktionellen Sinne zusammenfällt, hat das eine mit dem anderen grundsätzlich nichts zu tun.8 3. Dem Antragsteller steht schließlich kein Anspruch auf vorläufige Untersagung der eigenen haushaltsrechtlichen Einweisung in eine „funktionslose Lehrerplanstelle“ zu. Denn es gibt kein Recht auf eine bestimmte haushaltsrechtliche Planstelle. Ob der Antragsteller auf seiner bisherigen oder einer anderen „vagabundierenden“ Planstelle geführt wird, hat nur haushaltsrechtliche Bedeutung und berührt seine beamtenrechtliche und organisationsrechtliche Zuordnung nicht (Senatsbeschluss vom 25.01.1994 - 4 S 3054/93 -, Juris Rn. 12.). Insbesondere auch seine Ansprüche auf Besoldung nach A 16 sowie - vorbehaltlich § 21 LDG - amtsangemessene Verwendung werden durch die haushaltsrechtliche Einweisung in eine bestimmte Planstelle in keiner Weise berührt, weshalb insoweit kein subjektiv-öffentlicher Abwehranspruch bestehen kann.III.9 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 und 3, § 162 Abs. 3 VwGO. Der Beigeladene hat erfolgreich einen Antrag gestellt, weswegen die Übernahme auch seiner Kosten der Billigkeit entspricht.10 Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 Satz 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 1 und 2 GKG und folgt der des Verwaltungsgerichts, gegen die keine Einwände erhoben wurden.11 Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). | {
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Tenor
Die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des Sozialgerichts Köln vom 05.08.2020 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
1Gründe:
2I.
3Die Antragsteller begehren im Wege der einstweiligen Anordnung Leistungen für Unterkunft und Heizung.
4Der 1957 geborene Antragsteller und die 1959 geborene Antragstellerin sind bulgarische Staatsangehörige und Ehepartner. Die Antragstellerin ist Hausfrau, der Antragsteller arbeitete 2017 bei der Firma N GmbH. Nach einem Verkehrsunfall im Mai 2017 erhält der Antragsteller, bei dem der Pflegegrad 3 anerkannt ist, Pflegegeld iHv 545 EUR monatlich. Er hat einen GdB von 100. Die BG Bau lehnte die Gewährung von Ansprüchen (Bescheid vom 13.08.2018) ebenso wie die Rentenversicherung (Bescheid vom 14.02.2019) und die Stadt L (Bescheid vom 31.01.2020) ab. Der Antragsteller bezog bis 09.12.2019 Arbeitslosengeld I.
5Die Antragsteller beantragten am 10.01.2020 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Sie bewohnen eine 65 m² große Wohnung (3 Zimmer, Küche, Bad) in der T-Strasse 00 in L, für die eine Gesamtmiete iHv 905 EUR (690 EUR Kaltmiete, 140 EUR Betriebskosten, 75 EUR Heizung) anfällt. Im Mietvertrag von März 2018 sind neben den Antragstellern "B N1 und M N1" als Mieter aufgeführt. In der Mietbescheinigung des Vermieters vom 08.05.2020 sind dieselben Mieter und eine Mietschuld iHv 905 EUR für Mai 2020 ausgewiesen.
6Am 22.04.2020 haben die Antragsteller beim Sozialgericht Köln beantragt, den Antragsgegner einstweilen zu verpflichten, ihnen Alg II zu bewilligen. Derzeit würden Familienangehörige darlehensweise Unterstützung leisten. Mangels Leistungsbewilligung sei auch der Krankenversicherungsschutz nicht gewährleistet.
7Der Antragsgegner übersandte einen Auszug aus dem Meldeportal vom 14.05.2020, wonach die weiteren neben den Antragstellern im Mietvertrag genannten Personen dort nicht (mehr) wohnhaft, jedoch unter der Anschrift ua sechs weitere Personen mit den Familiennamen der Antragsteller gemeldet seien. Es sei unklar, wer in der Wohnung tatsächlich lebe und wer die Miete zahle. In der Mietbescheinigung des Vermieters aus Mai 2020 würden weiter die ursprünglichen Mietvertragsparteien und lediglich ein Mietrückstand iHv 905 EUR angegeben, obwohl die Antragsteller seit Dezember 2019 nach eigenem Vortrag über keine Mittel verfügen, um den Lebensunterhalt sicherzustellen.
8Das Sozialgericht hat am 18.06.2020 einen rechtlichen Hinweis erteilt, wonach die Antragsteller einen Anspruch auf den Regelbedarf, nicht aber auf die Bedarfe für Unterkunft und Heizung glaubhaft gemacht hätten. Es sei nicht glaubhaft gemacht, dass Wohnungs- oder Obdachlosigkeit drohe. Zudem sei unklar, welche Personen sich tatsächlich in der Wohnung der Antragsteller aufhalten würden. Der Antragsgegner hat sich daraufhin bereit erklärt, den Antragstellern Leistungen iHd Regelbedarfs zu zahlen. Die Antragsteller haben das Teilanerkenntnis angenommen.
9Die Antragsteller haben mit Schreiben vom 12.07.2020 klargestellt, "tatsächlich in der Wohnung zu leben" und erklärt, "bei Unterlassung der Mietzahlung drohe Obdachlosigkeit".
10Mit Beschluss vom 05.08.2020 hat das Sozialgericht den Antrag abgelehnt. Die Antragsteller hätten trotz Aufforderung nicht glaubhaft gemacht, dass Wohnungs- oder Obdachlosigkeit im Falle der Nichtgewährung der Unterkunftskosten drohe. Unklar sei zudem, wer sich in der Wohnung tatsächlich aufhalte und somit anteilig an den Mietzahlungen zu beteiligen sei.
11Gegen die am 10.08.2020 zugestellte Entscheidung richtet sich die Beschwerde der Antragsteller vom 09.09.2020, mit der sie die Zahlung von Leistungen für Unterkunft und Heizung weiter verfolgen.
12Der Senat hat, nachdem die Begründung der Beschwerde innerhalb der gesetzten Frist nicht einging, die Antragsteller aufgefordert, mitzuteilen, ob die weiteren im Mietvertrag genannten Personen in der Wohnung der Antragsteller wohnen und wie die Zahlung der Miete von wem erfolgt.
13II.
14Die zulässige Beschwerde der Antragsteller ist unbegründet. Das Sozialgericht hat es im Ergebnis zu Recht abgelehnt, den Antragstellern einstweilen Unterkunftskosten zu gewähren.
15Einstweilige Anordnungen sind nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung). Die Erfolgsaussichten in der Hauptsache (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG iVm § 920 Abs. 2 ZPO). Eine Tatsache ist als glaubhaft gemacht anzusehen, wenn ihr Vorliegen nach dem Ergebnis der Ermittlungen, die sich auf sämtliche erreichbaren Beweismittel erstrecken sollen, überwiegend wahrscheinlich ist. Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun überwiegender Wahrscheinlichkeit, das heißt der guten Möglichkeit, dass der Vorgang sich so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können (ständige Rechtsprechung des Senats, Beschluss vom 09.11.2015 - L 7 AS 1234/15 B ER). Können ohne Eilrechtsschutz jedoch schwere und unzumutbare Nachteile entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, ist eine abschließende Prüfung erforderlich (BVerfG Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05 - Rn. 24 f). Bei offenem Ausgang muss das Gericht anhand einer Folgenabwägung entscheiden, die die grundrechtlichen Belange der Antragsteller umfassend zu berücksichtigen hat (BVerfG Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05 - Rn. 26; ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. nur Beschluss vom 21.07.2016 - L 7 AS 1045/16 B ER).
16Die Antragsteller haben hinsichtlich der Bedarfe für Unterkunft und Heizung einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Zwar geht der Senat nach Aktenlage davon aus, dass die Antragsteller tatsächlich in der T-Strasse 00 in L wohnen. Dies folgt aus dem Mietvertrag und der Mitbescheinigung einerseits und andererseits aus dem Gutachten des MDK, wonach die ambulante Untersuchung dort stattfand. Jedoch haben die Antragsteller trotz Hinweis und mehrmaliger Aufforderung des Sozialgerichts und des Senats weder einen Anspruch iHv 905 EUR noch in anderer Höhe glaubhaft gemacht. Hinsichtlich der Leistungshöhe folgt aus dem Mietvertrag, dass neben den Antragstellern noch zwei weitere Personen Mieter der Wohnung sind, so dass danach allenfalls ein hälftiger Anspruch auf die Unterkunftskosten bestehen könnte. Indes kann der Senat zugunsten der Antragsteller diesen Sachverhalt seiner Entscheidung nicht zugrunde legen, da nach dem Auszug aus dem Meldeportal vom 14.05.2020 zwar nicht mehr die beiden weiteren Mieter aus der Mietbescheinigung von Mai 2020, jedoch sechs weitere Personen mit den Familiennamen der Antragsteller in der T-Strasse 00 gemeldet sind und möglicherweise auch (teilweise) in der Unterkunft der Antragsteller wohnen.
17Soweit das Sozialgericht seine Entscheidung im Beschluss vom 05.08.2020 die Gewährung von Unterkunftskosten davon abhängig macht, dass Wohnung- oder Obdachlosigkeit im Falle der Nichtgewährung der Unterkunftskosten droht, weist der Senat auf Folgendes hin: Der Senat nimmt in ständiger Rechtsprechung an, dass für die Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes bezogen auf die Unterkunfts- und Heizbedarfe keine Räumungsklage und/oder "Kündigungslage" erforderlich ist (vgl. Beschlüsse vom 06.12.2017 - L 7 AS 2133/17 B und vom 04.05.2015 - L 7 AS 139/15 B ER). Die Rechtsprechung des Senats deckt sich mit dem Beschluss des BVerfG vom 01.08.2017 (1 BvR 1910/12), das klargestellt hat, dass in Verfahren des Eilrechtsschutzes zu den Kosten der Unterkunft nicht allein schematisch auf die Erhebung der Räumungsklage abgestellt werden darf, sondern zu prüfen ist, welche Folgen im konkreten Einzelfall drohen. Der Senat erkennt Ausnahmen von diesem Grundsatz nur in besonderen Ausnahmekonstellationen an, etwa wenn nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gebotenen Prüfungsdichte belastbare Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die vertraglichen Pflichten des Antragstellers jedenfalls während der Nichtzahlung von Leistungen zur Deckung des Unterkunftsbedarfs gestundet sind, weil es sich etwa um ein Mietverhältnis unter Verwandten handelt oder eine sonstige Nähebeziehung zwischen dem Vermieter und dem Anspruchsteller besteht. Gleiches gilt, wenn feststeht, dass das Mietverhältnis trotz Zusprechens der Leistungen nicht erhalten werden kann und es daher nur noch darum geht, Ansprüche des Vermieters zu sichern (zusammenfassend: Beschluss vom 06.12.2017 - L 7 AS 2133/17 B), oder wenn es sich nicht um erhaltenswerten Wohnraum, etwa wegen einer ordnungsbehördlichen Schließungsverfügung oder eines Verstoßes gegen eine Wohnsitzauflage handelt.
18Eine Ausnahme greift indes nicht ein, wenn die durch die Bedarfe für Unterkunft und Heizung entstehende Bedarfslücke durch Haushaltsgemeinschafsmitglieder gedeckt wird. Zwar entstehen auch in dieser Konstellation keine Mietschulden und der Leistungsbezieher wird nicht gedrängt, einen zivilrechtlichen Kündigungsgrund entstehen zu lassen, eine Kündigung hinzunehmen, eine Räumungsklage abzuwarten und auf die nachfolgende Beseitigung der Kündigung zu hoffen. Zudem entfällt in dieser Konstellation der vom BVerfG monierte Wertungswiderspruch, der entsteht, wenn von einem hilfebedürftigen Bürger verlangt wird, dass dieser sich gegenüber einem Dritten vertragswidrig verhält, indem er seine vertraglich geschuldete Miete nicht vollständig zahlt und damit die Kündigung des Mietverhältnisses provoziert. Gleichwohl verbleibt eine ganz erhebliche Bedarfslücke, die von den übrigen Haushaltsgemeinschaftsmitgliedern nur unter erheblichen Einschränkungen kompensiert werden kann. Angesichts des existenzsichernden Charakters der Leistungen muss dies auch vorübergehend nicht hingenommen werden (Beschluss vom 02.07.2018 - L 7 AS 633/18 B ER).
19Der Senat vermag nicht zu beurteilen, ob ein Anordnungsgrund vorliegt, da die Antragsteller weder die Beschwerde begründet haben noch ihrer Mitwirkungspflicht nachgekommen sind.
20Der Senat sieht sich auch nicht veranlasst, den Antragstellern Leistungen im Wege einer Folgenabwägung zuzusprechen. Die Antragsteller haben es selbst in der Hand, umfassend und wahrheitsgemäß den Sachverhalt darzulegen und glaubhaft zu machen (vgl auch hierzu Senatsbeschlüsse vom 05.10.2020 - L 7 AS 1120/20 B ER und vom 10.03.2017 - L 7 AS 185/17 B ER).
21Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
22Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde angefochten werden (§ 177 SGG).
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Tenor
Die Anhörungsrüge des Antragstellers gegen den Senatsbeschluss vom 10. September 2020 - 4 S 1326/20 - wird zurückgewiesen.Der Antragsteller trägt die Kosten des Anhörungsrügeverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen, der diese selbst trägt.
Gründe
1 Obwohl der Senat im vorliegenden Eilfall am 10.09.2020 von 11.00 bis 12.40 Uhr mündlich verhandelt und den Antragsteller am Ende der Sitzung ausdrücklich gefragt hat, ob er Weiteres zu Gehör bringen wolle, was verneint wurde, vorliegende fristgemäß erhobene Anhörungsrüge laut Ankündigung in der Presse der gegebenenfalls verfassungsrechtlichen Überprüfung des angegriffenen Senatsbeschlusses dienen soll (StZ vom 22.09.2020, S. 6) und der Antragsteller vor allem abweichende Rechtsansichten bzw. subjektive Wertungen vorträgt und daraus eine vermeintliche Gehörsverletzung herleiten will, wird sie als noch zulässig bewertet.2 Sie kann jedoch keinen Erfolg haben, weil der Senat den Anspruch des Antragstellers auf Gewährung rechtlichen Gehörs offenkundig nicht in entscheidungserheblicher Weise verletzt hat. Der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verpflichtet die Gerichte, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Hingegen gewährt Art. 103 Abs. 1 GG grundsätzlich weder einen Schutz gegen Entscheidungen, die den Sachvortrag eines Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts ganz oder teilweise unberücksichtigt lassen, noch gegen eine materiell fehlerhafte Rechtsanwendung durch das Gericht (vgl. BVerfG, Urteil vom 08.07.1997 - 1 BvR 1621/94 -, BVerfGE 96, 205; BVerwG, Beschluss vom 13.01.2009 - 9 B 64.08 u. a. -, NVwZ 2009, 329).3 Gemessen daran zeigt der Antragsteller keine Gehörsverletzung auf. Eine mit dem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs unvereinbare Überraschungsentscheidung (vgl. BVerwG, Beschluss vom 04.06.2020 - 2 B 26.19 -, Juris Rn. 33 ff.) erscheint angesichts der eingehenden - und von den anwesenden Beteiligten für erschöpfend erachteten - Erörterung der Sach- und Rechtslage in der mündlichen Verhandlung ausgeschlossen und wird auch nicht geltend gemacht. Der Senat hat aber auch im angegriffenen Beschluss vom 10.09.2020, wie sich hinreichend aus dessen Begründung ergibt, sämtliche in der Anhörungsrüge angesprochenen rechtlichen Aspekte gewürdigt, d.h. zur Kenntnis genommen und in seine Erwägungen einbezogen, selbst wenn nicht auf alle Aspekte der - mehrere Aktenbände umfassenden - Schriftsätze im Detail eingegangen wurde. Entgegen der Auffassung des Antragstellers sind die Gerichte nicht verpflichtet, sich mit jedem Vorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen. Es ist daher verfehlt, aus der Nichterwähnung einzelner Begründungsteile des Vorbringens in den gerichtlichen Entscheidungsgründen zu schließen, ein Gericht habe sich nicht mit den darin enthaltenen Argumenten befasst. Vielmehr sind in der Entscheidung nur diejenigen Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind (vgl. § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO). Die Gerichte können sich auf die Darstellung und Würdigung derjenigen rechtlichen Gesichtspunkte beschränken, auf die es nach ihrem Rechtsstandpunkt entscheidungserheblich ankommt (BVerwG, Beschluss vom 16.04.2020 - 5 B 15.20 D -, Juris Rn. 6, m.w.N. aus der Rspr. des BVerfG).4 Eben dies hat der Senat im angegriffenen Beschluss vom 10.09.2020 getan. Das vom Antragsteller (unter a) zitierte Personalgespräch vom 22.07.2019 musste nicht gesondert gewürdigt werden, weil der Senat auch im konkreten Einzelfall der „Theorie“ nicht folgte, d.h. im gesamten Verfahren dafür keine hinreichenden Anhaltspunkte erkennen konnte, dass immer schon im Vorhinein feststünde, wer welche Stelle bekommen und also gegebenenfalls verfassungswidrig befördert wird (vgl. Beschlussabdruck S. 6).5 Wenn der Antragsteller (unter b) selbst vorträgt, der Senat habe sich mit dem „unzulässigen K.O.-Kriterium“ (nur) „teilweise auseinandergesetzt“, anerkennt er damit zugleich, dass insoweit schon im Ansatz kein Gehörsverstoß vorliegen kann. Dass der Senat seinen Vortrag, aus dem Anforderungsprofil ergebe sich keine Voraussetzung des vorherigen Innehabens eines Kammervorsitzes für den Erhalt eines Senatsvorsitzes, zur Kenntnis genommen und - zustimmend - erwogen hat, ist bereits in der mündlichen Verhandlung zur Sprache gekommen. Der Beschluss illustriert dies (Abdruck S. 8), woraus sich im Übrigen auch der veröffentlichte Entscheidungsleitsatz hierzu ableitet: „Einem Richter, der sich bereits als Beisitzer am OLG und als Vorsitzender am LG bewährt hat, kann im Einzelfall ein Eignungsvorsprung für das Amt eines Senatsvorsitzenden am OLG zugesprochen werden gegenüber einem im Wesentlichen gleich beurteilten Konkurrenten, der noch keine originäre Vorsitzendenerfahrung erworben hat. Ein Automatismus - unabhängig von übrigen Verwendungen oder gar davon, ob die Vorsitzendentätigkeit erfolgreich ausgeübt wurde - darf damit nicht verbunden sein.“6 Die vom Antragsteller (unter c) geübte Kritik, der Senat habe seiner erfolgreichen Arbeit als Stellvertreter etwas geringere Bedeutung beigemessen als der erfolgreichen Vorsitzenden-Arbeit des Beigeladenen, rügt ebenfalls schon im Ansatz keine Verletzung rechtlichen Gehörs. Wie der Antragsteller zutreffend vorträgt, wurden in der mündlichen Verhandlung sowohl seine verschiedenen Erfahrungen als Stellvertreter als auch die konkreten Aufgabengebiete des Beigeladenen erörtert. Seine „langjährigen Erfahrungen als stellvertretender Vorsitzender am Land- und Oberlandesgericht“ wurden vom Senat zudem im angegriffenen Beschluss (Abdruck S. 12) gewürdigt. Aufgrund des wiederholten Vorbringens, ein Vorsitzender einer Kammer für Handelssachen wie der Beigeladene habe es wegen deren Besetzung leichter, auf die Güte und Stetigkeit der Rechtsprechung des Spruchkörpers einen richtunggebenden Einfluss auszuüben, weist der Senat ergänzend darauf hin, dass diese Auffassung weitere Aufgaben eines Vorsitzenden wie die Verhandlungsleitung ausblendet, sie aber auch im Übrigen wenig überzeugend ist. Vorsitzender eines nicht mit zwei Berufsrichtern, sondern zwei qualifizierten ehrenamtlichen Richtern besetzten Spruchkörpers zu sein, führt zu anderen Anforderungen, ohne dass diese als leichter oder gar geringwertiger abqualifiziert werden könnten (vgl. BVerfG, Beschluss [mit Gesetzeskraft] vom 04.06.1969 - 2 BvR 412/66, 2 BvR 120/68 -, Juris Rn. 19 zum Vergleich von Vorsitzenden Richtern am Landesarbeitsgericht mit denen am Oberlandes- oder Oberverwaltungsgericht).7 Vergleichbares gilt hinsichtlich der (unter d) geübten Kritik des Antragstellers, der Senat habe sich auch mit den Ausführungen des Verwaltungsgerichts „nicht wirklich auseinandergesetzt“. Schon der Bezugspunkt ist unzutreffend, weil der Anspruch auf rechtliches Gehör die Ausführungen der Beteiligten - und nicht des Verwaltungsgerichts - im Blick hat. Wie der Beschluss (Abdruck S. 9 ff.) dokumentiert, hat der Senat selbstredend die Beurteilung des Antragstellers und des Beigeladenen sowie den Auswahlvermerk gründlich zur Kenntnis genommen und gewürdigt. Dass sich der Antragsteller eine ausführlichere Auseinandersetzung des Senats mit dem Beschluss des Verwaltungsgerichts und vor allem ein anderes Ergebnis gewünscht hätte, und der Senat bei seiner Maßstabsbildung und Sachverhaltswürdigung angeblich „die Möglichkeit der willkürlichen Heranziehung bestimmter Aussagen durch den auswählenden Dienstherrn eröffnet“, kann keine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG begründen.8 Nichts Anderes gilt bezüglich der (unter e) geübten Kritik des Antragstellers, der Senat habe seinen Vortrag zu den Anforderungen seines früheren Vorsitzenden sowie Stil und Inhalt von dessen Beurteilungsbeiträgen „allenfalls ansatzweise berücksichtigt“. Wie der Beschluss (Abdruck S. 14) aufzeigt, wurde auch die Frage der ausdrücklichen Zueigenmachung der wortwörtlich übernommenen - für die Auswahlentscheidung nicht unmittelbar relevanten - Vorbeurteilung durch den Beurteiler vom Senat ersichtlich zur Kenntnis genommen und in die Erwägungen einbezogen.9 Wie der Beschluss (Abdruck S. 3) zeigt, hat der der Senat schließlich den vom Antragsteller (unter f) aufgeführten rechtskräftigen Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 17.06.2019 und damit zugleich „seinen früheren Vorsprung“ offenkundig zur Kenntnis genommen und in die Erwägungen eingestellt. Der sinngemäße Vortrag des Antragstellers, der Senat wäre an die Wertungen des Verwaltungsgerichts gebunden gewesen bzw. hätte ihm in der Sache erneut einen Vorsprung und sogar einen Anspruch auf Ernennung zusprechen müssen, ist schlichte Entscheidungskritik und verkennt das Wesen der Anhörungsrüge.10 Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO.11 Eine Streitwertfestsetzung unterbleibt im Hinblick auf Nr. 5400 der Anlage 1 zum Gerichtskostengesetz, die eine Gebühr bei Verwerfung oder Zurückweisung einer Anhörungsrüge in Höhe von 60,-- EUR vorsieht.12 Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152a Abs. 4 Satz 3 VwGO). | {
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Tenor
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 5.000,- Euro festgesetzt.
1Gründe:
2Die Beschwerde des Antragsgegners mit dem sinngemäßen Antrag,
3den angefochtenen Beschluss teilweise zu ändern und den Antrag des Antragstellers auch insoweit abzulehnen, als er auf die Wiederherstellung der auf-schiebenden Wirkung einer noch zu erhebenden Klage gegen Satz 1 der Auflage 5a) des Bescheides des Antragsgegners vom 30. September 2020 zielt,
4hat keinen Erfolg.
5Die in der Beschwerdebegründung dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, führen nicht zu einer Änderung der angefochtenen Entscheidung.
6Die im Rahmen des Antrags nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO in materieller Hinsicht vorzunehmende Interessenabwägung fällt zulasten des Antragsgegners aus. Das private Suspensivinteresse des Antragstellers überwiegt das öffentliche Vollzugsinteresse, weil die streitgegenständliche Auflage, mit der der Antragsgegner die Verwendung eines konkreten, mit dem Antragsteller abgestimmten Bildnisses von Abdullah Öcalan in zahlenmäßiger Hinsicht begrenzt hat (max. 3 Abbildungen bei bis zu 100 Teilnehmenden, max. 10 Abbildungen bei 100 bis 1.000 Teilnehmenden), erweist sich bei der im vorliegenden Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung als voraussichtlich rechtswidrig.
7Gemäß § 15 Abs. 1 VersG kann die zuständige Behörde die Versammlung oder den Aufzug verbieten oder von bestimmten Auflagen abhängig machen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzuges unmittelbar gefährdet ist.
8Ist eine versammlungsbehördliche Verfügung auf eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit gestützt, erfordert die von der Behörde und den befassten Gerichten angestellte Gefahrenprognose tatsächliche Anhaltspunkte, die bei verständiger Würdigung eine hinreichende Wahrscheinlichkeit des Gefahreneintritts ergeben. Bloße Verdachtsmomente oder Vermutungen reichen nicht aus. Die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen von Gründen für ein Verbot oder eine Auflage liegt grundsätzlich bei der Behörde.
9Vgl. etwa BVerfG, Beschlüsse vom 20. Dezember 2012 - 1 BvR 2794/10 -, juris Rn. 17, vom 12. Mai 2010 - 1 BvR 2636/04 -, juris Rn. 17, vom 4. September 2009 - 1 BvR 2147/09 -, juris Rn. 9 und 13, vom 26. April 2001 - 1 BvQ 8/01 -, juris Rn. 11 f.
10Unter Berücksichtigung der Bedeutung der Versammlungsfreiheit darf die Behörde auch bei dem Erlass von Auflagen keine zu geringen Anforderungen an die Gefahrenprognose stellen.
11Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 20. Dezember 2012- 1 BvR 2794/10 -, juris Rn. 17, vom 5. September 2003 - 1 BvQ 32/03 -, juris Rn. 30, und vom 14. Mai 1985 - 1 BvR 233/81, 1 BvR 341/81 -, juris Rn. 79.
12Soweit Beschränkungen mit dem Inhalt der die Versammlung betreffenden Meinungsäußerungen begründet werden, ist die besondere Gewährleistung der Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 GG zu berücksichtigen. Der Inhalt von Meinungsäußerungen, der im Rahmen des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 GG nicht unterbunden werden darf, kann nicht zur Rechtfertigung von Maßnahmen herangezogen werden, die das Grundrecht des Art. 8 Abs. 1 GG beschränken. Die verfassungsrechtlichen Grenzen der Inhalte einer auf einer Versammlung geäußerten Meinung richten sich nicht nach Art. 8 Abs. 2 GG, sondern nach Art. 5 Abs. 2 GG.
13Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 19. Dezember 2007- 1 BvR 2793/04 -, juris Rn. 21 und 26, vom 23. Juni 2004 - 1 BvQ 19/04 -, juris Rn. 19 und 22 f., und vom 5. September 2003 - 1 BvQ 32/03 -, juris Rn. 20.
14Unter Berücksichtigung dieser verfassungsrechtlichen Vorgaben ist das Zeigen des konkreten, in Auflage 5a) in Bezug genommenen und dem Bescheid beigefügten Bildnisses von Abdullah Öcalan im Rahmen der angemeldeten Versammlung nicht als strafbare Verwendung eines Kennzeichens einer verbotenen Vereinigung - hier der PKK - i. S. v. § 20 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 VereinsG anzusehen.
15Es bedarf dabei keiner weiteren Betrachtung, unter welchen konkreten Voraussetzungen Bildnisse politischer Persönlichkeiten als Kennzeichen von Vereinigungen im Sinne des Vereinsgesetzes fungieren können und ob anknüpfend daran jede Abbildung Abdullah Öcalans - unabhängig von der konkreten Pose und Bildgestaltung - als Kennzeichen der PKK einzuordnen ist.
16Vgl. dazu eingehend OVG Bremen, Urteil vom 25. Oktober 2005 - 1 A 144/05 -, juris Rn. 24 ff.; VG Düsseldorf, Urteil vom 19. Februar 2020 - 18 K 17619/17 -, juris Rn. 47 ff.; ferner OVG NRW, Beschluss vom 3. November 2017 - 15 B 1371/17 -, juris Rn. 28, 33 ff.
17Die Verwendung des streitgegenständlichen konkreten Abbildes ist hier jedenfalls voraussichtlich ausnahmsweise nach § 20 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. § 9 Abs. 1 Satz 2 VereinsG erlaubt. Die Vorschrift des § 9 Abs. 1 Satz 2 VereinsG lässt die Verwendung von Kennzeichen im Rahmen der staatsbürgerlichen Aufklärung, der Abwehr verfassungswidriger Bestrebungen und ähnlicher Zwecke zu. Es gestattet damit das Verwenden im Grundsatz verbotener Kennzeichen zu „sozialadäquaten“ Zwecken. Die Vorschrift lässt die Verwendung des Kennzeichens auch für Zwecke zu, die den ersten beiden - hier nicht in Betracht kommenden - Tatbestandsmerkmalen „ähnlich“ sind. Das Kennzeichen darf danach über die enge Zweckrichtung einer „aufklärenden Abschreckung“ hinaus auch für Zwecke der Kunst, der Wissenschaft, der Forschung und Lehre, der Berichterstattung über Vorgänge des Zeitgeschehens und der Geschichte verwendet werden. Die Vorschrift ist insoweit mit Blick auf die grundrechtlichen Freiheiten auszulegen.
18Vgl. zum ganzen OVG Bremen, Urteil vom 25. Oktober 2005 - 1 A 144/05 -, juris Rn. 28 ff. m. w. N. aus Literatur und Rspr.
19Bei Meinungsäußerungen, die erkennbar keinen Zusammenhang zum Organisationsbereich der betroffenen Vereinigung oder deren Wirken aufweisen, kann die Verwendung von Öcalan-Bildern deshalb im Einzelfall „sozialadäquat“ sein. Bei Veranstaltungen und Versammlungen, die ohne Zusammenhang zu PKK-nahen Aktivitäten allein die persönliche Situation des Gefangenen Öcalan zum Gegenstand der öffentlichen Meinungsbildung machen, ist es daher nicht in jedem Fall verboten, Bilder seiner Person zu zeigen.
20Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 3. November 2017- 15 B 1371/17 -, juris Rn. 31; OVG Bremen, Urteil vom 25. Oktober 2005 - 1 A 144/05 -, juris Rn. 30; VG Düsseldorf, Beschluss vom 10. Mai 2019 - 18 L 1374/19 -, juris Rn. 21; VG München, Beschluss vom 16. Februar 2018 - M 13 S 18.743 -, juris Rn. 27.
21Insoweit spielt, wie das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt hat, das Versammlungsthema eine zentrale Rolle. Gemessen daran ist vorliegend davon auszugehen, dass es sich bei der Verwendung der in Auflage 5a) in Bezug genommenen konkreten Abbildung Abdulah Öcalans dem Grunde nach um einen sozialadäquaten Gebrauch im Sinne des § 9 Abs. 1 Satz 2 VereinsG handelt. Das Versammlungsthema ist mit der Formulierung „Schluss mit den Isolationshaftbedingungen auf Imrali! Die Zeit ist reif - Freiheit für Abdullah Öcalan“ auf die Haftbedingungen des Menschen Öcalan ausgerichtet. Auch das konkret ausgewählte - und von dem Antragsgegner im Ausgangspunkt für zulässig erachtete - Foto Öcalans weist keine PKK-Symbolik oder Darstellungstypik auf, die auf dessen Bedeutung für die und innerhalb der PKK verweist. Sonstige konkrete Anhaltspunkte für die Gefahr, dass die Veranstaltung entgegen dem angemeldeten Motto ein PKK-nahes Gepräge aufweisen wird, infolgedessen die Verwendung des Fotos eine andere - nicht mehr sozialadäquate - Bedeutung erlangt, hat der Antragsgegner nicht vorgebracht. Im Übrigen dürfte dieser Gefahr auch mit den weiteren Auflagen des Bescheids hinreichend begegnet sein.
22Wenn damit grundsätzlich von einer sozialadäquaten und straffreien Verwendung des Bildnisses auszugehen ist, ist diese Bewertung entgegen der Auffassung des Antragsgegners jedenfalls im Ansatz nicht an die konkrete Zahl der gezeigten Abbildungen gekoppelt; das Erfordernis einer nur vereinzelten Verwendung ist nicht nachvollziehbar. Wenn die Haftbedingungen Abdullah Öcalans das zentrale Motto der Versammlung sind, muss für die Teilnehmenden auch die Möglichkeit bestehen, mittels Fahnen, Transparenten, Schildern etc. auf diese Person aufmerksam zu machen.
23Etwas anderes kann ggf. gelten, wenn Abbildungen in so großer Zahl gezeigt werden, dass ein - vom Antragsgegner so bezeichnetes - „Flaggenmeer“ entsteht. Ein solches ist möglicherweise geeignet, den Eindruck einer Huldigung Öcalans als politischem Führer und damit als Leitfigur der PKK zu erwecken. Ob und unter welchen Voraussetzungen von einer solchen Sachlage auszugehen ist, kann hier aber dahinstehen. Denn die vom Antragsgegner verfügte zahlenmäßige Begrenzung auf drei (bis 100 Teilnehmende) bzw. zehn Abbildungen (bei 100 bis 1.000 Teilnehmenden) geht ersichtlich über das Ziel der Verhinderung eines solchen „Flaggenmeeres“ hinaus.
24An der vorstehenden Bewertung ändert auch der Vortrag des Antragsgegners nichts, dass das grundsätzlich bestehende Verbot der Verwendung von Abbildern Öcalans „regelmäßig durch entsprechende Anpassung des Versammlungsthemas“ umgangen und die ausnahmsweise Gestattung dadurch zum Regelfall werde. Die bewusste Wahl einer legalen Versammlungsausgestaltung ist nicht rechtsmissbräuchlich. Im Übrigen ist die vom Antragsgegner befürchtete „Umgehung“ nach dem oben Gesagten für die juristische Einordnung nur dann relevant, wenn unter dem Deckmantel der sozialadäquaten Kennzeichenverwendung - etwa durch Angabe eines nur „vorgeschobenen“ Versammlungsthemas - eine Versammlung durchgeführt werden soll, durch deren Gepräge und in deren Kontext sich die Verwendung des Öcalan-Abbildes nicht mehr als ausnahmsweise erlaubt darstellt. In Bezug auf die streitgegenständliche Versammlung bleibt der Antragsgegner insofern aber - wie bereits dargelegt - konkrete Anhaltspunkte schuldig. Aus diesem Grund geht auch der Einwand fehl, die Auswirkungen des Vereinsverbots würden durch die Wahrnehmung der Versammlungsfreiheit vollständig verdrängt. Wie bereits ausgeführt, ist die einfachrechtliche Vorschrift des § 20 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5, Satz 2 i. V. m. § 9 Abs. 1 Satz 2 VereinsG (auch) im Lichte der Meinungsfreiheit auszulegen. Eine rechtfertigungsbedürftige Kollisionslage zwischen der Versammlungsfreiheit und Art. 9 Abs. 2 GG ist insoweit nicht erkennbar.
25Soweit der Antragsgegner schließlich auf die Eignung der streitgegenständlichen, in der Vergangenheit bereits mehrfach erlassenen Auflage zur Begrenzung der Zahl der Abbildungen verweist, geht dieser Vortrag fehl. Auf die (praktische) Durchsetzbarkeit der Auflage kommt es nicht an, weil sie voraussichtlich rechtswidrig ist.
26Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
27Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2, § 53 Abs. 2Nr. 2 GKG.
28Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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Tenor
1. Der Antrag wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
2. Der Streitwert wird auf 2.500,00 € festgesetzt.
1Gründe:
2Die Sache ist durch die Einzelrichterin zu entscheiden, da die Kammer ihr den Rechtsstreit durch Beschluss vom 28. September 2020 gemäß § 6 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) zur Entscheidung übertragen hat.
3Der Antrag des Antragstellers,
4die aufschiebende Wirkung der Klage (9 K 2106/20) gegen die Ordnungsverfügung der Antragsgegnerin vom 22. Mai 2020 wiederherzustellen,
5hat keinen Erfolg.
6Das Gericht legt den Antrag gemäß §§ 122 Abs. 1, 88 VwGO dahingehend aus, dass (nur) gegen die Entziehung der Fahrerlaubnis und die Verpflichtung zur Abgabe des Führerscheins sowie die Zwangsgeldandrohung um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht wird, nicht aber auch gegen die Gebührenfestsetzung. Ein Antrag gerichtet auf Anordnung (vgl. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO) der aufschiebenden Wirkung hinsichtlich der Gebührenfestsetzung wäre unzulässig, da der Antragsteller vor Antragstellung bei Gericht keinen Antrag nach § 80 Abs. 6 Satz 1 VwGO gestellt hat. Soweit sich der Antrag gegen die Entziehung der Fahrerlaubnis und die Zwangsgeldandrohung richtet, ist er dergestalt auszulegen, dass die Anordnung der aufschiebenden Wirkung begehrt wird, da die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die auf § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) gestützte Entziehung der Fahrerlaubnis gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Ziffer 3 VwGO i.V.m. § 4 Abs. 9 StVG und die Klage gegen die Zwangsgeldandrohung gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 112 Satz 1 Justizgesetz NRW (JustG NRW) von Gesetzes wegen entfallen ist. Soweit der Antragsteller sich gegen die in Ziffer 2 der Ordnungsverfügung verfügte Verpflichtung zur Abgabe des Führerscheins wendet, ist der Antrag zutreffend auf die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung gerichtet. Denn die aufschiebende Wirkung entfällt nach überzeugender Ansicht nicht bereits von Gesetzes wegen nach da § 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO iVm. § 3 Abs. 2 Satz 3 StVG und § 47 Abs. 1 Satz 2 FeV, sondern erst nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO, da die Behörde in Ziffer 4 des Bescheides diesbezüglich die sofortige Vollziehung angeordnet hat.
7Vgl. BayVGH, Beschluss vom 6. Oktober 2017 – 11 CS 17.953 –, juris Rn. 9; OVG NRW, Beschluss vom 16 B 1402/17, juris Rn 17; Dauer, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 45. Aufl. 2019, § 47 FeV Rn. 19; Siegmund in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl., § 47 FeV (Stand: 16. Januar 2019), Rn. 24, jeweils m.w.N.
8Der in dieser Auslegung zulässige Antrag ist nicht begründet.
9Eine Anordnung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung oder zumindest eine Aufhebung der Vollziehungsanordnung in Ziffer 4 des Bescheides wegen unzureichender Begründung des Vollziehungsinteresses (§ 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO) kommt nicht in Betracht.
10Formelle Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der Vollziehungsanordnung ist, dass für das besondere Interesse an der Anordnung der sofortigen Vollziehung eine schriftliche Begründung gemäß § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO gegeben worden ist. Der Sinn und Zweck dieses Begründungserfordernisses besteht darin, dass sich die Behörde den Ausnahmecharakter der Vollziehungsanordnung bewusst macht und mit besonderer Sorgfalt prüft, ob vorrangige öffentliche Interessen eine Vollziehung bereits vor Eintritt der Unanfechtbarkeit des Verwaltungsaktes notwendig erscheinen lassen. Pauschale, formelhafte und für eine beliebige Vielzahl von Fallgestaltungen anwendbare Formulierungen genügen deshalb den gesetzlichen Anforderungen im Regelfall nicht. Bei gleichartigen Tatbeständen können allerdings auch typisierte Begründungen ausreichen. In solchen Fällen ist es nicht zwingend geboten, eine ausschließlich auf den konkreten Einzelfall zugeschnittene Begründung zu geben. Gerade dann, wenn immer wiederkehrenden Sachverhaltsgestaltungen eine typische Interessenlage zugrunde liegt, kann sich die Behörde darauf beschränken, die für diese Fallgruppe typische Interessenlage zur Rechtfertigung der Anordnung der sofortigen Vollziehung aufzuzeigen und deutlich zu machen, dass nach ihrer Auffassung diese Interessenlage auch im konkreten Fall vorliegt.
11Vgl. Bay.VGH, Beschluss vom 13. Oktober 2006 – 11 CS 06.1724 –, juris Rn 13; OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 13. April 2012 – 3 M 47/12 –, juris Rn 10.
12Diesen Anforderungen genügt die von der Antragsgegnerin gegebene Begründung, der Antragsteller sei durch den Entzug der Fahrerlaubnis nicht mehr berechtigt, fahrerlaubnispflichtige Kraftfahrzeuge zu führen. Die sofortige Vollziehung hinsichtlich der Ablieferung des Führerscheins sei erforderlich, da anderenfalls die Gefahr des Missbrauchs des Führerscheins bestehe, indem durch ein Vorzeigen des Führerscheins der Anschein erweckt werden könne, im Besitz einer gültigen Fahrerlaubnis zu sein, obwohl diese entzogen worden sei. Dies gelte es durch Ablieferung des Führerscheins zu verhindern.
13Die Anordnung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 1. Alt. VwGO hängt ferner von einer Abwägung der widerstreitenden Interessen an der Suspendierung der angefochtenen Maßnahme einerseits und der Vollziehung des Verwaltungsaktes andererseits ab. Bei der Abwägung sind insbesondere die Erfolgsaussichten des eingelegten Rechtsbehelfs zu berücksichtigen. Ergibt die im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gebotene summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage, dass der sofort vollziehbare Verwaltungsakt rechtswidrig ist, überwiegt das private Aufschubinteresse des Antragstellers. Denn an der Vollziehung einer rechtswidrigen hoheitlichen Maßnahme kann kein öffentliches Interesse bestehen. Ist hingegen der angegriffene Bescheid rechtmäßig, und besteht – für den Fall des Antrags auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung – ein besonderes Interesse an der sofortigen Vollziehung, überwiegt regelmäßig das öffentliche Interesse am Bestand der sofortigen Vollziehbarkeit.
14Vorliegend ergibt die Abwägung des Interesses des Antragstellers einerseits – vorläufig weiter ein Kraftfahrzeug führen zu dürfen – mit dem widerstreitenden öffentlichen Interesse andererseits – die Teilnahme des Antragstellers am motorisierten Straßenverkehr zum Schutze der anderen Verkehrsteilnehmer sofort zu unterbinden –, dass dem öffentlichen Interesse Vorrang einzuräumen ist. Denn die erhobene Klage hat voraussichtlich keinen Erfolg, weil die Entziehung der Fahrerlaubnis und die Zwangsgeldandrohung sich nach der im Eilverfahren allein gebotenen summarischen Prüfung als rechtmäßig darstellen.
15In formeller Hinsicht ist der Bescheid nicht zu beanstanden.
16Zwar hat die Antragstellerin den Antragsteller mit Schreiben vom 27. April 2020 gem. § 28 Abs. 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen (VwVfG NRW) zur beabsichtigten Entziehung der Fahrerlaubnis angehört, dann aber die innerhalb der auf Antrag des Prozessbevollmächtigten des Antragstellers bis zum 21. Mai 2020 verlängerten Frist zur Äußerung eingegangene Stellungnahme des Antragstellers vom 20. Mai 2020 vor Erlass der Ordnungsverfügung nicht berücksichtigt.
17Damit hat sie dem Erfordernis, das im Rahmen der Vorgebrachte zur Kenntnis zu nehmen und ernsthaft in Erwägung zu ziehen nicht genügt.
18Vgl. Kallerhoff/Mayen, in Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, Kommentar, 9. Aufl. 2018, § 28 Rn.37 f. Kopp/Ramsauer, VwVfG, 18. Auflage 2017, § 28 Rn. 12 m.w.N.
19Der sich damit aufgrund der vorab nicht ordnungsgemäß durchgeführten Anhörung ergebende Verfahrensfehler wurde aber nach § 45 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 VwVfG NRW geheilt, indem die Antragsgegnerin sich nachträglich mit Schreiben vom 25. Mai 2020 mit dem Vorbringen des Antragstellers inhaltlich auseinandergesetzt und auch in Ansehung dessen an ihrem Bescheid festgehalten hat.
20Die Fahrerlaubnisentziehung ist auch in materieller Hinsicht nicht zu beanstanden.
21Rechtsgrundlage der Entziehung der Fahrerlaubnis ist § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG. Nach dieser Vorschrift gilt der Inhaber einer Fahrerlaubnis als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen, wenn sich 8 oder mehr Punkte nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem ergeben. Die Fahrerlaubnisbehörde hat dann die Fahrerlaubnis zu entziehen. Sie hat für das Ergreifen der Maßnahmen auf den Punktestand abzustellen, der sich zum Zeitpunkt der Begehung der letzten zur Ergreifung der Maßnahme führenden Straftat oder Ordnungswidrigkeit ergeben hat (Tattagprinzip, § 4 Abs. 5 Satz 4 StVG).
22Die Voraussetzungen der unwiderlegbaren gesetzlichen Fiktion des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG lagen vor, sodass die Antragsgegnerin dem Antragsteller die Fahrerlaubnis entziehen musste. Im maßgeblichen Zeitpunkt der Begehung der letzten zur Ergreifung der Maßnahme führenden Ordnungswidrigkeit am 9. Juli 2019 ergaben sich nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem 8 Punkte, ohne dass der Punktestand insbesondere durch Tilgungen verringert wurde.
23Gemäß § 4 Abs. 2 StVG sind für die Anwendung des Fahreignungs-Bewertungssystems die in einer Rechtsverordnung nach § 6 Absatz 1 Nummer 1 Buchstabe s StVG - der Fahrerlaubnisverordnung (FeV) - bezeichneten Straftaten und Ordnungswidrigkeiten maßgeblich. Sie werden nach Maßgabe der in Satz 1 genannten Rechtsverordnung wie folgt bewertet:
241. Straftaten mit Bezug auf die Verkehrssicherheit oder gleichgestellte Straftaten, sofern in der Entscheidung über die Straftat die Entziehung der Fahrerlaubnis nach den §§ 69 und 69b des Strafgesetzbuches oder eine Sperre nach § 69a Absatz 1 Satz 3 des Strafgesetzbuches angeordnet worden ist, mit drei Punkten,
252. Straftaten mit Bezug auf die Verkehrssicherheit oder gleichgestellte Straftaten, sofern sie nicht von Nummer 1 erfasst sind, und besonders verkehrssicherheitsbeeinträchtigende oder gleichgestellte Ordnungswidrigkeiten jeweils mit zwei Punkten und
263. verkehrssicherheitsbeeinträchtigende oder gleichgestellte Ordnungswidrigkeiten mit einem Punkt.
27Gemäß § 40 FeV sind dem Fahreignungs-Bewertungssystem die in Anlage 13 bezeichneten Zuwiderhandlungen mit der dort jeweils festgelegten Bewertung zu Grunde zu legen. Anlage 13 FeV wiederum enthält tabellarisch die Bezeichnung und Bewertung der im Rahmen des Fahreignungs-Bewertungssystems zu berücksichtigenden Straftaten und Ordnungswidrigkeiten.
28Geschwindigkeitsüberschreitungen werden gemäß Ziffer 2.2.3 Anlage 13 FeV als besonders verkehrssicherheitsbeeinträchtigende Ordnungswidrigkeiten mit 2 Punkten bewertet, soweit für ihre Ahndung 9.1 bis 9.3, 11.1 bis 11.3 jeweils in Verbindung mit 11.1.6 bis 11.1.10 der Tabelle 1 des Anhangs (11.1.6 nur innerhalb geschlossener Ortschaften), 11.2.5 bis 11.2.10 der Tabelle 1 des Anhangs (11.2.5 nur innerhalb geschlossener Ortschaften) oder 11.3.6 bis 11.3.10 der Tabelle 1 des Anhangs (11.3.6 nur innerhalb geschlossener Ortschaften) des Bußgeldkatalogs gemäß Bußgeldkatalogverordnung (BKatV) einschlägig sind.
29Sie werden gemäß Ziffer 3.2.2 Anlage 13 FeV als (schlicht) verkehrssicherheitsbeeinträchtigende Ordnungswidrigkeiten mit 1 Punkt bewertet, soweit für ihre Ahndung 8.1, 9, 10, 11 in Verbindung mit 11.1.3, 11.1.4, 11.1.5, 11.1.6 der Tabelle 1 des Anhangs (11.1.6 nur außerhalb geschlossener Ortschaften), 11.2.2, 11.2.3, 11.2.4, 11.2.5 der Tabelle 1 des Anhangs (11.2.2 nur innerhalb, 11.2.5 nur außerhalb geschlossener Ortschaften), 11.3.4, 11.3.5, 11.3.6 der Tabelle 1 des Anhangs (11.3.6 nur außerhalb geschlossener Ortschaften) des Bußgeldkatalogs einschlägig sind.
30Gemäß § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG ergeben sich Punkte mit der Begehung der Straftat oder Ordnungswidrigkeit, sofern sie rechtskräftig geahndet wird. Die nach Landesrecht zuständige Behörde ist an die rechtskräftige Entscheidung über die Straftat oder die Ordnungswidrigkeit gebunden, § 4 Abs. 5 Satz 3 StVG
31Nach diesen Maßstäben entwickelte sich der Punktestand des Antragstellers nach dem Fahreignungsbewertungssystem wie folgt:
32Aufgrund einer Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 21 km/h am 13. Februar 2017 (rechtskräftig am 21. März 2017) wurde am 3. April 2017 für den Antragsteller ein Punkt eingetragen.
33Aufgrund einer weiteren Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 32 km/h am 14. Juni 2018 (rechtskräftig am 3. August 2018) wurde am 15 August 2018 für den Antragsteller ein weiterer Punkt eingetragen.
34Aufgrund einer weiteren Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 37 km/h am 14. November 2018 (rechtskräftig am 26. Juli 2020) wurde am 17. August 2019 für den Antragsteller ein weiterer Punkt eingetragen.
35Aufgrund einer weiteren Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 42 km/h am 18. April 2019 (rechtskräftig am 29. November 2019) wurden am 10. Dezember 2019 für den Antragsteller weitere zwei Punkte eingetragen.
36Aufgrund einer weiteren Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 41 km/h am 9. Juli 2019 (rechtskräftig am 7. Januar 2020) wurden am 20. Januar 2020 für den Antragsteller zwei weitere Punkte eingetragen.
37Aufgrund einer chronologisch bereits davor liegenden weiteren Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften am 24. Juni 2019 (rechtskräftig am 9. März 2020) wurde am 20. März 2020 für den Antragsteller ein weiterer Punkt eingetragen.
38Die Zuwiderhandlungen wurden jeweils den zutreffenden Bestimmungen des Bußgeldkatalogs zugeordnet und nach Maßgabe der Anlage 13 FeV durchgehend zutreffend bewertet.
39Von den damit verwirklichten 8 Punkten wurde im Zeitpunkt des jüngsten Tattags (9. Juli 2019) kein Punkt getilgt, vgl. § 4 Abs. 5 Satz 6 Nr. 2 StVG.
40Die Tilgung der Punktebewertungen richtet sich nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a) StVG jeweils für die mit einem Punkt bewerten Ordnungswidrigkeiten – dann zweieinhalb Jahre – und nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe b) StVG hinsichtlich der mit zwei Punkten bewerteten Ordnungswidrigkeiten – dann fünf Jahre. Die Tilgungsfristen beginnen jeweils mit dem Tag der Rechtskraft (§ 29 Abs. 4 Nr. 3 StVG). Damit ergab sich der erste Tilgungszeitpunkt für die am 21. März 2017 rechtskräftig geahndete Zuwiderhandlung vom 13. Februar 2017 erst am 21. September 2019 und mithin nach dem gemäß § 4 Abs. 5 Satz 4 StVG maßgeblichen Zeitpunkt. Die spätere Verringerung der Punkte auf sieben, bleibt gemäß § 4 Abs. 5 Satz 6 StVG unberücksichtigt.
41Weitere Voraussetzung für die Entziehung der Fahrerlaubnis ist, dass das Stufenverfahren nach § 4 Abs. 5 StVG ordnungsgemäß durchgeführt worden ist.
42Vgl. VG Gelsenkirchen, Beschluss vom heutigen Tage – 9 L 824/20 –, sowie aus dem Zusammenhang des § 2a StVG Urteil vom 23. Juni 2020 – 9 K 724/20 –, zur Veröffentlichung vorgesehen.
43Ergeben sich vier oder fünf Punkte, ist der Inhaber einer Fahrerlaubnis beim Erreichen eines dieser Punktestände schriftlich zu ermahnen (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 StVG). Ergeben sich sechs oder sieben Punkte, ist der Inhaber einer Fahrerlaubnis beim Erreichen eines dieser Punktestände schriftlich zu verwarnen (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG). Gemäß § 4 Abs. 6 StVG darf die nach Landesrecht zuständige Behörde eine Maßnahme nach Absatz 5 Satz 1 Nummer 2 oder 3 erst ergreifen, wenn die Maßnahme der jeweils davor liegenden Stufe nach Absatz 5 Satz 1 Nummer 1 oder 2 bereits ergriffen worden ist (Satz 1).
44Im Fahreignungs-Bewertungssystem entscheidet die Fahrerlaubnisbehörde auf der Grundlage der ihr gemäß § 4 Abs. 8 StVG vom Kraftfahrt-Bundesamt übermittelten Eintragungen im Fahreignungsregister. Dieser Kenntnisstand ist maßgebend für die Rechtmäßigkeit der Maßnahmen nach § 4 Abs. 5 StVG.
45Vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2017 – 3 C 21/15 –, juris Rn. 25; Hamb. OVG, Beschl. v. 8. Jan. 2018 – 4 Bs 94/17 -, juris Rn.14; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 23. Juli 2019 – 9 K 1438/19 –, juris Rn. 53; Dauer, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 45. Aufl. 2019, § 4 StVG Rn. 81.
46Die Antragsgegnerin hat gegenüber dem Antragsteller vor Erlass des Entziehungsbescheides vom 22. Mai 2020 entsprechend dem in § 4 Abs. 6 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 StVG vorgegebenen gestuften Verfahren die Vorstufemaßnahmen auf Grundlage des sich bei ihr aus den vom Kraftfahrbundesamt übermittelten Eintragungen jeweils ergebenden Kenntnisstandes ergriffen. Insofern dürfte das einzuhaltende Verfahren seitens der Antragsgegnerin beachtet worden sein.
47Die Antragsgegnerin hat den Antragsteller mit Schreiben vom 7. Januar 2020 in Ansehung der ihr vom Kraftfahrbundesamt am 17. Dezember 2019 mitgeteilten Zuwiderhandlungen vom 13. Februar 2017, vom 14. Juni 2018, vom 14. November 2018 und vom 18. April 2019 wegen des Erreichens von 5 Punkten gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG unter Hinweis auf die Möglichkeit eines freiwilligen Fahreignungsseminars ermahnt und dabei in der Anlage zu ihrem Bescheid die begangenen Verkehrszuwiderhandlungen angegeben, vgl. § 41 Abs. 1 FeV.
48Dabei konnte die Antragsgegnerin die Eintragung betreffend die Zuwiderhandlung vom 13. Februar 2017 ungeachtet des Ablaufs seiner Tilgungsfrist am 21. September 2019 verwerten. Denn sie war noch nicht gemäß § 29 Abs. 6 Satz 1 StVG zu löschen; vielmehr befand sie sich, da sie eine rechtskräftige Entscheidung über eine Ordnungswidrigkeit nach § 24 StVG, für die eine Geldbuße von mindestens 60 € festgesetzt worden ist (es wurden 70 € festgesetzt) in der einjährigen Überliegefrist gemäß § 29 Abs. 6 Satz 2 i. V. m. § 28 Abs. 3 Nr. 3 Buchstabe a), während der sie gemäß § 29 Abs. 6 Satz 2 Nr. 2 StVG zur Ergreifung von Maßnahmen nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem nach § 4 Abs. 5 StVG verwertet werden durfte.
49Vgl. zur Grenze der Verwertbarkeit: Hühnermann, in: Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 26. Aufl. 2020, juris Rn. 31a sowie OVG Lüneburg, Beschluss vom 22. Februar 2017 – 12 ME 240/16 –, juris Rn. 9 ff.
50Soweit der Antragsteller darauf hinweist, dass er sich seit Oktober 2019 darum bemüht habe, ein Punkteabbauseminar durchzuführen, können die genaueren Umstände dahinstehen, denn zu diesem Zeitpunkt konnte er ohnehin keine Punktereduktion mehr erhalten. Die Punktereduktion erfolgt nach § 4 Abs. 7 Satz 1 StVG nur bei einem Punktestand von ein bis fünf Punkten, wobei maßgeblich der Zeitpunkt der Ausstellung der Teilnahmebescheinigung ist. Im Oktober 2019 hatte der Antragsteller aber bereits den Punktestand von 5 Punkten überschritten.
51Nachdem die Antragsgegnerin durch Mitteilung des Kraftfahrtbundesamtes vom 25. Januar 2020 Kenntnis von der Zuwiderhandlung vom 9. Juli 2019 erlangt hatte, verwarnte sie den Antragsteller wegen des Erreichens von 6 Punkten mit Schreiben vom 28. Januar 2020. Dabei legte sie der Verwarnung ausweislich der dieser beigefügten Anlage, vgl. § 41 Abs. 1 FeV, die Verkehrsverstöße vom 16. Juni 2018, vom 18. April 2019, vom 14. November 2018 und vom 9. Juli 2019 zugrunde.
52Dass nach der Begehung der Zuwiderhandlung vom 9. Juli 2019 bereits eine Maßnahme ergriffen wurden – hier die Ermahnung –, steht einer Berücksichtigung der Zuwiderhandlung bei der Berechnung des Punktestandes nicht entgegen, vgl. § 4 Abs. 5 Satz 6 Nr. 1 StVG.
53Ebenso dürfte es keine Auswirkungen auf die Rechtmäßigkeit der ergriffenen Verwarnung haben, dass die zum Zeitpunkt der Verwarnung weiterhin verwertbare, da noch in der Überliegefrist befindliche, Zuwiderhandlung vom 13. Februar 2017 nicht für aufgelistet war.
54Misst man dem Erfordernis der Auflistung der begangenen Verkehrszuwiderhandlungen des § 41 Abs. 1 FeV lediglich den Charakter einer Begründung der getroffenen Entscheidung bei,
55so OVG Lüneburg, Urteil vom 23. Januar 2014 – 12 LB 46/13 -, juris Rn. 23.
56so hat die Antragsgegnerin dem genügt, denn sie hat die von ihr zugrunde gelegten Zuwiderhandlungen benannt und damit ihre Entscheidung begründet. Dass sie noch eine weitere Zuwiderhandlung hätte berücksichtigen müssen, spielt lediglich hinsichtlich der Vollständigkeit und Richtigkeit der Begründung eine Rolle, die bei dieser Auslegung von § 41 FeV nicht gefordert sein dürfte.
57Zudem trägt vorliegend die gegebene Begründung auch materiell die getroffene Entscheidung, denn die Verwarnung ist bei Erreichen von sechs oder sieben Punkten auszusprechen.
58Soweit § 41 Abs. 1 FeV – wofür der Wortlaut, der nicht von durch die Behörde zugrunde gelegten sondern „begangenen“ Zuwiderhandlungen spricht – eine vollständige Auflistung der Zuwiderhandlungen verlangt,
59vgl. in diese Richtung auch BR-Drucks. 443/98 S. 293, der von „Unterrichtung“ nach Abs. 1 spricht,
60und dabei auch solche erfasst, deren Tilgungsfrist bereits abgelaufen ist, die aber noch nicht gelöscht sind, konnte sich der Formfehler vorliegend aber offensichtlich nicht auf die Entscheidung in der Sache auswirken und wäre damit auf Grundlage der Annahme, dass die Anwendung des § 46 VwVfG NRW grundsätzlich auch auf die Entziehung der Fahrerlaubnis vorbereitende Maßnahmen im Hinblick auf die streitgegenständliche Entziehung selbst Anwendung findet,
61vgl. BVerwG, Urteil v. 17. November 2016 - 3 C 20/15, juris Rn. 29 zur Gutachtenanordnung im Zusammenhang mit § 11 Abs. 6, Abs. 8 FeV; vgl. auch VG Gelsenkirchen, Urteil vom 23. Juni 2020 – 9 K 724/20 –, zur Veröffentlichung vorgesehen.
62unerheblich.
63Nach § 46 VwVfG NRW kann die Aufhebung eines Verwaltungsakts, der nicht nach § 44 VwVfG NRW nichtig ist, nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit zustande gekommen ist, wenn offensichtlich ist, dass die Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat.
64Entsprechend liegt es hier für die Verwarnung. Denn bei Berücksichtigung der nicht aufgezählten Zuwiderhandlung hätten sich sieben Punkte ergeben und auch danach wäre die Verwarnung auszusprechen gewesen, vgl. § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 („ergeben sich 6 oder 7 Punkte“). Es wäre infolgedessen insbesondere nicht zu einer Punktereduktion nach § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG gekommen. Da es sich bei der Verwarnung wie bei der Entziehung der Fahrerlaubnis um gebundene Entscheidungen handelt, kann die Antragsgegnerin unabhängig von einer unvollständigen Auflistung – auch im weiteren Verfahren – nicht von der Berücksichtigung eines berücksichtigungsfähigen Punktes absehen.
65Darüber hinaus konnte der Antragsteller in der vorliegenden Konstellation unabhängig von dem Fehler weder noch eine Reduktion der Punkte erreichen, noch in Ansehung der Mitteilung über die Zuwiderhandlungen das künftige Verkehrsverhalten anpassen. Denn er hatte ohnehin zu diesem Zeitpunkt bereits 8 Punkte erreicht und war damit fahrungeeignet.
66Die Verwarnung enthielt schließlich die nach § 4 Abs. 5 Sätze 2 und 3 StVG zu treffenden Hinweise auf die Möglichkeit der freiwilligen Teilnahme an einem Fahreignungsseminar, die jedoch zu keinem Punktabzug führt, sowie auf die Tatsache, dass bei Erreichen von acht Punkten die Fahrerlaubnis entzogen wird.
67Dass vorliegend sowohl die Ermahnung mit dem Hinweis auf die Möglichkeit eines Punkteabbauseminars als auch die Verwarnung „ins Leere“ gingen, weil der Antragsteller bereits zum Zeitpunkt der ersten Maßnahme der Behörde sämtliche Zuwiderhandlungen begangen hatte, die letztlich die Entziehung der Fahrerlaubnis tragen, führt zu keinem anderen Ergebnis.
68Denn nach der Neufassung des Straßenverkehrsgesetzes wollte der Gesetzgeber eine Abkehr von der Warn- und Erziehungsfunktion des Systems erreichen. Es kommt im neu gefassten Fahreignungsbewertungssystem nicht mehr darauf an, dass eine Maßnahme den Betroffenen vor der Begehung weiterer Verstöße erreicht und ihm die Möglichkeit der Verhaltensänderung einräumt, bevor es zu weiteren Verstößen kommt. Unter Verkehrssicherheitsgesichtspunkten und für das Ziel, die Allgemeinheit vor ungeeigneten Fahrern zu schützen, kommt es vielmehr auf die Effektivität des Fahreignungs-Bewertungssystems an. Hat der Betroffene sich durch eine entsprechende Anhäufung von Verkehrsverstößen als ungeeignet erwiesen, ist er vom Verkehr ausgeschlossen. Die Maßnahmestufen dienen nunmehr in erster Linie der Information des Betroffenen über den Stand im System. Der Hinweis auf eine in bestimmten Konstellationen – wie hier – ausbleibende Chance, sein Verhalten so zu verbessern, dass es zu keinen weiteren Maßnahmen kommt, kann in Abwägung mit dem Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit kein Argument dafür sein, über bestimmte Verkehrsverstöße hinwegzusehen und sie dadurch bei der Beurteilung der Fahreignung auszublenden.
69Vgl. BT-Drucks 18/2775, S. 9 f.; BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2017 – 3 C 21/15 –, juris Rn. 23; OVG NRW, Urteil vom 28. September 2017 – 16 A 980/16 –, juris Rn. 36 ff. m.w.N.; Dauer, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 45. Aufl. 2019, § 4 StVG Rn. 85 m.w.N. sowie zu einer vergleichbaren Konstellation VG Augsburg, Urteil vom 2. Dezember 2019 – Au 7 K 19.1412 –, juris Rn. 31 f.
70Da § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG die Entziehung der Fahrerlaubnis zwingend vorsieht, sind Ermessenserwägungen durch die Beklagte zu Recht unterblieben. Insbesondere waren die vom Antragssteller angeführten persönlichen Belange, dass er zu Ausübung seines Berufes auf die Fahrerlaubnis angewiesen und die Firma seiner Ehefrau und Arbeitgeberin bei seinem Ausfall einen anderen Mitarbeiter nicht einstellen könnte, ohne das Familieneinkommen zu gefährden, nicht geeignet, eine andere Entscheidung herbeizuführen.
71Es liegen schließlich keine Umstände vor, die hier ausnahmsweise trotz der fehlenden Erfolgsaussichten des Antragstellers in der Hauptsache ein überwiegendes Aussetzungsinteresse begründen könnten. Die vom Antragsteller ausgehende Gefährdung des Straßenverkehrs aufgrund seiner nach dem Fahreignungsbewertungssystem feststehenden Fahrungeeignetheit lässt es auch in Ansehung der vom ihm angeführten beruflichen und privaten Nachteile nicht zu, diese bis zur Entscheidung in der Hauptsache hinzunehmen.
72Vgl. nur OVG NRW, Beschluss vom 22. Mai 2012 – 16 B 536/12 –, juris Rn. 33 m.w.N.; BVerfG, Kammerbeschluss vom 19. Juli 2007 – 1 BvR 305/07 –, juris Rn. 6.
73Nach dem Vorstehenden fällt auch die Interessenabwägung in Bezug auf die Anordnung der Abgabe des Führerscheins und die diesbezügliche Zwangsgeldandrohung zu Ungunsten des Antragstellers aus.
74Die in der Ordnungsverfügung enthaltene Aufforderung zur unverzüglichen Abgabe des Führerscheins findet ihre Rechtsgrundlage in § 3 Abs. 2 Satz 3 StVG.
75Es besteht auch ein besonderes Vollziehungsinteresse hinsichtlich der Abgabe des Führerscheins. Denn der Verbleib des Führerscheins beim Antragsteller bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens würde – wie die Antragsgegnerin inhaltlich zutreffend angeführt hat – zur Gefahr des Missbrauchs führen. Unabhängig davon, dass keine konkreten Anhaltspunkte für einen bevorstehenden Missbrauch durch den Antragsteller bestehen, muss das Interesse des Antragstellers am Verbleib des Dokuments bis zur Entscheidung in der Hauptsache hinter dem öffentlichen Interesse eine Teilnahme fahrungeeigneter Kraftfahrzeugführer zurücktreten. Denn dem Antragsteller würde auch der vorübergehende Verbleib des Dokuments keinerlei Vorteile im Hinblick auf die von ihm angeführten beruflichen und privaten Nachteile bringen, da er ihn in Anbetracht der nicht anzuordnenden aufschiebenden Wirkung betreffend die Fahrerlaubnisentziehung nicht nutzen dürfte.
76Die zugehörige Zwangsgeldandrohung findet ihre Ermächtigungsgrundlage in §§ 55 Abs. 1, 57 Abs. 1 Nr. 2, 60 und 63 des Verwaltungsvollstreckungsgesetzes NRW (VwVG NRW) und begegnet keinen rechtlichen Bedenken.
77Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
78Die Festsetzung des Streitwertes folgt aus §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 und 2 Gerichtskostengesetz (GKG). Der Streitwert richtet sich gemäß § 52 Abs. 1 GKG nach der Bedeutung der Sache für den Rechtsschutzsuchenden. Dabei orientiert sich das Gericht in Anlehnung an die Streitwertpraxis des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen bei der Streitwertbemessung in Hauptsacheverfahren, die die Entziehung oder Erteilung einer Fahrerlaubnis betreffen, grundsätzlich am gesetzlichen Auffangwert. Die mit dem Grundverwaltungsakt verbundene Zwangsgeldandrohung wirkt nach Ziffer 1.7.2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (Streitwertkatalog) nicht streitwerterhöhend. Für das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ist der sich für die Hauptsache ergebende Wert nach Ziffer 1.5 des Streitwertkatalogs zur Hälfte anzusetzen.
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Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstre-ckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
Tatbestand
1
Die Beteiligten streiten über die Pflicht der Klägerin, im Zeitraum zwischen dem Inkrafttreten des Rundfunkbeitragsstaatsvertrags und dem 1.7.2018 Rundfunkbeiträge für ein Ferien-haus zu entrichten.
2
Der Beklagte zieht bzw. zog die Klägerin seit Inkrafttreten des Rundfunkbeitragsstaatsver-trags (RBStV) sowohl für ihre Hauptwohnung in XY als auch für eine Nebenwohnung in der Gemeinde ... zum Rundfunkbeitrag heran. Mit einem an den ARD ZDF Beitragsservice (im Folgenden: Beitragsservice) gerichteten Schreiben ihrer Prozessbevollmächtigten vom 9.3.2013 teilte die Klägerin dem Beitragsservice mit, sie habe sowohl für ihren Haupt-, als auch für ihren Nebenwohnsitz Rundfunkbeiträge entrichtet. Sie habe jedoch nur einen Haushalt, nämlich entweder in XY oder .... Das Haus in ... werde lediglich in den Som-mermonaten genutzt. Da die „Teilnehmergebühr“ jeweils für einen Haushalt zu zahlen sei, falle diese auch nur einmal an. Sie, die Klägerin, bitte um Löschung ihres Beitragskontos sowie um Erstattung der bereits eingezogenen Gebühren. Mit Schreiben vom 15.4.2013 wurde dieses Schreiben vom Beitragsservice dahingehend beantwortet, dass im privaten Bereich für jede Haupt-, Neben- und Ferienwohnung Rundfunkbeitrag zu entrichten sei. Für die Klägerin bestehe die Beitragspflicht daher für beide Wohnungen. Mit Schreiben vom 14.5.2013, wiederum gerichtet an den Beitragsservice, entgegnete die Prozessbevollmäch-tigte der Klägerin, das Haus der Klägerin in ... sei nicht wintertauglich, so dass die Klägerin sich dort zwischen dem 1. November und dem 31. März grundsätzlich nicht aufhalte. Für die Rundfunkbeitragspflicht sei außerdem nicht die Zahl der Wohnungen, sondern die der Haushalte entscheidend. Die Klägerin könne aber nur an einem Ort zur Zeit einen Haushalt führen. Man möge seine Auffassung daher noch einmal überprüfen. Im Antwortschreiben vom 2.7.2013 wies der Beitragsservice auf § 3 Abs. 1 RBStV hin und teilte mit, das Haus der Klägerin in ... sei als Wohnung im Sinne dieser Bestimmung einzuordnen. Es sei daher ganzjährig Rundfunkbeitrag zu zahlen. Ein Nutzungsverbot für das Haus in einem bestimmten Zeitraum bestehe nicht.
3
Mit Schreiben vom 24.8.2018 wandte sich die Klägerin erneut an den Beitragsservice und forderte unter Bezugnahme auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Aktenzei-chen 1 BvR 1675/16, die Abbuchungen des Rundfunkbeitrags für ihr Haus in ... zu un-terlassen. Der Beitragsservice antwortete mit Schreiben vom 26.9.2018. Hieraus geht her-vor, dass der Beitragsservice das Schreiben der Klägerin als Befreiungsantrag wertete. Die Klägerin wurde um Vorlage einer Bescheinigung des Einwohnermeldeamtes, aus der die Haupt- und Nebenwohnung sowie das jeweilige Einzugsdatum hervorgehen, gebeten. Die Klägerin entgegnete mit Schreiben vom 15.10.2018, wiederum gerichtet an den Beitrags-service, es sei nicht erforderlich, dass sie in ... gemeldet sei. Sie erwarte die Rückerstattung der Beiträge, da sie bereits ab dem Jahre 2013 „gegen die Gebühr für das Ferienhaus Einspruch eingelegt habe“. Die Klägerin übersandte außerdem das von ihr unterschriebene Formular „Antrag auf Befreiung von der Rundfunkbeitragspflicht für eine Nebenwohnung“ unter Angabe der Beitragsnummern für ihre beiden Wohnungen. Der Beitragsservice bat mit Schreiben vom 5.2.2019 um Vorlage einer Bescheinigung, wonach die Klägerin sich unter der Adresse der Nebenwohnung nicht anmelden dürfe. Mit Schreiben vom 28.2.2019 forderte die Prozessbevollmächtigte der Klägerin den Beitragsservice unter Bezugnahme auf ihre früheren Ausführungen erneut zur Erstattung bereits entrichteter Beiträge auf. Das Haus der Klägerin in ... sei außerdem im Jahre 2018 verkauft worden. Das Rückzah-lungsverlangen wiederholte die Prozessbevollmächtigte der Klägerin noch einmal mit Schreiben an den Beitragsservice vom 12.4.2019.
4
Mit Bescheid vom 17.5.2019 lehnte der Beklagte den als Befreiungsantrag gewerteten An-trag der Klägerin vom 24.8.2018 ab. Zur Begründung führte er aus, dem Befreiungsantrag sei kein bzw. nur ein unzureichender Nachweis beigefügt gewesen, dass die Klägerin mel-derechtlich für eine Hauptwohnung und eine Nebenwohnung angemeldet gewesen sei.
5
Mit Schreiben vom 17.5.2019 teilte der Beitragsservice der Klägerin außerdem mit, dass das für das Haus in ... geführte Beitragskonto zum 28.2.2019 abgemeldet worden sei. Das vorhandene Guthaben in Höhe von 17,50 EUR werde erstattet. Mit Schreiben vom selben Tage teilte der Beitragsservice der Klägerin außerdem mit, dass eine rückwirkende Abmeldung nicht möglich sei, bei Vorlage einer Meldebescheinigung, aus der sich ein Aus-zugsdatum ergebe, werde dies jedoch erneut geprüft.
6
Gegen den Bescheid vom 17.5.2019 legte die Klägerin, vertreten durch ihre Prozessbevoll-mächtigte, am 28.5.2019 Widerspruch ein, zu dessen Begründung sie auf die Rechtspre-chung des Bundesverfassungsgerichts zur Rundfunkbeitragspflicht für Nebenwohnungen Bezug nahm. Da sie, die Klägerin, in ... nie angemeldet gewesen sei, könne sie einen Nachweis hierüber auch nicht erbringen. Sie habe für die genannte Wohnung jedoch Zweit-wohnungssteuer, Nebenkosten und Grundsteuer bezahlt. Auf Nachfrage des Beklagten vom 30.3.2020 legte die Klägerin diesem mit Schreiben ihrer Prozessbevollmächtigten vom 3.4.2020 einen Grundabgabenbescheid der Gemeinde ... vor. Sie führte ergänzend aus, eine Befreiung von der Rundfunkbeitragspflicht sei nach der Rechtsprechung des Bundes-verfassungsgerichts auch für den Zeitraum vor Verkündung des Urteils vom 18.7.2018 möglich, wenn schon zuvor Rechtsbehelfe anhängig gewesen seien, über die noch nicht abschließend worden war. Dies sei in ihrem Fall gegeben.
7
Mit Widerspruchsbescheid vom 9.4.2020, eingegangen bei der Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 14.4.2020, hob der Beklagte seinen Bescheid vom 17.5.2019 auf und befreite die Klägerin mit Wirkung ab dem 1.7.2018 unbefristet von der Rundfunkbeitragspflicht für ihre Nebenwohnung in .... Rechtsgrundlage hierfür sei das Urteil des Bundesverfas-sungsgerichts vom 18.7.2018 (Az. 1 BvR 1675/16 u.a.). Aufgrund der vorgelegten Unterla-gen erfülle die Klägerin nunmehr die Voraussetzungen einer Befreiung.
8
Am 14.5.2020 hat die Klägerin Klage erhoben. Zur Begründung führt sie aus, sie habe be-reits nach der Neuregelung des Rundfunkbeitrags im Jahre 2013 verlangt, das Beitrags-konto für die Wohnung in ... zu löschen, da sie ansonsten für zwei Wohnungen Beiträge entrichte. Mit dem Bescheid vom 17.5.2019 sei ihr dann erstmals ein rechtsmittelfähiger Bescheid diesbezüglich zugegangen, gegen welchen sie Widerspruch eingelegt habe. Auch zuvor sei sie stets den Ausführungen des Beklagten zu einer Beitragspflicht für ihre Nebenwohnung entgegengetreten, so dass Widersprüche vorlägen. In den Jahre 2013 bis 2018 habe sie insgesamt 1.260,00 EUR zu viel an Rundfunkbeiträgen gezahlt.
9
Die Klägerin beantragt,
10
den Bescheid des Beklagten vom 17.5.2019 in Form des Widerspruchsbescheids des Beklagten vom 9.4.2020 aufzuheben und die Klägerin entsprechend der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.
11
Der Beklagte beantragt,
12
die Klage abzuweisen.
13
Zur Begründung nimmt er Bezug auf seine Ausführungen im Widerspruchsbescheid und führt ergänzend aus, die Klägerin habe unter Berücksichtigung des Urteils des Bundesver-fassungsgerichts vom 18.7.2018 keinen Anspruch auf Befreiung von der Rundfunkbeitrags-pflicht für ihre Nebenwohnung für den Zeitraum vor dem 1.7.2018. Nach dem besagten Urteil dürften Zweitwohnungsinhaber für den gleichen Vorteil – die Empfangsmöglichkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks – nicht zweimal herangezogen werden. Diejenigen Personen, die der Rundfunkbeitragspflicht für eine Hauptwohnung nachkommen, seien zwar auf eigenen Antrag von der Beitragspflicht für weitere Nebenwohnungen zu befreien. Die Befreiung sei aber erst ab dem Tag der Verkündung des Urteils des Bundesverfas-sungsgerichts zu gewähren. Eine rückwirkende Befreiung sei nur für Zeiträume möglich, die Gegenstand eines noch nicht bestandskräftigen Festsetzungsbescheides seien. Ent-sprechende Verfahren habe die Klägerin im Zeitraum vor Verkündung des Urteils des Bun-desverfassungsgerichts jedoch nicht geführt. Festsetzungsbescheide seien ihr gegenüber für den Zeitraum vor Verkündung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts nicht erlassen worden. Dementsprechend sei vorliegend für ihre Nebenwohnung auch nur für die Zeit ab dem 1.7.2018 eine Befreiung zu erteilen gewesen.
14
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogene Sachakte des Beklagten verwiesen, welche dem Gericht bei seiner Entscheidungsfindung jeweils vor-gelegen haben.
Entscheidungsgründe
A.
15
Die Entscheidung kann gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung und ge-mäß § 87a Abs. 2 und 3 VwGO durch den Berichterstatter anstelle der Kammer ergehen, da sich beide Beteiligte mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung und einer Entscheidung durch den Berichterstatter einverstanden erklärt haben. Die Klägerin hat ihre entsprechenden Einverständnisse mit Schriftsätzen vom 18.5.2020 und 24.9.2020 mitge-teilt, der Beklagte mit Schriftsätzen vom 16.6.2020 und 28.9.2020.
B.
16
Das Gericht versteht den Antrag der Klägerin vor dem Hintergrund des § 88 VwGO dahin-gehend, dass das darin zum Ausdruck gebrachte Aufhebungsbegehren hinsichtlich der streitgegenständlichen Bescheide sich lediglich darauf bezieht, diese Bescheide aufzuhe-ben, soweit sie einer möglichen Befreiung der Klägerin von der Rundfunkbeitragspflicht für ihr Ferienhaus in ... für den Zeitraum vor dem 1.7.2018 und der mit dem Antrag entspre-chend begehrten Neubescheidung der Klägerin entgegenstehen. Würde der Widerspruchs-bescheid vom 9.4.2020 vollständig aufgehoben, würde auch die damit der Klägerin bewil-ligte unbefristete Befreiung für den Zeitraum ab dem 1.7.2018 entfallen. Dies kann vor dem Hintergrund des klägerischen Vorbringens nicht Ziel der Klage bzw. Inhalt des klägerischen Rechtsschutzbegehrens sein. Dementsprechend versteht das Gericht das auf die Neube-scheidung der Klägerin gerichtete Klagebegehren auch dahingehend, dass sich dieses nicht auf die Zeit ab dem 1.7.2018 bezieht, sondern lediglich auf den Zeitraum davor, beginnend ab dem 1.1.2013, dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Rundfunkbeitragsstaatsvertrags.
17
Dass der Antrag der Klägerin auch auf eine entsprechende gerichtliche Verpflichtung des Beklagten gerichtet sein soll, die Klägerin für den genannten Zeitraum von der Rundfunk-beitragspflicht für ihre Nebenwohnung zu befreien, ist hingegen zum Zeitpunkt des Erge-hens der gerichtlichen Entscheidung nicht anzunehmen. Das Gericht hat eine in diesem Sinne mögliche Antragsauslegung in seinem Hinweisschreiben an die Beteiligten vom 17.9.2020 angesprochen und die Klägerin um entsprechende Klarstellung gebeten. Eine solche ist seitens der – anwaltlich vertretenen – Klägerin indes nicht mit der notwendigen Klarheit vorgenommen worden, um den mit der Klageschrift mitgeteilten, ausdrücklich als Bescheidungsantrag formulierten Klageantrag erweiternd auszulegen. Eine Auslegung des Klageantrags als Verpflichtungsantrag würde vielmehr ein gemäß § 88 VwGO nicht zuläs-siges Hinausgehen über das Klagebegehren bedeuten. Beschränkt ein Kläger seinen Kla-geantrag von Anfang an auf den Erlass eines Bescheidungsurteils, ist für Erwägungen zu der Frage, ob die Behörde auch zum Erlass eines den Kläger begünstigenden Verwaltungs-aktes zu verpflichten ist, kein Raum (vgl. Peters/Kujath, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 88, Rn. 9; vgl. auch BVerwG, Urt. v. 2.5.1984, 8 C 94.82, NVwZ 1985, 35, 36).
18
Ohnehin wäre die Klage auch bei einer erweiterten Auslegung des Klageantrags als Ver-pflichtungsantrag bzw. auch als Leistungsantrag im Hinblick auf die von der Klägerin im Ergebnis angestrebte Rückerstattung von ihr entrichteter Rundfunkbeiträge erfolglos (hierzu sogleich).
C.
19
Die so verstandene zulässige Klage hat keinen Erfolg. Der Beklagte ist nicht gerichtlich zu verpflichten, die Klägerin hinsichtlich einer Befreiung von der Rundfunkbeitragspflicht für den Zeitraum vor dem 1.7.2018 erneut zu bescheiden. Gemäß § 113 Abs. 5 VwGO ist Vo-raussetzung für einen entsprechenden Bescheidungsanspruch wie auch Voraussetzung für einen Anspruch der Klägerin auf Verpflichtung des Beklagten, sie auch für die Zeit vor dem 1.7.2018 von der Rundfunkbeitragspflicht für ihre Nebenwohnung in ... zu befreien, dass die streitgegenständlichen Bescheide, soweit sie einen Befreiungsanspruch der Klägerin für den besagten Zeitraum verneinen, rechtswidrig sind und die Klägerin hierdurch in ihren Rechten verletzt wird (vgl. Decker, in: Posser/Wolff, VwGO, 54. Ed., Stand: 7/2020, § 113, Rn. 73). Dies ist nicht der Fall, da der Klägerin für diesen Zeitraum kein entsprechender Befreiungsanspruch zusteht, da die tatbestandlichen Voraussetzungen hierfür schon nicht erfüllt sind. Dementsprechend kommt es auch nicht darauf an, ob dem Beklagten in dieser Hinsicht noch ein Ermessensspielraum zusteht bzw. zugestanden hat, was bei Erfüllung der tatbestandlichen Voraussetzungen zu einem Bescheidungsurteil hätte führen können (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO), oder nicht, was ggf. ein Verpflichtungsurteil nach sich hätte ziehen können (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
I.
20
Ein rückwirkender Befreiungsanspruch der Klägerin für den besagten Zeitraum, dessen Be-stehen die Rechtswidrigkeit der angegriffenen Bescheide zur Folge hätte, soweit sie diesen Befreiungsanspruch verneinen, folgt nicht aus § 4a Abs. 1 RBStV. Die dort geregelte Be-freiungsmöglichkeit entfaltet keine Rückwirkung, was daraus folgt, dass diese am 1.6.2020 in Kraft getretene Bestimmung zur Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 18.7.2018 (1 BvR 1675/16 u.a., juris, dort Nr. 2 und Nr. 3 des Tenors) erlassen worden ist, das Bundesverfassungsgericht in seinem besagten Urteil jedoch gerade nicht die ver-fassungsrechtliche Notwendigkeit einer rückwirkenden Befreiungsmöglichkeit für sämtliche Inhaber von Nebenwohnungen, die seit dem Inkrafttreten des Rundfunkbeitragsstaatsver-trags für eine Haupt- und eine Nebenwohnung Rundfunkbeiträge entrichtet haben, gesehen bzw. eine entsprechende Regelung auch nicht gefordert hat (vgl. VG Greifswald, Urt. v. 30.7.2019, 2 A 210/19 HGW, juris, Rn. 37), sondern die Notwendigkeit des Bestehens einer rückwirkenden Befreiungsmöglichkeit bewusst nur unter sehr engen – hier nicht erfüllten – Voraussetzungen bejaht hat (hierzu sogleich).
II.
21
Ein rückwirkender Befreiungsanspruch der Klägerin für den besagten Zeitraum, dessen Be-stehen die Rechtswidrigkeit der angegriffenen Bescheide zur Folge hätte, soweit sie diesen Befreiungsanspruch verneinen, folgt auch nicht aus der insoweit mit Gesetzeskraft und Bin-dungswirkung für Behörden und Gerichte ausgestatteten (vgl. § 31 Abs. 1, Abs. 2 Satz 2 BVerfGG, VGH München, Beschl. v. 30.4.2020, 7 ZB 20.42, juris, Rn. 9) Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 18.7.2018 (1 BvR 1675/16 u.a., juris). Die darin vom Bun-desverfassungsgericht formulierten Voraussetzungen für einen Befreiungsanspruch sind im Falle der Klägerin und bezogen auf den Zeitraum zwischen dem Inkrafttreten des Rund-funkbeitragsstaatsvertrags und dem 1.7.2018 nicht erfüllt.
22
1. Nach Nr. 2 Satz 1 des Tenors der genannten Entscheidung des Bundesverfassungsge-richts (vgl. auch Rn. 155 der Entscheidungsgründe) sind grundsätzlich nur ab dem Tag der Verkündung des Urteils – dem 18.7.2018 – diejenigen Personen, die nachweislich als In-haber ihrer Erstwohnung ihrer Rundfunkbeitragspflicht nachkommen, auf ihren Antrag hin von einer Beitragspflicht für weitere Wohnungen zu befreien. Ein solcher Anspruch der Klä-gerin ist zwischen den Beteiligten nicht streitig. Der Beklagte hat die Klägerin für den Zeit-raum beginnend ab dem 1.7.2018 von der Rundfunkbeitragspflicht für die Nebenwohnung der Klägerin in ... befreit.
23
2. Auf eine Befreiung der Klägerin für den Zeitraum vor diesem Datum und eine dement-sprechende Verpflichtung des Beklagten zur erneuten Bescheidung der Klägerin für diesen Zeitraum hat die Klägerin keinen Anspruch.
24
a) Nach Nr. 2 Satz 2 des Tenors der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 18.7.2018 kann ein rückwirkender Befreiungsantrag nur von dem- oder derjenigen gestellt werden, der oder die bereits Rechtsbehelfe anhängig gemacht hat, über die noch nicht ab-schließend entschieden ist, und auch nur für den Zeitraum, der Gegenstand eines noch nicht bestandskräftigen Festsetzungsbescheids ist (so außerdem ausdrückl. BVerfG, Urt. v. 18.7.2018, 1 BvR 1675/16 u.a., juris, Rn. 155). Diese Voraussetzungen sind eng zu ver-stehen. Rückwirkende Befreiungen sowie Rückerstattungen von gezahlten Rundfunkbei-trägen für Zweitwohnungen können daher nur unter den vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich genannten Voraussetzungen verlangt werden (vgl. VG Greifswald, Urt. v. 30.7.2019, 2 A 210/19 HGW, juris, LS); rückwirkende Befreiungsanträge können nach dem auch nur insoweit mit Gesetzeskraft und gesetzlicher Bindungswirkung ausgestatteten Te-nor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. VGH München, Beschl. v. 30.4.2020, 7 ZB 20.42, juris, Rn. 9) mithin nur für einen Zeitraum gestellt werden, der Ge-genstand eines angegriffenen Festsetzungsbescheids ist. Ein Festsetzungsbescheid ist der Klägerin gegenüber im fraglichen Zeitraum jedoch nicht erlassen worden. Weder ergibt sich ein solcher aus der beigezogenen Sachakte, noch hat die Klägerin einen solchen im ge-richtlichen Verfahren vorgelegt, auch nicht im Nachgang zum gerichtlichen Hinweisschrei-ben vom 17.9.2020. Auch Rechtsbehelfe, über die im Zeitpunkt der Verkündung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts noch nicht abschließend entschieden worden gewesen wäre, liegen für den in Rede stehenden Zeitraum nicht vor.
25
Das Schreiben der Prozessbevollmächtigten der Klägerin an den Beitragsservice vom 9.3.2013 ist entgegen der von der Klägerin vertretenen Auffassung nicht als Widerspruch bzw. förmlicher Rechtsbehelf gegen die Erhebung des Rundfunkbeitrags anzusehen, ebenso wenig wie das Schreiben der Prozessbevollmächtigten der Klägerin an den Bei-tragsservice vom 14.5.2013, auch wenn es darin heißt, der Beitragsservice möge seine Auffassung „noch einmal überprüfen“. Das Schreiben vom 9.3.2013 ist auf keinerlei voran-gehenden Bescheid oder vorangehendes Schreiben des Beklagten (oder des Beitragsser-vice) bezogen. Das Schreiben vom 14.5.2013 bezieht sich zwar auf das Schreiben des Beitragsservice vom 15.4.2013. Letzteres ist jedoch weder seiner äußeren Form, noch sei-nem Inhalt oder den Gesamtumständen nach als ein Verwaltungsakt i.S.v. § 35 Satz 1 VwVfG anzusehen. So kann der Beitragsservice als unselbständiger Verwaltungshelfer der Rundfunkanstalten schon keine Bescheide erlassen (vgl. VG Greifswald, Urt. v. 30.7.2019, 2 A 210/19 HGW, juris, Rn. 35). Darüber hinaus lässt das Schreiben seinem objektiven Erklärungswert nach auch keinen Regelungsgehalt erkennen, sondern weist einen bloß in-formatorischen Inhalt auf. Dies kommt schon in den einleitenden Worten des Schreibens zum Ausdruck:
26
„Gerne informieren wir Sie, welche Regelungen mit dem neuen Rundfunkbeitrag verbunden sind.“
27
Nachfolgend werden die der Beitragserhebung zugrundeliegenden Regelungen lediglich erläutert, ohne dass eine konkrete Regelung getroffen oder angeordnet wird (vgl. insofern auch VG Leipzig, Urt. v. 20.4.2020, 1 K 831/19, juris, Rn. 25). Das Schreiben schließt nicht mit einer Rechtsbehelfsbelehrung, wie es bei Bescheiden der öffentlich-rechtlichen Rund-funkanstalten üblich und geboten ist, sondern mit dem Satz
28
„Sollten Sie dazu Fragen haben, stehen wir Ihnen gerne zur Verfügung“,
29
was ebenfalls zeigt, dass mit dem Schreiben keine Regelungswirkung, sondern lediglich ein Informationsgehalt verknüpft wird.
30
Auch das Schreiben des Beitragsservice vom 2.7.2013 stellt sowohl seiner äußeren Form als auch mangels Regelungswert keinen Verwaltungsakt i.S.v. § 35 Satz 1 VwVfG dar. Auch hierin werden lediglich die der Beitragserhebung zugrundeliegenden Regelungen erläutert. Auch dieses Schreiben ist nicht mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehen, sondern endet mit
31
„Haben Sie Fragen? Wir beraten Sie gerne.“
32
Abgesehen davon reagierte nach dem Inhalt der beigezogenen Sachakte weder die Kläge-rin persönlich, noch ihre Prozessbevollmächtigte auf dieses Schreiben innerhalb einer hier-für ggf. bestehenden Rechtsbehelfsfrist, so dass dieses Schreiben, wäre es als Bescheid zu werten, auch bestandskräftig geworden wäre und diesbezüglich zum Zeitpunkt des Er-gehens der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 18.7.2018 kein Rechts-behelfsverfahren mehr offen sein konnte. Erst mit Schreiben vom 24.8.2018 – mithin sogar nach Ablauf der Jahresfrist gemäß § 58 Abs. 2 VwGO – wandte sich die Klägerin erneut an den Beitragsservice.
33
b) Die Schreiben der Prozessbevollmächtigten der Klägerin an den Beitragsservice vom 9.3.2013 und vom 14.5.2013 sind auch nicht als schriftliche Befreiungsanträge i.S.v. § 4 Abs. 7 RBStV anzusehen, über den bzw. die bis heute nicht abschließend – nämlich nicht bezogen auf den Zeitraum vor dem 1.7.2018 – entschieden worden wäre. Vor dem Hinter-grund der auf Festsetzungsbescheide und hiergegen anhängige Rechtsbehelfe bezogenen Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts im Urteil vom 18.7.2018 (Nr. 2 Satz 2 des Tenors, Rn. 155 der Entscheidungsgründe) ist ohnehin fraglich, ob allein die Existenz eines vor dem 18.7.2018 nicht beschiedenen Befreiungsantrags für eine Nebenwohnung einen anhängigen Rechtsbehelf im Sinne der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts dar-stellen kann (zweifelnd insofern auch VG Leipzig, Urt. v. 20.4.2020, 1 K 831/19, juris, Rn. 25). Hierauf kommt es vorliegend im Ergebnis aber auch nicht an, da die genannten Schreiben der Prozessbevollmächtigten der Klägerin nicht, wie es gemäß § 4 Abs. 7 Satz 1 RBStV notwendig gewesen wäre, an die zuständige Landesrundfunkanstalt gerichtet ge-wesen sind, sondern an den Beitragsservice und sie aus diesem Grund schon keinen wirk-samen Befreiungsantrag darstellen (vgl. VG Leipzig, Urt. v. 20.4.2020, 1 K 831/19, juris, Rn. 25). Der Umstand, dass die Klägerin anschließend über einen Zeitraum von mehr als fünf Jahren – nämlich bis zu ihrem weiteren Schreiben an den Beitragsservice vom 24.8.2018 – ihr Anliegen nicht weiterverfolgte und – auch nach ihrem eigenen Vorbringen (vgl. Schriftsatz vom 24.9.2020) – den Rundfunkbeitrag weiter entrichtete ohne etwa eine Untätigkeitsklage gemäß § 75 VwGO gegen den Beklagten zu erheben, spricht gegen eine Einordnung der Schreiben vom 9.3.2013 und 14.5.2013 als Befreiungsanträge, über die der Beklagte vor dem 18.7.2018 förmlich hätte entscheiden müssen (vgl. VG Leipzig, Urt. v. 20.4.2020, 1 K 831/19, juris, Rn. 25).
34
c) Ein anderes Ergebnis folgt schließlich auch nicht daraus, dass die Klägerin, vertreten durch ihre Prozessbevollmächtigte, sich unter dem 9.3.2013 und 14.5.2013 an den Bei-tragsservice wandte und allgemein zum Ausdruck brachte, mit der Heranziehung zum Rundfunkbeitrag für ihre Nebenwohnung in ... nicht einverstanden zu sein. Aus der vom Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 18.7.2018 getroffenen Übergangsregelung kann auch in solchen Fällen kein Anspruch auf eine rückwirkende Befreiung hergeleitet werden, in denen es – wie hier – an einer Festsetzung der Rundfunkbeiträge fehlt, der Beitragsschuldner sich aber formlos gegenüber dem Beitragsservice gegen eine doppelte Heranziehung zum Rundfunkbeitrag für eine Haupt- und eine Nebenwohnung gewandt hat und vorträgt, er bzw. sie habe mangels Erlass von Festsetzungsbescheiden keine Möglich-keit zur Einlegung eines förmlichen Rechtsbehelfs gehabt (vgl. VG Leipzig, Urt. v. 20.4.2020, 1 K 831/19, juris, LS, Rn. 25; VG Greifswald, Urt. v. 30.7.2019, 2 A 210/19 HGW, juris, Rn. 37), worauf die Ausführungen der Klägerin im Schriftsatz vom 24.9.2020 möglich-erweise schließen lassen, wonach der Beklagte einen „rechtsmittelfähigen Bescheid im klassischen Sinne“ nicht erlassen habe, die „auf falschen Voraussetzungen basierende Handhabung“ durch den Beklagten aber „nicht zulasten des Rundfunkteilnehmers gehen“ könne.
35
Der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und der in Nr. 2 dessen Tenors formu-lierten Übergangsregelung ist gerade nicht zu entnehmen, dass neben der rückwirkenden Befreiung für Zeiträume, die Gegenstand eines noch nicht beschiedenen Rechtsbehelfs gegen einen Festsetzungsbescheid sind, auch in weiteren Fällen eine rückwirkende Befrei-ung für Beitragsschuldner in Betracht kommt (vgl. VG Greifswald, Urt. v. 30.7.2019, 2 A 210/19 HGW, juris, Rn. 37 f.; Urt. v. 4.6.2019, 2 A 364/19 HGW, juris, Rn. 36). Vielmehr betont das Bundesverfassungsgericht in den Gründen seiner Entscheidung ausdrücklich, dass bei einer rückwirkenden Nichtigkeit der in Rede stehenden Normen des Rundfunkbei-tragsstaatsvertrags die nach Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG verfassungsrechtlich geforderte Fi-nanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks gefährdet wäre, wenn die als verfassungs-widrig anzusehende Regelung nicht mehr angewendet werden dürfte und Beitragsschuld-nern die Möglichkeit der Rückforderung bereits geleisteter Beiträge eröffnet wäre (vgl. BVerfG, Urt. v. 18.7.2018, 1 BvR 1675/16 u.a., juris, Rn. 152 f.). Zudem führt das Bundes-verfassungsgericht aus, dass eventuelle Einbußen der verfassungsrechtlich geschützten Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks gerade deswegen verfassungsrechtlich hinnehmbar seien, weil sie weit überwiegend nicht rückwirkend einträten und damit für den Gesetzgeber kalkulierbar und kompensierbar seien und sie im Übrigen nur einen niedrigen Anteil der Gesamterträge des Rundfunkbeitrags ausmachen würden (vgl. BVerfG, Urt. v. 18.7.2018, 1 BvR 1675/16 u.a., juris, Rn. 155). Hätte das Bundesverfassungsgericht dem-gegenüber eine rückwirkende Befreiung auch für Fälle vorsehen wollen, in denen es an einer Festsetzung der Beitragspflicht fehlt, wäre indes eine weitaus größere Anzahl von Fällen erfasst. Denn regelmäßig werden gerade keine Festsetzungsbescheide erlassen, sondern gemäß § 10 Abs. 5 Satz 1 RBStV nur dann, wenn rückständige Rundfunkbeiträge beigetrieben werden sollen (vgl. insgesamt auch VG Leipzig, Urt. v. 20.4.2020, 1 K 831/19, juris, Rn. 25).
36
Den rückwirkenden Befreiungsanspruch hat das Bundesverfassungsgericht dementspre-chend in seiner Entscheidung zur Übergangsregelung bewusst nur denjenigen beitrags-pflichtigen Zweitwohnungsinhabern zugesprochen, die sich – anders als die Klägerin – mit einer Nichtzahlung des Rundfunkbeitrags für eine Nebenwohnung dem Erlass eines Fest-setzungsbescheids und einem anschließenden Rechtsbehelfsverfahren sowie dem Risiko des erfolglosen bestandskräftigen Abschlusses vor einer Entscheidung des Bundesverfas-sungsgerichts ausgesetzt haben. Diejenigen Zweitwohnungsinhaber, die demgegenüber mit einer rechtzeitigen Zahlung weder das Kostenrisiko der mit Festsetzungsbescheiden regelmäßig verbundenen Säumniszuschläge, noch das der anschließenden Rechtsbehelfs-verfahren auf sich genommen haben, sind hingegen von der Geltendmachung rückwirken-der Befreiungsansprüche ausgeschlossen (vgl. VG Leipzig, Urt. v. 20.4.2020, 1 K 831/19, juris, Rn. 25; VG Greifswald, Urt. v. 30.7.2019, 2 A 210/19 HGW, juris, Rn. 38 ff.; Urt. v. 4.6.2019, 2 A 364/19 HGW, juris, Rn. 36).
III.
37
Vor diesem Hintergrund leistete die Klägerin ihren Rundfunkbeitrag im Zeitraum von Januar 2013 bis zum 1.7.2018 auch nicht rechtsgrundlos, so dass ihr – herauf sei ergänzend hin-gewiesen, auch wenn der Klageantrag der anwaltlich vertretenen Klägerin hierauf nicht aus-drücklich gerichtet ist (vgl. o.) – auch kein Rückzahlungsanspruch hinsichtlich der geleiste-ten Rundfunkbeiträge zusteht. Sie entrichtete in diesem Zeitraum ihren Rundfunkbeitrag für ihre Wohnung in ... nicht ohne rechtlichen Grund, was gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 RBStV Voraussetzung des Bestehens eines Rückzahlungsanspruchs wäre. Dies folgt daraus, dass das Bundesverfassungsgericht im Urteil vom 18.7.2018 § 2 Abs. 1 RBStV – soweit Inhaber mehrerer Wohnungen über den Beitrag für eine Wohnung hinaus zur Leistung von zusätzlichen Rundfunkbeiträgen herangezogen werden – nicht für rückwirkend nichtig er-klärt hat, sondern lediglich für mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar (so Nr. 1 des Urteilstenors), und angeordnet hat, dass die Vorschrift bis zu einer Neuregelung mit der Maßgabe weiter anwendbar ist, dass in den im Urteilstenor genannten Fällen ab dem Tag der Urteilsverkün-dung Befreiungen zu erteilen sind (vgl. Nr. 1 Satz 1 des Urteilstenors, ebenso Rn. 153 der Urteilsgründe). Wenn aber das Bundesverfassungsgericht § 2 Abs. 1 RBStV nicht rückwir-kend für nichtig erklärt hat, sondern lediglich für mit dem Grundgesetz für unvereinbar und wenn für den zurückliegenden Zeitraum von Januar 2013 bis Juni 2018 auf Seiten der Klä-gerin – wie ausgeführt – kein Anspruch auf Befreiung besteht, bleibt § 2 Abs. 1 RBStV für diesen Zeitraum Rechtsgrundlage für die Leistung von Rundfunkbeiträgen durch die Kläge-rin (vgl. VGH München, Beschl. v. 30.4.2020, 7 ZB 20.42, juris, Rn. 15).
D.
38
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 709, 711 ZPO. Gründe, die Berufung gemäß § 124a Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Nr. 3 oder Nr. 4 VwGO zuzulassen, sind nicht ersichtlich.
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Tenor
Die sofortige Beschwerde der Antragstellerin gegen den Kostenbeschluss der 1. Vergabekammer des Bundes vom 02.03.2020 (VK 1 – 6/20) wird zurückgewiesen.
Die Antragstellerin hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen. Hiervon ausgenommen sind etwaige der Beigeladenen entstandenen Kosten, die diese selbst trägt.
Die Verfahrensbeteiligten erhalten Gelegenheit, binnen drei Wochen zum Streitwert des Beschwerdeverfahrens Stellung zu nehmen.
1G r ü n d e
2I.
3Mit Auftragsbekanntmachung vom 21.08.2019 machte die Antragsgegnerin die Vergabe des Auftrags „Bewachung und Absicherung der Liegenschaft X. in …“ im nicht offenen Verfahren europaweit bekannt. Die Antragstellerin beteiligte sich an diesem Verfahren wie auch mindestens vier weitere Bieterunternehmen. Mit Schreiben vom 22.01.2020 teilte die Antragsgegnerin der Antragstellerin mit, dass ihr Angebot nicht berücksichtigt werden könne und der Zuschlag auf das Angebot der Beigeladenen erteilt werden solle. Deren Angebot habe in der Qualitätswertung 580 Punkte und in der Preiswertung 400 Punkte erzielt, das Angebot der Antragstellerin lediglich 360 beziehungsweise 395 Punkte. Das Angebot der Antragstellerin liege damit in der Gesamtwertung nur auf dem 5. Rang.
4Mit einem Schreiben vom 22.01.2020 bat die Antragstellerin die Antragsgegnerin um weitere Informationen zur Qualitätsbewertung. Nachdem diese Anfrage unbeantwortet blieb, rügte sie eine fehlerhafte Qualitätsbewertung ihres Angebots mit Schreiben vom 27.01.2020. Als die Antragsgegnerin auch hierauf nicht reagierte, stellte die Antragstellerin am 31.01.2020 einen Nachprüfungsantrag bei der 1. Vergabekammer des Bundes.
5Nach Akteneinsicht im Vergabenachprüfungsverfahren und einem rechtlichen Hinweis der Vergabekammer nahm die Antragstellerin ihren Nachprüfungsantrag mit Schriftsatz vom 26.02.2020 zurück.
6Mit Kostenbeschluss vom 02.03.2020 hat die 1. Vergabekammer des Bundes der Antragstellerin die Verfahrenskosten und die zur zweckentsprechenden Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Antragsgegnerin auferlegt. Diese Entscheidung entspreche, so die Vergabekammer, der Billigkeit, weil die Antragstellerin das Verfahren in Gang gesetzt habe und keine Kosten durch das Verschulden eines anderen Beteiligten veranlasst worden seien.
7Gegen den ihr am 02.03.2020 zugestellten Beschluss hat die Antragstellerin am 16.03.2020 beim Oberlandesgericht Düsseldorf eine auf die Kostengrundentscheidung beschränkte sofortige Beschwerde eingelegt. Sie ist der Ansicht, dass sie durch die unzureichenden Informationen zum Wertungsergebnis im Vorabinformationsschreiben vom 22.01.2020 in das Nachprüfungsverfahren gedrängt worden sei. Die Antragsgegnerin habe das Verfahren mit ihren äußerst knappen Informationen provoziert.
8Die Antragstellerin beantragt,
9den Kostenbeschluss der 1. Vergabekammer des Bundes zum Aktenzeichen VK 1 – 6/20 vom 02.03.2020 aufzuheben und festzustellen, dass die Antragsgegnerin die Kosten des Verfahrens und die zur zweckentsprechenden Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Antragstellerin trägt.
10Die Antragsgegnerin beantragt,
11die sofortige Beschwerde der Antragstellerin gegen den Kostenbeschluss der 1. Vergabekammer des Bundes zum Aktenzeichen VK 1 – 6/20 vom 02.03.2020 zurückzuweisen.
12Sie ist der Ansicht, dass ihr Vorabinformationsschreiben den gesetzlichen Vorgaben entsprochen habe, weil die erreichten Punktzahlen korrekt mitgeteilt worden seien.
13Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Schriftsätze, die Verfahrensakte der Vergabekammer sowie die Vergabeakten Bezug genommen. Die Beigeladene hat sich am Beschwerdeverfahren nicht aktiv beteiligt.
14II.
15Die sofortige Beschwerde ist zulässig, aber unbegründet. Über sie kann ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, weil sie sich mit der Kostengrundentscheidung nur gegen eine Nebenentscheidung der Vergabekammer richtet (Senatsbeschluss vom 29.05.2019 – VII-Verg 55/18).
161.
17Die sofortige Beschwerde ist statthaft und auch im Übrigen zulässig. Kostenentscheidungen der Vergabekammern sind nach § 171 Abs. 1 Satz 1 GWB selbstständig anfechtbar (vgl. Senatsbeschluss vom 29.05.2019 – VII-Verg 55/18).
182.
19Die sofortige Beschwerde ist jedoch unbegründet. Die von der Vergabekammer auf der Grundlage von § 182 GWB getroffene Kostengrundentscheidung ist im Ergebnis nicht zu beanstanden.
20Wenn sich ein Nachprüfungsantrag durch Rücknahme erledigt, erfolgt gemäß § 182 Abs. 3 Satz 5 und Abs. 4 Satz 3 GWB die Entscheidung, wer die Kosten und die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen zu tragen hat, nach billigem Ermessen. Gegen die von der Vergabekammer angestellte Überlegung, dass es im Grundsatz billigem Ermessen entspricht, dass derjenige die Kosten zu tragen hat, der das Verfahren in Gang gesetzt hat, ist im Falle der Antragsrücknahme nichts zu erinnern. Dies gilt umso mehr, als sich der Antragsteller, der seinen Antrag zurücknimmt, selbst in die Rolle eines Unterlegenen begibt (vgl. Senatsbeschluss vom 20.05.2019 – VII-Verg 60/18; OLG Naumburg, Beschluss vom 09.07.2014 – 2 Verg 3/14, zitiert nach juris, Tz. 4). Gesichtspunkte der Billigkeit können es jedoch im Einzelfall gebieten, einem Beteiligten hiervon abweichend die Verfahrenskosten aufzuerlegen. Insbesondere kann es im Rahmen der Billigkeit zu berücksichtigen sein, wenn die Antragstellung durch unzureichende oder unrichtige Mitteilungen der Vergabestelle provoziert worden ist (vgl. Senatsbeschluss vom 13.04.2011 – VII-Verg 14/11 – zitiert nach juris, Tz. 15; OLG München, Beschluss vom 02.05.2019 – Verg 5/19, zitiert nach juris, Tz. 35). Entscheidend sind stets die Umstände des Einzelfalls (Krohn, in: Burgi/Dreher, Beck’scher Vergaberechtskommentar, 3. Aufl., § 182 Rn. 30).
21Soweit die Antragstellerin meint, dass die Vergabekammer im Hinblick auf § 182 Abs. 3 Satz 3 GWB beziehungsweise den darin zum Ausdruck kommenden Rechtsgedanken im vorliegenden Verfahren zu einem für sie, die Antragstellerin, günstigeren Ergebnis habe kommen müssen, teilt der Senat diese Ansicht wegen der hier zu berücksichtigenden Umstände jedoch nicht.
22Nach § 182 Abs. 3 Satz 3 GWB können Kosten, die durch Verschulden eines Beteiligten entstanden sind, diesem auferlegt werden. Der Senat kann nach den besonderen Umständen des Falles jedoch weder sicher feststellen, dass ein Verschulden oder vorwerfbares Verhalten der Antragsgegnerin für die Einleitung des Vergabenachprüfungsverfahrens tatsächlich ursächlich war, noch erkennen, dass sich die Antragstellerin durch einen etwaigen Vergaberechtsverstoß der Antragsgegnerin zur Einleitung eines Vergabenachprüfungsverfahrens herausgefordert fühlen durfte. Dabei ist jeweils zu berücksichtigen, dass das Vergabenachprüfungsverfahren kein Verfahren ist, welches über § 165 GWB lediglich der Akteneinsicht dienen soll, sondern welches darauf gerichtet ist, einen Vergaberechtsverstoß des öffentlichen Auftraggebers zu korrigieren, um dem antragstellenden Unternehmen die Chance auf den zu vergebenden Auftrag zu erhalten. Bestehen berechtigte Zweifel, ob es dem antragstellenden Unternehmen um diesen genuinen Zweck des Vergabenachprüfungsverfahrens geht, oder hätte ein vernünftig handelndes Unternehmen ungeachtet eines vermuteten Vergaberechtsverstoßes mangels hinreichender Aussichten auf den Erhalt des ausgeschriebenen Auftrags von einem Vergabenachprüfungsverfahren abgesehen, besteht kein Anlass, dem öffentlichen Auftraggeber unter Billigkeitsgesichtspunkten die Verfahrenskosten und die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen des antragstellenden Unternehmens aufzuerlegen. So liegt es hier. Aus diesem Grund kann letztlich dahinstehen, ob die Antragsgegnerin mit ihrem Vorabinformationsschreiben vom 22.01.2020 ihren Mitteilungspflichten gemäß § 134 GWB in Gänze genügt hat.
23Der Senat hält es nach den Ausführungen der Antragstellerin in ihrem Rügeschreiben vom 27.01.2020 nicht für ausgeschlossen, dass das Hauptziel ihrer Antragstellung angesichts der für sie erkennbar schlechten Gesamtplatzierung ihres Angebots – ihr Angebot lag lediglich auf dem 5. Rang – nicht darin lag, die Wertungsentscheidung der Antragsgegnerin mit Erfolg anzugreifen, sondern detailliertere Informationen über die Wertung zu erhalten, um sich eine bessere Ausgangsposition für Folgeausschreibungen zu verschaffen. Die nur sehr geringen Chancen eines Nachprüfungsantrags konnte sie anhand der ihr von der Antragsgegnerin mitgeteilten Informationen nämlich erkennen (siehe zu dieser Funktion der Vorabinformation Gnittke/Hattig, in: Müller-Wrede, GWB, § 134 Rn. 69). Die schlechte Gesamtplatzierung des Angebots lediglich auf dem 5. Rang verbunden mit dem Umstand des großen Punkteabstands zum Angebot der Zuschlagsprätendentin hätte ein vernünftig handelndes Unternehmen nach Ansicht des Senats zudem ungeachtet eines ggf. hinter den Anforderungen des § 134 Abs. 1 Satz 1 GWB zurückbleibenden Vorabinformationsschreibens von der Einleitung eine Vergabenachprüfungsverfahrens abgehalten. Aufgrund der abgeschlagenen Platzierung musste ein Nachprüfungsantrag nahezu aussichtlos erscheinen (vgl. auch Krohn, in: Burgi/Dreher, Beck’scher Vergaberechtskommentar, 3. Aufl., § 182 Rn. 26 a.E.).
24III.
25Die Kostenentscheidung beruht auf § 175 Abs. 2 i.V.m. § 78 GWB. Aufgrund ihres Unterliegens entspricht es der Billigkeit, dass die Antragstellerin die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt. Auszunehmen hiervon waren aus Gründen der Billigkeit lediglich etwaige der Beigeladenen entstandene Kosten.
26Die Festsetzung des Streitwerts für das Beschwerdeverfahren bleibt einem gesonderten Beschluss nach Anhörung der Verfahrensbeteiligten vorbehalten.
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Tenor
Die Klage wird abgewiesen.Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Tatbestand
1 Der Kläger reiste nach eigenen Angaben am 10.10.2015 auf dem Landweg aus Griechenland kommend in das Bundesgebiet ein. Er gab an, am ...1980 in … geboren und irakischer Staatsangehöriger vom Volk der Araber und christlicher Glaubenszugehörigkeit zu sein. Er stellte am 27.04.2016 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) einen Asylantrag, den er während des Verwaltungsverfahrens auf die Gewährung internationalen Schutzes beschränkte.2 Bei seinen persönlichen Anhörungen vor dem Bundesamt am 26.09.2016 und 21.07.2017 gab der Kläger an, den Irak am 01.09.2015 verlassen zu haben. Er habe zuletzt zusammen mit seinen Eltern, seinen drei Brüdern und seiner Schwester in ... in einem Zimmer in einer Schule gelebt. Seine Eltern und die Geschwister seien immer noch in ... und lebten in einer gemieteten Zweizimmerwohnung. Ansonsten habe er im Irak noch ein paar Tanten. Die Schule habe er nicht besucht. Er habe zuletzt bis zu seiner Ausreise als Maler und Betonbauer gearbeitet. Im Juni 2014 habe er mit der Familie in Mosul gelebt, als IS-Truppen sie bedroht hätten, dass sie sie töten würden, wenn sie nicht zum Islam konvertierten. Daraufhin seien sie nach ... umgezogen.3 Mit Bescheid des Bundesamts vom 10.11.2017, dem Kläger ausweislich Postzustellungsurkunde am 14.11.2017 zugestellt, erkannte das Bundesamt dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1) und den subsidiären Schutzstatus (Nr. 2) nicht zu und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 S. 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 3). Der Kläger wurde ferner aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen; bei Nichteinhaltung der Frist wurde ihm die Abschiebung in den Irak oder einen anderen Staat, in den er einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist, angedroht (Nr. 4). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 5). Zur Begründung führte das Bundesamt im Wesentlichen an, es sei dem Kläger zumutbar, sich weiterhin in dem sicheren Landesteil in Zakho aufzuhalten. Auch Abschiebungsverbote lägen keine vor.4 Am 17.11.2017 hat der Kläger Klage erhoben.5 Der Kläger beantragt,6 die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger unter Aufhebung des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 10.11.2017 die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,7 hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger subsidiären Schutz zuzuerkennen,8 hilfsweise die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG gegeben ist,9 hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG auf Null ab dem Tag der Abschiebung zu befristen.10 Die Beklagte beantragt schriftlich,11 die Klage abzuweisen.12 Der Kläger wurde in der mündlichen Verhandlung vom 28.09.2020 informatorisch angehört.13 Dem Gericht liegt ein elektronischer Auszug aus der Akte des Bundesamts vor. Diese Akten wurden ebenso wie die Erkenntnismittel, die in der mit der Ladung mitgeteilten Liste aufgeführt sind, zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht. Hierauf sowie auf die Gerichtsakte, die gewechselten Schriftsätze und die Sitzungsniederschrift vom 28.09.2020 wird wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten und des weiteren Sachverhalts ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
14 Die Entscheidung erfolgt im Einverständnis der Beteiligten durch den Berichterstatter (§ 87a Abs. 2 und 3 VwGO).
15 Der Berichterstatter durfte am 28.09.2020 verhandeln und entscheiden, obwohl die Beklagte nicht anwesend war, denn sie ist in der Ladung, die dem Bundesamt nach dem von ihm erklärten Verzicht auf Ladung gegen Empfangsbekenntnis in der allgemeinen Prozesserklärung vom 27.06.2017 durch einfachen Brief übersandt wurde, auf diese Möglichkeit hingewiesen worden (§ 102 Abs. 2 VwGO).
I.
16 Die Klage ist in dem Hauptantrag als Verpflichtungsklage statthaft und zulässig, jedoch unbegründet. Der angefochtene Bescheid des Bundesamts vom 10.11.2017 ist insoweit rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.
1.
17 Nach § 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 AsylG wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention vom 28.07.1951 (GFK) zuerkannt, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Herkunftslandes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will, oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
18 a) Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist eine begründete Furcht vor Verfolgung anzunehmen, wenn dem Schutzsuchenden bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände seines Falles eine Verfolgung aus einem der genannten Gründen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren (BVerwG, Urt. v. 20.02.2013 – 10 C 23.12, Rn. 19 über juris; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 17.01.2018 – A 11 S 241/17, Rn. 42 über juris). Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Schutzsuchenden Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann deshalb auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer „quantitativen“ oder mathematischen Betrachtungsweise weniger als 50 % Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht. Beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist dann anzunehmen, wenn bei der vorzunehmenden „zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts“ die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen (VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 17.01.2018 – A 11 S 241/17, Rn. 42 über juris).
19 b) Aus den in Art. 4 RL 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie) geregelten Mitwirkungs- und Darlegungsobliegenheiten des Asylantragstellers folgt, dass es auch unter Berücksichtigung der Vorgaben dieser Richtlinie Sache des Asylantragstellers ist, die Gründe für seine Furcht vor politischer Verfolgung schlüssig vorzutragen. Er hat dazu unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung eine Verfolgung aus einem der genannten Verfolgungsgründen droht. Hierzu gehört, dass der Asylantragsteller zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen u.a. Persönlichkeitsstruktur, Wissensstand und Herkunft des Asylantragstellers berücksichtigt werden (zum Ganzen, jeweils m.w.N., VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 17.01.2018 – A 11 S 241/17, Rn. 54 ff. über juris; VG Aachen, Urt. v. 18.03.2014 – 2 K 1589/10.A; Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 25 AsylG Rn. 4).
2.
20 Für den Kläger ist nach diesen Maßstäben keine Verfolgungsgefahr in dem oben genannten Sinn gegeben.
21 a) Er hat vorgetragen, er sei mit seiner Familie nach dem Einmarsch des IS aus Mosul nach Zakho geflüchtet. Dort sei er mehrfach wegen seines christlichen Glaubens angegriffen worden. Einmal, als er in Zakho mit einem Freund zusammen unterwegs gewesen sei, sei er von mehreren Männern angegriffen und – nachdem sie ihm sein Geld abgenommen hätten – aufgefordert worden, einen Spruch aufzusagen, wonach er sich zum Islam bekehre. Als er dies verweigert habe, sei er geschlagen worden. Er befürchte, im Irak als Christ Opfer von Angriffen bis hin zu einer Tötung zu werden. Zudem sei er dort als Christ Diskriminierungen und Bedrohungen ausgesetzt.
22 b) Vor dem Hintergrund der durch die Erkenntnismittel nachgezeichneten Sicherheitslage ist dieser Vortrag nicht geeignet, eine hinreichende Verfolgungswahrscheinlichkeit zu begründen. Es ist nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger bei einer Rückkehr in den Irak aufgrund seiner christlichen Glaubenszugehörigkeit verfolgt würde.
23 Der dabei in den Blick zu nehmende, für die anzustellende Betrachtung relevante Ort ist vorliegend Zakho. Bezugspunkt der Gefahrenprognose ist in der Regel der Herkunftsort des Ausländers, in den er typischerweise zurückkehren wird (vgl. BVerwG, Urt. v. 31.01.2013 – 10 C 15.12, Rn. 13 über juris; Urt. v. 14.07.2009 – 10 C 9.08, BVerwGE 134, 188, Rn. 17 über juris). Dies ist vorliegend Zakho in der Provinz Dohuk. Zwar hat der Kläger nach eigenen Angaben bis 2014 in Mosul gelebt, wo er auch geboren und aufgewachsen sei. Jedoch sei er dann zusammen mit seiner Familie nach Zakho gegangen, wo sie zunächst in einer Schule untergekommen seien und die Angehörigen sodann in einer (wenn auch kleinen) Mietwohnung – mithin außerhalb einer prekären Unterbringung in einem Flüchtlingslager – gelebt hätten und wo er auch bis zu seiner Ausreise erwerbstätig gewesen sei. Auch heute sei jedenfalls seine Mutter auch nach wie vor noch in Zakho, wenngleich sie zu einer Schwester des Klägers in die USA ausreisen wolle. Mit einer Rückkehr nach Mosul ist vor diesem Hintergrund nicht zu rechnen, nachdem der Kläger die Stadt bereits 2014 verlassen habe und dort nach eigenen Angaben offenbar alles aufgegeben hat. Namentlich seien keinerlei Familienangehörige mehr in Mosul.
24 Die Sicherheitslage in Zakho stellt sich allgemein wie folgt dar:
25 Der Provinz Dohuk, in der Zakho liegt, wird wie der Region Kurdistan-Irak insgesamt generell eine stabile Sicherheitslage attestiert (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 02.03.2020, S. 2; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, Gesamtaktualisierung vom 17.03.2020, S. 24; EASO, Country of Origin Information Report Iraq – Security Situation, März 2019, S. 148). Die Anzahl ziviler Todesopfer liegt im Vergleich zu anderen Regionen des Irak im niedrigsten Bereich, im Jahr 2018 bei 3,12 pro 100.000 Einwohnern (EASO, Country of Origin Information Report Iraq – Security Situation, März 2019, S. 151 f.). In Dohuk wird für das Jahr 2018 von 20 sicherheitsrelevanten Vorfällen berichtet, die zu 28 zivilen Todesopfern geführt haben (EASO, Country of Origin Information Report Iraq – Security Situation, März 2019, S. 152). Gewalt wird dabei insbesondere auch als Mittel in der politischen Auseinandersetzung verwendet, namentlich gegenüber Demonstranten, aber auch gegenüber einzelnen Amtsträgern (EASO, Country of Origin Information Report Iraq – Security Situation, März 2019, S. 153). Daneben wird Gewalt von iranischen Gruppierungen und anderen Milizen ausgeübt, wobei jedoch die staatlichen Sicherheitskräfte grundsätzlich – mit Ausnahmen namentlich einzelner örtlicher Gegenden und abhängig von dem Einfluss des konkreten Aggressors und u.U. bei politischen Hintergründen – in der Lage gesehen werden, die Kontrolle auszuüben (EASO, Country of Origin Information Report Iraq – Security Situation, März 2019, S. 155 f.). Von sicherheitsrelevanten Vorfällen in der Provinz Dohuk wird vor allem in Form von Angriffen der türkischen Streitkräfte gegen Ziele der PKK berichtet (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, Gesamtaktualisierung vom 17.03.2020, S. 25). Auf Grund der im Vergleich zu anderen Teilen des Iraks relativ guten Sicherheitslage ist die Region Kurdistan-Irak Zufluchtsort von noch etwa 800.000 Binnenvertriebenen (nach zuvor noch etwa 1,2 Millionen, Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 12.01.2019, S. 5), die sich hier aufhalten (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 02.03.2020, S. 5, 13 und 18). Minderheiten werden als weitgehend vor Gewalt und Verfolgung geschützt angesehen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 02.03.2020, S. 13 und 18).
26 Die Lage von Christen im Irak stellt sich wie folgt dar:
27 Jedenfalls außerhalb der Region Kurdistan-Irak werden Christen vielfach faktisch diskriminiert (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, Gesamtaktualisierung vom 17.03.2020, S. 75; Auswärtiges Amt, Antwort an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, 21.07.2017, S. 2), obgleich sie durch das Personenstandsrecht grundsätzlich anerkannt werden und in dem geltenden Quotensystem auch in dem (zentral-)irakischen Parlament vertreten sind (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, Gesamtaktualisierung vom 17.03.2020, S. 69 f.; Auswärtiges Amt, Antwort an das VG Wiesbaden, 01.02.2019, S. 1). Die irakische Verfassung bestimmt in Art. 2 den Islam zur Staatsreligion und zu einer Hauptquelle der Gesetzgebung, garantiert aber auch Religionsfreiheit für die religiösen Minderheiten (UK Home Office, Country Policy and Information Note Iraq: Religious monorities, Oktober 2019, S. 7; Auswärtiges Amt, Antwort an das VG Wiesbaden, 01.02.2019, S. 1). Jenseits der faktischen Diskriminierungen findet eine systematische staatliche Verfolgung von Christen im Irak allgemein nicht statt (Auswärtiges Amt, Antwort an das VG Wiesbaden, 01.02.2019, S. 1). Ein umfassender staatlicher Schutz vor Angriffen, etwa durch radikal-islamische Gruppen, wird allerdings nicht umfassend sichergestellt (Auswärtiges Amt, Antwort an das VG Wiesbaden, 01.02.2019, S. 2). Insgesamt ist der Großteil der ehemals, vor 2003 ca. 1,5 Millionen Christen im Irak wegen der stark verschlechterten Rahmenbedingungen und Sicherheitssituation zwischenzeitlich ausgereist, sodass heute nur noch etwa 200.000 bis 400.000 Christen im Irak leben (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 02.03.2020, S. 18; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, Gesamtaktualisierung vom 17.03.2020, S. 81 f.; UK Home Office, Country Policy and Information Note Iraq: Religious monorities, Oktober 2019, S. 11 f.; EASO COI Meeting Report Iraq – Practical Cooperation Meeting 25-26 April 2017 Brussels, Juli 2017, S. 20; United States Commission on international religious freedom – Wilting in the kurdish sun – The hopes and fears of religious minorities in northern Iraq, Mai 2017, S. 16; Deutschlandfunk, Christen im Irak – Kampf ums Überleben, 08.02.2017). Es kommt immer wieder zu Angriffen auf Priester, Bombenanschlägen auf Kirchen und christliche Einrichtungen sowie Übergriffen auf von Christen geführte Lebensmittelgeschäfte, in denen gegebenenfalls auch alkoholhaltige Getränke angeboten werden (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 02.03.2020, S. 18; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, Gesamtaktualisierung vom 17.03.2020, S. 82; UK Home Office, Country Policy and Information Note Iraq: Religious monorities, Oktober 2019, S. 22; Auswärtiges Amt, Antwort an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, 21.07.2017, S. 3; vgl. auch EASO COI Meeting Report Iraq – Practical Cooperation Meeting 25-26 April 2017 Brussels, Juli 2017, S. 23). Es gab auch immer wieder Berichte, dass Angehörige christlicher Minderheiten von bewaffneten Gruppen aus religiösen oder kriminellen Motiven oder einer Kombination beider Motive ermordet oder gegen Lösegeld entführt wurden (UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen, Mai 2019, S. 90).
28 In der Region Kurdistan-Irak haben seit 2003 und vor allem auch seit 2014 viele christliche Flüchtlinge aus anderen Landesteilen Zuflucht gefunden (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, Gesamtaktualisierung vom 17.03.2020, S. 83). Es gibt dort keine Anzeichen für staatliche oder gesellschaftliche Diskriminierung und auch christliche Städte sowie große christliche Viertel in Großstädten wie beispielsweise Ankawa in Erbil, in denen Christen in Frieden leben können (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 02.03.2020, S. 18 f.; vgl. auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, Gesamtaktualisierung vom 17.03.2020, S. 83; Auswärtiges Amt, Antwort an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, 21.07.2017, S. 3; EASO COI Meeting Report Iraq – Practical Cooperation Meeting 25-26 April 2017 Brussels, Juli 2017, S. 17; United States Commission on international religious freedom – Wilting in the kurdish sun – The hopes and fears of religious minorities in northern Iraq, Mai 2017, S. 17; Deutschlandfunk, Christen im Irak – Kampf ums Überleben, 08.02.2017). Seitens der kurdischen Regionalregierung gibt es Anstrengungen, die christlichen Minderheiten zu schützen (United States Commission on international religious freedom – Wilting in the kurdish sun – The hopes and fears of religious minorities in northern Iraq, Mai 2017, S. 17). Gleichwohl gibt es Berichte über Aneignungen von Christen gehörendem Land durch Kurden, vor allem in der Region um Zakho (United States Commission on international religious freedom – Wilting in the kurdish sun – The hopes and fears of religious minorities in northern Iraq, Mai 2017, S. 17). Daneben findet sich in der christlichen Gemeinde auch die allgemeine Furcht vor wachsendem Extremismus unter den die Mehrheit in der Region bildenden sunnitischen Kurden (United States Commission on international religious freedom – Wilting in the kurdish sun – The hopes and fears of religious minorities in northern Iraq, Mai 2017, S. 18). Gleichzeitig wird aber auch unter dort lebenden Christen anerkannt, dass die kurdische Regierung sie bislang geschützt hat (United States Commission on international religious freedom – Wilting in the kurdish sun – The hopes and fears of religious minorities in northern Iraq, Mai 2017, S. 18).
29 Auf der Grundlage der so durch die Erkenntnismittel nachgezeichneten Lage ist nicht davon auszugehen, dass Christen in der Region Kurdistan-Irak und insbesondere in Zakho generell eine Verfolgung nach dem oben dargelegten Maßstab droht (vgl. Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschl. v. 20.11.2017 – 4 ZB 17.31502, Rn. 9 ff. über juris; VG Göttingen, Urt. v. 28.01.2020 – 2 A 577/17, Rn. 28 ff. über juris; VG Augsburg, Urt. v. 02.07.2018 – Au 5 K 18.30752, Rn. 24 ff.; VG Karlsruhe, Urt. v. 23.03.2017 – A 3 K 3846/16, Rn. 21 ff. über juris). Vielmehr setzt die Annahme einer solchen voraus, dass Umstände des jeweiligen Falles eine besondere Gefahrendichte für den Betroffenen begründen. Dies ist vorliegend nicht der Fall.
30 Aus den von dem Kläger berichteten Angriffen gegen ihn ist nicht aufgrund der Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie ein ernsthafter Hinweis darauf zu entnehmen, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist.
31 Wer bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet gemäß Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie – bei auch dann unverändert geltendem Wahrscheinlichkeitsmaßstab – die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (vgl. BVerwG, Urt. v. 07.09.2010 – 10 C 11.09; Urt. v. 27.04.2010 – 10 C 5.09; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 17.01.2018 – A 11 S 241/17, Rn. 47 ff. über juris; Urt. v. 09.11.2010 – A 4 S 703/10; Urt. v. 27.09.2010 – A 10 S 689/08). Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadenstiftenden Umstände bei der Rückkehr erneut realisieren werden (BVerwG, Urt. v. 19.04.2018 – 1 C 29.17, BVerwGE 162, 44, Rn. 15).
32 Das Gericht ist jedoch bereits nicht davon überzeugt, dass dem Kläger die gegen ihn gerichteten Angriffe wie von ihm geschildert wirklich widerfahren sind. Sein Vortrag hierzu ist nicht glaubhaft. So hat er die Angriffe nur oberflächlich und arm an individuellen Details geschildert. In seinem Bericht hat er vielfach – den konkreten Fall verlassend – darauf abgestellt, dass und wie solche Angriffe allgemein häufiger vorkämen und dann abliefen. Diese Angabe, wonach solche Vorfälle flächendeckend und regelmäßig wiederkehrend aufträten, findet zudem keine Stütze in den vorliegenden Erkenntnisquellen, die keine Berichte über hinreichend wahrscheinlich zu erwartende bzw. systematische gewaltsame Angriffe gegen Christen in der Region Kurdistan-Irak enthalten (siehe oben). Soweit der Kläger weiter berichtet hat, es habe in der Folge, nach dem einen von ihm beschriebenen Vorfall auch noch mehrfach weitere solcher Vorfälle gegeben, hat er diese auch nicht näher spezifiziert. Es verbleiben somit Zweifel daran, dass der Kläger ein selbst erlebtes Geschehen wiedergegeben hat.
33 Doch selbst dann, wenn man davon ausginge, dass sich das Geschehen so wie von dem Kläger vorgetragen tatsächlich ereignet hätte, wäre in den Angriffen keine Verfolgung i.S.v. § 3 Abs. 1 AsylG zu sehen, da es insoweit an einem Verfolgungsakteur i.S.v. § 3c AsylG fehlte. Nach der Schilderung des Klägers handelte es sich bei den Angreifern um nichtstaatliche Akteure i.S.v. § 3c Nr. 3 AsylG. So hat er vorgetragen, sei er von mehreren Männern, die Tätowierungen gehabt hätten und mit Ketten und Messern bewaffnet gewesen seien, angegriffen worden. Dies lässt – schon mit Blick auf die eher rudimentäre Bewaffnung der Leute – nicht den Schluss zu, dass es sich dabei um Angehörige einer staatlichen (Sicherheits-)Organisation bzw. einer quasi-staatlichen Miliz oder ähnlichen Organisation i.S.v. § 3c Nr. 1 oder Nr. 2 AsylG gehandelt hätte. Vor dem Hintergrund der durch die Erkenntnismittel nachgezeichneten Sicherheitslage in der Region Kurdistan-Irak ist indes davon auszugehen, dass mit den staatlichen Behörden in der Herkunftsregion des Klägers staatliche Akteure i.S.v. § 3d Abs. 1 Nr. 1 bzw. jedenfalls Nr. 2 AsylG vorhanden sind, die in der Lage und willens sind, einen wirksamen und nicht nur vorübergehenden Schutz i.S.v. § 3d Abs. 2 AsylG zu gewährleisten.
34 Erforderlich ist ein tatsächlicher, wirkungsvoller Schutz, nicht etwa nur auf dem Papier stehende Vorgaben (Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 3d AsylG Rn. 3; Kluth, in: BeckOK/Ausländerrecht, 26. Edition 01.07.2020, § 3d AsylG Rn. 3). Der Schutz muss dabei nicht schlechthin perfekt und lückenlos sein (BVerwG, Urt. v. 05.07.1994 – 9 C 1.94, NVwZ 1995, 391, 392; Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 3d AsylG Rn. 3). Er ist dann nicht ausreichend, wenn der (staatliche) Akteur gegen Verfolgungsmaßnahmen Privater grundsätzlich keinen effektiven Schutz gewährt, genügt aber umgekehrt dann, wenn die zum Schutz der Bevölkerung bestellten (Polizei-)Behörden bei Übergriffen Privater zur Schutzgewährung ohne Ansehen der Person verpflichtet und dazu von der Regierung auch landesweit angehalten sind, vorkommende Fälle von Schutzverweigerung mithin ein von der Regierung nicht gewolltes Fehlverhalten der Handelnden in Einzelfällen sind (BVerwG, Urt. v. 05.07.1994 – 9 C 1.94, NVwZ 1995, 391, 392).
35 Diesen Vorgaben genügt der Schutz der christlichen Minderheit in der Region Kurdistan-Irak. Insgesamt ist die Rechtsdurchsetzung in der Region Kurdistan-Irak im Vergleich zu anderen Teilen des Irak gut (United States Commission on international religious freedom – Wilting in the kurdish sun – The hopes and fears of religious minorities in northern Iraq, Mai 2017, S. 9). Gleichwohl werden in der lokalen Bevölkerung die Polizei und die Gerichte wenig genutzt, um Rechte durchzusetzen, was auch daran liegt, dass der Zugang zu Gerichten insbesondere von der politischen, ethnischen, religiösen und familiären Zugehörigkeit abhängt (United States Commission on international religious freedom – Wilting in the kurdish sun – The hopes and fears of religious minorities in northern Iraq, Mai 2017, S. 9 f.). Zugleich wird aber anerkannt, dass die kurdische Regierung grundsätzlich willens ist, Christen als religiöse Minderheit zu schützen, hierzu gezielte Anstrengungen unternimmt – namentlich auch, um dies im Ausland als Erfolge und Zeichen einer Rechtsstaatlichkeit vorzuweisen – und dies in der Vergangenheit auch dergestalt erfolgreich umgesetzt worden ist, dass Christen bislang geschützt worden sind (vgl. die oben skizzierte Sicherheitslage für Christen in der Region Kurdistan-Irak, insb. etwa die Berichte bei United States Commission on international religious freedom – Wilting in the kurdish sun – The hopes and fears of religious minorities in northern Iraq, Mai 2017, S. 17 f.).
36 Mithin verbleibende Schutzlücken, wie sie ausweislich der Erkenntnismittel gleichwohl dennoch vorkommen können – beispielsweise durch islamistische Extremisten und Überfälle bzw. Angriffe in Grenzbereichen zur (organisierten) Kriminalität – sind vor diesem Hintergrund als Ausnahmefälle anzusehen, die von den Sicherheitskräften generell nicht geduldet werden und auch geahndet werden. Für ein allgemeines Klima der Straflosigkeit sind keine hinreichenden Anhaltspunkte vorhanden. Vielmehr ist davon auszugehen, dass mit der kurdischen Regionalregierung und den in der Region tätigen Sicherheitskräften schutzbereite staatliche Akteure vorhanden sind, die einen generellen und auch faktisch-real wirksamen – wenngleich nicht lückenlosen – Schutz der christlichen Minderheiten vor Angriffen durch Kriminelle und auch durch Extremisten sicherstellen.
37 Jenseits dessen greift selbst dann, wenn man eine Vorverfolgung annehmen würde, die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie nicht durch. Die Vermutung ist nämlich jedenfalls durch stichhaltige Gründe widerlegt, weil sich die Angriffe auf den Kläger nur als eine Realisierung des allgemeinen Lebensrisikos darstellen und es damit an einem inneren Zusammenhang zu einer etwaigen künftigen Verfolgung fehlt.
38 Die auf Grund einer Vorverfolgung geltende Vermutung kann widerlegt werden. Sie ist widerlegt, wenn stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung entkräften (BVerwG, Urt. v. 19.04.2018 – 1 C 29.17, BVerwGE 162, 44, Rn. 15). Diese Beurteilung unterliegt der freien Beweiswürdigung des Tatrichters (BVerwG, Urt. v. 19.04.2018 – 1 C 29.17, BVerwGE 162, 44, Rn. 15). Ein solcher kann auch darin liegen, dass zwischen der Vorverfolgung und einer künftig zu erwartenden Verfolgung kein innerer Zusammenhang besteht (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.04.2010 – 10 C 4.09, Rn. 31). Dies ist namentlich dann der Fall, wenn die Vorverfolgung sich als zufälliges, den Kläger nicht individuell-zielgerichtet treffendes Ereignis darstellt, bei dem sich für den Kläger das allgemeine Lebensrisiko realisiert, und sie selbst auch nach ihrem Abschluss keine weitere Gefahrerhöhung impliziert.
39 Ein solches Verständnis wird insbesondere nicht dadurch ausgeschlossen, dass nach Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie nur solche Umstände, die zu einer nachträglichen Änderung der Sachlage führen, als stichhaltige Gründe anerkannt würden. Vielmehr können solche stichhaltige Gründe auch bei unveränderter Sachlage in der Natur der konkret betroffenen Vorverfolgung – namentlich etwa dem nur zufälligen Charakter der Maßnahme – liegen. Dieses Verständnis steht in Einklang mit dem Wortlaut des Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie. Dort heißt es nämlich nur, dass die Vorverfolgung ein ernsthafter Hinweis auf eine künftige Verfolgung ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung bedroht wird. Diese Formulierung enthält insbesondere keine sprachliche Einschränkung etwa dahingehend, dass es sich um stichhaltige, nachträglich eingetretene Gründe handeln müsse. Gleiches gilt auch für die englische („good reasons to consider“), französische („de bonnes raisons de penser“) und italienische („buoni motivi“) Sprachfassung der Qualifikationsrichtlinie.
40 Auch der Sinn und Zweck der Vorschrift stützt ein weites Verständnis, das auch unveränderte, in der Art und Weise der konkreten Vorverfolgung liegende Umstände als stichhaltige Gründe gelten lässt. Die der Vorschrift zugrundeliegende Vermutung, erneut von einer Verfolgung wie der bereits erlittenen bedroht zu sein, beruht wesentlich auch auf der Vorstellung, dass eine Verfolgungswiederholung – bei gleichbleibender Ausgangssituation – aus tatsächlichen Gründen naheliegt (BVerwG, Urt. v. 27.04.2010 – 10 C 4.09, Rn. 31). Wenn nun in der Art und Weise der betreffenden Vorverfolgung liegende tatsächliche Gründe eine Verfolgungswiederholung auch bei gleichbleibender Ausgangssituation gerade nicht nahelegen, dann wird der Sinn und Zweck der Vorschrift auch bei unveränderter Sachlage nicht erfüllt.
41 Dabei ist jedoch zu sehen, dass eine Vorverfolgung nicht stets als in diesem Sinne „zufällig“ und ohne inneren Zusammenhang zu einer etwaigen künftigen Verfolgung einzustufen ist, wenn sie im Rahmen einer allgemeinen, latenten Gefahrenlage erfolgt, die für sich genommen noch keine hinreichende Gefahrendichte für den Betroffenen aufweist. Vielmehr kann eine erlittene Verfolgung in einem solchen Kontext grundsätzlich als ernsthafter Hinweis darauf gesehen werden, dass bei dem Betroffenen individuelle gefahrerhöhende Umstände vorliegen, die für ihn eine hinreichende Gefährdung begründen (vgl. in Bezug auf die insoweit vergleichbare Situation hinsichtlich des Betroffenseins von willkürlicher Gewalt bei dem Bestehen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts i.S.v. Art. 15 c) der Qualifikationsrichtlinie BVerwG, Urt. v. 27.04.2010 – 10 C 4.09, Rn. 31). Ein innerer Zusammenhang zwischen einer Vorverfolgung und einer etwaigen künftigen Verfolgung kann also nur dann fehlen dergestalt, dass ein stichhaltiger Grund i.S.v. Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie vorliegt, wenn nach den tatsächlichen Umständen des Einzelfalls feststeht, dass die Vorverfolgung nicht (auch) auf einem Umstand beruht, der für den Betroffenen aufgrund der allgemeinen Gefahrenlage eine Gefahrverdichtung begründet. Anderenfalls könnte ein stichhaltiger Grund nur dann angenommen werden, wenn dieser Umstand nachträglich entfallen ist oder aufgrund geänderter Rahmenbedingungen nicht mehr zu einer erhöhten Gefährdung führt.
42 Nach diesen Vorgaben sind vorliegend stichhaltige, die Wiederholungsträchtigkeit entkräftende Gründe gegeben Ein innerer Zusammenhang zwischen Vorverfolgung und künftiger Verfolgung fehlt. Die von dem Kläger berichteten Vorfälle haben ihn als zufälliges Opfer im Rahmen des allgemeinen Lebensrisikos ereilt. Weder durch den Vorfall selbst, noch aufgrund der ihn bedingenden Umstände ist eine Gefahrerhöhung gegeben, die weitere Angriffe wahrscheinlicher machen würden als dies aufgrund der allgemeinen Sicherheitslage der Fall wäre.
43 Es ist insbesondere nicht davon auszugehen, dass in der Person des Klägers individuelle Gründe vorliegen, die ihn im Vergleich zu anderen in der Region Kurdistan-Irak lebenden Christen als besonders gefährdet erscheinen ließen. Es ist nicht ersichtlich, dass die von dem Kläger angegebenen Vorfälle zielgerichtet auf ihn gerichtet gewesen wären. Auch für das Vorliegen persönlicher Gefährdungsmerkmale fehlen jegliche Anhaltspunkte. Namentlich ist keine etwaige öffentliche Betätigung des Klägers als Christ zu erkennen, welche ihn verstärkt zum Ziel von religiös motivierten Übergriffen machen könnte. Auch sonstige gefahrerhöhende Merkmale wie – ausweislich der Erkenntnismittel – das Führen eines Lebensmittelgeschäfts, in dem auch Alkohol verkauft wird, sind vorliegend weder aus dem Vortrag des Klägers noch sonst ersichtlich.
44 Hinzu kommt, dass der Kläger angegeben hat, der Angriff sei so abgelaufen, dass zunächst sein Geld entwendet worden sei, was zumindest zunächst ein kriminelles Motiv – und kein religiöses – nahelegt. Zwar spricht der Umstand, dass er sodann als „Ungläubiger“ einen Spruch zu seiner Bekehrung zum Islam habe aufsagen sollen, dafür, dass jedenfalls die Weiterungen des Überfalls durchaus religiös motiviert gewesen sind. Der Anlass für den Überfall war aber offenbar nicht in der Glaubensüberzeugung des Klägers, sondern in anderen Umständen zu finden. Ein solcher Überfall würde sich also nur dann wiederholen, wenn erneut der Kläger zunächst allgemein – etwa durch Kriminelle – angegangen würde, die ihn sodann zudem auch wegen seines Glaubens bedrohen würden. Nachdem gefahrerhöhende Umstände, die ihn voraussichtlich verstärkt zu dem Opfer eines kriminellen oder auch sonstigen Angriffs machen würden, fehlen, stellen sich erlittene Verfolgungsmaßnahmen auf der Grundlage der nach den Erkenntnismitteln ersichtlichen Situation in der Region Kurdistan-Irak als zufällig und nicht Teil einer erhöhten Gefährdungslage dar, sondern vielmehr als Ausdruck des allgemeinen Lebensrisikos.
45 Ein innerer Zusammenhang zwischen dem berichteten Vorfall und einem etwaigen erneuten Vorfall ist damit nicht gegeben. Es ist weder mit einem Wiederaufleben der ursprünglichen Verfolgung – also des konkreten Angriffs, der ja bereits vor der Ausreise beendet war – zu rechnen, noch besteht das erhöhte Risiko der Wiederholung einer gleichartigen Verfolgung. Die Gefahr, die für den Kläger nach einer Rückkehr in den Irak besteht, entspricht somit derjenigen, in der sich die örtliche (christliche) Bevölkerung allgemein befindet, ohne dass sich aus den Vorfällen, von denen der Kläger berichtet hat, oder den diesen ggf. zugrundeliegenden Umständen eine (individuelle) Erhöhung dieser Gefahr ergeben würde.
46 Ohne die somit nicht anwendbare Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie ist eine Verfolgung des Klägers nicht als beachtlich wahrscheinlich anzusehen. Dies würde nach der oben anhand der Erkenntnismittel nachgezeichneten Sicherheitslage in der Herkunftsregion des Klägers nämlich voraussetzen, dass besondere gefahrerhöhende Merkmale für den Kläger vorhanden sind. Wie bereits festgestellt wurde, sind solche aber weder aus den erlittenen Überfällen oder ihren Begleitumständen, noch sonst – etwa aus einer besonders gefahrenträchtigen beruflichen Tätigkeit – abzuleiten.
47 c) Im Übrigen wäre dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft jedenfalls gemäß § 3e Abs. 1 AsylG nicht zuzuerkennen. Er wäre nämlich auf internen Schutz in einer anderen Gegend der Region Kurdistan-Irak – insbesondere etwa in dem christlichen Viertel Ankawa in Erbil – zu verweisen.
48 Interner Schutz schließt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus, und zwar dann, wenn der Ausländer in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung im vorbeschriebenen Sinne hat und der Ausländer sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt, § 3e Abs. 1 AsylG.
49 Ob die Voraussetzungen dafür vorliegen, dass vernünftigerweise erwartet werden kann, sich an einem Ort als interne Schutzalternative niederzulassen (§ 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG), bedarf der Prüfung im Einzelfall unter Berücksichtigung objektiver Gesichtspunkte (darunter insbesondere die wirtschaftlichen und humanitären Verhältnisse einschließlich der Gesundheitsversorgung sowie die Sicherheitslage am Ort des internen Schutzes) und subjektiver Umstände (etwa Alter, Geschlecht, familiärer und biographischer Hintergrund einschließlich einer ggf. bestehenden Vorverfolgungssituation, Gesundheitszustand, finanzielle Situation bezogen auf Vermögen und Erwerbsmöglichkeiten sowie Leistungen aus Hilfsangeboten für Rückkehrer, Fähigkeiten/Ausbildung/Berufserfahrung, das Vorhandensein von tragfähigen Beziehungen/Netzwerken am Ort des internen Schutzes, Kenntnisse zumindest einer der am Ort des internen Schutzes gesprochenen Sprache, sowie ggf. auch die Volkszugehörigkeit u.a., VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 16.10.2017 – A 11 S 512/17, Rn. 80 über juris).
50 Interner Schutz scheidet demnach jedenfalls aus, wenn die Situation am vermeintlichen Schutzort einen Verstoß gegen § 4 Abs. 1 AsylG oder Art. 3 EMRK bedeuten würde (VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 16.10.2017 – A 11 S 512/17, Rn. 85 f. über juris). Ausgehend von diesen Mindestanforderungen bietet ein verfolgungssicherer Ort erwerbsfähigen Personen das wirtschaftliche Existenzminimum in aller Regel dann, wenn sie dort, sei es durch eigene, notfalls auch wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit, die grundsätzlich zumutbar ist, oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen können. Zu den danach zumutbaren Arbeiten gehören auch Tätigkeiten, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen, etwa weil sie keinerlei besondere Fähigkeiten erfordern, und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs, beispielsweise in der Landwirtschaft oder auf dem Bausektor, ausgeübt werden können (BVerwG, Urt. v. 01.02.2007 – 1 C 24.06, Rn. 11 über juris; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 16.10.2017 – A 11 S 512/17, Rn. 87 über juris). So soll die Gewährleistung dieser Lebensbedingungen verhindern, dass der Betroffene sich letztlich gezwungen sieht, doch wieder seine Herkunftsregion aufzusuchen und sich damit gerade den Gefährdungen auszusetzen, wegen derer er zuvor auf die Möglichkeit internen Schutzes verwiesen worden war. Die entsprechenden Anforderungen dienen damit der Wahrung von Art. 33 der Genfer Flüchtlingskonvention. Denn dieser verbietet Maßnahmen, die in irgendeiner Weise zu Refoulementgefahren führen, also gerade auch die Rückführung in unsichere Gebiete und Gebiete, in denen unzumutbare Lebensbedingungen bestehen (VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 16.10.2017 – A 11 S 512/17, Rn. 89 f. über juris).
51 Ausgehend von diesen Maßstäben ist eine solche interne Schutzalternative vorliegend gegeben.
52 Zum einen ist das Gericht davon überzeugt, dass der Kläger in Erbil vor Verfolgung sicher wäre. Aus den vorliegenden Erkenntnismitteln ergibt sich, dass in Ankawa, einem Stadtteil von Erbil, ein sicheres Leben für Angehörige der christlichen Minderheit möglich ist, nachdem dies in den vergangenen 15 Jahren der Fall gewesen ist (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 02.03.2020, S. 18 f.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, Gesamtaktualisierung vom 17.03.2020, S. 83; Auswärtiges Amt, Antwort an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, 21.07.2017, S. 3; EASO COI Meeting Report Iraq – Practical Cooperation Meeting 25-26 April 2017 Brussels, Juli 2017, S. 17; United States Commission on international religious freedom – Wilting in the kurdish sun – The hopes and fears of religious minorities in northern Iraq, Mai 2017, S. 17; Deutschlandfunk, Christen im Irak – Kampf ums Überleben, 08.02.2017).
53 Nach dem Vortrag des Klägers ist auch davon auszugehen, dass er tatsächlichen und legalen Zugang zu der Stadt Erbil hätte. Nach seinen Angaben lebt namentlich seine Schwester dort, sodass insbesondere auch ein familiärer Kontakt vorhanden ist. Zudem hat der Kläger selbst sich längere Zeit in Zakho aufgehalten, mithin also auch generellen Zugang zu der Region Kurdistan-Irak gehabt. Anhaltspunkte dafür, dass ihm in Abweichung davon nunmehr kein Zugang mehr möglich sein sollte, sind weder aus dem Vortrag des Klägers noch sonst ersichtlich.
54 Eine Niederlassung in Erbil wäre dem Kläger auch zumutbar. Es ist nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass er dort in eine gegen Art. 3 EMRK verstoßende Lage geraten würde.
55 Nach den vorliegenden Erkenntnismitteln ist die Versorgungslage nicht nur allgemein im Irak, sondern namentlich auch in der Region Kurdistan-Irak angespannt. Die öffentliche Stromversorgung ist häufig unterbrochen, die Versorgung mit Mineralöl ist unzureichend, die maroden Wasserleitung bedingen eine hohe Seuchengefahr und die medizinische Versorgung ist – trotz generell guter Qualifikation der Ärzte und des Krankenhauspersonals – ebenfalls nicht zufriedenstellend (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 02.03.2020, S. 25 f.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, Gesamtaktualisierung vom 20.11.2018, letzte Kurzinformation eingefügt am 09.04.2019, S. 108 ff.). Im gesamten Irak leben ungefähr 4,1 Millionen Menschen, die auf humanitäre Hilfe angewiesen sind (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 02.03.2020, S. 6). Etwa ein Drittel der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze von 2 US-Dollar pro Tag (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, Gesamtaktualisierung vom 24.08.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 18.05.2018, S. 164). Ferner sind die Lebensbedingungen eines großen Teils der städtischen Bevölkerung prekär, ohne ausreichenden Zugang zu Basis-Dienstleistungen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 02.03.2020, S. 25).
56 Ungefähr 4,1 Millionen Menschen im Irak und damit etwa acht bis zehn Prozent der Bevölkerung sind auf humanitäre Hilfe angewiesen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 02.03.2020, S. 5). Etwa ein Drittel lebt unterhalb der Armutsgrenze (Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, Gesamtaktualisierung am 24.08.2017, letzte Kurzinformationen eingefügt am 18.05.2018, S. 165). Trotz einer somit gegebenen großen Bedürftigkeit gerade von Binnenflüchtlingen hat ein Großteil der Bevölkerung keinen Zugang zu humanitärer Hilfe (UK Home Office, Country Policy and Information Note Iraq: Security and humanitarian situation, November 2018, S. 31 ff.). Im gesamten Land leben 29 Prozent der Binnenflüchtlingen – von denen sich die meisten in den Regionen Ninewa und Dohuk befinden – in Lagern (UK Home Office, Country Policy and Information Note Iraq: Security and humanitarian situation, November 2018, S. 8). Der Irak besitzt kaum eigene Industrie jenseits des Ölsektors; Hauptarbeitgeber ist der Staat (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 12.01.2019, S. 24 f.). Die Arbeitslosenquote von Binnenvertriebenen in den Kurdengebieten wird mit ca. 70 Prozent angegeben (UK Home Office, Country Policy and Information Note Iraq: Security and humanitarian situation, November 2018, S. 13). Wegen Günstlings- und Vetternwirtschaft hat diese Bevölkerungsgruppe der Vertriebenen deutliche Nachteile auf dem Arbeitsmarkt gegenüber Ortsansässigen bzw. alteingesessenen ältere Arbeitnehmern (UK Home Office, Country Policy and Information Note Iraq: Security and humanitarian situation, November 2018, S. 13). Ohne soziales Netz werden Rückkehrern in der Region Kurdistan-Irak auf verschiedenen Ebenen erheblichen Schwierigkeiten begegnen (Danish Immigration Service, Landinfo Northern Iraq, November 2018, S. 39).
57 Gemessen an den irakischen Verhältnissen ist die humanitäre Lage in Kurdistan-Irak eher unterdurchschnittlich. Kurdistan-Irak hat insgesamt ca. 30 % aller Binnenflüchtlinge aufgenommen (UK Home Office, Country Policy and Information Note Iraq: Security and humanitarian situation, November 2018, S. 8 und 20). Personen ohne familiäres Hilfsnetzwerk in der Region Kurdistan-Irak haben nur begrenzte Chancen auf eine Unterkunft; selbst eine Aufnahme in einem der (stark belegten) Flüchtlingslager kann nicht ohne Weiteres erwartet werden (UK Home Office, Country Policy and Information Note Iraq: Security and humanitarian situation, November 2018, S. 12).
58 Vor dem Hintergrund der so nachgezeichneten Situation ist es jedoch aufgrund der Umstände des vorliegenden Falles nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger in eine gegen Art. 3 EMRK verstoßende Lage geraten würde. So hat er nach eigenen Angaben in Zakho – wo er sich zuletzt aufgehalten hat – gearbeitet und ein existenzsicherndes Einkommen gehabt. Zudem verfügt er in Erbil über familiäre Kontakte. Der Kläger ist daher nicht der von der humanitären Lage besonders betroffenen Gruppe derjenigen Personen zuzurechnen, die als Binnenvertrieben völlig von der Unterstützung Dritter abhängig wären. So sind keine Anhaltspunkte dafür erkennbar, dass der Kläger nach einer Rückkehr und Niederlassung in der Region Kurdistan-Irak bzw. in Erbil anders als zuvor in Zakho als gesunder, junger Mann keine Erwerbstätigkeit ausüben könnte und keine Unterkunft finden würde.
II.
59 Die Klage ist in dem ersten Hilfsantrag ebenfalls als Verpflichtungsklage statthaft und zulässig, aber auch unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG.
1.
60 Gem. § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Heimatland ein ernsthafter Schaden droht. Nach Satz 2 gilt als ernsthafter Schaden 1. die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, 2. Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder 3. eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts. In diesem Rahmen sind gem. § 4 Abs. 3 AsylG die §§ 3c bis 3e AsylG entsprechend anzuwenden.
2.
61 Hinsichtlich des Prognosemaßstabs ist der bereits oben dargelegte Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen. Eine konkrete Gefahr eines ernsthaften Schadens i.S.v. § 4 Abs. 1 AsylG liegt nicht vor.
62 a) Insoweit wird zunächst auf die zu der Begründetheit des Hauptantrags genannten Gesichtspunkte verwiesen. Es ist demnach nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass der Kläger – sei es aus religiösen Gründen oder als Opfer allgemeiner Kriminalität – einen Überfall oder einen sonstigen ähnlichen Angriff erleiden würde, der dem von § 4 Abs. 1 AsylG vorausgesetzten Maßstab entsprechen würde.
63 b) Der Kläger hat daneben auch keinen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes wegen einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit seiner Person infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konfliktes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG. Die skizzierte Sicherheitssituation in der Provinz Dohuk sowie speziell in Zakho lässt nicht den Schluss zu, dass dort ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG herrscht. Zudem fehlt es mangels anderweitiger Anhaltspunkte auch insoweit an einer hinreichend wahrscheinlichen individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit des Klägers infolge willkürlicher Gewalt.
64 c) Dem Kläger droht auch insbesondere keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG i. V. m. Art. 3 EMRK wegen der allgemeinen humanitären Lage in Zakho als dem Ort, an dem er sich bei einer Rückkehr in den Irak voraussichtlich wieder niederlassen würde. Zwar kann die allgemeine humanitäre Lage an dem Ort, an dem sich der Ausländer voraussichtlich niederlassen wird, ausnahmsweise und unter engen Voraussetzungen eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK darstellen (VG Berlin, Urt. v. 26.07.2018 – 29 K 377.17 A, Rn. 34 über juris m.w.N.). Jedoch muss die schlechte humanitäre Lage dazu auf einen Akteur i.S.v. § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i. V. m. § 3c AsylG zurückzuführen sein (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 17.01.2018 – A 11 S 241/17, Rn. 168 ff. über juris).
65 Die humanitäre Lage ist in der Region Kurdistan-Irak insgesamt – wie oben anhand der Erkenntnismittel nachgezeichnet – schwierig. Das gilt nicht nur für Erbil, sondern gleichermaßen auch für Zakho. Hinweise dafür, dass diese Situation einem in Betracht kommenden Akteur direkt oder indirekt anzulasten wäre, sind aus den vorliegenden Erkenntnismitteln indes keine ersichtlich.
III.
66 Die Klage ist auch hinsichtlich des zweiten Hilfsantrags als Verpflichtungsklage statthaft und zulässig, jedoch insoweit ebenfalls unbegründet. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen nicht vor.
67 Diesbezüglich wird zunächst gemäß § 77 Abs. 2 AsylG auf die Begründung des angefochtenen Bescheids Bezug genommen. Wie auch bereits bei der Prüfung der Ansprüche auf Zuerkennung internationalen Schutzes dargelegt, hat sich die sehr schwierige Versorgungslage und wirtschaftliche Situation weiter Teile der Bevölkerung im Irak und namentlich auch in der Region Kurdistan-Irak ausweislich der dem Gericht vorliegenden Erkenntnismittel auch während der Dauer des gerichtlichen Verfahrens nicht entscheidend gebessert. Dennoch ist das Gericht davon überzeugt, dass sich der gesunde und arbeitsfähige Kläger, der nach eigenen Angaben im Irak auch bis zuletzt erwerbstätig gewesen ist sowie noch über (wenn auch nur noch in Person der erkrankten Mutter sowie der in Erbil lebenden Schwester) familiäre Anbindung verfügt, jedenfalls das erforderliche Existenzminimum sichern bzw. erwirtschaften können würde.
IV.
68 Im Übrigen ist die Klage als Anfechtungsklage, gerichtet auf Aufhebung der Ziffern 4 und 5 des angefochtenen Bescheids, statthaft. Der vierte Hilfsantrag, demnach die Verpflichtung der Beklagten zur Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf „Null“ begehrt wird, ist in Anwendung des § 88 VwGO ebenfalls als Anfechtungsantrag auszulegen (vgl. zu dem in diesen Konstellationen statthaften Rechtsschutz Dollinger, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 11 AufenthG Rn. 133). Die Klage ist auch insoweit zulässig, aber unbegründet.
69 Die Abschiebungsandrohung ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Sie findet ihre Rechtsgrundlage in § 34 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG. Die Ausreisefrist von 30 Tagen folgt aus § 38 Abs. 1 AsylG.
70 Auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung ist rechtmäßig. Insbesondere kann in einer behördlichen Befristungsentscheidung regelmäßig der konstitutive Erlass eines befristeten Einreiseverbots gesehen werden (vgl. BVerwG, Urt. v. 21.08.2018 – 1 C 21.17, juris Rn. 25; Beschl. v. 13.07.2017 – 1 VR 3.17, juris Rn. 72; Urt. v. 27.07.2017 – 1 C 28.16, juris Rn. 42). Die dafür erforderliche Rechtsgrundlage findet sich nunmehr in § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG, der die nach Art. 3 Nr. 6 und Art. 11 Abs. 1 Richtlinie 2008/115/EG unionsrechtliche Voraussetzung einer behördlichen Entscheidung über die Verhängung eines Einreiseverbotes nun übernimmt (Reg.E. BT-Drs. 19/10047, S. 31, 1. Abs.). Schutzwürdige Belange, die eine kürzere Frist oder ein Absehen von der Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots rechtfertigen würden, sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
V.
71 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei gemäß § 83b AsylG.
Gründe
14 Die Entscheidung erfolgt im Einverständnis der Beteiligten durch den Berichterstatter (§ 87a Abs. 2 und 3 VwGO).
15 Der Berichterstatter durfte am 28.09.2020 verhandeln und entscheiden, obwohl die Beklagte nicht anwesend war, denn sie ist in der Ladung, die dem Bundesamt nach dem von ihm erklärten Verzicht auf Ladung gegen Empfangsbekenntnis in der allgemeinen Prozesserklärung vom 27.06.2017 durch einfachen Brief übersandt wurde, auf diese Möglichkeit hingewiesen worden (§ 102 Abs. 2 VwGO).
I.
16 Die Klage ist in dem Hauptantrag als Verpflichtungsklage statthaft und zulässig, jedoch unbegründet. Der angefochtene Bescheid des Bundesamts vom 10.11.2017 ist insoweit rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.
1.
17 Nach § 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 AsylG wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention vom 28.07.1951 (GFK) zuerkannt, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Herkunftslandes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will, oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
18 a) Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist eine begründete Furcht vor Verfolgung anzunehmen, wenn dem Schutzsuchenden bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände seines Falles eine Verfolgung aus einem der genannten Gründen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren (BVerwG, Urt. v. 20.02.2013 – 10 C 23.12, Rn. 19 über juris; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 17.01.2018 – A 11 S 241/17, Rn. 42 über juris). Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Schutzsuchenden Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann deshalb auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer „quantitativen“ oder mathematischen Betrachtungsweise weniger als 50 % Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht. Beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist dann anzunehmen, wenn bei der vorzunehmenden „zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts“ die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen (VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 17.01.2018 – A 11 S 241/17, Rn. 42 über juris).
19 b) Aus den in Art. 4 RL 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie) geregelten Mitwirkungs- und Darlegungsobliegenheiten des Asylantragstellers folgt, dass es auch unter Berücksichtigung der Vorgaben dieser Richtlinie Sache des Asylantragstellers ist, die Gründe für seine Furcht vor politischer Verfolgung schlüssig vorzutragen. Er hat dazu unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung eine Verfolgung aus einem der genannten Verfolgungsgründen droht. Hierzu gehört, dass der Asylantragsteller zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen u.a. Persönlichkeitsstruktur, Wissensstand und Herkunft des Asylantragstellers berücksichtigt werden (zum Ganzen, jeweils m.w.N., VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 17.01.2018 – A 11 S 241/17, Rn. 54 ff. über juris; VG Aachen, Urt. v. 18.03.2014 – 2 K 1589/10.A; Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 25 AsylG Rn. 4).
2.
20 Für den Kläger ist nach diesen Maßstäben keine Verfolgungsgefahr in dem oben genannten Sinn gegeben.
21 a) Er hat vorgetragen, er sei mit seiner Familie nach dem Einmarsch des IS aus Mosul nach Zakho geflüchtet. Dort sei er mehrfach wegen seines christlichen Glaubens angegriffen worden. Einmal, als er in Zakho mit einem Freund zusammen unterwegs gewesen sei, sei er von mehreren Männern angegriffen und – nachdem sie ihm sein Geld abgenommen hätten – aufgefordert worden, einen Spruch aufzusagen, wonach er sich zum Islam bekehre. Als er dies verweigert habe, sei er geschlagen worden. Er befürchte, im Irak als Christ Opfer von Angriffen bis hin zu einer Tötung zu werden. Zudem sei er dort als Christ Diskriminierungen und Bedrohungen ausgesetzt.
22 b) Vor dem Hintergrund der durch die Erkenntnismittel nachgezeichneten Sicherheitslage ist dieser Vortrag nicht geeignet, eine hinreichende Verfolgungswahrscheinlichkeit zu begründen. Es ist nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger bei einer Rückkehr in den Irak aufgrund seiner christlichen Glaubenszugehörigkeit verfolgt würde.
23 Der dabei in den Blick zu nehmende, für die anzustellende Betrachtung relevante Ort ist vorliegend Zakho. Bezugspunkt der Gefahrenprognose ist in der Regel der Herkunftsort des Ausländers, in den er typischerweise zurückkehren wird (vgl. BVerwG, Urt. v. 31.01.2013 – 10 C 15.12, Rn. 13 über juris; Urt. v. 14.07.2009 – 10 C 9.08, BVerwGE 134, 188, Rn. 17 über juris). Dies ist vorliegend Zakho in der Provinz Dohuk. Zwar hat der Kläger nach eigenen Angaben bis 2014 in Mosul gelebt, wo er auch geboren und aufgewachsen sei. Jedoch sei er dann zusammen mit seiner Familie nach Zakho gegangen, wo sie zunächst in einer Schule untergekommen seien und die Angehörigen sodann in einer (wenn auch kleinen) Mietwohnung – mithin außerhalb einer prekären Unterbringung in einem Flüchtlingslager – gelebt hätten und wo er auch bis zu seiner Ausreise erwerbstätig gewesen sei. Auch heute sei jedenfalls seine Mutter auch nach wie vor noch in Zakho, wenngleich sie zu einer Schwester des Klägers in die USA ausreisen wolle. Mit einer Rückkehr nach Mosul ist vor diesem Hintergrund nicht zu rechnen, nachdem der Kläger die Stadt bereits 2014 verlassen habe und dort nach eigenen Angaben offenbar alles aufgegeben hat. Namentlich seien keinerlei Familienangehörige mehr in Mosul.
24 Die Sicherheitslage in Zakho stellt sich allgemein wie folgt dar:
25 Der Provinz Dohuk, in der Zakho liegt, wird wie der Region Kurdistan-Irak insgesamt generell eine stabile Sicherheitslage attestiert (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 02.03.2020, S. 2; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, Gesamtaktualisierung vom 17.03.2020, S. 24; EASO, Country of Origin Information Report Iraq – Security Situation, März 2019, S. 148). Die Anzahl ziviler Todesopfer liegt im Vergleich zu anderen Regionen des Irak im niedrigsten Bereich, im Jahr 2018 bei 3,12 pro 100.000 Einwohnern (EASO, Country of Origin Information Report Iraq – Security Situation, März 2019, S. 151 f.). In Dohuk wird für das Jahr 2018 von 20 sicherheitsrelevanten Vorfällen berichtet, die zu 28 zivilen Todesopfern geführt haben (EASO, Country of Origin Information Report Iraq – Security Situation, März 2019, S. 152). Gewalt wird dabei insbesondere auch als Mittel in der politischen Auseinandersetzung verwendet, namentlich gegenüber Demonstranten, aber auch gegenüber einzelnen Amtsträgern (EASO, Country of Origin Information Report Iraq – Security Situation, März 2019, S. 153). Daneben wird Gewalt von iranischen Gruppierungen und anderen Milizen ausgeübt, wobei jedoch die staatlichen Sicherheitskräfte grundsätzlich – mit Ausnahmen namentlich einzelner örtlicher Gegenden und abhängig von dem Einfluss des konkreten Aggressors und u.U. bei politischen Hintergründen – in der Lage gesehen werden, die Kontrolle auszuüben (EASO, Country of Origin Information Report Iraq – Security Situation, März 2019, S. 155 f.). Von sicherheitsrelevanten Vorfällen in der Provinz Dohuk wird vor allem in Form von Angriffen der türkischen Streitkräfte gegen Ziele der PKK berichtet (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, Gesamtaktualisierung vom 17.03.2020, S. 25). Auf Grund der im Vergleich zu anderen Teilen des Iraks relativ guten Sicherheitslage ist die Region Kurdistan-Irak Zufluchtsort von noch etwa 800.000 Binnenvertriebenen (nach zuvor noch etwa 1,2 Millionen, Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 12.01.2019, S. 5), die sich hier aufhalten (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 02.03.2020, S. 5, 13 und 18). Minderheiten werden als weitgehend vor Gewalt und Verfolgung geschützt angesehen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 02.03.2020, S. 13 und 18).
26 Die Lage von Christen im Irak stellt sich wie folgt dar:
27 Jedenfalls außerhalb der Region Kurdistan-Irak werden Christen vielfach faktisch diskriminiert (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, Gesamtaktualisierung vom 17.03.2020, S. 75; Auswärtiges Amt, Antwort an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, 21.07.2017, S. 2), obgleich sie durch das Personenstandsrecht grundsätzlich anerkannt werden und in dem geltenden Quotensystem auch in dem (zentral-)irakischen Parlament vertreten sind (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, Gesamtaktualisierung vom 17.03.2020, S. 69 f.; Auswärtiges Amt, Antwort an das VG Wiesbaden, 01.02.2019, S. 1). Die irakische Verfassung bestimmt in Art. 2 den Islam zur Staatsreligion und zu einer Hauptquelle der Gesetzgebung, garantiert aber auch Religionsfreiheit für die religiösen Minderheiten (UK Home Office, Country Policy and Information Note Iraq: Religious monorities, Oktober 2019, S. 7; Auswärtiges Amt, Antwort an das VG Wiesbaden, 01.02.2019, S. 1). Jenseits der faktischen Diskriminierungen findet eine systematische staatliche Verfolgung von Christen im Irak allgemein nicht statt (Auswärtiges Amt, Antwort an das VG Wiesbaden, 01.02.2019, S. 1). Ein umfassender staatlicher Schutz vor Angriffen, etwa durch radikal-islamische Gruppen, wird allerdings nicht umfassend sichergestellt (Auswärtiges Amt, Antwort an das VG Wiesbaden, 01.02.2019, S. 2). Insgesamt ist der Großteil der ehemals, vor 2003 ca. 1,5 Millionen Christen im Irak wegen der stark verschlechterten Rahmenbedingungen und Sicherheitssituation zwischenzeitlich ausgereist, sodass heute nur noch etwa 200.000 bis 400.000 Christen im Irak leben (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 02.03.2020, S. 18; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, Gesamtaktualisierung vom 17.03.2020, S. 81 f.; UK Home Office, Country Policy and Information Note Iraq: Religious monorities, Oktober 2019, S. 11 f.; EASO COI Meeting Report Iraq – Practical Cooperation Meeting 25-26 April 2017 Brussels, Juli 2017, S. 20; United States Commission on international religious freedom – Wilting in the kurdish sun – The hopes and fears of religious minorities in northern Iraq, Mai 2017, S. 16; Deutschlandfunk, Christen im Irak – Kampf ums Überleben, 08.02.2017). Es kommt immer wieder zu Angriffen auf Priester, Bombenanschlägen auf Kirchen und christliche Einrichtungen sowie Übergriffen auf von Christen geführte Lebensmittelgeschäfte, in denen gegebenenfalls auch alkoholhaltige Getränke angeboten werden (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 02.03.2020, S. 18; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, Gesamtaktualisierung vom 17.03.2020, S. 82; UK Home Office, Country Policy and Information Note Iraq: Religious monorities, Oktober 2019, S. 22; Auswärtiges Amt, Antwort an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, 21.07.2017, S. 3; vgl. auch EASO COI Meeting Report Iraq – Practical Cooperation Meeting 25-26 April 2017 Brussels, Juli 2017, S. 23). Es gab auch immer wieder Berichte, dass Angehörige christlicher Minderheiten von bewaffneten Gruppen aus religiösen oder kriminellen Motiven oder einer Kombination beider Motive ermordet oder gegen Lösegeld entführt wurden (UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen, Mai 2019, S. 90).
28 In der Region Kurdistan-Irak haben seit 2003 und vor allem auch seit 2014 viele christliche Flüchtlinge aus anderen Landesteilen Zuflucht gefunden (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, Gesamtaktualisierung vom 17.03.2020, S. 83). Es gibt dort keine Anzeichen für staatliche oder gesellschaftliche Diskriminierung und auch christliche Städte sowie große christliche Viertel in Großstädten wie beispielsweise Ankawa in Erbil, in denen Christen in Frieden leben können (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 02.03.2020, S. 18 f.; vgl. auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, Gesamtaktualisierung vom 17.03.2020, S. 83; Auswärtiges Amt, Antwort an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, 21.07.2017, S. 3; EASO COI Meeting Report Iraq – Practical Cooperation Meeting 25-26 April 2017 Brussels, Juli 2017, S. 17; United States Commission on international religious freedom – Wilting in the kurdish sun – The hopes and fears of religious minorities in northern Iraq, Mai 2017, S. 17; Deutschlandfunk, Christen im Irak – Kampf ums Überleben, 08.02.2017). Seitens der kurdischen Regionalregierung gibt es Anstrengungen, die christlichen Minderheiten zu schützen (United States Commission on international religious freedom – Wilting in the kurdish sun – The hopes and fears of religious minorities in northern Iraq, Mai 2017, S. 17). Gleichwohl gibt es Berichte über Aneignungen von Christen gehörendem Land durch Kurden, vor allem in der Region um Zakho (United States Commission on international religious freedom – Wilting in the kurdish sun – The hopes and fears of religious minorities in northern Iraq, Mai 2017, S. 17). Daneben findet sich in der christlichen Gemeinde auch die allgemeine Furcht vor wachsendem Extremismus unter den die Mehrheit in der Region bildenden sunnitischen Kurden (United States Commission on international religious freedom – Wilting in the kurdish sun – The hopes and fears of religious minorities in northern Iraq, Mai 2017, S. 18). Gleichzeitig wird aber auch unter dort lebenden Christen anerkannt, dass die kurdische Regierung sie bislang geschützt hat (United States Commission on international religious freedom – Wilting in the kurdish sun – The hopes and fears of religious minorities in northern Iraq, Mai 2017, S. 18).
29 Auf der Grundlage der so durch die Erkenntnismittel nachgezeichneten Lage ist nicht davon auszugehen, dass Christen in der Region Kurdistan-Irak und insbesondere in Zakho generell eine Verfolgung nach dem oben dargelegten Maßstab droht (vgl. Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschl. v. 20.11.2017 – 4 ZB 17.31502, Rn. 9 ff. über juris; VG Göttingen, Urt. v. 28.01.2020 – 2 A 577/17, Rn. 28 ff. über juris; VG Augsburg, Urt. v. 02.07.2018 – Au 5 K 18.30752, Rn. 24 ff.; VG Karlsruhe, Urt. v. 23.03.2017 – A 3 K 3846/16, Rn. 21 ff. über juris). Vielmehr setzt die Annahme einer solchen voraus, dass Umstände des jeweiligen Falles eine besondere Gefahrendichte für den Betroffenen begründen. Dies ist vorliegend nicht der Fall.
30 Aus den von dem Kläger berichteten Angriffen gegen ihn ist nicht aufgrund der Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie ein ernsthafter Hinweis darauf zu entnehmen, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist.
31 Wer bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet gemäß Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie – bei auch dann unverändert geltendem Wahrscheinlichkeitsmaßstab – die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (vgl. BVerwG, Urt. v. 07.09.2010 – 10 C 11.09; Urt. v. 27.04.2010 – 10 C 5.09; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 17.01.2018 – A 11 S 241/17, Rn. 47 ff. über juris; Urt. v. 09.11.2010 – A 4 S 703/10; Urt. v. 27.09.2010 – A 10 S 689/08). Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadenstiftenden Umstände bei der Rückkehr erneut realisieren werden (BVerwG, Urt. v. 19.04.2018 – 1 C 29.17, BVerwGE 162, 44, Rn. 15).
32 Das Gericht ist jedoch bereits nicht davon überzeugt, dass dem Kläger die gegen ihn gerichteten Angriffe wie von ihm geschildert wirklich widerfahren sind. Sein Vortrag hierzu ist nicht glaubhaft. So hat er die Angriffe nur oberflächlich und arm an individuellen Details geschildert. In seinem Bericht hat er vielfach – den konkreten Fall verlassend – darauf abgestellt, dass und wie solche Angriffe allgemein häufiger vorkämen und dann abliefen. Diese Angabe, wonach solche Vorfälle flächendeckend und regelmäßig wiederkehrend aufträten, findet zudem keine Stütze in den vorliegenden Erkenntnisquellen, die keine Berichte über hinreichend wahrscheinlich zu erwartende bzw. systematische gewaltsame Angriffe gegen Christen in der Region Kurdistan-Irak enthalten (siehe oben). Soweit der Kläger weiter berichtet hat, es habe in der Folge, nach dem einen von ihm beschriebenen Vorfall auch noch mehrfach weitere solcher Vorfälle gegeben, hat er diese auch nicht näher spezifiziert. Es verbleiben somit Zweifel daran, dass der Kläger ein selbst erlebtes Geschehen wiedergegeben hat.
33 Doch selbst dann, wenn man davon ausginge, dass sich das Geschehen so wie von dem Kläger vorgetragen tatsächlich ereignet hätte, wäre in den Angriffen keine Verfolgung i.S.v. § 3 Abs. 1 AsylG zu sehen, da es insoweit an einem Verfolgungsakteur i.S.v. § 3c AsylG fehlte. Nach der Schilderung des Klägers handelte es sich bei den Angreifern um nichtstaatliche Akteure i.S.v. § 3c Nr. 3 AsylG. So hat er vorgetragen, sei er von mehreren Männern, die Tätowierungen gehabt hätten und mit Ketten und Messern bewaffnet gewesen seien, angegriffen worden. Dies lässt – schon mit Blick auf die eher rudimentäre Bewaffnung der Leute – nicht den Schluss zu, dass es sich dabei um Angehörige einer staatlichen (Sicherheits-)Organisation bzw. einer quasi-staatlichen Miliz oder ähnlichen Organisation i.S.v. § 3c Nr. 1 oder Nr. 2 AsylG gehandelt hätte. Vor dem Hintergrund der durch die Erkenntnismittel nachgezeichneten Sicherheitslage in der Region Kurdistan-Irak ist indes davon auszugehen, dass mit den staatlichen Behörden in der Herkunftsregion des Klägers staatliche Akteure i.S.v. § 3d Abs. 1 Nr. 1 bzw. jedenfalls Nr. 2 AsylG vorhanden sind, die in der Lage und willens sind, einen wirksamen und nicht nur vorübergehenden Schutz i.S.v. § 3d Abs. 2 AsylG zu gewährleisten.
34 Erforderlich ist ein tatsächlicher, wirkungsvoller Schutz, nicht etwa nur auf dem Papier stehende Vorgaben (Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 3d AsylG Rn. 3; Kluth, in: BeckOK/Ausländerrecht, 26. Edition 01.07.2020, § 3d AsylG Rn. 3). Der Schutz muss dabei nicht schlechthin perfekt und lückenlos sein (BVerwG, Urt. v. 05.07.1994 – 9 C 1.94, NVwZ 1995, 391, 392; Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 3d AsylG Rn. 3). Er ist dann nicht ausreichend, wenn der (staatliche) Akteur gegen Verfolgungsmaßnahmen Privater grundsätzlich keinen effektiven Schutz gewährt, genügt aber umgekehrt dann, wenn die zum Schutz der Bevölkerung bestellten (Polizei-)Behörden bei Übergriffen Privater zur Schutzgewährung ohne Ansehen der Person verpflichtet und dazu von der Regierung auch landesweit angehalten sind, vorkommende Fälle von Schutzverweigerung mithin ein von der Regierung nicht gewolltes Fehlverhalten der Handelnden in Einzelfällen sind (BVerwG, Urt. v. 05.07.1994 – 9 C 1.94, NVwZ 1995, 391, 392).
35 Diesen Vorgaben genügt der Schutz der christlichen Minderheit in der Region Kurdistan-Irak. Insgesamt ist die Rechtsdurchsetzung in der Region Kurdistan-Irak im Vergleich zu anderen Teilen des Irak gut (United States Commission on international religious freedom – Wilting in the kurdish sun – The hopes and fears of religious minorities in northern Iraq, Mai 2017, S. 9). Gleichwohl werden in der lokalen Bevölkerung die Polizei und die Gerichte wenig genutzt, um Rechte durchzusetzen, was auch daran liegt, dass der Zugang zu Gerichten insbesondere von der politischen, ethnischen, religiösen und familiären Zugehörigkeit abhängt (United States Commission on international religious freedom – Wilting in the kurdish sun – The hopes and fears of religious minorities in northern Iraq, Mai 2017, S. 9 f.). Zugleich wird aber anerkannt, dass die kurdische Regierung grundsätzlich willens ist, Christen als religiöse Minderheit zu schützen, hierzu gezielte Anstrengungen unternimmt – namentlich auch, um dies im Ausland als Erfolge und Zeichen einer Rechtsstaatlichkeit vorzuweisen – und dies in der Vergangenheit auch dergestalt erfolgreich umgesetzt worden ist, dass Christen bislang geschützt worden sind (vgl. die oben skizzierte Sicherheitslage für Christen in der Region Kurdistan-Irak, insb. etwa die Berichte bei United States Commission on international religious freedom – Wilting in the kurdish sun – The hopes and fears of religious minorities in northern Iraq, Mai 2017, S. 17 f.).
36 Mithin verbleibende Schutzlücken, wie sie ausweislich der Erkenntnismittel gleichwohl dennoch vorkommen können – beispielsweise durch islamistische Extremisten und Überfälle bzw. Angriffe in Grenzbereichen zur (organisierten) Kriminalität – sind vor diesem Hintergrund als Ausnahmefälle anzusehen, die von den Sicherheitskräften generell nicht geduldet werden und auch geahndet werden. Für ein allgemeines Klima der Straflosigkeit sind keine hinreichenden Anhaltspunkte vorhanden. Vielmehr ist davon auszugehen, dass mit der kurdischen Regionalregierung und den in der Region tätigen Sicherheitskräften schutzbereite staatliche Akteure vorhanden sind, die einen generellen und auch faktisch-real wirksamen – wenngleich nicht lückenlosen – Schutz der christlichen Minderheiten vor Angriffen durch Kriminelle und auch durch Extremisten sicherstellen.
37 Jenseits dessen greift selbst dann, wenn man eine Vorverfolgung annehmen würde, die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie nicht durch. Die Vermutung ist nämlich jedenfalls durch stichhaltige Gründe widerlegt, weil sich die Angriffe auf den Kläger nur als eine Realisierung des allgemeinen Lebensrisikos darstellen und es damit an einem inneren Zusammenhang zu einer etwaigen künftigen Verfolgung fehlt.
38 Die auf Grund einer Vorverfolgung geltende Vermutung kann widerlegt werden. Sie ist widerlegt, wenn stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung entkräften (BVerwG, Urt. v. 19.04.2018 – 1 C 29.17, BVerwGE 162, 44, Rn. 15). Diese Beurteilung unterliegt der freien Beweiswürdigung des Tatrichters (BVerwG, Urt. v. 19.04.2018 – 1 C 29.17, BVerwGE 162, 44, Rn. 15). Ein solcher kann auch darin liegen, dass zwischen der Vorverfolgung und einer künftig zu erwartenden Verfolgung kein innerer Zusammenhang besteht (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.04.2010 – 10 C 4.09, Rn. 31). Dies ist namentlich dann der Fall, wenn die Vorverfolgung sich als zufälliges, den Kläger nicht individuell-zielgerichtet treffendes Ereignis darstellt, bei dem sich für den Kläger das allgemeine Lebensrisiko realisiert, und sie selbst auch nach ihrem Abschluss keine weitere Gefahrerhöhung impliziert.
39 Ein solches Verständnis wird insbesondere nicht dadurch ausgeschlossen, dass nach Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie nur solche Umstände, die zu einer nachträglichen Änderung der Sachlage führen, als stichhaltige Gründe anerkannt würden. Vielmehr können solche stichhaltige Gründe auch bei unveränderter Sachlage in der Natur der konkret betroffenen Vorverfolgung – namentlich etwa dem nur zufälligen Charakter der Maßnahme – liegen. Dieses Verständnis steht in Einklang mit dem Wortlaut des Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie. Dort heißt es nämlich nur, dass die Vorverfolgung ein ernsthafter Hinweis auf eine künftige Verfolgung ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung bedroht wird. Diese Formulierung enthält insbesondere keine sprachliche Einschränkung etwa dahingehend, dass es sich um stichhaltige, nachträglich eingetretene Gründe handeln müsse. Gleiches gilt auch für die englische („good reasons to consider“), französische („de bonnes raisons de penser“) und italienische („buoni motivi“) Sprachfassung der Qualifikationsrichtlinie.
40 Auch der Sinn und Zweck der Vorschrift stützt ein weites Verständnis, das auch unveränderte, in der Art und Weise der konkreten Vorverfolgung liegende Umstände als stichhaltige Gründe gelten lässt. Die der Vorschrift zugrundeliegende Vermutung, erneut von einer Verfolgung wie der bereits erlittenen bedroht zu sein, beruht wesentlich auch auf der Vorstellung, dass eine Verfolgungswiederholung – bei gleichbleibender Ausgangssituation – aus tatsächlichen Gründen naheliegt (BVerwG, Urt. v. 27.04.2010 – 10 C 4.09, Rn. 31). Wenn nun in der Art und Weise der betreffenden Vorverfolgung liegende tatsächliche Gründe eine Verfolgungswiederholung auch bei gleichbleibender Ausgangssituation gerade nicht nahelegen, dann wird der Sinn und Zweck der Vorschrift auch bei unveränderter Sachlage nicht erfüllt.
41 Dabei ist jedoch zu sehen, dass eine Vorverfolgung nicht stets als in diesem Sinne „zufällig“ und ohne inneren Zusammenhang zu einer etwaigen künftigen Verfolgung einzustufen ist, wenn sie im Rahmen einer allgemeinen, latenten Gefahrenlage erfolgt, die für sich genommen noch keine hinreichende Gefahrendichte für den Betroffenen aufweist. Vielmehr kann eine erlittene Verfolgung in einem solchen Kontext grundsätzlich als ernsthafter Hinweis darauf gesehen werden, dass bei dem Betroffenen individuelle gefahrerhöhende Umstände vorliegen, die für ihn eine hinreichende Gefährdung begründen (vgl. in Bezug auf die insoweit vergleichbare Situation hinsichtlich des Betroffenseins von willkürlicher Gewalt bei dem Bestehen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts i.S.v. Art. 15 c) der Qualifikationsrichtlinie BVerwG, Urt. v. 27.04.2010 – 10 C 4.09, Rn. 31). Ein innerer Zusammenhang zwischen einer Vorverfolgung und einer etwaigen künftigen Verfolgung kann also nur dann fehlen dergestalt, dass ein stichhaltiger Grund i.S.v. Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie vorliegt, wenn nach den tatsächlichen Umständen des Einzelfalls feststeht, dass die Vorverfolgung nicht (auch) auf einem Umstand beruht, der für den Betroffenen aufgrund der allgemeinen Gefahrenlage eine Gefahrverdichtung begründet. Anderenfalls könnte ein stichhaltiger Grund nur dann angenommen werden, wenn dieser Umstand nachträglich entfallen ist oder aufgrund geänderter Rahmenbedingungen nicht mehr zu einer erhöhten Gefährdung führt.
42 Nach diesen Vorgaben sind vorliegend stichhaltige, die Wiederholungsträchtigkeit entkräftende Gründe gegeben Ein innerer Zusammenhang zwischen Vorverfolgung und künftiger Verfolgung fehlt. Die von dem Kläger berichteten Vorfälle haben ihn als zufälliges Opfer im Rahmen des allgemeinen Lebensrisikos ereilt. Weder durch den Vorfall selbst, noch aufgrund der ihn bedingenden Umstände ist eine Gefahrerhöhung gegeben, die weitere Angriffe wahrscheinlicher machen würden als dies aufgrund der allgemeinen Sicherheitslage der Fall wäre.
43 Es ist insbesondere nicht davon auszugehen, dass in der Person des Klägers individuelle Gründe vorliegen, die ihn im Vergleich zu anderen in der Region Kurdistan-Irak lebenden Christen als besonders gefährdet erscheinen ließen. Es ist nicht ersichtlich, dass die von dem Kläger angegebenen Vorfälle zielgerichtet auf ihn gerichtet gewesen wären. Auch für das Vorliegen persönlicher Gefährdungsmerkmale fehlen jegliche Anhaltspunkte. Namentlich ist keine etwaige öffentliche Betätigung des Klägers als Christ zu erkennen, welche ihn verstärkt zum Ziel von religiös motivierten Übergriffen machen könnte. Auch sonstige gefahrerhöhende Merkmale wie – ausweislich der Erkenntnismittel – das Führen eines Lebensmittelgeschäfts, in dem auch Alkohol verkauft wird, sind vorliegend weder aus dem Vortrag des Klägers noch sonst ersichtlich.
44 Hinzu kommt, dass der Kläger angegeben hat, der Angriff sei so abgelaufen, dass zunächst sein Geld entwendet worden sei, was zumindest zunächst ein kriminelles Motiv – und kein religiöses – nahelegt. Zwar spricht der Umstand, dass er sodann als „Ungläubiger“ einen Spruch zu seiner Bekehrung zum Islam habe aufsagen sollen, dafür, dass jedenfalls die Weiterungen des Überfalls durchaus religiös motiviert gewesen sind. Der Anlass für den Überfall war aber offenbar nicht in der Glaubensüberzeugung des Klägers, sondern in anderen Umständen zu finden. Ein solcher Überfall würde sich also nur dann wiederholen, wenn erneut der Kläger zunächst allgemein – etwa durch Kriminelle – angegangen würde, die ihn sodann zudem auch wegen seines Glaubens bedrohen würden. Nachdem gefahrerhöhende Umstände, die ihn voraussichtlich verstärkt zu dem Opfer eines kriminellen oder auch sonstigen Angriffs machen würden, fehlen, stellen sich erlittene Verfolgungsmaßnahmen auf der Grundlage der nach den Erkenntnismitteln ersichtlichen Situation in der Region Kurdistan-Irak als zufällig und nicht Teil einer erhöhten Gefährdungslage dar, sondern vielmehr als Ausdruck des allgemeinen Lebensrisikos.
45 Ein innerer Zusammenhang zwischen dem berichteten Vorfall und einem etwaigen erneuten Vorfall ist damit nicht gegeben. Es ist weder mit einem Wiederaufleben der ursprünglichen Verfolgung – also des konkreten Angriffs, der ja bereits vor der Ausreise beendet war – zu rechnen, noch besteht das erhöhte Risiko der Wiederholung einer gleichartigen Verfolgung. Die Gefahr, die für den Kläger nach einer Rückkehr in den Irak besteht, entspricht somit derjenigen, in der sich die örtliche (christliche) Bevölkerung allgemein befindet, ohne dass sich aus den Vorfällen, von denen der Kläger berichtet hat, oder den diesen ggf. zugrundeliegenden Umständen eine (individuelle) Erhöhung dieser Gefahr ergeben würde.
46 Ohne die somit nicht anwendbare Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie ist eine Verfolgung des Klägers nicht als beachtlich wahrscheinlich anzusehen. Dies würde nach der oben anhand der Erkenntnismittel nachgezeichneten Sicherheitslage in der Herkunftsregion des Klägers nämlich voraussetzen, dass besondere gefahrerhöhende Merkmale für den Kläger vorhanden sind. Wie bereits festgestellt wurde, sind solche aber weder aus den erlittenen Überfällen oder ihren Begleitumständen, noch sonst – etwa aus einer besonders gefahrenträchtigen beruflichen Tätigkeit – abzuleiten.
47 c) Im Übrigen wäre dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft jedenfalls gemäß § 3e Abs. 1 AsylG nicht zuzuerkennen. Er wäre nämlich auf internen Schutz in einer anderen Gegend der Region Kurdistan-Irak – insbesondere etwa in dem christlichen Viertel Ankawa in Erbil – zu verweisen.
48 Interner Schutz schließt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus, und zwar dann, wenn der Ausländer in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung im vorbeschriebenen Sinne hat und der Ausländer sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt, § 3e Abs. 1 AsylG.
49 Ob die Voraussetzungen dafür vorliegen, dass vernünftigerweise erwartet werden kann, sich an einem Ort als interne Schutzalternative niederzulassen (§ 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG), bedarf der Prüfung im Einzelfall unter Berücksichtigung objektiver Gesichtspunkte (darunter insbesondere die wirtschaftlichen und humanitären Verhältnisse einschließlich der Gesundheitsversorgung sowie die Sicherheitslage am Ort des internen Schutzes) und subjektiver Umstände (etwa Alter, Geschlecht, familiärer und biographischer Hintergrund einschließlich einer ggf. bestehenden Vorverfolgungssituation, Gesundheitszustand, finanzielle Situation bezogen auf Vermögen und Erwerbsmöglichkeiten sowie Leistungen aus Hilfsangeboten für Rückkehrer, Fähigkeiten/Ausbildung/Berufserfahrung, das Vorhandensein von tragfähigen Beziehungen/Netzwerken am Ort des internen Schutzes, Kenntnisse zumindest einer der am Ort des internen Schutzes gesprochenen Sprache, sowie ggf. auch die Volkszugehörigkeit u.a., VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 16.10.2017 – A 11 S 512/17, Rn. 80 über juris).
50 Interner Schutz scheidet demnach jedenfalls aus, wenn die Situation am vermeintlichen Schutzort einen Verstoß gegen § 4 Abs. 1 AsylG oder Art. 3 EMRK bedeuten würde (VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 16.10.2017 – A 11 S 512/17, Rn. 85 f. über juris). Ausgehend von diesen Mindestanforderungen bietet ein verfolgungssicherer Ort erwerbsfähigen Personen das wirtschaftliche Existenzminimum in aller Regel dann, wenn sie dort, sei es durch eigene, notfalls auch wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit, die grundsätzlich zumutbar ist, oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen können. Zu den danach zumutbaren Arbeiten gehören auch Tätigkeiten, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen, etwa weil sie keinerlei besondere Fähigkeiten erfordern, und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs, beispielsweise in der Landwirtschaft oder auf dem Bausektor, ausgeübt werden können (BVerwG, Urt. v. 01.02.2007 – 1 C 24.06, Rn. 11 über juris; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 16.10.2017 – A 11 S 512/17, Rn. 87 über juris). So soll die Gewährleistung dieser Lebensbedingungen verhindern, dass der Betroffene sich letztlich gezwungen sieht, doch wieder seine Herkunftsregion aufzusuchen und sich damit gerade den Gefährdungen auszusetzen, wegen derer er zuvor auf die Möglichkeit internen Schutzes verwiesen worden war. Die entsprechenden Anforderungen dienen damit der Wahrung von Art. 33 der Genfer Flüchtlingskonvention. Denn dieser verbietet Maßnahmen, die in irgendeiner Weise zu Refoulementgefahren führen, also gerade auch die Rückführung in unsichere Gebiete und Gebiete, in denen unzumutbare Lebensbedingungen bestehen (VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 16.10.2017 – A 11 S 512/17, Rn. 89 f. über juris).
51 Ausgehend von diesen Maßstäben ist eine solche interne Schutzalternative vorliegend gegeben.
52 Zum einen ist das Gericht davon überzeugt, dass der Kläger in Erbil vor Verfolgung sicher wäre. Aus den vorliegenden Erkenntnismitteln ergibt sich, dass in Ankawa, einem Stadtteil von Erbil, ein sicheres Leben für Angehörige der christlichen Minderheit möglich ist, nachdem dies in den vergangenen 15 Jahren der Fall gewesen ist (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 02.03.2020, S. 18 f.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, Gesamtaktualisierung vom 17.03.2020, S. 83; Auswärtiges Amt, Antwort an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, 21.07.2017, S. 3; EASO COI Meeting Report Iraq – Practical Cooperation Meeting 25-26 April 2017 Brussels, Juli 2017, S. 17; United States Commission on international religious freedom – Wilting in the kurdish sun – The hopes and fears of religious minorities in northern Iraq, Mai 2017, S. 17; Deutschlandfunk, Christen im Irak – Kampf ums Überleben, 08.02.2017).
53 Nach dem Vortrag des Klägers ist auch davon auszugehen, dass er tatsächlichen und legalen Zugang zu der Stadt Erbil hätte. Nach seinen Angaben lebt namentlich seine Schwester dort, sodass insbesondere auch ein familiärer Kontakt vorhanden ist. Zudem hat der Kläger selbst sich längere Zeit in Zakho aufgehalten, mithin also auch generellen Zugang zu der Region Kurdistan-Irak gehabt. Anhaltspunkte dafür, dass ihm in Abweichung davon nunmehr kein Zugang mehr möglich sein sollte, sind weder aus dem Vortrag des Klägers noch sonst ersichtlich.
54 Eine Niederlassung in Erbil wäre dem Kläger auch zumutbar. Es ist nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass er dort in eine gegen Art. 3 EMRK verstoßende Lage geraten würde.
55 Nach den vorliegenden Erkenntnismitteln ist die Versorgungslage nicht nur allgemein im Irak, sondern namentlich auch in der Region Kurdistan-Irak angespannt. Die öffentliche Stromversorgung ist häufig unterbrochen, die Versorgung mit Mineralöl ist unzureichend, die maroden Wasserleitung bedingen eine hohe Seuchengefahr und die medizinische Versorgung ist – trotz generell guter Qualifikation der Ärzte und des Krankenhauspersonals – ebenfalls nicht zufriedenstellend (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 02.03.2020, S. 25 f.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, Gesamtaktualisierung vom 20.11.2018, letzte Kurzinformation eingefügt am 09.04.2019, S. 108 ff.). Im gesamten Irak leben ungefähr 4,1 Millionen Menschen, die auf humanitäre Hilfe angewiesen sind (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 02.03.2020, S. 6). Etwa ein Drittel der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze von 2 US-Dollar pro Tag (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, Gesamtaktualisierung vom 24.08.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 18.05.2018, S. 164). Ferner sind die Lebensbedingungen eines großen Teils der städtischen Bevölkerung prekär, ohne ausreichenden Zugang zu Basis-Dienstleistungen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 02.03.2020, S. 25).
56 Ungefähr 4,1 Millionen Menschen im Irak und damit etwa acht bis zehn Prozent der Bevölkerung sind auf humanitäre Hilfe angewiesen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 02.03.2020, S. 5). Etwa ein Drittel lebt unterhalb der Armutsgrenze (Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, Gesamtaktualisierung am 24.08.2017, letzte Kurzinformationen eingefügt am 18.05.2018, S. 165). Trotz einer somit gegebenen großen Bedürftigkeit gerade von Binnenflüchtlingen hat ein Großteil der Bevölkerung keinen Zugang zu humanitärer Hilfe (UK Home Office, Country Policy and Information Note Iraq: Security and humanitarian situation, November 2018, S. 31 ff.). Im gesamten Land leben 29 Prozent der Binnenflüchtlingen – von denen sich die meisten in den Regionen Ninewa und Dohuk befinden – in Lagern (UK Home Office, Country Policy and Information Note Iraq: Security and humanitarian situation, November 2018, S. 8). Der Irak besitzt kaum eigene Industrie jenseits des Ölsektors; Hauptarbeitgeber ist der Staat (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 12.01.2019, S. 24 f.). Die Arbeitslosenquote von Binnenvertriebenen in den Kurdengebieten wird mit ca. 70 Prozent angegeben (UK Home Office, Country Policy and Information Note Iraq: Security and humanitarian situation, November 2018, S. 13). Wegen Günstlings- und Vetternwirtschaft hat diese Bevölkerungsgruppe der Vertriebenen deutliche Nachteile auf dem Arbeitsmarkt gegenüber Ortsansässigen bzw. alteingesessenen ältere Arbeitnehmern (UK Home Office, Country Policy and Information Note Iraq: Security and humanitarian situation, November 2018, S. 13). Ohne soziales Netz werden Rückkehrern in der Region Kurdistan-Irak auf verschiedenen Ebenen erheblichen Schwierigkeiten begegnen (Danish Immigration Service, Landinfo Northern Iraq, November 2018, S. 39).
57 Gemessen an den irakischen Verhältnissen ist die humanitäre Lage in Kurdistan-Irak eher unterdurchschnittlich. Kurdistan-Irak hat insgesamt ca. 30 % aller Binnenflüchtlinge aufgenommen (UK Home Office, Country Policy and Information Note Iraq: Security and humanitarian situation, November 2018, S. 8 und 20). Personen ohne familiäres Hilfsnetzwerk in der Region Kurdistan-Irak haben nur begrenzte Chancen auf eine Unterkunft; selbst eine Aufnahme in einem der (stark belegten) Flüchtlingslager kann nicht ohne Weiteres erwartet werden (UK Home Office, Country Policy and Information Note Iraq: Security and humanitarian situation, November 2018, S. 12).
58 Vor dem Hintergrund der so nachgezeichneten Situation ist es jedoch aufgrund der Umstände des vorliegenden Falles nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger in eine gegen Art. 3 EMRK verstoßende Lage geraten würde. So hat er nach eigenen Angaben in Zakho – wo er sich zuletzt aufgehalten hat – gearbeitet und ein existenzsicherndes Einkommen gehabt. Zudem verfügt er in Erbil über familiäre Kontakte. Der Kläger ist daher nicht der von der humanitären Lage besonders betroffenen Gruppe derjenigen Personen zuzurechnen, die als Binnenvertrieben völlig von der Unterstützung Dritter abhängig wären. So sind keine Anhaltspunkte dafür erkennbar, dass der Kläger nach einer Rückkehr und Niederlassung in der Region Kurdistan-Irak bzw. in Erbil anders als zuvor in Zakho als gesunder, junger Mann keine Erwerbstätigkeit ausüben könnte und keine Unterkunft finden würde.
II.
59 Die Klage ist in dem ersten Hilfsantrag ebenfalls als Verpflichtungsklage statthaft und zulässig, aber auch unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG.
1.
60 Gem. § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Heimatland ein ernsthafter Schaden droht. Nach Satz 2 gilt als ernsthafter Schaden 1. die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, 2. Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder 3. eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts. In diesem Rahmen sind gem. § 4 Abs. 3 AsylG die §§ 3c bis 3e AsylG entsprechend anzuwenden.
2.
61 Hinsichtlich des Prognosemaßstabs ist der bereits oben dargelegte Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen. Eine konkrete Gefahr eines ernsthaften Schadens i.S.v. § 4 Abs. 1 AsylG liegt nicht vor.
62 a) Insoweit wird zunächst auf die zu der Begründetheit des Hauptantrags genannten Gesichtspunkte verwiesen. Es ist demnach nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass der Kläger – sei es aus religiösen Gründen oder als Opfer allgemeiner Kriminalität – einen Überfall oder einen sonstigen ähnlichen Angriff erleiden würde, der dem von § 4 Abs. 1 AsylG vorausgesetzten Maßstab entsprechen würde.
63 b) Der Kläger hat daneben auch keinen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes wegen einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit seiner Person infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konfliktes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG. Die skizzierte Sicherheitssituation in der Provinz Dohuk sowie speziell in Zakho lässt nicht den Schluss zu, dass dort ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG herrscht. Zudem fehlt es mangels anderweitiger Anhaltspunkte auch insoweit an einer hinreichend wahrscheinlichen individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit des Klägers infolge willkürlicher Gewalt.
64 c) Dem Kläger droht auch insbesondere keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG i. V. m. Art. 3 EMRK wegen der allgemeinen humanitären Lage in Zakho als dem Ort, an dem er sich bei einer Rückkehr in den Irak voraussichtlich wieder niederlassen würde. Zwar kann die allgemeine humanitäre Lage an dem Ort, an dem sich der Ausländer voraussichtlich niederlassen wird, ausnahmsweise und unter engen Voraussetzungen eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK darstellen (VG Berlin, Urt. v. 26.07.2018 – 29 K 377.17 A, Rn. 34 über juris m.w.N.). Jedoch muss die schlechte humanitäre Lage dazu auf einen Akteur i.S.v. § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i. V. m. § 3c AsylG zurückzuführen sein (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 17.01.2018 – A 11 S 241/17, Rn. 168 ff. über juris).
65 Die humanitäre Lage ist in der Region Kurdistan-Irak insgesamt – wie oben anhand der Erkenntnismittel nachgezeichnet – schwierig. Das gilt nicht nur für Erbil, sondern gleichermaßen auch für Zakho. Hinweise dafür, dass diese Situation einem in Betracht kommenden Akteur direkt oder indirekt anzulasten wäre, sind aus den vorliegenden Erkenntnismitteln indes keine ersichtlich.
III.
66 Die Klage ist auch hinsichtlich des zweiten Hilfsantrags als Verpflichtungsklage statthaft und zulässig, jedoch insoweit ebenfalls unbegründet. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen nicht vor.
67 Diesbezüglich wird zunächst gemäß § 77 Abs. 2 AsylG auf die Begründung des angefochtenen Bescheids Bezug genommen. Wie auch bereits bei der Prüfung der Ansprüche auf Zuerkennung internationalen Schutzes dargelegt, hat sich die sehr schwierige Versorgungslage und wirtschaftliche Situation weiter Teile der Bevölkerung im Irak und namentlich auch in der Region Kurdistan-Irak ausweislich der dem Gericht vorliegenden Erkenntnismittel auch während der Dauer des gerichtlichen Verfahrens nicht entscheidend gebessert. Dennoch ist das Gericht davon überzeugt, dass sich der gesunde und arbeitsfähige Kläger, der nach eigenen Angaben im Irak auch bis zuletzt erwerbstätig gewesen ist sowie noch über (wenn auch nur noch in Person der erkrankten Mutter sowie der in Erbil lebenden Schwester) familiäre Anbindung verfügt, jedenfalls das erforderliche Existenzminimum sichern bzw. erwirtschaften können würde.
IV.
68 Im Übrigen ist die Klage als Anfechtungsklage, gerichtet auf Aufhebung der Ziffern 4 und 5 des angefochtenen Bescheids, statthaft. Der vierte Hilfsantrag, demnach die Verpflichtung der Beklagten zur Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf „Null“ begehrt wird, ist in Anwendung des § 88 VwGO ebenfalls als Anfechtungsantrag auszulegen (vgl. zu dem in diesen Konstellationen statthaften Rechtsschutz Dollinger, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 11 AufenthG Rn. 133). Die Klage ist auch insoweit zulässig, aber unbegründet.
69 Die Abschiebungsandrohung ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Sie findet ihre Rechtsgrundlage in § 34 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG. Die Ausreisefrist von 30 Tagen folgt aus § 38 Abs. 1 AsylG.
70 Auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung ist rechtmäßig. Insbesondere kann in einer behördlichen Befristungsentscheidung regelmäßig der konstitutive Erlass eines befristeten Einreiseverbots gesehen werden (vgl. BVerwG, Urt. v. 21.08.2018 – 1 C 21.17, juris Rn. 25; Beschl. v. 13.07.2017 – 1 VR 3.17, juris Rn. 72; Urt. v. 27.07.2017 – 1 C 28.16, juris Rn. 42). Die dafür erforderliche Rechtsgrundlage findet sich nunmehr in § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG, der die nach Art. 3 Nr. 6 und Art. 11 Abs. 1 Richtlinie 2008/115/EG unionsrechtliche Voraussetzung einer behördlichen Entscheidung über die Verhängung eines Einreiseverbotes nun übernimmt (Reg.E. BT-Drs. 19/10047, S. 31, 1. Abs.). Schutzwürdige Belange, die eine kürzere Frist oder ein Absehen von der Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots rechtfertigen würden, sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
V.
71 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei gemäß § 83b AsylG.
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Tenor
1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Nienburg vom 05.12.19 – 2 Ca 286/19 – wird kostenpflichtig zurückgewiesen.
2. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über tarifliche Nachtzuschläge für Schichtarbeit.
2
Der Kläger ist bei der Beklagten beschäftigt. Für das Arbeitsverhältnis gilt kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit ua. der Manteltarifvertrag für die obst- und gemüseverarbeitende Industrie, Fruchtsaftindustrie, Mineralbrunnenindustrie Niedersachsen/B-Stadt vom 23.08.2005 (im Folgenden: MTV).
3
Der MTV, in Kraft getreten am 01.09.2005 (§ 15 Abs. 1 MTV), lautet auszugsweise - soweit für den vorliegenden Rechtsstreit von Interesse – wie folgt:
4
„§ 4
Alters- und Schichtfreizeit
…
2. Schichtfreizeit (Geltung nur für Arbeitnehmer in Unternehmen gem. § 1 Ziff. 2a)
Arbeitnehmer, die ständig im Drei-Schicht-Wechsel arbeiten, erhalten für je 25 geleistete Nachtschichten in diesem System eine Freischicht.
…
§ 5
Mehrarbeit, Nacht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit
1. Begriffsbestimmung
…
c) Nachtarbeit
Nachtarbeit ist die in der Zeit von 21.00 Uhr bis 6.00 Uhr geleistete Arbeit, soweit es sich nicht um Schichtarbeit handelt.
…
2. Zuschläge
Für Mehrarbeit, Nachtarbeit, Schichtarbeit in der Nacht, Sonntags- und Feiertagsarbeit sind folgende Zuschläge zu zahlen:
a) Für Mehrarbeit 25%
ab der 3. Mehrarbeitsstunde am Tage 30%
…
b) für Nachtarbeit 50 %
c) für Schichtarbeit von 22.00 Uhr bis 6.00 Uhr 25 %
…
3. Berechnung der Zuschläge
…
b) Beim Zusammentreffen mehrerer Zuschläge ist nur der jeweils höhere zu zahlen.
Hiervon ausgenommen ist der Zuschlag für Schichtarbeit (§ 5 Abs. 2 c). Dieser Zuschlag ist auch bei Zusammentreffen mit anderen Zuschlägen zu zahlen.
…
§ 14
Ausschlussfrist
Gegenseitige Ansprüche aller Art aus dem Beschäftigungsverhältnis sind innerhalb einer Ausschlussfrist von 3 Monaten ab Entstehen des Anspruches geltend zu machen. (…)
…“
5
Der Kläger ist bei der Beklagten in Wechselschichtarbeit eingesetzt. Soweit er Schichtarbeit von 22:00 Uhr bis 6:00 Uhr leistet, zahlt ihm die Beklagte den Zuschlag in Höhe von 25 % gemäß § 5 Ziff. 2 c) MTV. Daneben zahlt die Beklagte an Arbeitnehmer, die im 4-Schichtsystem arbeiten eine übertarifliche Zulage.
6
Mit Schreiben vom 26.04.2019 machte der Kläger Differenzansprüche zu dem 50%igen Zuschlag für Nachtarbeit nach § 5 Ziff. 2 b) MTV geltend.
7
Der Kläger hat – zusammengefasst - die Auffassung vertreten, die Differenzierung bei der Zuschlagshöhe zwischen Nachtarbeit und Schichtarbeit von 22:00 Uhr bis 6:00 Uhr sei gleichheitswidrig. Nachtarbeit sei nach den arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen in jeder Form für Arbeitnehmer belastend und führe zu einer biologischen und sozialen Desynchronisation. Es sei kein Grund ersichtlich, warum die Arbeitnehmer in Schichtarbeit nur die Hälfte des Zuschlags erhalten als die Arbeitnehmer, die zwar auch Nachtarbeit, aber ohne Schichtarbeit verrichten. Da eine Anpassung „nach oben“ zu erfolgen habe, könne er für Nachtschichtarbeit den tariflichen Zuschlag von 50 % verlangen.
8
Der Kläger hat beantragt,
9
1. die Beklagte zu verurteilen, an ihn für den Abrechnungszeitraum 01.01.2019 bis 31.01.2019 einen Betrag in Höhe von 227,67 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.02.2019 zu zahlen.
10
2. Die Beklagte zu verurteilen, an ihn für den Abrechnungszeitraum 01.02.2019 bis 28.02.2019 einen Betrag in Höhe von 142,49 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.03.2019 zu zahlen.
11
3. Die Beklagte zu verurteilen, an ihn für den Abrechnungszeitraum 01.03.2019 bis 31.03.2019 einen Betrag in Höhe von 135,60 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.04.2019 zu zahlen.
12
4. Die Beklagte zu verurteilen, an ihn für den Abrechnungszeitraum 01.04.2019 bis 30.04.2019 einen Betrag in Höhe von 121,16 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.05.2019 zu zahlen.
13
5. Die Beklagte zu verurteilen, an ihn für den Abrechnungszeitraum 01.05.2019 bis 31.05.2019 einen Betrag in Höhe von 151,38 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.06.2019 zu zahlen.
14
6. Die Beklagte zu verurteilen, an ihn für den Abrechnungszeitraum 01.06.2019 bis 30.06.2019 einen Betrag in Höhe von 151,50 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.07.2019 zu zahlen.
15
7. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihm ab dem 01.07.2019 Nachtarbeitszuschläge des Manteltarifvertrags der obst- und gemüseverarbeitenden Industrie, Fruchtsaftindustrie, Mineralbrunnenindustrie Niedersachsen/B-Stadt in der Fassung vom 23.08.2005 für zwischen 21:00 Uhr und 6:00 Uhr geleistete „Schichtarbeit“ im Sinne des § 5 Ziffer 2 c) des Manteltarifvertrags in gleicher Höhe zu gewähren, wie für „Nachtarbeit“ im Sinne des § 5 Ziffer 2 b) des Manteltarifvertrags.
16
Die Beklagte hat beantragt,
17
die Klage abzuweisen.
18
Sie hat – zusammengefasst - die Auffassung vertreten, die Differenzierung zwischen den Zuschlägen für Nachtarbeit und Nachtschichtarbeit sei nicht gleichheitswidrig. Der Zuschlag für Nachtarbeit im Tarifsinne setze sich tatsächlich aus einem Zuschlag für Nachtarbeit in Höhe von 25 % und einem Zuschlag für Mehrarbeit in Höhe von 25 % zusammen, da sonstige ungeplante Nachtarbeit im Regelfall nur nach der üblichen Arbeitszeit anfalle, weil beispielsweise nach Schichtende verderbliche Rohstoffe noch verarbeitet werden müssten oder einer Havarie vorliege. Zudem würde die Erhöhung der Zuschläge für Nachtschichtarbeit auf 50% einen unzulässigen Eingriff der Gerichtsbarkeit in den tariflichen Gesamtzusammenhang darstellen.
19
Mit Urteil vom 05.12.2019 hat das Arbeitsgericht die Klage abgewiesen, im Wesentlichen mit folgender Begründung: Dem Kläger stehe gegen die Beklagte kein Zuschlag in Höhe von 50% aufgrund eines Verstoßes gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG zu. Die Tarifvertragsparteien hätten mit der für Nachtarbeitszuschläge vorgenommenen Gruppenbildung den ihnen zustehenden weiten Gestaltungsspielraum nicht überschritten. Neben dem Gesichtspunkt der Gesundheitsgefährdung hätten die Tarifvertragsparteien bei der Höhe des Zuschlags ersichtlich auch darauf abgestellt, ob die Nachtarbeit für die Arbeitnehmer planbar ist und sich diese darauf einstellen können. Dem Ergebnis stehe auch die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 21. März 2018 – 10 AZR 34/17 – nicht entgegen. Die in diesem Verfahren zu bewertende Tariflage unterscheidet sich deutlich von der vorliegenden.
20
Gegen das dem Kläger am 20.12.2019 zugestellte Urteil richtet sich die am 20.01.2020 beim Landesarbeitsgericht eingegangene Berufung, die am 27.03.2020, innerhalb der bis zum 31.03.2020 verlängerten Berufungsbegründungsfrist, unter Wiederholung und Vertiefung des erstinstanzlichen Vortrags im Wesentlichen wie folgt begründet wurde:
21
Nach Auffassung des Klägers habe das Arbeitsgericht unzutreffend und entgegen der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 21. März 2018 – 10 AZR 34/17 - den Anspruch aus Art. 3 Abs. 1 GG auf einen Zuschlag in Höhe von 50% abgelehnt. Neben der unterschiedlichen Bemessung der Höhe des Nachtzuschlags bestehe die Ungleichbehandlung der Nachtschichtarbeitnehmer im Weiteren darin, dass der Zuschlagzeitraum nach der tariflichen Regelung für Nachtschichtarbeit gegenüber der Nachtarbeit um eine Stunde gekürzt ist. Nachtarbeit sei nach gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen grundsätzlich für jeden Menschen und in jeder Form schädlich und führe zu einer biologischen und sozialen Desynchronisation. Eine Regelung, die Arbeitnehmer, die in einem besonders hohen Umfang Nachtarbeit leisten, erheblich schlechter stelle als Arbeitnehmer, die weniger Nachtarbeit leisten, diene nicht dem Gesundheitsschutz, sondern wirke sich wie ein Mengenrabatt für den Arbeitgeber aus, der Nachtarbeit in großem Umfang anordne. Die möglicherweise vorhandene Planbarkeit regelmäßiger Nachtarbeit bedeute keine geringere Belastung. Anhaltspunkte dafür, dass unregelmäßige Nachtarbeit im Tarifsinn nur kurzfristig und für den Arbeitnehmer überraschend vorkomme, ergeben sich aus dem Tarifvertrag nicht. Entgegen der Ansicht des Arbeitsgerichts hätten die Tarifvertragsparteien mit der für die Nachtarbeitszuschläge vorgenommenen Gruppenbildung den ihnen zustehenden Gestaltungsspielraum überschritten. Dem Gleichheitsgrundsatz könne auf der Rechtsfolgenseite nur dadurch Rechnung getragen werden, dass Nachtschichtarbeitnehmer ebenso behandelt werden wie Arbeitnehmer, die im gleichen Zeitraum Nachtarbeit außerhalb eines Schichtsystems erbracht haben. Der Feststellungsantrag sei zulässig. Mit dem Geltendmachungsschreiben und der Klage habe er hinreichend deutlich zu erkennen gegeben, dass er auch für die Zukunft den Zuschlag in Höhe von 50 % begehre. Ein wiederholter Hinweis würde keinen zusätzlichen Erkenntnisgewinn bringen.
22
Der Kläger beantragt,
23
das Urteil des Arbeitsgerichts Nienburg vom 05.12.2019 - 2 Ca 286/19 - abzuändern und
24
1. die Beklagte zu verurteilen, an ihn für den Abrechnungszeitraum 01.01.2019 bis 31.01.2019 einen Betrag in Höhe von 227,67 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.02.2019 zu zahlen.
25
2. Die Beklagte zu verurteilen, an ihn für den Abrechnungszeitraum 01.02.2019 bis 28.02.2019 einen Betrag in Höhe von 142,49 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.03.2019 zu zahlen.
26
3. Die Beklagte zu verurteilen, an ihn für den Abrechnungszeitraum 01.03.2019 bis 31.03.2019 einen Betrag in Höhe von 135,60 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.04.2019 zu zahlen.
27
4. Die Beklagte zu verurteilen, an ihn für den Abrechnungszeitraum 01.04.2019 bis 30.04.2019 einen Betrag in Höhe von 121,16 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.05.2019 zu zahlen.
28
5. Die Beklagte zu verurteilen, an ihn für den Abrechnungszeitraum 01.05.2019 bis 31.05.2019 einen Betrag in Höhe von 151,38 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.06.2019 zu zahlen.
29
6. Die Beklagte zu verurteilen, an ihn für den Abrechnungszeitraum 01.06.2019 bis 30.06.2019 einen Betrag in Höhe von 151,50 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.07.2019 zu zahlen.
30
7. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihm ab dem 01.07.2019 Nachtarbeitszuschläge des Manteltarifvertrags der obst- und gemüseverarbeitenden Industrie, Fruchtsaftindustrie, Mineralbrunnenindustrie Niedersachsen/B-Stadt in der Fassung vom 23.08.2005 für zwischen 21:00 Uhr und 6:00 Uhr geleistete „Schichtarbeit“ in gleicher Höhe zu gewähren, wie für „Nachtarbeit“ im Sinne des § 5 Ziffer 2 b) des Manteltarifvertrags.
31
Die Beklagte beantragt,
32
die Berufung zurückzuweisen.
33
Die Beklagte verteidigt unter Wiederholung und Vertiefung der erstinstanzlichen Ausführungen das arbeitsgerichtliche Urteil. Die Berufung genüge nicht den Anforderungen an die Berufungsbegründung gemäß § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 ZPO. Sie sei jedenfalls unbegründet. Der Zuschlag für Nachtarbeit und für Nachtschichtarbeit sei das Ergebnis tarifautonomer Verhandlungen, die auf Augenhöhe zwischen den Tarifvertragsparteien geführt worden seien. Die Differenzierung bei der Zuschlagshöhe halte sich in dem den Tarifvertragsparteien eingeräumten weiten Gestaltungsspielraum. Ungeachtet dessen, dass den Kläger die Darlegungs- und Beweislast dafür treffe, dass kein Sachgrund für die Differenzierung zwischen Nachtarbeit und Nachtschichtarbeit gegeben sei, sei ua. zu berücksichtigen, dass der Zuschlag für unregelmäßige Nachtarbeit nicht nur die Erschwernisse für die Arbeit in der Nacht ausgleiche, sondern auch einen Ausgleich für die kurzfristige Einbuße der Dispositionsmöglichkeiten über die Freizeit schaffe. Hierin sei ein gravierender Unterschied zwischen der Nachtschichtarbeit und der Nachtarbeit zu sehen. Die planbare Nachtschichtarbeit sei im MTV als Regelfall und die sonstige Nachtarbeit als Ausnahmefall ausgestaltet. Zudem erhielten nur die Nachtschichtarbeitnehmer die Freischicht nach § 4 Ziff. 2 Abs. 1 MTV. Die unregelmäßige Nachtarbeit stelle fast immer auch Mehrarbeit dar, so dass sich der Zuschlag für Nachtarbeit tatsächlich aus einem Zuschlag für Nachtarbeit und einem Mehrarbeitszuschlag zusammensetze. Auch führe ein Verstoß der Zuschlagsregelungen gegen Art. 3 Abs. 1 GG nicht dazu, dass eine Anpassung nach oben zu erfolgen habe. Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 21. März 2018 – 10 AZR 34/17 – sei auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar. Der Feststellungsantrag sei unzulässig.
34
Wegen des weiteren Sach- und Rechtsvortrags der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
I.
35
Die nach § 64 Abs. 1 und 2 ArbGG statthafte Berufung ist gemäß § 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG iVm. §§ 519, 520 ZPO zulässig. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und entgegen der Auffassung der Beklagten auch ordnungsgemäß nach § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 ZPO begründet worden.
36
Eine Berufungsbegründung muss gemäß § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 ZPO die Umstände bezeichnen, aus denen sich die Rechtsverletzung durch das angefochtene Urteil und deren Erheblichkeit für das Ergebnis der Entscheidung ergeben. Die Berufungsbegründung des Klägers genügt diesen Anforderungen. Das Arbeitsgericht hat ua. angenommen, dass die Tarifvertragsparteien mit der für Nachtarbeitszuschläge vorgenommenen Gruppenbildung den ihnen zustehenden weiten Gestaltungsspielraum nicht überschritten haben. Dem tritt der Kläger entgegen und trägt ua. vor, dass die Tarifvertragsparteien ihren Gestaltungsspielraum vor allem deshalb überschritten hätten, weil sie gesicherte arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse über die menschengerechte Gestaltung der Arbeit verkannt hätten. Die Berufungsbegründung befasst sich ua. auch damit, dass und warum nach Anschauung des Klägers das Urteil des Arbeitsgerichts nicht mit der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 21. März 2018 – 10 AZR 34/17 - in Übereinstimmung zu bringen ist. Da nur eine Auseinandersetzung mit der Begründung des Arbeitsgerichts verlangt wird, ist der von der Beklagten vorgebrachte Einwand, der Kläger habe zur Zuschlagshöhe nichts Substantielles vorgetragen, für die Zulässigkeit der Berufung nicht wesentlich.
II.
37
Die Berufung ist unbegründet. Zu Recht und mit zutreffender Begründung hat das Arbeitsgericht die Klage abgewiesen.
38
1. Die Klage ist zulässig.
39
a) Die bezifferten Zahlungsanträge sind für die streitgegenständlichen Monate als abschließende Gesamtklage zu verstehen. Mit diesem Verständnis sind sie hinreichend bestimmt iSd. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO.
40
b) Auch der Feststellungsantrag ist zulässig.
41
aa) Er ist hinreichend bestimmt iSd. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Der Kläger begehrt - zukunftsgerichtet ab dem Monat Juli 2019 und ohne zeitliche Einschränkung - für Nachtschichtarbeit einen Zuschlag in Höhe von 50%, wie er nach der Regelung in § 5 Ziff. 2 b) MTV für Nachtarbeit „soweit es sich nicht um Schichtarbeit handelt“ beansprucht werden kann. Der Feststellungsantrag reicht, wie der Klägervertreter in der Verhandlung am 08.10.2020 klargestellt hat, noch weiter. Neben der Anpassung der Höhe der Zuschläge für (Nacht)Schichtarbeit an Nachtarbeit begehrt der Kläger auch eine Anpassung in zeitlicher Hinsicht für die gesamte Zeit, die in § 5 Abs. 1 c) MTV als Nachtarbeit definiert ist und damit nicht nur für die (Nacht)Schichtarbeit von 22:00 Uhr bis 6:00 Uhr, sondern bereits ab 21:00 Uhr bis 6:00 Uhr.
42
Der Antrag ist entgegen der Auffassung der Beklagten nicht deshalb unbestimmt, weil sie unabhängig von dem Bestehen eines Arbeitsverhältnisses bzw. der Anwendbarkeit des MTV zur Zahlung des höheren Zuschlags verpflichtet wäre. Wie oben ausgeführt, ist der Antrag - hinreichend bestimmt – dahingehend zu verstehen, dass der Anspruch auf die höheren Zuschläge ohne zeitliche Einschränkung geltend gemacht wird. Die Beklagte spricht mit ihrem Einwand nicht die hinreichende Bestimmtheit des Klageantrags an, sondern die materielle Rechtskraft eines derartigen Feststellungstitels. Die Beendigung der Rechtskraft kommt aber jedenfalls bei Entscheidungen mit Dauerwirkung dann in Betracht, wenn sich die maßgeblichen tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse wesentlich ändern (vgl. BAG 6. Juni 2000 – 1 ABR 21/99 – Rn. 31). Sowohl die Beendigung des Arbeitsverhältnisses als auch Umstände, die zum Wegfall der Anwendbarkeit des MTV „in der Fassung vom 23.08.2005“ führen könnten, stellen eine wesentliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse dar, so dass die Gefahr der Verpflichtung der Beklagten zur Zahlung des höheren Zuschlags bei in tatsächlicher Hinsicht geänderten Umständen nicht besteht.
43
bb) Für den Feststellungsantrag besteht das nach § 256 Abs. 1 ZPO erforderliche Feststellungsinteresse. Der angestrebte feststellende Ausspruch ist trotz seiner nicht vollstreckbaren Wirkung geeignet, den Streit der Parteien über die Höhe des Nachtzuschlags unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung beizulegen und weitere Prozesse zwischen ihnen zu vermeiden (vgl. BAG 15. Dezember 2016 – 6 AZR 603/15 – Rn. 19).
44
Der Feststellungsantrag wahrt die Ausschlussfrist auch für erst zukünftig entstehende Ansprüche, so dass auch unter diesem Gesichtspunkt das Feststellungsinteresse nicht in Abrede gestellt werden kann. Soll ein Anspruch zur Wahrung einer tariflichen Ausschlussfrist geltend gemacht werden, so muss der Schuldner zur Erfüllung des Anspruchs aufgefordert werden (BAG 5. April 1995 – 5 AZR 961/93 – zu 2 b der Gründe). Dies ist mit der Zustellung der Klageschrift geschehen. Die Geltendmachung von Ansprüchen setzt zudem grundsätzlich voraus, dass die rechtserzeugenden Anspruchsvoraussetzungen bei der Geltendmachung erfüllt sind, dh. der Anspruch entstanden ist. Bei erst in der Zukunft entstehenden Ansprüchen ist diese Voraussetzung nicht gegeben. Eine Besonderheit liegt aber vor, wenn bei unveränderter rechtlicher und tatsächlicher Lage ein Anspruch aus einem bestimmten Sachverhalt hergeleitet werden kann. Dies ist der Fall, wenn ein bestimmter Anspruch jeweils aus einem ständig gleichen Grundtatbestand entsteht (vgl. BAG 16. Januar 2013 – 10 AZR 863/11 – Rn. 31). So liegt der Fall hier. Die Anzahl der zuschlagspflichtigen Nachtschichtstunden ist in den Entgeltabrechnungen ausgewiesen bzw. lässt sich ohne weiteres bestimmen. Die Parteien streiten dem Grunde nach nur darum, ob für Nachtschichtarbeit ein Zuschlag wie für Nachtarbeit nach § 5 Ziff. 2 b) iVm. § 5 Ziff. 1 c) MTV zu zahlen ist. Damit ist dem Zweck der Ausschlussfrist, dem Schuldner zeitnah Gewissheit zu verschaffen, mit welchen Ansprüchen er zu rechnen hat (vgl. BAG 16. Januar 2013 – 10 AZR 863/11 – Rn. 31), auch für die Zukunft genüge getan.
45
2. Die Klage ist unbegründet. Dem Kläger steht kein weiterer Zuschlag für geleistete Nachtschichtarbeit unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung zu. Dementsprechend hat der Kläger auch keinen Anspruch auf die begehrte Feststellung der Verpflichtung der Beklagten, für Nachtschichtarbeit Zuschläge in gleicher Höhe zu gewähren wie für Nachtarbeit.
46
a) Der Anspruch ergibt sich nicht aus § 5 Ziff. 2 b) MTV. Der Kläger leistet regelmäßig (Nacht)Schichtarbeit, so dass ihm nach der Regelung in § 5 Ziff. 2 c) MTV lediglich ein Zuschlag von 25 % zusteht. Dies steht zwischen den Parteien auch nicht im Streit.
47
b) Der Kläger hat keinen Anspruch darauf, mit Arbeitnehmern, die Nachtarbeit iSd. § 5 Ziff. 2 b) MTV leisten, gleich behandelt zu werden. Die von den Tarifvertragsparteien vorgenommene Differenzierung zwischen Nachtarbeit von 21:00 Uhr bis 6:00 Uhr, soweit es sich nicht um Schichtarbeit handelt, und Schichtarbeit von 22:00 Uhr bis 6:00 Uhr bei der Höhe der Zuschläge verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG, sie bewegt sich im Rahmen der den Tarifvertragsparteien zustehenden Einschätzungsprärogative.
48
aa) Nach der Rechtsprechung des BAG kommt den Tarifvertragsparteien als selbständigen Grundrechtsträgern aufgrund der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Sie haben eine Einschätzungsprärogative in Bezug auf die tatsächlichen Gegebenheiten und betroffenen Interessen. Bei der Lösung tarifpolitischer Konflikte sind sie nicht verpflichtet, die jeweils zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Vereinbarung zu treffen. Es genügt, wenn für die getroffene Regelung ein sachlich vertretbarer Grund besteht (BAG 21. März 2018 – 10 AZR 34/17 - Rn. 43).
49
Der Schutzauftrag des Art. 1 Abs. 3 GG verpflichtet die staatlichen Arbeitsgerichte dazu, die Grundrechtsausübung durch die Tarifvertragsparteien zu beschränken, wenn diese mit den Freiheits- oder Gleichheitsrechten oder anderen Rechten mit Verfassungsrang der Normunterworfenen kollidiert. Sie müssen insoweit praktische Konkordanz herstellen (BAG 19. Dezember 2019 – 6 AZR 563/18 – Rn. 21) und gleichheitswidrige Differenzierungen in Tarifnormen unterbinden (BAG 19. Dezember 2019 – 6 AZR 653/18 - Rn. 25).Dabei haben die Gerichte bei der Erfüllung ihres verfassungsrechtlichen Schutzauftrags in den Blick zu nehmen, dass eine besondere Form der Grundrechtskollision bewältigt und die durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistete kollektive Koalitionsfreiheit mit den betroffenen Individualgrundrechten in einen angemessenen Ausgleich gebracht werden muss. Bei der Prüfung, ob Tarifnormen Grundrechte oder andere Rechte der Arbeitnehmer mit Verfassungsrang verletzen, müssen die Gerichte nicht nur die besondere Sachnähe der Tarifvertragsparteien, sondern außerdem beachten, dass sich die Arbeitnehmer im Regelfall durch den Beitritt zu ihrer Koalition oder durch die vertragliche Bezugnahme auf einen Tarifvertrag, die die Tarifnormen zum Vertragsinhalt macht, bewusst und freiwillig der Regelungsmacht der Tarifvertragsparteien auch für die Zukunft unterworfen haben. Die Gerichte dürfen mithin nicht eigene Gerechtigkeitsvorstellungen an die Stelle von Bewertungen der zuständigen Koalitionen setzen (vgl. BAG 19. Dezember 2019 – 6 AZR 563/18 – Rn. 26).
50
bb) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat die Differenzierung bei der Höhe des Zuschlags in § 5 Ziff. 2 b) und c) MTV zwischen Nachtarbeit und Schichtarbeit von 22:00 Uhr bis 6:00 Uhr weiterhin Bestand. Sie verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG.
51
(1) Aus Art. 3 Abs. 1 GG folgt das Gebot, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Der MTV unterscheidet zwischen Nachtarbeit von 21:00 Uhr bis 6:00 Uhr, soweit es sich nicht um Schichtarbeit handelt (§ 5 Ziff. 2 b) iVm. Ziff. 1 c) MTV) und Schichtarbeit von 22:00 Uhr bis 6:00 Uhr (§ 5 Ziff. 2 c) MTV). Die Gruppe der Arbeitnehmer, die Schichtarbeit von 22:00 Uhr bis 6:00 Uhr leistet, ist mit der Gruppe, die Nachtarbeit leistet, vergleichbar. Dies ergibt sich daraus, dass beide Arbeitnehmergruppen ihre Arbeitsleistung innerhalb des in § 5 Ziff. 1 c) MTV tarifvertraglich als Nachtarbeit definierten Zeitraums von 21:00 Uhr bis 6:00 Uhr erbringen. Auch wenn der Wortlaut zunächst darauf hindeutet, dass mit der Zuschlagsregelung in § 5 Ziff. 2 c) MTV Erschwernisse in Zusammenhang mit zu leistender Schichtarbeit ausgeglichen werden sollen, spricht der Umstand, dass der Zuschlag lediglich für die Nachtschicht beansprucht werden kann, dafür, dass die Tarifvertragsparteien mit dem Zuschlag für Schichtarbeit von 22:00 Uhr bis 6:00 Uhr die mit der Leistung von Nachtarbeit (in Schichtarbeit) verbundenen Erschwernissen ausgleichen wollten. Demselben Zweck dient der Zuschlag für Nachtarbeit nach § 5 Ziff. 2 b) MTV. Der Auffassung der Beklagten, der Zuschlag für Nachtarbeit setze sich tatsächlich aus einem Nachtarbeitszuschlag und einem Mehrarbeitszuschlag zusammen, steht der eindeutige Wortlaut des § 5 Ziff. 2 b) MTV entgegen. Mag es in der Praxis auch nicht selten vorkommen, dass unregelmäßige Nachtarbeit gleichzeitig Mehrarbeit darstellt, weil über die regelmäßige werktägliche Arbeitszeit zur Nachtzeit im tariflichen Sinne gearbeitet wird, ändert sich der Charakter des Zuschlags für Nachtarbeit nicht.
52
(2) Ein sachlich vertretbarer Grund für die Differenzierung bei der Zuschlagshöhe für Nachtarbeit und Schichtarbeit von 22:00 Uhr bis 6:00 Uhr ist gegeben.
53
Hierbei legt die Kammer – wie auch schon das Arbeitsgericht – neue arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse zugrunde, die der Kläger in der Berufungsschrift vom 23.03.2020 (insbesondere unter Punkt 6.2) umfassend darstellt und worauf Bezug genommen wird. Danach ist Nachtarbeit für die Gesundheit umso schädlicher, in je größerem Umfang sie geleistet wird. Allerdings führt der Umstand, dass der nicht im Rahmen eines Schichtsystems und damit im Ergebnis idR. weniger Nachtarbeit leistende Arbeitnehmer einen höheren Zuschlag erhält als der (Nacht)Schichtarbeitnehmer, für sich genommen noch nicht zu einem Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Zwar kann angenommen werden, dass die Gesundheit des Arbeitnehmers, der regelmäßig Nachtarbeit im Rahmen von Schichtarbeit leistet, grundsätzlich in höherem Maße gefährdet ist als die Gesundheit desjenigen, der Nachtarbeit außerhalb eines Schichtsystems und damit im Regelfall in einem geringeren Umfang leistet. Der Normzweck des Zuschlags für Nachtarbeit in § 5 Ziff. 2 b) MTV beschränkt sich allerdings nicht ausschließlich auf den Gesundheitsschutz. Dies kann ua. auch daraus geschlussfolgert werden, dass im Mittel tarifliche Nachtarbeitszuschläge etwa 25% betragen. Bei Nachtarbeitszuschlägen, die diese Marge überschreiten, ist nicht auszuschließen, dass deren Höhe (auch) auf anderen Gründen beruht (vgl. BAG 5. September 2002 – 9 AZR 202/01 – Rn. 49).
54
(a) Der Zuschlag für Nachtarbeit nach § 5 Ziff. 2 b) MTV verfolgt neben dem Gesundheitsschutz auch den Zweck, die sozialen Folgen („soziale Desynchronisation“), die mit jeder Arbeit außerhalb der üblichen Arbeitszeiten der Mehrheit der Arbeitnehmer und damit außerhalb des üblichen Tagesablaufs verbunden sind, zu mindern (BAG 11. Dezember 2013 – 10 AZR 736/12 – Rn. 22). Soweit die Tarifvertragsparteien davon ausgegangen sind, dass derjenige Arbeitnehmer, der keiner solchen Regelmäßigkeit unterliegt, durch die Heranziehung zur Nachtarbeit höher belastet wird als der Arbeitnehmer, der sich auf einen vorgegebenen Rhythmus einstellt und seine Freizeitaktivitäten daran anpasst, hält sich dies in ihrem Beurteilungsspielraum. Auch wenn das Bundesarbeitsgericht in der Entscheidung vom 21. März 2018 – 10 AZR 34/17 – Rn. 52 ausführt, dass die Teilhabe am sozialen Leben durch unregelmäßige Nachtarbeit außerhalb von Schichtsystemen nicht in einem höheren Maße gefährdet werde als bei Nachtarbeit innerhalb von regelmäßigen Schichten, ist doch zu berücksichtigen, dass jede Abweichung von der regulären Arbeitszeit innerhalb – meist lange im Voraus – feststehender Schichten für die davon betroffenen Arbeitnehmer eine erneute Abstimmung der Lebensbereiche Arbeit und Familie, Freunde sowie Freizeit erforderlich macht. Die Balance zwischen (Nacht-)Arbeit und Freizeit sowie Familienverpflichtungen herzustellen, ist umso schwieriger, je unregelmäßiger die Nachtarbeit anfällt (Landesarbeitsgericht Niedersachsen 6. August 2020 – 6 Sa 64/20 – Rn. 75, juris). Entgegen der Auffassung des Klägers kann dieser Aspekt als sachlicher Grund Anerkennung finden. Dabei ist dies nicht „die exklusive Meinung des Arbeitsgerichts“, sondern die Einschätzung der Tarifvertragsparteien, die unter Berücksichtigung der in Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie und der damit einhergehenden geringeren Kontrolldichte durch die Arbeitsgerichte weitestgehend zu akzeptieren ist.
55
(b) Die Höhe des Zuschlags für Nachtarbeit spricht zudem dafür, dass die Tarifvertragsparteien die sporadische Nachtarbeit außerhalb eines Schichtsystems als einen Ausnahmetatbestand verstanden wissen wollten, welcher die Nachtarbeit außerhalb eines Schichtsystems für Arbeitgeber verteuern und gleichzeitig Arbeitnehmern als Anreiz für die (ausnahmsweise) Tätigkeit zur tariflichen Nachtzeit dienen sollte. Auch dieser Aspekt stellt einen sachlich vertretbaren Grund für die Differenzierung dar. Wie der Kläger unter Verweis auf die Entscheidung vom 11. Dezember 2013 – 10 AZR 736/12 – (Rn. 15) zutreffend ausführt, ist bei der Überprüfung von Tarifverträgen anhand des allgemeinen Gleichheitssatzes nicht auf die Einzelfallgerechtigkeit abzustellen, sondern auf die generellen Auswirkungen der Regelung. Durch die Verteuerung der Nachtarbeit für Arbeitgeber einerseits und die Schaffung eines Anreizes durch eine lukrative Ausgestaltung der Zuschläge für Arbeitnehmer andererseits, besteht die generelle Auswirkung der Regelung auch in einer Steuerungsfunktion durch die Tarifvertragsparteien, die Nachtarbeit außerhalb der Schichtarbeit auf Ausnahmefälle in Ausnahmesituationen zu beschränken. Hierbei muss es hingenommen werden, dass, insbesondere unter Berücksichtigung der Anreizfunktion, die Einzelfallgerechtigkeit nicht in jedem Fall gegeben ist.
56
Dem Kläger ist zuzugestehen, dass der Aspekt, die Nachtarbeit möglichst teuer und damit für den Arbeitgeber unattraktiv zu machen, beim Zusammentreffen mehrerer Zuschläge durch die Regelung in § 5 Ziff. 3 b) MTV unter Umständen relativiert wird. Dennoch verbleibt es bei dem Ausnahmecharakter, den die Tarifvertragsparteien der Nachtarbeit außerhalb eines Schichtsystems beigemessen haben. Die Nachtarbeit außerhalb eines Schichtsystems bleibt für den Arbeitgeber teuer, auch wenn nach § 5 Ziff. 3 b) MTV in dem Falle, dass bspw. die Nachtarbeit zusätzlich auch Mehrarbeit darstellt, der Mehrarbeitszuschlag nach § 5 Ziff. 2 a) MTV nicht zusätzlich neben dem Zuschlag für Nachtarbeit in Höhe von 50% zu zahlen ist.
57
(c) Dass die Differenzierung in der Höhe der Zuschläge uU. nicht mehr zeitangemessen und nicht die gerechteste Lösung ist, ist unter Berücksichtigung der den Gerichten zustehenden geringen Kontrolldichte hinzunehmen. Ausreichend ist ein sachlich vertretbarer Grund für die Differenzierung. Dieser liegt vor, auch wenn - wie der Kläger vorträgt - die Tarifvertragsparteien zum Zeitpunkt des Abschlusses des Manteltarifvertrags mangels Vorliegens anderer arbeitswissenschaftlicher Erkenntnisse von einem biologischen Gewöhnungseffekt bei in Nachtarbeit tätigen Arbeitnehmern ausgegangen sind.
58
(3) Entgegen der Auffassung des Klägers ist auch unter dem Gesichtspunkt der staatlichen Verpflichtung, den Gesundheitsschutz vor den Belastungen der Nachtschichtarbeit nach den gesicherten arbeitsmedizinischen Erkenntnissen sicherzustellen, ein Eingriff in den den Tarifparteien eingeräumten Regelungsspielraum nicht erforderlich.
59
(a) Der für Nachtschichtarbeit zwischen den Tarifvertragsparteien vereinbarte Zuschlag steht insbesondere § 6 Abs. 5 ArbZG nicht entgegen.
60
§ 6 Abs. 5 ArbZG überlässt die Ausgestaltung des Ausgleichs für Nachtarbeit wegen der größeren Sachnähe den Tarifvertragsparteien und schafft nur subsidiär einen gesetzlichen Anspruch (BAG 18. Mai 2011 – 10 AZR 369/10 – Rn. 18). Nur wenn eine tarifvertragliche Regelung nicht besteht, besteht hiernach ein gesetzlicher Anspruch auf eine angemessene Zahl bezahlter freier Tage oder einen angemessenen Zuschlag zum Bruttoarbeitsentgelt. Ist eine tarifvertragliche Ausgleichsregelung nicht einschlägig, entspricht es ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung, dass ein Zuschlag iHv. 25 % auf den jeweiligen Brutto(stunden)lohn einen angemessenen Ausgleich darstellt (BAG 13. Dezember 2018 – 6 AZR 549/17 – Rn. 28, BAG 9. Dezember 2015 - 10 AZR 423/14 - Rn. 16, BAG 16. April 2014 – 4 AZR 802/11 – Rn, 59 mwN). Von dieser Zuschlagshöhe kann abzuweichen sein, wenn die Belastung durch die Nachtarbeit unter qualitativen oder quantitativen Aspekten vom Regelfall abweicht (vgl. BAG 9. Dezember 2015 - 10 AZR 423/14 - Rn. 27 ff.). Bei der Erbringung der regulären Arbeitsleistung in Dauernachtarbeit ist nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts aufgrund der damit einhergehenden erhöhten gesundheitlichen Belastung regelmäßig ein Nachtarbeitszuschlag iHv. 30 % als angemessen anzusehen (BAG 9. Dezember 2015 - 10 AZR 423/14 - Rn. 28).
61
Im vorliegenden Fall haben sich die Tarifvertragsparteien für Nachtschichtarbeit auf einen Zuschlag verständigt, der den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen zur Angemessenheit von Nachtzuschlägen – wohlgemerkt im Falle des Nichtbestehens einer tarifvertraglichen Regelung – entspricht. Ohne besondere Umstände ist damit auch der tarifvertraglich vereinbarte Nachtschichtzuschlag iSd. § 5 Ziff. 2 c) MTV unter dem Aspekt des Gesundheitsschutzes als angemessen anzusehen. Eines staatlichen Eingriffs bedarf es nicht. Dem Gesundheitsschutz der Nachtschichtarbeitnehmer ist zudem durch die Regelung in § 5 Ziffer 3 b) MTV nochmals gesondert Rechnung getragen worden. Hiernach ist der Zuschlag für (Nacht)Schichtarbeit auch beim Zusammentreffen mit anderen Zuschlägen zu zahlen.
62
(b) Auch aus einer europarechtlichen Verpflichtung des Staates, den Gesundheitsschutz der Nachtschichtarbeiter nach gesicherten arbeitsmedizinischen Erkenntnissen sicherzustellen, ergibt sich kein Anspruch auf den erhöhten Zuschlag von 50%. Die Regelungen in § 6 ArbZG resultieren ua. aus der Umsetzung der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG (vgl. BAG 9. Dezember 2015 – 10 AZR 423/14 – Rn. 18). Anhaltspunkte für eine nicht richtlinienkonforme Umsetzung trägt der Kläger nicht vor und sind auch nicht ersichtlich.
63
(4) Nach § 4 Ziff. 2 Abs. 1 MTV erhalten Arbeitnehmer, die ständig im 3-Schicht-Wechsel arbeiten, für je 25 geleistete Nachtschichten in diesem System eine Freischicht. Da es sich bei der Beklagten um ein obst- und gemüseverarbeitendes Unternehmen iSd. § 1 Ziff. 2 a) MTV handelt, findet die Regelung Anwendung. Die Regelung dient - gleichermaßen wie der nach § 5 Ziff. 2 c) MTV gewährte Zuschlag - dem Ausgleich von den mit der Nachtarbeit einhergehenden Erschwernissen und Belastungen und damit ua. dem Gesundheitsschutz. Die in § 4 Ziff. 2 Abs. 1 MTV geregelte zusätzliche Kompensation ist bei dem Maß der Differenzierung zwischen Nachtarbeit und Nachtschichtarbeit zu berücksichtigen. Dies ergibt sich bereits aus § 6 Abs. 5 ArbZG, wonach der Ausgleich für Tätigkeit während der Nachtzeit auch in der Gewährung einer angemessenen Zahl bezahlter freier Tage bestehen kann. Diese Form der Kompensation entspricht dem in § 1 Nr. 1 ArbZG verfolgten Ziel des Gesundheitsschutzes sogar in höherem Maße als die Zahlung von Zuschlägen (vgl. BAG 26. August 1997 – 1 ABR 16/97 – zu B II 2 a der Gründe).
64
(5) Entgegen der Auffassung des Klägers ist die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 21. März 2018 - 10 AZR 34/17 – mit der vorliegenden Entscheidung in Einklang zu bringen. In dem Urteil vom 21. März 2018 hatte der 10. Senat – wie die Kammer im vorliegenden Fall auch - praktische Konkordanz zwischen der Grundrechtsausübung durch die Tarifvertragsparteien und den Gleichheitsrechten der Normunterworfenen herzustellen und die Grundrechtsausübung der Tarifvertragsparteien überwiegend deshalb hinter den Gleichheitsrechten der Normunterworfenen zurücktreten lassen, weil der Zuschlag für Nachtarbeit (50%) im Verhältnis zum Zuschlag für Nachtarbeit im Rahmen von Schichtarbeit (15%) ua. „um mehr als das Dreifache höher“ war (BAG 21. März 2018 – 10 AZR 34/17 – Rn. 47) und damit eine deutliche Schlechterstellung der Nachtarbeit leistenden Schichtarbeitnehmer bei der Bezahlung der Nachtarbeit im Vergleich zu den Arbeitnehmern, die Nachtarbeit außerhalb von Schichtsystemen leisten, bestehe (BAG 21. März 2018 – 10 AZR 34/17 – Rn. 48). Gegenüber dem Sachverhalt, der dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 21. März 2018 zugrunde lag, unterscheidet sich der hier zur Entscheidung stehende Fall vor allem darin, dass Unterschiede in der Zuschlagshöhe hier nur im Umfang von 25 % zu 50 %, unter Berücksichtigung der Freischichten sogar im Umfang von weniger als 25 % bestehen und von den Tarifvertragsparteien auch für Nachtschichtarbeit ein der Gesundheitsgefährdung jedenfalls angemessener Zuschlag von 25% vereinbart wurde.
65
Dafür, dass das Bundesarbeitsgericht in der Entscheidung vom 21. März 2018 – 10 AZR 34/17 - jegliche tarifvertragliche Differenzierung zwischen Nachtarbeit und Nachtschichtarbeit als unzulässig erachtet, bestehen keine Anhaltspunkte. Die Entscheidung vom 21. März 2018 – 10 AZR 34/17 - lässt insbesondere nicht erkennen, dass der Senat von der früheren Entscheidung vom 11. Dezember 2013 – 10 AZR 736/12 –, in welcher über eine Differenzierung von Nachtarbeit (50%) und Nachtarbeit im Rahmen von Schichtarbeit (20%) im Manteltarifvertrag für den Berliner Einzelhandel zu entscheiden war, abrücken wollte (vgl. BAG 21. März 2018 – 10 AZR 34/17 – Rn. 54).
66
cc) Da ein sachlicher Grund für die Differenzierung zwischen Nachtarbeit und Nachtschichtarbeit in der Zuschlagshöhe gegeben ist, kann dahingestellt bleiben, ob eine „Angleichung nach oben“ in jedem Fall zu erfolgen hat, insbesondere auch dann, wenn die Nachtarbeit nach der Auslegung des Tarifvertrags und der gelebten Praxis die Ausnahme, die Nachtschichtarbeit die Regel ist. Gegen eine Anpassung nach oben spricht, dass eine Lückenschließung im Wege der ergänzenden Tarifauslegung zu unterbleiben hat, wenn unter Berücksichtigung von Treu und Glauben den Tarifvertragsparteien ein Spielraum zur Lückenschließung verbleibt und es ihnen wegen der verfassungsrechtlich geschützten Tarifautonomie überlassen bleiben muss, die von ihnen für angemessen gehaltene Regelung selbst zu finden (BAG 12. Dezember 2013 – 8 AZR 942/12 – Rn. 19 mwN).
67
dd) Sowohl die Zahlungsanträge als auch der Feststellungsantrag sind unbegründet. Die Berufung unterliegt damit insgesamt der Zurückweisung.
III.
68
Die Kostenentscheidung folgt aus § 64 Abs. 6 ArbGG iVm. § 97 Abs.1 ZPO.
69
Die Kammer hat der entscheidungserheblichen Rechtsfrage grundsätzliche Bedeutung beigemessen, weshalb gemäß § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG die Revision zum Bundesarbeitsgericht zugelassen wurde.
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Tenor
Die Revision wird der Maßgabe, dass der Tenor des angefochtenen Urteils wegen einer offenbaren Unrichtigkeit dahingehend ergänzt wird, dass der Angeklagte zu einer Geldstrafe von 100 Tagessätzen von je 20 Euro verurteilt ist, als unbegründet verworfen, da die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat (§ 349 Abs. 2 StPO).
Die Kosten des Rechtsmittels trägt der Angeklagte (§ 473 Abs. 1 StPO).
1Zusatz:
2Ergänzend zur Antragsschrift der Generalstaatsanwaltschaft bemerkt der Senat, dass die angeblichen Diebstähle einer der Geschädigten, deren fehlende strafmildernde Berücksichtigung der Angeklagte mit seinem Rechtsmittel rügt, sich aus den Urteilsgründen, welche alleinige Überprüfungsgrundlage für das Revisionsgericht auf die Sachrüge hin ist, nicht ergeben.
3Der Schriftsatz des Angeklagten vom 30.09.2020 lag vor und war Gegenstand der Senatsberatung. Sie geben zu einer anderweitigen Bewertung keinen Anlass. Gegenstand der Überprüfung des Revisionsgerichts auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts hin sind – allein – die vom Tatrichter getroffenen Feststellungen und die Ihnen zu Grunde liegenden Entscheidungsgründe (s.o.).
4Rechtlich nicht unbedenklich ist allerdings die Formulierung im Rahmen der Strafzumessung des angefochtenen Urteils, dass der Angeklagte aus „nichtigem Anlass“ gehandelt habe. Nachvollziehbare, verständliche Motive für eine Tatbegehung sind strafmildernd, das bloße Fehlen verständlicher Motive jedoch nicht strafschärfend zu berücksichtigen. Es wäre rechtsfehlerhaft, dem Fehlen eines Strafmilderungsgrunds strafschärfende Bedeutung beizumessen (BGH, Urteil vom 24. August 2016 – 2 StR 504/15 –juris; vgl. auch OLG Hamm, Beschluss vom 22. August 2019 – 1 RVs 58/19 - juris).
5Die revisionsgerichtliche Überprüfung der Strafzumessung hat sich jedoch am sachlichen Gehalt der tatrichterlichen Ausführungen und nicht an ihren – möglicherweise missverständlichen oder sonst unzulänglichen – Formulierungen zu orientieren(BGH a.a.O.). Die von der Tatrichterin gebrauchte o.g.- Formulierung stellt ersichtlich auf das Tatmotiv ab, was hier – aus dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe erkennbar – ersichtlich darin lag, dass die Geschädigten seinen Annäherungsversuchen an die Geschädigte N, in die der Angeklagte verliebt war, die aber seine Annäherung – ebenso wie ihre Mutter – nicht wünschte, im Wege standen. Die Tatrichterin hat damit die Tätermotivation und damit zugleich die aus der Tat sprechende „Gesinnung“ im Sinne des § 46 Abs. 2 StGB als besonders verwerflich charakterisiert und strafschärfend berücksichtigt.
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Tenor
Die Revision wird mit der Maßgabe, dass der Angeklagte eines „sexuellen Übergriffs mit Gewalt“ schuldig ist, als unbegründet verworfen.
Die Kosten des Rechtsmittels, einschließlich der der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen, trägt der Angeklagte (§ 473 Abs. 1 StPO).
Die sofortige Beschwerde wird auf Kosten des Angeklagten, der auch die der Nebenklägerin im Beschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen hat (§ 473 Abs. 1 StPO), als unzulässig verworfen.
1Gründe
2I.
3Das Amtsgericht Warendorf hat den Angeklagten mit Urteil vom 16.11.2017 wegen sexueller Nötigung zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten verurteilt und die Vollstreckung dieser Strafe zur Bewährung ausgesetzt.
4Auf die rechtzeitige Berufung des Angeklagten hat das Landgericht Münster die Berufung des Angeklagten mit Urteil vom 10.10.2018 verworfen.
5Auf die rechtzeitig eingelegte und rechtzeitig begründete Revision des Angeklagten hat der Senat mit Beschluss vom 05.03.2019 das vorbezeichnete Urteil des Landgerichts Münster mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben. Zur Begründung hat der Senat ausgeführt, dass die Beweiswürdigung des angefochtenen Urteils lückenhaft sei, weil sie den an die Darstellung der Aussagekonstanz und Aussageentstehung in Aussage gegen Aussagekonstellationen nicht gerecht werde.
6Mit dem nunmehr angefochtenen Urteil vom 12.05.2020 hat das Landgericht Münster die Berufung des Angeklagten gegen das vorbezeichnete Urteil des Amtsgerichts Warendorf mit der Maßgabe, dass der Angeklagte des sexuellen Übergriffs schuldig ist, verworfen.
7Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte erneut mit der Revision, mit der er die Verletzung materiellen Rechts rügt. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, sein Rechtsmittel mit der Maßgabe, dass der Schuldspruch dahin korrigiert wird, dass der Angeklagte einer „sexuellen Nötigung (§ 177 Abs. 5 Nr. 1 StGB)“ schuldig ist, als offensichtlich unbegründet zu verwerfen. Auch die Nebenklägerin hält die Revision für offensichtlich unbegründet.
8Im Rahmen seiner Revisionsbegründung wendet sich der Angeklagte zudem gegen die Kosten- und Auslagenentscheidung. Er meint, es sei nicht billig, ihm die Kosten des ersten Berufungs- und Revisionsverfahrens aufzuerlegen.
9II.
10Die zulässige Revision des Angeklagten ist offensichtlich unbegründet, da die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat (§ 349 Abs. 2 StPO).
11III.
12Der Schuldspruch war zu berichtigen, da der Angeklagte die Tatbestandsmerkmale des § 177 Abs. 5 Nr. 1 StGB erfüllt hat, indem er gegenüber der Nebenklägerin Gewalt angewendet hat. Der Angeklagte hat nach den getroffenen Feststellungen die Nebenklägerin, nachdem er sie durch ihre Wohnung verfolgt hatte, zu fassen bekommen und sie von hinten mit einem festen Klammergriff umklammert, wobei er ihr beide Hände auf die Brüste drückte und sie so fest an sich presste, dass die Nebenklägerin das erigierte Glied des Angeklagten an ihrem Gesäß spürte. Der Klammergriff war so fest, dass die Nebenklägerin mehrfach erfolglos versuchte, den Angeklagten von sich wegzudrücken. Damit hat der Angeklagte auf den Körper des Opfers eine Krafteinwirkung entfaltet, welche eine von diesem empfundene Zwangswirkung entfaltete, also Gewalt angewendet (vgl. Fischer, StGB, 67. Aufl., § 177 Rdn. 64). Diese Gewalt diente zwar nicht als Nötigungsmittel zur Durchführung der sexuellen Handlung, sondern war mit dieser eins. Nach der Neufassung des § 177 StGB – so die höchstrichterliche Rechtsprechung – ist es aber nicht erforderlich, dass die Gewalt als Nötigungsmittel zur Ermöglichung der sexuelle Handlung eingesetzt wird, damit die Variante des § 177 Abs. 5 Nr. 1 StGB erfüllt ist. Es reicht, dass der Täter Gewalt ab Versuchsbeginn bis zum Zeitpunkt der Beendigung des sexuellen Übergriffs anwendet; ein Finalzusammenhang ist nicht erforderlich (BGH, Beschl. v. 10.10.2018 – 4 StR 311/18 – juris).
13Der Senat kann die Schuldspruchberichtigung vornehmen. Ein Verstoß gegen das Verschlechterungsverbot liegt nicht vor und auch § 265 StPO steht nicht entgegen, da sich der sexuelle Handlungen insgesamt bestreitende Angeklagte auch insoweit nicht wirksamer als geschehen hätte verteidigen können. Der Senat verweist insoweit auf die zutreffenden Ausführungen in der Antragsschrift der Generalstaatsanwaltschaft.
14Entgegen der Ansicht der Generalstaatsanwaltschaft war der Schuldspruch aber nicht in „sexuelle Nötigung“ zu berichtigen, da hier gerade kein finaler Zusammenhang zwischen Gewaltausübung und sexuellem Übergriff besteht, sondern in „sexueller Übergriff mit Gewalt“ (vgl. BGH a.a.O.).
15IV.
16Die sofortige Beschwerde gegen die Kosten- und Auslagenentscheidung ist unzulässig, da sie nicht binnen der Wochenfrist des § 311 StPO eingelegt worden ist, was erforderlich gewesen wäre (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 464 Rdn. 21), sondern erst rund eineinhalb Monate nach Verkündung der Kosten- und Auslagenentscheidung im Rahmen der Revisionsbegründung.
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Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
1T a t b e s t a n d
2Die Beteiligten streiten darüber, ob der Beklagte einen zu Unrecht ausgewiesenen Umsatzsteuerbetrag an den Insolvenzverwalter der Rechnungsausstellerin zu erstatten hat, ohne dass dieser zuvor die Umsatzsteuer an die Rechnungsempfängerin zurückgezahlt hat.
3Über das Vermögen der N GmbH i.L. (Insolvenzschuldnerin) wurde am 30.03.2007 das Insolvenzverfahren eröffnet (Az. …) und der Kläger zum Insolvenzverwalter bestellt.
4Die Insolvenzschuldnerin erbrachte in den Jahren 2004 und 2005 Bauleistungen für die Firma D GmbH und Co. KG (D KG), eine als Generalunternehmerin (Bebauung von fremden Grundstücken) tätige Bauprojektentwicklungsfirma, und stellte diese einschließlich ausgewiesener Umsatzsteuer gegenüber der D KG in Rechnung. Die D KG zahlte die Rechnungen einschließlich der ausgewiesenen Umsatzsteuerbeträge und machte diese anschließend als Vorsteuer geltend.
5Das für die D KG zuständige Finanzamt M beanstandete dieses Vorgehen mit der Begründung, dass die D KG als Leistungsempfängerin gem. § 13b Abs. 5 i.V.m. Abs. 2 Nr. 4 Umsatzsteuergesetz (UStG) die Umsatzsteuer schulde und erließ gegenüber der D KG geänderte Umsatzsteuerbescheide für die Jahre 2004 und 2005. Die D KG überwies die Umsatzsteuerzahllast aus den von der Insolvenzschuldnerin erbrachten Bauleistungen im Jahr 2013 an das Finanzamt M.
6Der Kläger übermittelte am 01.08.2014 die Umsatzsteuererklärung 2013 für die Insolvenzschuldnerin an den Beklagten, in der Erklärung wurden weder Umsätze erklärt noch Vorsteuerbeträge geltend gemacht.
7Am 09.10.2014 beantragte der Kläger die Berichtigung (Erstattung) eines Umsatzsteuerbetrages in Höhe von 213.411,06 € gem. § 14c Abs. 2 Satz 5 UStG. Zur Begründung führte er aus, er habe die ursprünglich gegenüber der D KG ausgestellten Rechnungen im Original zurückgefordert und ihr korrigierte Rechnungen, die nur noch Nettobeträge enthielten, übermittelt. Die Berichtigung sei im Jahr 2013 durchzuführen, da mit der Zahlung der Umsatzsteuer durch die D KG die Gefährdung des Steueraufkommens beseitigt worden sei.
8Der Beklagte lehnte mit Bescheid vom 05.12.2014 den Antrag auf Berichtigung des geschuldeten USt-Betrages gem. § 14c Abs. 2 Satz 5 UStG ab. Zur Begründung führte er aus, der offene USt-Ausweis in den Ausgangsrechnungen stelle einen unrichtigen Steuerausweis gem. § 14c Abs. 1 Satz 1 UStG dar. Die Berichtigungsmöglichkeit bestehe daher nach § 14c Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 17 Abs. 1 UStG. Die Berichtigung sei danach für den Besteuerungszeitraum vorzunehmen, in dem dem Leistungsempfänger die berichtigten Rechnungen erteilt worden seien. Die korrigierten Rechnungen seien am 18.01.2008 erstellt und im Anschluss daran an die D KG übersandt worden, so dass eine Berichtigung grundsätzlich im Rahmen der USt-Festsetzung 2008 zu erfolgen habe. Insoweit sei aber die Festsetzungsfrist bereits am 31.12.2013 abgelaufen.
9Gegen den Ablehnungsbescheid legte der Kläger am 05.01.2015 Einspruch ein. Zur Begründung trägt er vor, dass ein Fall des § 14c Abs. 2 UStG und nicht ein Fall des § 14c Abs. 1 UStG vorliege. Selbst wenn man davon ausgehe, dass ein Fall des § 14c Abs. 1 UStG vorliege, so könne noch eine entsprechende Berichtigung erfolgen, da Festsetzungsverjährung erst mit Ablauf des Jahres 2017 eingetreten sei. Der Kläger habe bereits im Jahr 2009 die Berichtigung der Umsatzsteuer beantragt. Diesen Antrag habe der Beklagte mit Schreiben vom 05.10.2010 mit der Begründung abgelehnt, dass eine Berichtigung nach § 14c Abs. 1 Satz 2 UStG i.V.m. § 17 UStG erst erfolgen könne, wenn und soweit die Gefährdung des Steueraufkommens beseitigt worden sei. Aufgrund dieses gesetzten Rechtsscheins sei es zu einer Ablaufhemmung der vierjährigen Festsetzungsfrist gekommen. Die Festsetzungsfrist habe erst mit der Beseitigung der Gefährdung des Steueraufkommens, der Zahlung durch die D KG am 20.06.2013, begonnen. Zudem erfordere der bestehende sachliche Zusammenhang zwischen der geltend gemachten Umsatzsteuerforderung des Finanzamts gegenüber der D KG und den Umsatzsteuererstattungsansprüchen der Insolvenzschuldnerin eine einheitliche Entscheidung beider Sachverhalte.
10Mit Einspruchsentscheidung vom 28.11.2016 lehnte der Beklagte den Einspruch des Klägers ab. Zur Begründung führte er aus, dass die D KG als Leistungsempfängerin gem. § 13b Abs. 5 i.V.m. Abs. 2 Nr. 4 UStG die Umsatzsteuer für die in den Jahren 2004 und 2005 erbrachten Bauleistungen geschuldet habe. Die Insolvenzschuldnerin schulde deshalb nach § 14c Abs. 1 UStG den in den Rechnungen ausgewiesenen Mehrbetrag, denn sie habe als leistende Unternehmerin in einer Rechnung einen höheren Betrag ausgewiesen, als sie nach dem Gesetz schulde (unrichtiger Steuerausweis). Voraussetzung für eine Berichtigung sei, dass der Mehrbetrag an den Leistungsempfänger, also die D KG, ausgezahlt worden sei. Hieran fehle es jedoch im Streitfall. Weder die Berichtigung der Rechnungen noch die Zahlung der Umsatzsteuer durch die D KG führe zu einem Erstattungsanspruch der Schuldnerin. Es könne daher dahinstehen, ob eine Festsetzungsverjährung für das Jahr 2008 eingetreten sei. Ein Fall des § 14c Abs. 2 UStG liege nicht vor, da die Insolvenzschuldnerin als Unternehmerin sowohl in personeller als auch in sachlicher Hinsicht zum offenen Ausweis der USt berechtigt gewesen sei.
11Auch wenn die vom Leistungserbringer geschuldete Steuer und die beim Empfänger des Umsatzes abziehbare Vorsteuer deckungsgleich seien, so seien diese nicht materiell im Sinne einer gegenseitigen Abhängigkeit dergestalt miteinander verknüpft, dass über sie nur eine einheitliche Entscheidung getroffen werden könne.
12Mit seiner am 02.01.2017 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren gerichtlich weiter. Der Beklagte verkenne, dass eine Erstattung des Umsatzsteuerbetrages an die D KG nicht mit den insolvenzrechtlichen Vorschriften vereinbar sei, vielmehr würde ein Ausgleich der Forderung sogar zu einer Strafbarkeit des Klägers führen. Denn der Erstattungsanspruch der D KG sei vor Insolvenzeröffnung entstanden und stelle deshalb eine bloße Insolvenzforderung dar, die nur quotal befriedigt werden könne. Die D KG müsse den entsprechenden Betrag zur Insolvenztabelle anmelden, der Kläger könne eine quotale Befriedigung erst dann vornehmen, wenn das Insolvenzverfahren abgeschlossen sei und zuvor sämtliche Gegenstände der Insolvenzmasse vereinnahmt worden seien. Vor diesem Hintergrund müsse die Regelung des § 14c Abs. 1 UStG innerhalb des Insolvenzverfahrens dahingehend modifiziert werden, dass eine Erstattung der Umsatzsteuer durch das Finanzamt auch dann erfolgen könne, wenn und soweit die Steuer nicht zuvor an die Leistungsempfängerin, die D KG, erstattet worden sei. Nach der Rechtsprechung des BFH sei der Anspruch auf Erstattung der zuvor unrichtig oder unberechtigt ausgewiesenen und an das Finanzamt abgeführten Umsatzsteuer der Insolvenzmasse zugehörig. Das Verhalten des Beklagten laufe dem Grundsatz der Neutralität der Umsatzsteuer zuwider, weil er die für ein- und dieselbe Leistung entstandene Umsatzsteuer sowohl von der Insolvenzschuldnerin als auch von der D KG jeweils einbehalte. Das Verhältnis zwischen der D KG und der Insolvenzmasse sei allein nach den insolvenzrechtlichen Regelungen zu beurteilen. Auch der Geschäftsführer der D KG habe den Beklagten aufgefordert, die Umsatzsteuer an die Insolvenzmasse des Klägers auszukehren. Der Kläger verweist auf das BFH-Urteil vom 30.06.2015, VII R 30/14, DStRE 2015, 1318. Danach habe der Leistungsempfänger keinen eigenen Anspruch gegenüber dem Finanzamt auf Auszahlung der Umsatzsteuer, sondern müsse sich an den Insolvenzverwalter des Rechnungsausstellers halten.
13Der Kläger beantragt,
14die Umsatzsteuerfestsetzung 2013 dahingehend zu ändern, dass ein Umsatzsteuererstattungsanspruch des Klägers in Höhe von 213.441,06 € festgesetzt wird,
15hilfsweise für den Unterliegensfall, die Revision zuzulassen.
16Der Beklagte beantragt,
17die Klage abzuweisen,
18hilfsweise für den Unterliegensfall, die Revision zuzulassen.
19Zur Begründung führt er aus, die Vorschrift des § 17 UStG unterliege als materielle Norm nicht den Regeln des Insolvenzrechts. Das Insolvenzrecht gehe nicht schlechthin dem Steuerrecht vor, sondern trete lediglich an die Stelle des Verwaltungsverfahrensrechts. Der Argumentation, dass eine Erstattung der Umsatzsteuer auch dann erfolgen könne, wenn und soweit die Steuer nicht zuvor an den Leistungsempfänger erstattet worden sei, könne nicht gefolgt werden, weil auf diese Weise ohne rechtliche Grundlage das Insolvenzrisiko vollständig auf das Land und damit die Allgemeinheit abgewälzt werde. Das vom Kläger zitierte BFH-Urteil vom 30.06.2015, VII R 30/14 sei nicht einschlägig, da es in dem Urteilsfall um den Erstattungsanspruch des Leistungsempfängers und nicht des Rechnungsausstellers gehe. Auch im Falle einer Klagestattgabe könne die vom Kläger angestrebte Neutralität der Umsatzsteuer nur dann erreicht werden, wenn der Kläger zugleich den Grundsatz der gleichmäßigen Gläubigerbefriedigung verletzen würde. Denn hätte der Beklagte bereits aufgrund der berichtigten Rechnungen Umsatzsteuer an den Kläger zu erstatten, so wäre die zuvor entrichtete Umsatzsteuer in die Insolvenzmasse zu zahlen. Der D KG stünde hiervon jedoch nur eine Quote zu, so dass letztendlich das Ziel – Neutralität der wirtschaftlichen Belastung des Rechnungsempfängers – verfehlt würde.
20Mit Schreiben vom 22.06.2020 (Bl. 65 der Gerichtsakte) hat der Berichterstatter bei den Beteiligten angefragt, ob zwischen den Beteiligten unstreitig ist, dass es sich bei der D GmbH und Co. KG um einen fremde Grundstücke bebauenden Generalunternehmer und nicht um einen (eigene Grundstücke bebauenden) Bauträger handelt, so dass diese bauwerksbezogene Werklieferungen gem. § 13 Abs. 1 Nr. 4 UStG a.F. (nunmehr § 13b Abs. 2 Nr. 4 UStG) erbracht hat.
21Sowohl der Beklagte als auch der Kläger haben hieraufhin mitgeteilt, dass es sich bei der D GmbH und Co. KG um einen Generalunternehmer handelt.
22In der Sache hat am 08.10.2020 eine mündliche Verhandlung vor dem Senat stattgefunden, auf die Sitzungsniederschrift wird Bezug genommen.
23E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
24Die Klage hat keinen Erfolg.
25Der Ablehnungsbescheid hinsichtlich des Antrags auf Änderung der Umsatzsteuerfestsetzung vom 05.12.2014 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 28.11.2016 ist nicht rechtswidrig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 101 Satz 1 Finanzgerichtsordnung (FGO). Der Beklagte hat zu Recht das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Berichtigung des Steuerbetrages nach § 14c Abs. 1 Satz 2 UStG i.Vm. § 17 Abs. 1 UStG verneint.
261. Es liegt im Streitfall ein unrichtiger Steuerausweis nach § 14c Abs. 1 Satz 1 UStG vor.
27Hat der Unternehmer in einer Rechnung für eine Lieferung oder sonstige Leistung einen höheren Steuerbetrag, als er nach diesem Gesetz für den Umsatz schuldet, gesondert ausgewiesen (unrichtiger Steuerausweis), schuldet er gem. § 14c Abs. 1 Satz 1 UStG auch den Mehrbetrag. Berichtigt er den Steuerbetrag gegenüber dem Leistungsempfänger, ist nach § 14c Abs. 1 Satz 2 UStG die Vorschrift des § 17 Abs. 1 UStG entsprechend anzuwenden.
28Weist der leistende Unternehmer in einer Rechnung Umsatzsteuer offen aus, obwohl der Leistungsempfänger Steuerschuldner ist, schuldet der leistende Unternehmer diese Steuer nach § 14c Abs. 1 UStG (BFH, Urt. vom 12.10.2016 XI R 43/14, BFHE 255, 474).
29Im Streitfall hatte die Insolvenzschuldnerin als Rechnungsausstellerin und Leistende zu Unrecht die Umsatzsteuer in ihren Rechnungen ausgewiesen, obwohl tatsächlich die Leistungsempfängerin, die D KG, nach § 13b Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Abs. 1 Nr. 4 UStG in der in den Jahren 2004 und 2005 geltenden Fassung (a.F.) Steuerschuldnerin war. Bei der D KG handelt es sich auch um einen fremde Grundstücke bebauenden Generalunternehmer und nicht um einen Bauträger, so dass diese bauwerksbezogene Werklieferungen gem. § 13 Abs. 1 Nr. 4 UStG a.F. erbracht hat (BFH, Urt. vom 22.08.2013 – V R 37/10, BStBl. II 2014, 128). Insofern besteht zwischen den Beteiligten auch kein Streit.
302. Es fehlt jedoch im Streitfall an den Berichtigungsvoraussetzungen gem. § 14c Abs. 1 Satz 2 UStG i.V.m. § 17 Abs. 1 UStG.
31a) Hat der leistende Unternehmer das Geld bereits vereinnahmt, kommt es zur Berichtigung nach § 17 Abs. 1 UStG nicht bereits durch eine Änderung der Entgeltvereinbarung, sondern erst durch eine zusätzliche Entgeltrückgewähr und zwar in dem Besteuerungszeitraum, in dem die Rückgewähr erfolgt (EUGH, Urt. vom 29.5.2001 - C-86/99 „Freemans“, BFH/NV 2001, 185; BFH, Urt. vom 18.09.2008 - V R 56/06, BStBl. II 2009, 250; UStAE 17.1 Abs. 2 Satz 2; Wäger, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 17 Rdn. 40).
32b) Auch die Berichtigung beim unrichtigen Steuerausweis gem. § 14c Abs. 1 UStG setzt nach der Rechtsprechung die Rückzahlung der Umsatzsteuer an den Rechnungsempfänger voraus (BFH, Urt. vom 16.05.2018 – XI R 28/16, BFH/NV 2018, 1048; Leipold, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 14c Rdn. 122; UStAE 14c.1 Abs. 5 Satz 4). Denn da der Leistende den berichtigten Steuerbetrag vom Leistungsempfänger bereits vereinnahmt hat, würde eine Erstattung durch das Finanzamt allein aufgrund der Rechnungsberichtigung ohne Rückzahlung der Steuer den Leistenden ungerechtfertigt bereichern. Dieser würde doppelt begünstigt; denn einerseits hat er das Entgelt zzgl. Umsatzsteuer regelmäßig bereits vereinnahmt und andererseits könnte er im Fall einer bedingungslosen Erstattung den berichtigten Steuerbetrag vom Finanzamt nochmals verlangen. Dies ginge allein zu Lasten des Leistungsempfängers. Gleichzeitig müsste der Fiskus befürchten, vom Leistungsempfänger auf Erstattung der Umsatzsteuer an ihn in Anspruch genommen zu werden (BFH, Urt. vom 16.05.2018 – XI R 28/16, BFH/NV 2018, 1048, Rdn. 52). Dagegen wird der leistende Unternehmer, der den unrichtigen Steuerausweis in einer Rechnung gegenüber dem Leistungsempfänger berichtigt und diesem den vereinnahmten Steuerbetrag zurückzahlt, nicht belastet; denn die grundsätzlich erforderliche Rückzahlung an den Leistungsempfänger kann, um eine Vorfinanzierung des berichtigten Steuerbetrags durch den Rechnungsaussteller bis zur Erstattung zu vermeiden, auch im Wege der Abtretung und Verrechnung erfolgen. Nur die Rückzahlung des berichtigten Steuerbetrags an den Leistungsempfänger führt in der Regel zu einem gerechten Interessenausgleich im Dreiecksverhältnis zwischen Finanzamt und Leistendem bzw. Leistungsempfänger und gewährleistet so letztlich auch die Neutralität der Mehrwertsteuer. Außerdem verhindert eine in diesem Sinne bedingte Berichtigung des Steuerbetrags, dass das Finanzamt z.B. in Fällen der Insolvenz des Rechnungsausstellers oder nicht erkannter Steuerschuldnerschaft des Leistungsempfängers doppelt erstatten oder auf Steuer verzichten muss (BFH, Urt. vom 16.05.2018 – XI R 28/16, BFH/NV 2018, 1048, Rdn. 53).
33c) Die Verpflichtung zur Rückzahlung des Mehrbetrages an den Leistungsempfänger besteht nach Ansicht des Senates auch in den Fällen, in denen über das Vermögen des Rechnungsausstellers das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist (so auch Lippross, MwStR 2013, 756 (767); a.A. FG Baden-Württemberg, Urteil vom 11.12.2017 – 9 K 2646/16, EFG 2018, 513 und Marchal MwStR 2018, 835, 842 unter Hinweis darauf, dass es dem Insolvenzverwalter rechtlich untersagt sei, den vereinnahmten Mehrbetrag aus der Insolvenzmasse zu erstatten).
34Denn würde in den Fällen der Insolvenz des Rechnungsausstellers das Rückzahlungserfordernis nicht gelten, dann wären der Rechnungsaussteller bzw. dessen Gläubiger auf Kosten des Leistungsempfängers dadurch (doppelt) begünstigt, dass zum einen der Mehrbetrag an ihn erstattet würde und zum anderen er den Mehrbetrag aber nicht an den Leistungsempfänger zurückzahlen müsste, weil der Anspruch des Leistungsempfängers gegen den Insolvenzschuldner nur eine quotal zu erfüllende Insolvenzforderung darstellen würde (Leipold, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 14c Rdn. 122; Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 14c Rdn. 212). Ein Umsatzsteuererstattungsanspruch des Rechnungsausstellers besteht daher nur bzw. insoweit, wie der leistende Unternehmer die Umsatzsteuer an den Leistungsempfänger zurückgezahlt hat (Leipold, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 14c Rdn. 122, 149; BFH, Urteil vom 02.09.2010 – V R 34/09 –BStBl II 2011, 991).
35d) Es kann im Streitfall dahinstehen, ob in den Fällen der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Rechnungsausstellers zur Gewährleistung/Herstellung der Neutralität der Umsatzsteuer (im Wege der richtlinienkonformen Auslegung) ein Direktanspruch des Leistungsempfängers gegen den Fiskus auf Erstattung der Mehrwertsteuer nach § 37 Abs. 2 AO besteht (so wohl Leipold, in: Sölch/Ringleb, UStG, § 14c Rdn. 122, 149; Meyer-Burow/Connemann, UStB 2015, 318, 324; vgl. EuGH, Urt. vom 15.03.2007 – C-35/05, HFR 2007, 515 „Reemtsma“ Rdn. 36) oder aber die Neutralität durch Gewährung des Vorsteuerabzugs im Wege einer Billigkeitsmaßnahme nach § 163 AO bzw. § 227 AO hergestellt werden kann bzw. muss (so wohl BFH, Urt. vom 30.06.2015 – VII R 30/14, BFHE 250, 34) bzw. über einen Direktanspruch im Billigkeitsverfahren nach § 163 AO zu entscheiden ist (BFH, Urt. vom 22.08.2019 – V R 50/16, BFHE 266, 395). Denn über derartige Ansprüche des Leistungsempfängers, der D KG , ist in diesem Verfahren nicht zu befinden.
36Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
37Die Revision wird gem. § 115 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 FGO wegen grundsätzlicher Bedeutung und zur Fortbildung des Rechts zugelassen. Zu der Frage des Erfordernisses der Rückzahlung des Mehrbetrages an den Leistungsempfänger in den Fällen der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Rechnungsausstellers gibt es keine aktuelle höchstrichterliche Entscheidung und in der Literatur sowie der finanzgerichtlichen Rechtsprechung werden insoweit unterschiedliche Rechtsauffassungen vertreten.
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Gründe
I.
1
Die Antragsteller begehren, den Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, sie von der Teilnahme am Präsenzunterricht zu befreien und am Homeschooling teilnehmen zu lassen.
2
Die Antragsteller sind Schüler des Antragsgegners, wobei die Antragstellerin zu 1) der Jahrgangsstufe 12 und der Antragsteller zu 2) der Jahrgangsstufe 9 angehört.
3
Sie besuchen das Schuljahr 2020/2021, welches in Anbetracht der COVID-19-Pandemie derzeit gemäß dem Niedersächsischen Rahmenhygieneplan Corona Schule in der Fassung vom 5. August 2020 (im Folgenden Rahmen-Hygieneplan) in Form eines „Eingeschränkten Regelbetriebs“ durchgeführt werden soll. Der Unterricht erfolgt demnach in Form des Präsenzunterrichts in festgelegten Gruppen. Soweit das Abstandsgebot zwischen Personen unterschiedlicher Gruppen nicht eingehalten werden kann, sind die Personen angehalten, eine Mund-Nase-Bedeckung zu tragen.
4
Die Antragsteller selbst sind nicht Teil der Personen mit einem höheren Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf bei COVID-19. Jedoch baten die Eltern der Antragsteller mit E-Mail vom 26. August 2020 bei dem Antragsgegner um einen weiteren Verbleib der Antragsteller im Homeschooling. Hierbei verwiesen sie darauf, dass im Haushalt der Antragsteller zwei Angehörige von Risikogruppen lebten und bei Bedarf Atteste vorgelegt werden könnten. Das Begehren auf Verbleib im Homeschooling lehnte der Antragsgegner mit E-Mail vom selben Tag unter Verweis auf die Teilnahmepflicht am Präsenzunterricht, soweit nicht die Schüler selbst einer Risikogruppe angehörten, ab. Am 10. September 2020 stellten die Eltern der Antragsteller erneut schriftlich bei dem Antragsgegner einen Antrag auf Befreiung vom Präsenzunterricht im Härtefall, wobei sie unter Vorlage von Attesten versicherten, dass die Antragsteller in häuslicher Gemeinschaft mit Angehörigen lebten, bei denen gemäß Definition des Robert Koch- Institutes (im Folgenden: RKI) das Risiko eines schweren Krankheitsverlaufes nach COVID-19-Infektion bestehe. Beigefügt wurde ein Attest des Chefarztes des Krankenhauses M. Dr. med. G. vom 31. August 2020, wonach der Vater der Antragsteller sich in dessen Behandlung befinde und aufgrund seiner Erkrankung zur COVID-19-Risikogruppe gehöre, sowie eine ärztliche Bescheinigung von Dr. med. H. (Fachärztin für Innere Medizin – Pneumologie –) vom 11. Mai 2020, wonach die Mutter der Antragsteller ebenfalls zu der Personengruppe gehöre, die ein erhöhtes Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf nach einer Infektion mit dem SARS-CoV-2 haben könnte.
5
Ebenfalls am 10. September 2020 haben die Antragsteller den vorliegenden Antrag im Eilrechtsschutz gestellt.
6
Es sei unverständlich, warum für Schülerinnen und Schüler einer Risikogruppe die Möglichkeit bestehe, nach Vorlage eines Attestes im Homeschooling beschult zu werden, dies aber bei Schülern mit einem Familien- oder Haushaltsangehörigen aus einer Risikogruppe nicht möglich sei. Hierbei sei zu berücksichtigen, dass Schulen Orte seien, an welchen ein erhöhtes Ansteckungsrisiko mit COVID-19 bestehe. Dies folge bereits daraus, dass in Ziffer 9 des Rahmen-Hygieneplans ausdrücklich vorgesehen sei, dass das Abstandsgebot zugunsten des Kohortenprinzips aufgehoben werde. Zudem gelte das Gebot zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes gemäß Ziff. 6.4 des Rahmen-Hygieneplans nur außerhalb von Unterrichts-und Arbeitsräumen. Innerhalb einer Kohorte könne somit ein Infektionsrisiko nicht ausgeschlossen werden. Zudem werde insbesondere in Bezug auf den 12. Jahrgang bei dem Antragsgegner das Kohortenprinzip aufgrund des Kurssystems außer Kraft gesetzt. In Jahrgangsstufe 12 würden ca. 120 Kinder im Kurssystem unterrichtet. Aufgrund dieses Kurssystems komme es zu einer ständig anderen Zusammensetzung der Lehrveranstaltungen. Auch in der Jahrgangsstufe 9 würden wiederum die Fächer Religion, Werte und Normen, Politik und Erdkunde nicht im festen Klassenverband unterrichtet, sodass es in diesen Kursen ebenfalls zu abweichenden personellen Zusammensetzungen der Lehrveranstaltungen kommen könne. Weiterhin sei zu bezweifeln, dass das Abstandsgebot als auch das Kohortenprinzip durchgängig eingehalten werde, was insbesondere für den mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurückzulegenden Schulweg gelte. Zudem bestehe für Schulleiter auch nicht die Möglichkeit, einen Coronatest zu verlangen, sondern diese seien darauf angewiesen, dass die Eltern ihrer Schüler ihnen die Wahrheit hinsichtlich eines Coronatests sagten. Dass erkrankte Schüler bis zur Bestätigung ihrer Erkrankung weiter zur Schule gehen, sei ebenfalls nicht zu vermeiden. Zudem sei es zu mehreren Infektionsausbrüchen in Niedersachsen gekommen, in denen die Zusammenarbeit von Schulen und Gesundheitsämtern nicht reibungslos verlaufen sei, was zu einer verspäteten Quarantäneanordnung geführt habe. Ein erhöhtes Ansteckungsrisiko führe unmittelbar zu einem erhöhten Ansteckungsrisiko im häuslichen Umfeld der Schülerinnen und Schüler. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gelte auch für die Familien- oder Haushaltsangehörigen aus einer Risikogruppe. Der Staat habe hier in einem erhöhten Maße Sorge dafür zu tragen, die Ansteckungsgefahr weitestgehend zu verringern. Insofern sei auch die Möglichkeit zum Homeschooling für Schüler mit Angehörigen einer Risikogruppe für den Fall, dass vom Gesundheitsamt in der entsprechenden Schule für einen bestimmten Zeitraum eine Infektionsschutzmaßnahme an der Schule verhängt worden sei (Verwaltungsvorschrift des Niedersächsischen Kultusministeriums zur Befreiung vom Präsenzunterricht bei vulnerablen Angehörigen vom 03.09.2020), mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht vereinbar. Der Schutz von Familienmitgliedern ihrer Schülerinnen und Schüler bedeute für den Antragsgegner überdies keinen erkennbaren Mehraufwand im Vergleich zum Schutz von Schülerinnen und Schülern einer Risikogruppe durch Homeschooling. Hingegen seien die Konsequenzen für die Familie der Antragsteller sowohl bei einer Ansteckung als auch zu deren Vermeidung gravierend. Die Verpflichtung zum Präsenzunterricht hätte zwingend eine dauerhafte räumliche Trennung zwischen Eltern und Kindern zur Folge. Dies wäre nur durch Auszug von Familienmitgliedern aus der Familienwohnung dauerhaft zu gewährleisten. Da keine Aussicht dafür bestehe, dass sich die Pandemiesituation kurzfristig verbessern könnte, würden die Antragsteller und ihre gesamte Familie in ihrem Recht aus Art. 6 Abs. 1 GG beeinträchtigt, nämlich die Intaktheit ihrer Familie zerstört bzw. zumindest massiv gefährdet.
7
Ergänzend verwies der Prozessbevollmächtigte der Antragsteller auf seinen Vortrag in einem zu einem vergleichbaren Sachverhalt geführten Beschwerdeverfahren vor dem Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht (2 ME 388/20). Es sei bei Erlass der Befreiungsregelung für Risikopatienten auch im Kultusministerium davon ausgegangen worden, dass die konkrete Möglichkeit der Entwicklung von Infektionsgeschehen an Schulen bestehe und aus diesem Grunde Schüler und Lehrer, welche einer Risikogruppe angehören, präventiv zu schützen seien. In Bezug auf Schüler mit Angehörigen aus einer Risikogruppe werde hingegen der staatlichen Verpflichtung aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG durch die derzeitigen Regelungen nicht in ausreichender Weise nachgekommen. Auch werde dem Grundrecht auf „Schutz der Familie“ aus Art. 6 GG nicht ausreichend genüge getan. Die Familien würden vor die Wahl gestellt, entweder den betreffenden Angehörigen in einer nicht zumutbaren Weise einem Infektionsrisiko auszusetzen oder aber zum Schutze der vulnerablen Angehörigen einzelne Familienmitglieder voneinander zu isolieren.
8
Die Antragsteller beantragen,
9
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die von der Verpflichtung zur Teilnahme am Präsenzunterricht zu befreien und sie am Homeschooling teilnehmen zu lassen.
10
Der Antragsgegner beantragt,
11
den Antrag abzulehnen.
12
Über den Befreiungsantrag der Antragsteller habe der Antragsgegner noch nicht entschieden, da er von der Landesschulbehörde habe beraten werden müssen. Erst am 10. September 2020 sei ein Antrag anhand des gebräuchlichen Antragsformulars eingereicht worden, nachdem man am 26. August 2020 zunächst von der Schule beraten worden sei. Der Antrag sei in der Sache unbegründet. Die Antragsteller seien als Schüler und Schülerinnen schulpflichtig nach § 63 Abs. 1 Satz 1 des Nds. Schulgesetzes (im Folgenden NSchG). Eine Befreiung hiervon sei nur in begründeten Ausnahmefällen möglich. Zu Zeiten der Corona-Pandemie sei die Schulbesuchspflicht weiter durch die Bestimmungen der Vorschriften der „Niedersächsischen Verordnung zur Neuordnung der Maßnahmen gegen die Verbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2“ (Nds. Corona-Verordnung) vom 10. Juli 2020 und dort insbesondere durch § 17 Abs. 1 Nds. Corona-Verordnung ausgestaltet, wonach der eingeschränkte Regelbetrieb mit der Folge gelte, dass grundsätzlich wieder die Teilnahme am Präsenzunterricht in der Schule die Regel sei. Der § 17 Abs. 1 Nds. Corona-Verordnung verweise weiter auf den Rahmen-Hygieneplan. Die im Rahmen-Hygieneplan genannte Ausnahmevorschrift sei – auch unter Berücksichtigung der aktuellen Verwaltungsvorschrift des Niedersächsischen Kultusministeriums zur Befreiung vom Präsenzunterricht bei vulnerablen Angehörigen vom 03. September 2020 nicht einschlägig, da hier neben der Zugehörigkeit eines Angehörigen im gemeinsamen Haushalt zu einer Risikogruppe weitere Voraussetzung für eine Befreiung von der Präsenzpflicht sei, dass das Gesundheitsamt für einen bestimmten Zeitraum eine Infektionsschutzmaßnahme an dieser Schule verhängt habe, was vorliegend nicht der Fall sei. Insofern könne nicht jede abstrakte Gefährdung den Ausschluss vom Präsenzunterricht rechtfertigen, sondern dies solle nur dann möglich sein, wenn eine Gefährdung hinreichend konkret ist. Hierdurch sei das Recht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 GG in Einklang gebracht worden mit dem Recht auf Bildung aus Art. 4 Abs. 2 Niedersächsische Verfassung sowie dem staatlichen Bildungsauftrag aus Art. 7 Abs. 1 GG.
13
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie den Verwaltungsvorgang verwiesen.
II.
14
Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hat keinen Erfolg. Der zulässige Antrag ist unbegründet.
15
Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes erlassen, wenn diese Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile oder aus anderen Gründen notwendig erscheint. Dazu müssen die Antragsteller grundsätzlich glaubhaft machen, dass die gerichtliche Entscheidung eilbedürftig ist (Anordnungsgrund) und der geltend gemachte Anspruch besteht (Anordnungsanspruch). Besondere Anforderungen gelten für den Fall, dass die begehrte Anordnung die Entscheidung in der Hauptsache vorwegnehmen würde. Da die einstweilige Anordnung grundsätzlich nur zur Regelung eines vorläufigen Zustandes ausgesprochen werden darf, ist sie in diesen Fällen nur möglich, wenn sonst das Grundrecht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes verletzt würde. So darf die Entscheidung in der Hauptsache ausnahmsweise vorweggenommen werden, wenn ein Hauptsacheverfahren mit überwiegender Wahrscheinlichkeit Erfolg haben würde und wenn es dem Antragsteller darüber hinaus schlechthin unzumutbar wäre, den Abschluss des Hauptsacheverfahrens abzuwarten (vgl. z. B. VG Braunschweig, B. v. 03.08.2010 - 6 B 126/10 -, juris Rn. 2; Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl. 2017, Rn. 190 ff.). Diese Anforderungen sind hier nicht erfüllt.
16
Der Eilantrag ist auf die Vorwegnahme der Hauptsache gerichtet. Eine die Anforderungen an den Erlass einer einstweiligen Anordnung erhöhende Vorwegnahme der Hauptsache liegt schon dann vor, wenn die begehrte Entscheidung des Gerichts dem Antragsteller für die Dauer eines Hauptsacheverfahrens die Rechtsposition vermitteln würde, die er in der Hauptsache anstrebt (vgl. Nds. OVG, B. v. 23.11.1999 - 13 M 3944/99 -, NVwZ-RR 2001, 241; Finkelnburg/Dombert/Külpmann, a. a. O., Rn. 179 ff.). Dies ist hier der Fall. Die Antragsteller wollen mit ihrem Antrag die vorläufige Befreiung von der Teilnahme am Präsenzunterricht sowie die Teilnahme am Homeschooling erreichen, also bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens die Rechtsposition einnehmen, die sie im Hauptsacheverfahren anstreben.
17
Die Antragsteller haben einen Anordnungsanspruch allerdings nicht glaubhaft gemacht. Nach den vorliegenden Unterlagen und dem Vorbringen der Beteiligten wird das Hauptsacheverfahren nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit Erfolg haben. Den Antragstellern steht nach gegenwärtigem Sachstand kein Anspruch auf Befreiung von der Teilnahme am Präsenzunterricht sowie auf Teilnahme am Homeschooling zu.
18
Ein Anspruch ergibt sich zunächst nicht aus den Regelungen des Niedersächsischen Schulgesetzes (NSchG). Gemäß Art. 4 Abs. 2 Satz 1 Niedersächsische Verfassung – NV – und §§ 63 ff. NSchG besteht eine allgemeine Schulpflicht. Diese umfasst grundsätzlich die Pflicht zur Teilnahme am Präsenzunterricht (vgl. Nds. OVG, B. v. 30.04.2020 - 13 MN 131/20 -, juris Rn. 27), was auch bereits im Wortlaut des § 63 Abs. 1 NSchG („zum Schulbesuch verpflichtet“) angelegt ist.
19
Von dieser Präsenzpflicht sieht § 69 Abs. 1 NSchG eine Ausnahme vor, wonach Schülern, die infolge einer längerfristigen Erkrankung die Schule nicht besuchen können, Unterricht zu Hause oder im Krankenhaus in angemessenem Umfang erteilt werden soll. Dieser Ausnahmetatbestand liegt ersichtlich nicht vor. Die Antragsteller sind – unstreitig – nicht erkrankt. Ebenso ist hier § 70 NSchG nicht einschlägig, der besondere Voraussetzungen für ein Ruhen bzw. das Ende der Schulpflicht regelt.
20
Eine darüberhinausgehende Befreiung vom Präsenzunterricht ist im Niedersächsischen Schulgesetz nicht weiter geregelt.
21
Ergänzt werden die Regelungen des Niedersächsischen Schulgesetzes jedoch durch Verwaltungsvorschriften des Kultusministeriums, welche ihrem Charakter als Durchführungsbestimmungen entsprechend in Gestalt generell geltender Erlasse oder Rundverfügungen bzw. Bekanntmachungen herausgegeben und häufig als „Ergänzende Bestimmungen“ bezeichnet werden (vgl. Littmann in: Brockmann/Littmann/Schippmann, NSchG Kommentar, Stand September 2020, § 60 Erl. 2). Sie sind keine Rechtsnormen, sondern sollen eine einheitliche Auslegung und gleichmäßige Anwendung der gesetzlichen Regelungen durch die Schulbehörden und die Schulen gewährleisten.
22
Soweit sich die Verwaltung auf der Grundlage der „Ergänzenden Bestimmungen zum Rechtsverhältnis zur Schule und zur Schulpflicht“ (RdErl. d. MK v. 01.12.2016, SVBl. S. 705, VORIS 22410, im Folgenden: Ergänzende Bestimmungen zu § 63 NSchG) auf eine bestimmte Verwaltungspraxis hinsichtlich weitergehender Befreiungen von der Schulpflicht angeeignet hat, besteht im vorliegenden Fall jedoch auch kein Anspruch aus Art. 3 Abs. 1 GG i. V. m. den Grundsätzen der Selbstbindung der Verwaltung. Nach Art. 3 Abs. 1 GG kann zwar dem Einzelnen ein Anspruch gegen die Behörde auf Vornahme einer bestimmten Maßnahme zustehen, wenn sie in der Vergangenheit und oder der Gegenwart einen vergleichbaren Sachverhalt einheitlich in dieser Weise bewertet und geregelt hat. Auch nach der derzeit ständigen Verwaltungspraxis hinsichtlich vulnerabler Angehöriger stünde den Antragstellern aber kein Anspruch auf Befreiung vom Präsenzunterricht zu.
23
Eine Befreiung vom Unterricht ist gem. Nr. 3.2 der Ergänzenden Bestimmungen zu § 63 NSchG nur in besonders begründeten Ausnahmefällen und nur auf rechtzeitigen schriftlichen Antrag zulässig (vgl. Brockmann in: Brockmann/Littmann/Schippmann, NSchG Kommentar, Stand September 2020, § 63 Erl. 3.2.1). Hierüber entscheidet die Schulleitung bzw. bei Befreiungen über einen Zeitraum von 3 Monaten hinaus die Landesschulbehörde. Der Antragsgegner hat hierzu zunächst den Rahmen-Hygieneplan herangezogen, welcher die diesbezügliche Verwaltungspraxis im Rahmen des Corona-Geschehens näher ausgestaltet. Nach Nr. 24.1 des Rahmen-Hygieneplans nehmen im – derzeit vollzogenen – „Eingeschränkten Regelbetrieb“ (Szenario A) auch Schülerinnen und Schüler einer (in Kap. 24 des Rahmen-Hygieneplans näher beschriebenen) Risikogruppe bzw. mit im selben Haushalt lebenden Angehörigen einer Risikogruppe wieder regelmäßig am Unterricht in der Schule teil. Für Schülerinnen und Schüler einer Risikogruppe ist gem. Nr. 24.1 des Rahmen-Hygieneplans allerdings nach Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung die ausschließliche Teilnahme am Lernen zu Hause möglich. Befreiungsmöglichkeiten für Schüler mit vulnerablen Angehörigen sind im Rahmen-Hygieneplan nicht weiter geregelt. Aber auch für solche kommt nach derzeitiger Verwaltungspraxis eine Befreiung vom Unterricht in Betracht. Gemäß einer Handlungsanweisung des Niedersächsischen Kultusministeriums zur Befreiung vom Präsenzunterricht bei vulnerablen Angehörigen vom 3. September 2020 wird ein besonders begründeter Einzelfall in diesen Fällen angenommen, wenn (1.) glaubhaft gemacht worden ist (z.B. durch Vorlage eines Attestes), dass die Angehörige oder der Angehörige zu einer Risikogruppe gehört, (2.) die Schülerin oder der Schüler mit der oder dem Angehörigen in einem räumlich nicht trennbaren Lebensbereich dauerhaft wohnt und sich enge Kontakte zwischen der Schülerin oder dem Schüler einerseits und der oder dem Angehörigen andererseits trotz Einhaltung aller Hygieneregeln nicht vermeiden lassen, wobei davon ausgegangen wird, dass dies bei Alleinerziehenden, Erziehungsberechtigten und Geschwisterkindern vorrangig, bei Großeltern etc. nachrangig der Fall ist und (3.) vom Gesundheitsamt für einen bestimmten Zeitraum eine Infektionsschutzmaßnahme an der Schule verhängt wurde. Die zuletzt genannte Voraussetzung ist vorliegend nicht erfüllt. Die Antragsteller gehören selbst keiner Risikogruppe an. Hinsichtlich der Befreiung wegen der Vorerkrankung der Eltern fehlt es ausweislich des Schriftsatzes des Antragsgegners vom 11. September 2020 am Vorliegen eines Infektionsfalles an der Schule. Infektionsschutzmaßnahmen seitens des Gesundheitsamtes waren und sind zum aktuellen Zeitpunkt – wie auch eine erneute Nachfrage des Gerichts beim Antragsgegner am 8. Oktober 2020 ergab - nicht erforderlich gewesen.
24
Ein über diese Verwaltungspraxis hinausgehender Anspruch der Antragsteller auf Homeschooling lässt sich auch nicht aus den Grundrechten direkt herleiten. Dies wäre nur dann der Fall, wenn der Schutzanspruch der Eltern der Antragsteller keine andere Entscheidung als die Befreiung von der Präsenzpflicht zuließe.
25
Eine Verletzung der staatlichen Verpflichtung zum Schutze des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG ist hier nicht zu erkennen.
26
Zwar ist das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit nicht nur ein subjektives Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe, sondern umfasst auch die Pflicht des Staates, sich schützend und fördernd vor das Leben des Einzelnen zu stellen und es vor Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit und der Gesundheit zu schützen. Doch kommt dem Gesetzgeber auch dann, wenn er dem Grunde nach verpflichtet ist, Maßnahmen zum Schutz eines Rechtsguts zu ergreifen, ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu. Was konkret zu tun ist, um Grundrechtsschutz zu gewährleisten, hängt von vielen Faktoren ab, im Besonderen von der Eigenart des Sachbereichs, den Möglichkeiten, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden, und der Bedeutung der betroffenen Rechtsgüter (vgl. BVerfG, B. v. 26.02.2020 - 2 BvR 2347/15 - Rn. 224 m.w.N.). Dabei hat er auch anderen grundrechtlich geschützten Freiheiten Rechnung zu tragen, kann die gesellschaftliche Akzeptanz der angeordneten Maßnahmen berücksichtigen und ein behutsames oder auch wechselndes Vorgehen im Sinne langfristig wirksamen Lebens- und Gesundheitsschutzes für angezeigt halten. Die Verletzung einer Schutzpflicht liegt demnach nur vor, wenn Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen sind, wenn die getroffenen Regelungen und Maßnahmen offensichtlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, das gebotene Schutzziel zu erreichen, oder wenn sie erheblich hinter dem Schutzziel zurückbleiben (vgl. BVerfG, B. v. 12.05.2020 - 1 BvR 1027/20 - juris Rn. 6f. m.w.N.). Die Verfassung gebietet dabei keinen vollkommenen Schutz vor jeglicher Gesundheitsgefahr. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gilt dies im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie umso mehr, als ein „gewisses Infektionsrisiko mit dem neuartigen Corona-Virus derzeit für die Gesamtbevölkerung zum allgemeinen Lebensrisiko gehört“ (vgl. BVerfG, Beschl. v. 19.05.2020 - 2 BvR 483/20 - juris Rn. 8; Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 18. September 2020 – 1 S 2831/20 –, juris Rn. 10).
27
Es kann zunächst nicht die Rede davon sein, dass der Antragsgegner überhaupt keine Schutzvorkehrungen getroffen hätte, was im Übrigen auch die Antragsteller nicht in Abrede stellen.
28
Nach § 17 Abs. 1 der Nds. Corona-VO findet der Unterricht an allen Schulen in festgelegten Gruppen statt, die in ihrer Personenzusammensetzung möglichst unverändert bleiben. So soll gewährleistet werden, dass eine etwaige Infektionskette nachvollzogen werden kann. Zwischen Personen, die nicht derselben Gruppe angehören, ist das Abstandgebot einzuhalten. Zudem hat jede Person außerhalb von Unterrichts- und Arbeitsräumen eine Mund-Nase-Bedeckung in von der Schule besonders gekennzeichneten Bereichen zu tragen. Außerdem ist an allen Schulen der Niedersächsische Rahmen-Hygieneplan Corona Schule vom 5. August 2020 zu beachten (§ 17 Abs. 5 Nds. Corona-VO). Neben dem Modell des „Eingeschränkten Regelbetriebs“ (Szenario A) sind auch bereits Modelle vorgesehen, die bei regional deutlich erhöhten Infektionszahlen eingreifen, bis hin zur Schulschließung im Szenario C. Danach richtet sich auch der Antragsgegner.
29
Soweit die Antragsteller in diesem Zusammenhang vortragen, das Kohortenprinzip werde beim Antragsgegner wegen des dort herrschenden Kurssystems außer Kraft gesetzt, trifft dies nicht zu. Zwar sollen laut Nr. 9 des Rahmen-Hygieneplans die Kohorten möglichst klein gehalten werden (im Idealfall bilde eine Klasse/Lerngruppe eine Kohorte). Grundsätzlich kann eine Kohorte jedoch maximal einen ganzen Schuljahrgang umfassen. Dass somit jahrgangsintern in unterschiedlichen Kursen unterrichtet wird, begegnet (auch vor dem Hintergrund, dass sich für Schüler der gymnasialen Oberstufe die Kurszusammenstellung regelmäßig individuell gestaltet) keinen rechtlichen Bedenken. Es geht bei der Durchführung des Kohortensystems auch nicht vornehmlich darum, mit möglichst wenigen Personen in Kontakt zu treten. Entscheidend am Kohortensystem ist, die Lerngruppen so konstant wie möglich zu halten und die Zusammensetzung zu dokumentieren. Durch die Definition von Gruppen in fester überschaubarer Zusammensetzung (Kohorten) lassen sich im Infektionsfall nämlich die Kontakte und Infektionswege wirksam nachverfolgen. Dass dies nicht auch in einem klassenübergreifenden Kurssystem möglich ist, haben die Antragsteller weder dargetan noch ist dies ersichtlich.
30
Entsprechend den Vorgaben des Niedersächsischen Rahmen-Hygieneplans hat zudem auch der Antragsgegner besondere Hygieneregelungen für den Schulbesuch aufgestellt (vgl. den vom Antragsgegner im Verfahren vorgelegten „Hygieneplan I. Szenario A (eingeschränkter Regelbetrieb)“). Hierzu gehören zum Beispiel die Anmeldung von Personen, die nicht Schüler oder Lehrer des Antragsgegners sind im Sekretariat, die grundsätzliche Anwendung eines Mund-Nase-Schutzes auf dem gesamten Schulgelände außerhalb des Unterrichts (mit Ausnahme der Essensaufnahme) sowie das „Prinzip der offenen Türen“ zur Reduzierung des Risikos eines Berührens häufig genutzter Flächen wie Türklinken. Zudem werden Vorgaben dazu gemacht, dass nach dem Husten oder Niesen, der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel, vor dem Essen, unmittelbar nach Betreten des Unterrichtsraumes, vor und nach dem Schulsport, im Zuge der gemeinsamen Benutzung von Gegenständen beim Experimentieren sowie nach dem Toilettengang die Hände für 20 bis 30 Sekunden mit Wasser und Seife gründlich gewaschen werden müssen. Ebenso werden die Schüler auf die Bedeutung des Tragens eines Mund-Nase-Schutzes auch an öffentlichen Haltestellen hingewiesen.
31
Diese Maßnahmen wurden getroffen, um das Risiko der Ansteckung für Schülerinnen und Schüler – und damit auch ihrer Angehörigen - auf ein zumutbares Maß zu reduzieren. Im Rahmen der hier allein gebotenen summarischen Prüfung erscheinen die getroffenen Regelungen und Maßnahmen nicht gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich. Sie entsprechen den bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Ausbreitung des Virus.
32
Auch der nach den Sommermonaten nunmehr wieder festgestellte Anstieg der Infektionszahlen führt nach Ansicht der Kammer (derzeit noch) nicht zu einer anderen Einschätzung der Geeignetheit der getroffenen Maßnahmen. Soweit die Antragsteller wachsende Fallzahlen im Bereich der Landeshauptstadt, dortige Schulschließungen sowie Probleme in der Zusammenarbeit zwischen Schulen und Gesundheitsämtern mit der Folge verspäteter Quarantäneanordnungen anführen, sind diese Umstände bereits regional nicht auf den vorliegenden Fall übertragbar. Das Infektionsgeschehen im Bereich der Stadt A-Stadt unterscheidet sich deutlich von demjenigen in der Region B-Stadt. Laut dem COVID-19 Dashboard des Robert-Koch-Institutes (Stand: 08.10.2020) hat es in A-Stadt seit Beginn der Pandemie 204,9 Coronafälle bezogen auf 100.000 Einwohner gegeben. In den letzten 7 Tagen sei es zu 11,6 neuen Ansteckungsfällen pro 100.000 Einwohner gekommen. In der Region B-Stadt ist es hingegen zu 396,3 Fällen pro 100.000 Einwohner gekommen und zu 20,0 neuen Ansteckungsfällen pro 100.000 Einwohner in den letzten 7 Tagen. Im Übrigen liegen der Kammer derzeit keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Anstieg der Fallzahlen maßgeblich auf Ansteckungen in Schulen bzw. durch unzureichende Hygienekonzepte in Schulen zurückzuführen ist. Das Robert-Koch-Institut nennt vielmehr diverse Infektionsherde und führt hierzu in seiner „Zusammenfassung der aktuellen Lage“ (Stand: 07.10.2020) aus:
33
„Es treten weiterhin bundesweit zahlreiche COVID-19-bedingte Ausbrüche in verschiedenen Settings auf. Fallhäufungen werden insbesondere beobachtet im Zusammenhang mit Feiern im Familien- und Freundeskreis sowie u.a. in Alten- und Pflegeheimen, Krankenhäusern, Einrichtungen für Asylbewerber und Geflüchtete, Gemeinschaftseinrichtungen, verschiedenen beruflichen Settings und im Rahmen religiöser Veranstaltungen sowie in Verbindung mit Reisen bzw. Reiserückkehrern, wobei der Anteil der Fälle mit Exposition im Ausland auf unter 10% gesunken ist.“
34
Weiterhin ist dem Lagebericht auch zu entnehmen, dass die kumulative Inzidenz der letzten 7 Tage deutschlandweit bei 18,6 Fällen pro 100.000 Einwohner lag und sich damit die Fallzahlen der Stadt A-Stadt noch in einem vergleichsweise niedrigen Bereich bewegen.
35
Es wird auch nicht verkannt, dass mit dem Leben und der körperlichen Unversehrtheit überragend wichtige Rechtsgüter in Rede stehen und das Infektionsrisiko der Eltern der Antragsteller durch die Teilnahme der Antragsteller am Präsenzunterricht ohne Mindestabstand und ohne Verpflichtung zum Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung im Unterricht erhöht ist. Ebenso kann nicht überwacht werden, ob die Schüler auch innerhalb von Schulbussen bzw. sonst auf ihrem Schulweg einen Mund-Nase-Schutz tragen und ob sämtliche Eltern ihren Mitteilungspflichten gegenüber dem Antragsgegner vollumfänglich nachkommen. Insofern würde die vollständige soziale Isolation der gesamten Bevölkerung wohl den besten Schutz gegen eine Infektion bieten. Doch kann nur durch die unter bestimmten Bedingungen zugelassene soziale Interaktion auch anderen grundrechtlich geschützten Freiheiten Rechnung getragen werden (vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss v. 12.5.2020 - 1 BvR 1027/20 -, juris Rn. 7). Insofern hat der Antragsgegner bei den zur Eindämmung der Pandemie zu treffenden Maßnahmen stets deren Verhältnismäßigkeit auch im Hinblick auf kollidierende Grundrechte und Staatsschutzziele zu prüfen. Er hat mit seiner Entscheidung gleichzeitig dem Bildungsauftrag des Staates aus Art. 7 Abs. 1 GG und dem Bildungsanspruch jedes einzelnen Kindes hinreichend Rechnung zu tragen. Ein Kernstück dessen ist die Schulbesuchspflicht. Nur sie gewährleistet ausreichende Bildungsgerechtigkeit und eine umfassende Abdeckung der Lehrpläne, denen über die reine Wissensvermittlung hinaus auch der soziale sowie kommunikative Umgang mit Lehrern und Mitschülern immanent ist. Sofern die Verwaltungspraxis über die Risikoeigenschaft hinaus eine Infektionsschutzmaßnahme an der Schule erfordert, differenziert sie damit in zulässiger Weise weiter zwischen einer (bloß) abstrakten, allgemeinen Gefährdungslage sowie der konkreten Gefahr einer Infektion mit dem Corona-Virus SARS-CoV-2 im Falle einer bereits nachgewiesenen Neuinfektion seitens des zuständigen Gesundheitsamtes (VG Hannover, B. v. 10.09.2020 - 6 B 4530/20 -). Eine derart ausdifferenzierte Regelung bringt die widerstreitenden Interessen zwischen der grundsätzlich in Form einer Schulbesuchspflicht bestehenden Schulpflicht gem. § 63 Abs. 1 Satz 1 NSchG i. V. m. Art. 4 Abs. 2 NV und dem staatlichen Schutzauftrag aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG sowie - wie im vorliegenden Fall vulnerabler Angehöriger darüber hinaus zudem – der Verpflichtung zum besonderen Schutz der Familie aus Art. 6 Abs. 1 GG im Wege praktischer Konkordanz in verfassungskonformer Weise zu einem möglichst schonenden Ausgleich (vgl. hierzu auch VG Hannover, B. v. 10.09.2020, - 6 B 4530/20 -; VG Lüneburg, B. v. 14.09.2020, - 4 B 49/20 - beides veröffentlicht in der Nds. Rechtsprechungsdatenbank).
36
Hierbei ist sich die Kammer bewusst, dass das sich ständig verändernde Infektionsgeschehen auch stets neue und ggf. angepasste Beurteilungen der getroffenen Infektionsschutzmaßnahmen erforderlich machen wird. Jedoch ändert dies nichts an der Auffassung, dass auf Basis der derzeitigen Infektionslage gegen die getroffenen Maßnahmen keine Bedenken bestehen.
37
Soweit die Antragsteller eine Verletzung der staatlichen Fürsorgepflicht für Ehe und Familie vor dem Hintergrund einer „erzwungenen“ Trennung der Familienmitglieder geltend machen, erwächst aus Sicht der Kammer auch hieraus kein Anspruch auf Homeschooling. Die Kammer hält – wie bereits ausgeführt – die Maßnahmen, welche zur Eindämmung der Infektionsgefahr getroffen wurden, derzeit für ausreichend. Es liegt insofern nicht mehr im verpflichtenden Verantwortungsbereich des Antragsgegners, den Antragstellern und ihren Eltern ein absolut risikofreies Zusammenleben im gemeinsamen Haushalt zu ermöglichen. Hierbei sollte auch beachtet werden, dass es einzelnen Familienmitgliedern (neben einer völligen Separierung voneinander) möglich und zumutbar ist, durch verstärkte Hygienemaßnahmen wie Abstandsregeln, Lüften sowie häufiges Händewaschen und Desinfizieren Ansteckungsrisiken auch innerhalb einer Familie zu verringern. Erscheint den Antragstellern und deren Eltern ein Zusammenleben trotz der vom Antragsgegner getroffenen Maßnahmen zu risikoreich, müssen diese eine etwaige Separierung voneinander als selbst gewählte gesteigerte Vorsichtsmaßnahme hinnehmen. Auch der Schutz von Ehe von Familie (Art. 6 GG) steht insofern – wie oben zitiert – nicht für sich, sondern ist mit den weiteren vom Antragsgegner zu berücksichtigenden Grundrechten – wie dem im Bildungsauftrag aus Art. 7 GG verhafteten Bildungsanspruch – wie geschehen in Ausgleich zu bringen.
38
Weiterhin erscheint es hier auch nicht willkürlich und mit dem Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar, eine Unterscheidung zwischen Schülern einer bestimmten Risikogruppe und vulnerablen Angehörigen zu treffen.Der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Dem Gesetzgeber ist damit nicht jede Differenzierung verwehrt. Er verletzt das Grundrecht vielmehr nur, wenn er eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die Ungleichbehandlung rechtfertigen könnten (vgl. z.B. BVerfG, Nichtannahmebeschluss v. 20.04.2011 - 1 BvR 1811/08 -, juris Rn. 6). Soweit bei vulnerablen Angehörigen im Gegensatz zu vulnerablen Schülern zusätzlich zum Nachweis der Vulnerabilität hinzukommen muss, dass an der Schule bereits eine Infektionsschutzmaßnahme seitens des Gesundheitsamtes stattgefunden hat, erscheint diese Differenzierung vor dem Hintergrund der oben zitierten Rechtsprechung weder willkürlich noch sachfremd.
39
Soweit die Antragsteller anführen, dass das Kultusministerium aufgrund der für vulnerable Schüler im Rahmen-Hygieneplan eröffneten Befreiungsmöglichkeit vom Präsenzunterricht von einem bereits konkreten Ansteckungsrisiko ausgegangen sein müsse, was impliziere, dass auch die vulnerablen Angehörigen bei einem derartigen Risiko weitestgehend und ebenso geschützt werden müssen, ist dem nicht zu folgen. Unabhängig von der Einordnung eines Risikos als abstrakt bzw. bereits konkret erscheint es jedenfalls sachgerecht, abhängig vom Risikograd der Ansteckung unterschiedlich weitreichende Schutzvorkehrungen zu treffen. Selbst bei einem noch abstrakten Ansteckungsrisiko kann das Treffen von Vorkehrungen zum Schutze der Bevölkerung sinnvoll und notwendig sein. Dies ist durch die umfangreichen Regelungen des Rahmen-Hygieneplanes, welcher von den Schulen zu beachten ist, geschehen. Die Möglichkeit zum Homeschooling für vulnerable Schüler stellt hierbei nur eine von vielen unterschiedlichen Maßnahmen dar, um Ansteckungen gerade von körperlich geschwächten Personen (auch bereits im Rahmen eines noch nicht konkreten Ansteckungsfalles) zu vermeiden.
40
Soweit hinsichtlich vulnerabler Angehöriger zum Eingreifen der Ausnahmeregelung ein konkretes Infektionsgeschehen gefordert wird, erscheint diese Unterscheidung gerechtfertigt. Zwar dürfte – wie von den Antragstellern vorgetragen – das Risiko einer Infektion vulnerabler Angehöriger dadurch steigen, dass deren Kinder am Präsenzunterricht teilnehmen. Jedoch wurde von den Antragstellern nicht glaubhaft gemacht und ist auch sonst nicht ersichtlich, dass das Risiko für vulnerable Angehörige durch den Schulbesuch ihrer Kinder ebenso hoch ist wie für die Kinder selbst, eine Differenzierung hier mithin willkürlich wäre. Der Gefahrengrad einer Infektion liegt hier auf einer anderen Ebene als bei vulnerablen Schülern, die sich selbst unmittelbar dem Schulbetrieb aussetzen.
41
Es bestehen gegenwärtig keine Anhaltspunkte dafür, dass es bei einer Ansteckung von Schülerinnen und Schülern einer Schule in jedem Falle (also jedenfalls annähernd zu 100 %) auch zu einer Ansteckung der im selben Haushalt lebenden Angehörigen kommt, das Ansteckungsrisiko für beide Gruppen somit gleich hoch ist. Studienergebnisse legen (unbenommen ihrer Vorläufigkeit und diversen darin enthaltenen Unsicherheiten) eher etwas anderes nahe. So scheint es diverse Studien zu geben, welche sich mit der sogenannten sekundären Befallsrate, englisch „secondary attack rate" (abgekürzt SAR) befassen. Ein Artikel der Spiegel-Online-Ausgabe zu diesem Thema vom 7. Mai 2020 („Studie zum Coronavirus : Risikofaktor Familie“, https://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/studie-zum-coronavirus-risikofaktor-familie-a-c9838e3b-f00a-4cbe-859e-f3c7c6903c15) verweist auf diverse Studienergebnisse. Bereits frühere Studien aus China hätten gezeigt, dass das neue Coronavirus nicht zwingend alle Mitglieder eines Haushalts trifft, wenn es einmal eingeschleppt wurde. Auch nach den Daten der Studie zum Corona-Ausbruch im nordrhein-westfälischen Ort Gangelt stecke man sich zwar mit größerer Wahrscheinlichkeit an als der Durchschnitt (durchschnittlich 16 %). Dabei sei das Risiko mit wachsender Haushaltsgröße allerdings immer weniger stark angestiegen. In einem 2-Personen-Haushalt habe die Ansteckungsrate bei 44 %, in einem 3-Personen-Haushalt noch bei 36 % und in einem 4-Personen-Haushalt bei 18 % gelegen. Ergebnisse, die in eine ähnliche Richtung deuten, sind einem Artikel vom 31. Juli 2020 zu einer vorläufigen Meta-Studie der Johns-Hopkins-Universität („Household transmission of SARS-CoV-2: a systematic review and meta-analysis of secondary attack rate“, https://ncrc.jhsph.edu/research/household-transmission-of-sars-cov-2-a-systematic-review-and-meta-analysis-of-secondary-attack-rate/) zu entnehmen, in welcher 40 vorangegangene Studien ausgewertet worden sind. Die Kammer ist sich bewusst, dass sich aus den vorliegenden Studien nur vorläufige Erkenntnisse ergeben und vieles noch ungeklärt ist. Allerdings gibt es wissenschaftlich basierte, deutliche Hinweise darauf, dass vulnerable Schüler und vulnerable Angehörige im Zusammenhang mit dem Schulbesuch einem unterschiedlichen Ansteckungsrisiko ausgesetzt sind. Gegenteiliges haben die Antragsteller nicht glaubhaft gemacht. Darlegungen zu dieser Frage sind nicht erfolgt.
42
Letztlich liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass im vorliegenden Einzelfall eine Abweichung von der derzeitigen Verwaltungspraxis geboten wäre. Weder dem Verwaltungsvorgang noch dem Vorbringen der Antragsteller sind Angaben zu den spezifischen Erkrankungen der Eltern der Antragsteller zu entnehmen, welche eine andere Gewichtung der auszugleichenden grundrechtlichen Aspekte nahelegen würden.
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Tenor
1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil der 4. Zivilkammer des Landgerichts Mainz vom 14.08.2019 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Klage gegen den Beklagten zu 2) als unbegründet abgewiesen wird.
2. Der Kläger hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
3. Dieses Urteil und das angefochtene Urteil sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
Gründe
I.
1
Der Darstellung tatsächlicher Feststellungen gemäß § 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO bedarf es nicht, weil ein Rechtsmittel gegen dieses Urteil unzweifelhaft nicht zulässig ist; der Wert der mit der Revision geltend zu machenden Beschwer übersteigt 20.000 € nicht (§§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 Satz 1, 543 Abs. 1, 544 Abs. 2 Nr. 1 ZPO).
II.
2
Die Berufung des Klägers ist zulässig, hat in der Sache aber keinen Erfolg. Das Landgericht hat die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen, wobei sie sich gegen den Beklagten zu 2) als zulässig, aber unbegründet erweist. Die Berufung ist deshalb mit dieser Maßgabe zurückzuweisen; hierin liegt kein Verstoß gegen das Verbot der reformatio in peius (Verschlechterungsverbot, § 528 ZPO; vgl. nur Ball, in: Musielak/Voit, ZPO, 17. Aufl. 2020, § 528 Rn. 18 m.w.N.).
A.
3
Die beklagtenseits vorgetragenen Bedenken gegen die Zulässigkeit der Berufung greifen nicht durch. Die Berufung ist weder deshalb unzulässig, weil der Kläger innerhalb der Berufungsbegründungsfrist keinen ausdrücklichen Sachantrag gestellt hat (vgl. § 520 Abs. 3 Nr. 1 ZPO), noch fehlt es an einer hinreichenden Berufungsbegründung im Hinblick auf die Abweisung der gegen den Beklagten zu 2) gerichteten Klage (vgl. § 520 Abs. 3 Nr. 2 bis 4 ZPO).
4
1. Nach § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 ZPO muss die Berufungsbegründung die Erklärung enthalten, inwieweit das erstinstanzliche Urteil angefochten wird und welche Abänderungen beantragt werden. Für diese Erklärung bedarf es keiner ausdrücklichen Stellung eines Sachantrags; es reicht aus, wenn die Begründung den Schluss auf die Weiterverfolgung des erstinstanzlichen Begehrens zulässt. Bei der Beurteilung ist im Grundsatz davon auszugehen, dass ein Rechtsmittel im Zweifel gegen die gesamte angefochtene Entscheidung gerichtet ist, diese also insoweit angreift, als der Rechtsmittelführer durch sie beschwert ist (vgl. BGH, Beschluss v. 26.06.2019 - VII ZB 61/18 -, NJW-RR 2019, 1022 Rn. 9 m.w.N. - alle Entscheidungen zitiert nach juris).
5
Ausweislich der Berufungsschrift vom 29.08.2019 ist die Berufung ausdrücklich gegen beide Beklagte gerichtet. Mit der Berufungsbegründung macht der Kläger (neben einem Widerruf des streitgegenständlichen Baumkaufvertrags) geltend, dass er nach den vertraglichen Gegebenheiten tatsächlich kein Eigentum an den Bäumen habe erlangen können. Er widerspricht hiermit der gegenteiligen Auffassung des Landgerichts, welches mit der Begründung, ein Eigentumsübergang auf den Kläger habe stattgefunden, eine unerlaubte Handlung der Beklagten nach § 826 BGB verneint und deshalb die Klage gegen die Beklagte zu 1) als unbegründet und gegen den Beklagten zu 2) als unzulässig abgewiesen hat; hinsichtlich des Beklagten zu 2) hatte das Landgericht deshalb eine internationale Zuständigkeit nach Art. 5 Nr. 3 LugÜ II (Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. EU v. 21.12.2007 L 339 S. 3 ff.) verneint. Vor diesem Hintergrund stellt der Kläger in der Berufungsbegründung abschließend fest, dass das Urteil des Landgerichts im Ergebnis keinen Bestand haben könne. Aus alldem ergibt sich mit hinreichender Klarheit, dass der Kläger das Urteil des Landgerichts insgesamt hinsichtlich beider Beklagter zur Überprüfung stellen wollte.
6
2. Aus dem Vorgesagten folgt zugleich, dass entgegen der Auffassung der Beklagten auch im Hinblick auf die Abweisung der Klage gegen den Beklagten zu 2) eine den Anforderungen des § 520 Abs. 3 ZPO genügende Berufungsbegründung gegeben ist. Das Landgericht hat hinsichtlich der Klage gegen den Beklagten zu 2) eine internationale Zuständigkeit nach Art. 5 Nr. 3 LugÜ II u.a. deshalb verneint, weil eine Eigentumsübertragung der Bäume auf den Kläger erfolgt sei und dieser daher gerade nicht in sittenwidriger Weise geschädigt worden sei. Indem der Kläger in der Berufungsbegründung näher darlegt, weshalb entgegen der landgerichtlichen Urteilsbegründung tatsächlich kein Eigentumsübergang an den Bäumen auf ihn habe stattfinden können, stellt er auch die Argumentation im angegriffenen Urteil in Frage, dass eine internationale Zuständigkeit aus unerlaubter Handlung nach Art. 5 Nr. 3 LugÜ II nicht gegeben sei. Die Berufungsbegründung ist damit hinreichend auf den konkreten Streitfall zugeschnitten. Auf die Richtigkeit der landgerichtlichen Begründung oder die Schlüssigkeit der Ausführungen des Klägers selbst kommt es insoweit nicht an; dies betrifft nur die Prüfung der Begründetheit der Berufung.
B.
7
1. Das Landgericht hat die Klage gegen die Beklagte zu 1) im Ergebnis zu Recht für zulässig, aber unbegründet erachtet.
8
a) Die von Amts wegen zu prüfende internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte (vgl. nur BGH, Urteil v. 28.02.2012 - XI ZR 9/11 -, NJW 2012, 1817 Rn. 12) ergibt sich für das gegen die Beklagte zu 1) verfolgte Schadensersatzbegehren hinsichtlich aller in Betracht kommenden Anspruchsgrundlagen aus Art. 15 Nr. 1 lit. c), Art. 16 Abs. 1 Alt. 2 LugÜ II (Zuständigkeit für Verbrauchersachen). Das Übereinkommen hat gemäß Art. 64 Abs. 2 lit. a) LugÜ II Vorrang vor dem nationalen Prozessrecht.
9
aa) Eine Anwendung der Art. 15 Nr. 1 lit. c), Art. 16 Abs. 1 Alt. 2 LugÜ ist nicht dadurch ausgeschlossen, dass der zwischen den Parteien geschlossene Rahmenvertrag in Ziffer 24 Streitigkeiten einzig der ordentlichen Gerichtsbarkeit am schweizerischen Sitz der Beklagten zu 1) unterstellt. Von den Vorschriften über die Zuständigkeit bei Verbrauchersachen kann gemäß Art. 17 LugÜ II im Wege der Vereinbarung nur dann abgewichen werden, wenn die Vereinbarung nach der Entstehung der Streitigkeit getroffen wird, dem Verbraucher lediglich zusätzliche Klagemöglichkeiten eröffnet oder die Gerichte des Staats für zuständig erklärt, in dem beide Parteien zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben. Keine der genannten Alternativen ist hier gegeben. Insbesondere hatte der Kläger im Zeitpunkt des Vertragsschlusses seinen Wohnsitz und seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland.
10
bb) Die Voraussetzungen der Art. 15 Abs. 1 lit. c), Art. 16 Abs. 1 Alt. 2 LugÜ II sind hier erfüllt. Danach kann ein Verbraucher eine Klage vor den Gerichten des Vertragsstaats erheben, in dessen Hoheitsgebiet er seinen Wohnsitz hat, wenn der andere Vertragspartner im Wohnsitzstaat des Verbrauchers eine berufliche oder gewerbliche Tätigkeit ausübt oder eine solche auf irgendeinem Wege auf diesen Staat ausrichtet und der Vertrag in den Bereich dieser Tätigkeit fällt. Der Kläger hat die Vereinbarung zum Erwerb der Bäume in Brasilien mit der Beklagten zu 1) als Verbraucher im Sinne von Art. 15 Abs. 1 LugÜ II abgeschlossen. Unter einem Verbraucher ist eine Person zu verstehen, die zu einem Zweck tätig wird, der nicht ihrer beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit zugerechnet werden kann. Der Vertrag diente der Anlage und Verwaltung des privaten Vermögens des Klägers und kann deshalb nicht seiner gewerblichen oder beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden (vgl. BGH, Versäumnisurteil v. 20.12.2011 - VI ZR 14/11 -, WM 2012, 852 Rn. 21). Unstreitig bietet die Beklagte zu 1) den Kauf von Bäumen in Brasilien als ökologisch und wirtschaftlich sinnvolles Investment gerade auch Kunden in Deutschland an. Sie hat den Kläger auf seine Interessebekundung im Internet in Deutschland angerufen und ihm eine Werbebroschüre nebst den Vertragsunterlagen an seine Heimatadresse zugeschickt. Sie hat damit ihre Absicht, den Kläger als Kunden in Deutschland zu gewinnen, zum Ausdruck gebracht und ihn durch den Anruf und die zugesandten Unterlagen maßgeblich zum Vertragsschluss motiviert.
11
cc) Von der hiernach gegebenen Zuständigkeit in Verbrauchersachen werden nicht nur vertragliche Ansprüche im engen Sinne erfasst. Auch Ansprüche wegen Verletzung vorvertraglicher Aufklärungspflichten sowie (konkurrierende) nicht vertragliche Anspruchsgrundlagen, insbesondere deliktischer und bereicherungsrechtlicher Natur können Art. 15 LugÜ unterfallen (Geimer, in: Zöller, ZPO, 33. Aufl. 2020, Art. 17 EUGVVO/Art. 15 LugÜ Rn. 17 m.w.N.; Gottwald, in: MünchKomm ZPO, 5. Aufl. 2017, Brüssel Ia-VO Art. 17 Rn. 5 f.). Insofern genügt es, dass sich die Klage allgemein auf einen Vertrag bezieht und eine so enge Verbindung zu diesem Vertrag aufweist, dass sie von ihm nicht getrennt werden kann (BGH, a.a.O., Rn. 22).
12
Ausgehend von diesen Grundsätzen ist insbesondere auch der klägerseits geltend gemachte Anspruch nach § 826 BGB als Anspruch aus einem Vertrag im Sinne von Art. 15 Abs. 1 LugÜ II anzusehen. Der Kläger stützt sich darauf, dass die Beklagte zu 1) ihn mit falschen Versprechen zum Abschluss der Vereinbarung über den Erwerb von Bäumen in Brasilien veranlasst und hierdurch geschädigt habe. Insbesondere habe sie ihn darüber getäuscht, dass er mit dem Vertragsabschluss und der Übersendung der sein persönliches Eigentum bescheinigenden Baumurkunde tatsächlich Eigentum an den gekauften Bäumen erwirbt. Sein Begehren ist mithin untrennbar mit dem Erwerbsvertrag verbunden.
13
b) Die mithin zulässige Klage gegen die Beklagte zu 1) erweist sich jedoch als unbegründet. Der Kläger kann von der Beklagten zu 1) keine Rückzahlung des Kaufpreises von 9.808,66 € verlangen.
14
aa) Das Landgericht hat zu Recht festgestellt, dass die Beklagte zu 1) dem Kläger nicht fälschlich vorgespiegelt hat, aufgrund der getroffenen Vereinbarung Eigentum an den 265 Teakbäumen in Brasilien zu erwerben. In Ermangelung einer vorsätzlichen Täuschung scheiden daher sowohl vorvertragliche als auch deliktische Schadensersatzansprüche aus. Aus demselben Grund kommt auch ein bereicherungsrechtlicher Anspruch nach erklärter Anfechtung des Kaufvertrags wegen arglistiger Täuschung nicht in Betracht.
15
(1) Da die klägerseits geltend gemachte Täuschung nicht gegeben ist und folglich hierauf gestützte Ansprüche von vornherein nicht bestehen, kann vorliegend dahinstehen, ob die in Ziffer 24 des Rahmenvertrags enthaltene Rechtswahl nach Art. 3 Abs. 1 der Rom I-VO (Verordnung (EG) Nr. 593/2008) wirksam ist und deshalb auf den Vertrag schweizerisches Recht zur Anwendung kommt oder ob auf deutsche Rechtsnormen abzustellen ist. Ebenso kann offenbleiben, ob sich der konkurrierende deliktische Anspruch gemäß Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO (Verordnung (EG) Nr. 864/2007) nach deutschem Recht richtet oder ob wegen der engen Verbindung mit dem Vertragsverhältnis der Parteien und der in Ziffer 24 des Rahmenvertrags vorgesehenen Rechtswahl nach Art. 4 Abs. 3 Satz 2 Rom II-VO Schweizer Recht anzuwenden ist.
16
(2) Der Kläger hat infolge der vertraglichen Vereinbarung mit der Beklagten zu 1) Eigentum an den 265 Teakbäumen in Brasilien erworben. Der Eigentumserwerb ist nach brasilianischem Recht vollzogen worden. Dies folgt aus den überzeugenden und auch von den Parteien nicht angegriffenen Feststellungen in dem vom Landgericht eingeholten Gutachten ... vom 13.02.2019 (nachfolgend: SV-Gutachten; Bl. 159 ff. d.A.).
17
(a) Auf Rechte an einer Sache ist nach Art. 43 Abs. 1 EGBGB das Recht des Staats anwendbar, in dem sich die Sache befindet. Die Verweisung schließt auch das internationale Privatrecht ein (Art. 4 Abs. 1 Satz 1 EGBGB). Das brasilianische Recht nimmt die Verweisung an; nach Art. 8 des Gesetzes zur Einführung in die Vorschriften des brasilianischen Rechts findet ebenfalls das Recht des Staats Anwendung, in dem sich die Güter befinden (vgl. SV-Gutachten, S. 2, Bl. 160 d.A.).
18
(b) Die ausweislich der vertraglichen Vereinbarung der Parteien zur Abholzung und anschließendem Verkauf bestimmten Bäume unterfallen nach brasilianischem Recht der Kategorie der sog. antizipierten Mobiliargüter und sind rechtlich wie Mobiliargüter gemäß Art. 82 des brasilianischen Código Civil (im Folgenden: CC) und nicht wie Immobilien zu behandeln.
19
Antizipierte Mobiliargüter sind nach brasilianischem Recht Güter, die natürlicherweise oder künstlich mit dem Grund und Boden verbunden sind und daher gemäß Art. 79 CC grundsätzlich unbeweglich wären, aber zur Trennung von Grund und Boden bestimmt sind. Entscheidend ist hierbei der subjektive Zweck der Veräußerung (vgl. SV-Gutachten S. 4 ff., Bl. 162 ff. d.A.). In der brasilianischen Rechtsprechung und Kommentarliteratur werden zu den antizipierten Mobiliargütern insbesondere Bäume gezählt, die - wie hier - zur Rodung bestimmt sind (vgl. SV-Gutachten, S. 5, Bl. 163 d.A.).
20
(c) Demnach sind auf die Frage der Eigentumsübertragung der 265 Teakbäume die Vorschriften über die Übereignung von Mobiliargütern anzuwenden. Das brasilianische Recht kennt kein dem deutschen Recht vergleichbares Trennungs- und Abstraktionsprinzip (vgl. SV-Gutachten S. 7, Bl. 165 d.A.). Zur Übertragung des Eigentums an beweglichen Gütern bedarf es nach Art. 1267 CC einer (nicht notariell zu beurkundenden) vertraglichen Vereinbarung und einer Übergabe der Sache oder eines Übergabesurrogats (vgl. SV-Gutachten S. 7, Bl. 165 d.A.). Als Übergabesurrogat kommt insbesondere die Vereinbarung eines Besitzkonstituts in Betracht, bei dem der Verkäufer, beispielsweise als Mieter oder Pächter, im Besitz der Sache verbleibt (vgl. SV-Gutachtens S. 8 f., Bl. 166 f. d.A.). Die Eintragung in ein öffentliches Register ist entgegen der erstinstanzlich vertretenen Auffassung des Klägers keine Wirksamkeitsvoraussetzung für einen Eigentumsübergang. Zwar können gemäß Art. 129 Nr. 5 des Lei de Registros Publicos Kaufverträge in das Urkunden- und Dokumentenregister eingetragen werden. Dies hat aber nur Bedeutung für eine Wirkung des Vertrags gegenüber Dritten, nicht für die Wirksamkeit der Vereinbarung inter partes. Gleiches gilt, soweit nach einem Teil der brasilianischen Doktrin darüber hinaus eine Beischreibung im Immobilienregister diskutiert wird. Dies betrifft ebenfalls nur die Wirkung gegenüber Dritten; die Wirksamkeit der Eigentumsübertragung an sich wird nicht in Frage gestellt (vgl. SV-Gutachten S. 9 ff., Bl. 167 ff. d.A.).
21
(d) Ausgehend von diesen Grundsätzen ist das Eigentum an den Bäumen von der Beklagten zu 1) auf den Kläger übertragen worden.
22
(aa) Die gewollte Übertragung des Eigentums an den 265 Teakbäumen ist zwanglos dem Einzelkaufvertrag zu entnehmen, in dem es ausdrücklich heißt: „Der Kaufpreis beinhaltet: ... Eigentumsübertragung der Bäume.“ Darüber hinaus ist im zugehörigen Rahmenvertrag unter Ziffer 3.1. Satz 2 vereinbart, dass sich die Beklagte zu 1) mit Bezahlung des Kaufpreises verpflichtet, das Eigentum an den Bäumen dem Käufer zu übertragen. Als Bestätigung für den vollzogenen Kauf wird dem Käufer nach Zahlungseingang eine Baumurkunde mit den Individualisierungsmerkmalen der gekauften Bäume zugestellt (Ziffer 4.2. des Rahmenvertrags). Unter Ziffer 14.1. des Rahmenvertrags findet sich schließlich die Erläuterung, dass der Kauf von Bäumen ein sachenrechtliches Geschäfts mit Eigentumsübertragung ist und keine Investition in ein Finanzprodukt. Aus alldem ergibt sich deutlich, dass die Parteien mit der Vereinbarung das Eigentum an den 265 Teakbäumen auf den Kläger als Käufer übertragen wollten.
23
(bb) Die Parteien haben zudem ein Besitzkonstitut als Übergabesurrogat vereinbart. Nach den vertraglichen Vereinbarungen sollte die Beklagte zu 1) nach Eigentumsübertragung im Besitz der Bäume verbleiben und diesen fortan für den Kläger ausüben. Dementsprechend ist dem Kläger nach Zahlung des Kaufpreises die Baumurkunde mit den konkreten Daten zum Pflanzort der 265 Teakbäume und den einzelnen Baumnummern übersandt worden (vgl. Bl. 88 d.A.). Mit ihr wurde die Eigentümerstellung des Klägers an den 265 individualisierten Bäumen bescheinigt und äußerlich dokumentiert, dass die Beklagte zu 1) die tatsächliche Verfügungsgewalt über die Bäume nunmehr für den Kläger ausübt.
24
(cc) Soweit der Kläger seinen erstinstanzlichen Vortrag wiederholt, die Beklagte zu 1) habe nicht einmal nachgewiesen, dass die Bäume in ihrem Eigentum gestanden haben, übergeht er den hierzu gehaltenen Beklagtenvortrag. Die veräußerten Bäume sind ausweislich der Baumurkunde sämtlich auf der Plantage ... Parzelle ... gepflanzt, die nach dem unstreitig gebliebenen Vorbringen der Beklagten zu 1) im Eigentum der ...[A]. steht. Mit Rahmenvertrag vom 02.04.2012 (Anlage B5, Bl. 89 ff. d.A.) hat die ...[A]. mit der Beklagten zu 1) die Rahmenbedingungen für spätere Baumkäufe der Beklagten zu 1) von der ...[A]. festgelegt. Danach sollte die Beklagte zu 1) rechtmäßige Besitzerin und Eigentümerin der an sie verkauften Bäume werden (Ziffer 2.5); ihr wurde hierzu ein Nutzungsrecht an dem Land, auf dem die jeweils verkauften Bäume stehen, eingeräumt (Ziffer 2.3). Mit Baumkaufvertrag vom 03.07.2012 hat die ...[A]. der Beklagten zu 1) sodann alle Bäume auf der Plantage ... Parzelle ... (insgesamt 14.465) entsprechend den Bedingungen des Rahmenvertrags verkauft. Diesem, durch die Vorlage der vorgenannten Verträge qualifizierten Vorbringen der Beklagten zu 1) ist der - auch insoweit darlegungs- und beweisbelastete (vgl. SV-Gutachten S. 13 f., Bl. 171 f. d.A.) - Kläger nicht entgegengetreten. Das Beklagtenvorbringen ist damit als zugestanden zu werten (vgl. § 138 Abs. 3 ZPO), erst recht hat der Kläger es nicht widerlegt. Die Beklagte zu 1) war hiernach entsprechend den oben dargestellten Grundsätzen des brasilianischen Rechts Eigentümerin der Bäume geworden, die sie zu einem späteren Zeitpunkt an den Kläger weiterveräußert hat.
25
(dd) Die weiteren Einwände des Klägers gegen einen Eigentumserwerb seinerseits greifen nicht durch.
26
(aaa) Soweit er geltend macht, die in Ziffer 7. des Rahmenvertrags vereinbarte Pacht des Bodens, auf dem die Bäume stehen, verleihe nur das Recht, die Bäume wachsen zu lassen, steht dies einer Eigentumsübertragung nicht entgegen. Gleiches gilt für die Regelung in Ziffer 17. des Rahmenvertrags, wonach der Käufer den Rahmenvertrag bis zur Schlagung des letzten Baumes, respektive im Falle des auch vom Kläger abgeschlossenen Servicevertrags bis zur Auszahlung des Netto-Holzerlöses aus dem Verkauf der letzten Schlussernte nicht kündigen kann. Entscheidend ist, dass dem Kläger mit den vertraglichen Vereinbarungen das Substanzrecht an den Bäumen eingeräumt worden ist, das sich bei den vorgesehenen Verkäufen der Bäume am Erlös fortsetzt. Insoweit ist der Kläger nach Ziffer 8.1. auch zu einer jederzeitigen Weiterveräußerung des Baumbestands berechtigt, wenngleich mit der aus den tatsächlichen Gegebenheiten folgenden Verpflichtung, die entsprechende Landpacht an den Erwerber mit zu übertragen.
27
(bbb) Aus dem vom Kläger vorgelegten Urteil des Schweizer Bundesverwaltungsgerichts vom 14.02.2013 (Anlage K3, Anlagenheft) folgt nichts anderes. In der Entscheidung ging es um die nach schweizerischem Mehrwertsteuerrecht zu beantwortende Frage, ob die Tätigkeit der Antragstellerin die Lieferung eines Gegenstands im Sinne von Art. 6 Abs. 1 aMWSTG umfasst. Maßgeblich ist hierfür nach den Urteilsgründen eine wirtschaftliche Betrachtungsweise; die Übertragung zivilrechtlichen Eigentums ist hingegen nicht zwingend erforderlich und unter Umständen auch nicht genügend (vgl. Ziffer 3.5.1. der Entscheidung). Ob die Käufer von Teakbäumen in Brasilien nach brasilianischem Recht wirksam Eigentum an den Bäumen erwerben können, war für das Schweizer Bundesverwaltungsgericht, dem im Übrigen auch andere vertragliche Erwerbsvereinbarungen vorlagen, daher nicht entscheidend.
28
(ccc) Nicht zutreffend ist auch die weitere Rüge des Klägers, es sei nicht vereinbart, wie der Eigentumsübergang auf den späteren Erwerber des Holzes erfolgen solle. Vielmehr hat der Kläger gemäß Ziffer 11.1. des Rahmenvertrags mit der zugleich erfolgten Vereinbarung des Servicevertrags der Beklagten zu 1) den Auftrag erteilt, die Bäume zu bewirtschaften, zu verwalten, zu pflegen, zu ernten und auch zu verkaufen sowie den Netto-Holzerlös aus dem Verkauf an den Kläger auszuzahlen. Vereinbart ist, dass die Bäume entweder als stehende Bäume oder geschlagene Bäume (Log, Rundholz) im Auftrag des Käufers ab nächster Plantagenstraße angeboten und verkauft werden (Ziffer 1.12. des Rahmenvertrags). Der Kläger hat die Beklagte zu 1) insoweit unwiderruflich zu allen Handlungen ermächtigt, die zur Erfüllung des Serviceauftrags notwendig sind (Ziffer 11.4. des Rahmenvertrags). Dies umfasst auch die Ermächtigung, den Käufern das Eigentum an den Bäumen bzw. dessen Holz zu verschaffen.
29
(3) Es fehlt darüber hinaus an einem Täuschungsvorsatz der Beklagten zu 1). Unstreitig hat die Beklagte zu 1) vor dem Beginn ihrer Geschäftstätigkeit und dem Abschluss der streitgegenständlichen Vereinbarung ein Rechtsgutachten zu der Frage eingeholt, ob eine Eigentumsübertragung nach brasilianischem Recht möglich sei (vgl. Anlage B6, Bl. 122 ff. d.A.). Die gutachterliche Stellungnahme hat die Rechtsauffassung der Beklagten zu 1) bestätigt. Anhaltspunkte dafür, dass die Organe der Beklagten gleichwohl damit rechneten, dass eine Übertragung des Eigentums an den verkauften Bäumen gemäß den vertraglichen Vereinbarungen nicht möglich wäre, sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
30
(4) Nach den vorstehenden Erwägungen geht auch die Rücktrittserklärung des Klägers ins Leere. Die geltend gemachte Täuschung der Beklagten zu 1) liegt nicht vor. Mithin scheidet ein hierauf gestützter Rücktritt aus. Die vertraglichen Vereinbarungen sehen keine Rücktrittsmöglichkeit vor.
31
bb) Entgegen der Auffassung des Klägers hat er den Baumkaufvertrag mit Schreiben vom 21.03.2017 nicht wirksam widerrufen. Nach der unwidersprochen gebliebenen Erklärung der Beklagtenseite in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat am 20.08.2020 (insoweit nicht protokolliert) ist nach Schweizer Recht kein Widerrufsrecht gegeben. Ein etwaiges Widerrufsrecht nach § 312d Abs. 1 Satz 1 BGB (in der ab dem 11.08.2011 geltenden Fassung) war im Zeitpunkt der Widerrufserklärung, wie das Landgericht zutreffend angenommen hat, jedenfalls erloschen. Es kann daher auch hier offenbleiben, ob eine wirksame Rechtswahl Schweizer Rechts nach Art. 3 Abs. 1, Art. 6 Abs. 2 Satz 1 Rom I-VO erfolgt ist und bejahendenfalls nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 der Rom I-VO gleichwohl die Verbraucherschutzvorschriften des deutschen Fernabsatzrechts Anwendung finden oder insoweit - wie die Klägerin meint - eine Bereichsausnahme nach Art. 6 Abs. 4 der Rom I-VO eingreift.
32
(1) Für Fernabsatzverträge, die - wie vorliegend - vor dem 13.06.2014 geschlossen worden sind, ist die Übergangsvorschrift des Art. 229 § 32 Abs. 2 EGBGB zu beachten. Danach erlischt das Widerrufsrecht bei der Lieferung von Waren zwölf Monate und 14 Tage nach Eingang der Waren beim Empfänger, jedoch nicht vor Ablauf des 27.06.2015, und bei Dienstleistungen mit Ablauf des 27.06.2015. Vorliegend waren die Bäume mit ihrer Eigentumsübertragung an den Kläger vertragsgemäß „geliefert“ worden. Spätestens mit der Übersendung der Baumurkunde mittels Schreiben vom 07.01.2013 war zwischen dem Kläger und der Beklagten zu 1) das Besitzkonstitut zustande gekommen und die Eigentumsübertragung erfolgt. Mithin war ein etwaiges Widerrufsrecht am 27.06.2015 erloschen.
33
(2) Es handelt sich vorliegend auch nicht um einen Vertrag über Finanzdienstleistungen, auf den Art. 229 § 32 Abs. 2 EGBGB gemäß Abs. 4 Satz 1 der Vorschrift nicht anwendbar ist.
34
Unter Finanzdienstleistungen sind Vertragsverhältnisse über Bankdienstleistungen sowie Dienstleistungen im Zusammenhang mit einer Kreditgewährung, Versicherung, Altersversorgung von Einzelpersonen, Geldanlage oder Zahlung zu verstehen (vgl. § 312 Abs. 5 Satz 1 BGB entsprechend § 312b Abs. 1 Satz 2 BGB a.F.). Für die Auslegung des Begriffs ist aufgrund des europarechtlichen Hintergrunds auf die autonome Begriff-lichkeit der europäischen Fernabsatz-Finanzdienstleistungs-Richtlinie (VO (EG) Nr. 2002/65) abzustellen (Wendehorst, in: MünchKomm BGB, 8. Aufl. 2019, § 312 Rn. 96; Thüsing, in: Staudinger, BGB, Neubearb. 2019, § 312 Rn. 67). Unerheblich ist daher, ob es sich vorliegend - wie der Kläger geltend macht - um ein Einlagengeschäft im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 KWG handelt.
35
Der hier streitgegenständliche Baumkaufvertrag unterfällt als Austauschgeschäft keinem der vorgenannten Vertragsverhältnisse. Insbesondere handelt es sich nicht um eine Dienstleistung im Zusammenhang mit einer „Geldanlage“. Aus der Entstehungsgeschichte von Art. 2 lit. b) der VO (EG) Nr. 2002/65 ergibt sich, dass nach dem Willen des Unionsgesetzgebers als Anlageobjekt ausschließlich Finanzinstrumente erfasst sein sollen (Wendehorst, a.a.O., Rn. 110). Somit stellen insbesondere Wertpapiere (z.B. Aktien, Schuldverschreibungen, Genussscheine, Optionsscheine), Anteile an Anlagegesellschaften, andere Geldmarktinstrumente (z.B. kurzfristige Schuldscheindarlehen), Devisen und vergleichbare Rechnungseinheiten (z.B. ECU) sowie Derivate (Fest- und Optionsgeschäfte, Swap-Geschäfte) Finanzdienstleistungen dar (Wendehorst, a.a.O., Thüsing, a.a.O., Rn. 78). Zwar mag der Baumkaufvertrag zum Zweck der Kapitalanlage und mit dem Ziel einer Renditeerwirtschaftung abgeschlossen worden sein. Gegenstand des Vertrags ist aber weder ein Finanzinstrument noch die Beteiligung an einer Anlagegesellschaft, sondern ausschließlich der Erwerb von individuellem Baumeigentum, das von der Beklagten zu 1) im Auftrag des Klägers bewirtschaftet und veräußert werden soll. Es liegt daher auch kein einer Beteiligung an einem geschlossenen Immobilienfonds vergleichbares Geschäft vor, wie das Landgericht Frankfurt a.M. in der vom Kläger vorgelegten Entscheidung (Az.: 2-04 O 214/18) angenommen hat.
36
2. Die Klage gegen den Beklagten zu 2) ist zulässig, aber aus den vorstehenden Gründen ebenfalls unbegründet.
37
a) Die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte für die Klage gegen den Beklagten zu 2) ergibt sich zwar nicht aus Art. 15 Nr. 1 lit. c), Art. 16 Abs. 1 Alt. 2 LugÜ II, denn der Beklagte zu 2) ist nicht Vertragspartner des Klägers. Die hierfür erforderliche enge Verbindung der Klage zu einem Vertrag liegt in Fällen, in denen gegen ein Organ der Vertragspartnerin Ansprüche aus unerlaubter Handlung geltend gemacht werden, nicht vor (vgl. BGH, Urteil v. 24.06.2014 - VI ZR 315/13 -, WM 2014, 1614 Rn. 22 ff.). Die internationale Zuständigkeit folgt hier aber aus Art. 5 Nr. 3 LugÜ II (Gerichtsstand der unerlaubten Handlung). Insoweit ist ausreichend, dass der Kläger die erforderlichen Tatsachen für eine im Inland begangene unerlaubte Handlung des Beklagten zu 2) schlüssig behauptet (vgl. BGH, a.a.O., Rn. 19 m.w.N.).
38
aa) Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu Art. 5 Nr. 3 EuGVVO beruht die besondere Zuständigkeit am Ort der unerlaubten Handlung darauf, dass zwischen der Streitigkeit und anderen Gerichten als denen des Staates, in dem der Beklagte seinen Wohnsitz hat, eine besonders enge Beziehung besteht, die aus Gründen der Nähe zum Streitgegenstand und der leichteren Beweisaufnahme eine Zuständigkeit dieser Gerichte rechtfertigt. Dabei ist der Begriff „Ort, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist“ in Art. 5 Nr. 3 EuGVVO so zu verstehen, dass er sowohl den Ort des ursächlichen Geschehens (Handlungsort) als auch den Ort der Verwirklichung des Schadenserfolgs (Erfolgsort) meint. Beide Orte können demnach unter dem Aspekt der gerichtlichen Zuständigkeit eine signifikante Verknüpfung begründen, da jeder von beiden je nach Lage des Falles für die Beweiserhebung und für die Gestaltung des Prozesses einen besonders sachgerechten Anhaltspunkt liefern kann (vgl. nur EuGH, Urteile v. 16.07.2009 - C-189/08 -, Slg. 2009, I-6917 Rn. 23 f. m.w.N.; v. 25.10.2012 - C-133/11 -, NJW 2013, 287 Rn. 37 ff. m.w.N. - Folien Fischer und Fofitec; v. 3.10.2013 - C-170/12 -, NJW 2013, 3627 Rn. 26 f. - Pinckney; zu Art. 5 Nr. 3 LugÜ: BGH, a.a.O., Rn. 29 m.w.N.).
39
bb) Im vorliegenden Fall kann offenbleiben, ob der Handlungsort in Deutschland liegt, da jedenfalls der Erfolgsort in Deutschland belegen ist.
40
Erfolgsort ist der Ort, an dem aus einem Ereignis, das für die Auslösung einer Schadensersatzpflicht wegen unerlaubter Handlung oder wegen einer gleichgestellten Handlung in Betracht kommt, ein Schaden entstanden ist. Gemeint ist damit der Ort, an dem das auslösende Ereignis seine schädigende Wirkung entfaltet, d.h. der Ort, an dem sich der durch das Ereignis verursachte Schaden konkret zeigt (BGH, a.a.O., Rn. 31). Bei reinen Vermögensdelikten ist der Ort des ersten unmittelbar verletzten Interesses maßgeblich. Ist schon die Herbeiführung oder Anbahnung eines Rechtsgeschäfts rechtswidrig, so stellt der Ort den Erfolgsort dar, an dem dieses Fehlverhalten des Schädigers die erste Wirkung entfaltet hat (sog. "Handlungswirkungsort", BGH, a.a.O., Rn. 36).
41
Ausgehend vom Klägervorbringen liegt dieser Ort in Deutschland. Der Beklagte zu 2) soll den Tatbestand einer unerlaubten Handlung verwirklicht haben, weil er als Verwaltungsratsmitglied und Geschäftsführer der Beklagten zu 1) wider besseres Wissen die Täuschung des Klägers über die Möglichkeit eines Eigentumserwerbs an den Bäumen in Brasilien veranlasst und ihn so zur Eingehung des Baumkaufvertrags und Zahlung des Kaufpreises bewegt habe. Die Unterzeichnung des Vertrags ist durch den Kläger in Deutschland erfolgt. Zudem hat er den Kaufpreis in Deutschland entrichtet. Dieser ist von ihm auf ein Konto der Beklagten zu 1) bei der ...[B] überwiesen worden. Mithin liegen sowohl der Ort der Entscheidung zum Vertragsschluss als auch der des Eintritts des Erstvermögensschadens in Deutschland.
42
b) Hinsichtlich der fehlenden Begründetheit kann auf die Ausführungen unter 1.b) verwiesen werden.
43
3. In Ermangelung begründeter Hauptforderungen gegen die Beklagten zu 1) und 2) und insbesondere des Vorliegens einer vorsätzlichen (sittenwidrigen) Täuschung hat der Kläger auch keinen Anspruch auf Zahlung von (Delikts-)Zinsen.
C.
44
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit hat seine Grundlage in §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.
45
Die Revision ist nicht zuzulassen, da ein Zulassungsgrund nach § 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO nicht gegeben ist.
46
Der Senat hat beschlossen, den Streitwert für das Berufungsverfahren auf 9.808,66 € festzusetzen.
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Tenor
1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil der 16. Zivilkammer des Landgerichts Koblenz vom 04.09.2019 teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 13.973,03 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus einem Betrag von 14.301,35 €, der sich Tag für Tag linear auf 13.973,03 € ermäßigt, für die Zeit vom 25.01.2019 bis zum 19.08.2020 sowie aus einem Betrag von 13.973,03 € seit dem 20.08.2020 zu zahlen, Zug um Zug gegen Übereignung des Fahrzeugs Audi Q5 2,0 TDI Quattro mit der Fahrzeug-Identifizierungsnummer ....
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die weitergehende Berufung der Beklagten wird zurückgewiesen.
2. Die Kosten des Rechtsstreits erster Instanz werden zu 43 % der Beklagten und zu 57 % der Klägerin auferlegt; die Kosten des Berufungsverfahrens hat die Beklagte zu tragen.
3. Dieses Urteil und - soweit es Bestand hat - das angefochtene Urteil sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
Gründe
I.
1
Einer Darstellung tatsächlicher Feststellungen i.S.d. § 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO bedarf es nicht, weil ein Rechtsmittel gegen dieses Urteil unzweifelhaft nicht zulässig ist; der Wert der mit der Revision geltend zu machenden Beschwer übersteigt 20.000,-- € nicht (§§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 Satz 1, 543 Abs. 1, 544 Abs. 2 Nr. 1 ZPO).
II.
2
Die zulässige Berufung der Beklagten ist nur in geringem Umfang begründet.
3
1. Die Klägerin kann von der Beklagten wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung gemäß § 826 BGB i.V.m. § 31 BGB analog Schadensersatz in Höhe des für das streitgegenständliche Fahrzeug gezahlten Kaufpreises (27.200,-- €) abzüglich einer Nutzungsentschädigung (im Zeitpunkt der Berufungsverhandlung 13.226,97 €), mithin 13.973,03 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz, Zug um Zug gegen Übereignung des streitbefangenen Audi Q5 verlangen.
4
a) Die Schädigungshandlung liegt darin, dass die Beklagte das Fahrzeug mit einem Dieselmotor hergestellt und in Verkehr gebracht hat, dessen Steuerungssoftware so programmiert war, dass die gesetzlichen Abgasgrenzwerte durch eine im Vergleich zum Normalbetrieb höhere Abgasrückführungsrate nur auf dem Prüfstand eingehalten wurden. Die Dieselmotoren der Baureihe EA 189 waren planmäßig so konzipiert, dass der Stickoxidausstoß auf dem Prüfstand geringer war als im Realbetrieb des Fahrzeugs, um (allein) auf dem Prüfstand gesetzeskonforme Abgaswerte zu erzielen. Sie enthielten damit eine nach Art. 5 Abs. 2 VO (EG) Nr. 715/2007 unzulässige Abschalteinrichtung, so dass die materiellen Voraussetzungen für die Erteilung der EG-Typgenehmigung nicht gegeben waren und den betroffenen Fahrzeugen die Gefahr einer Betriebsbeschränkung oder -untersagung anhaftete (BGH, Beschluss vom 08.01.2019 - VIII ZR 225/17 -, NJW 2019, 1133 Rn. 6 ff.; Urteil vom 25.05.2020 - VI ZR 252/19 -, NJW 2020, 1962 Rn. 21; OLG Koblenz, Urteil vom 12.06.2019 - 5 U 1318/18 -, NJW 2019, 2237 Rn. 25 ff. - alle Entscheidungen zitiert nach juris). Der planmäßige Einsatz der unzulässigen Abschalteinrichtung in den Dieselmotoren der Baureihe EA 189 erfolgte unter Ausnutzung des Umstands, dass der Käufer eines davon betroffenen Fahrzeugs - gleichgültig, ob er das Fahrzeug neu oder gebraucht erwirbt - die Einhaltung der Zulassungsvorschriften arglos als selbstverständlich voraussetzt. Ein solches Verhalten steht einer bewussten arglistigen Täuschung derjenigen, die ein solches Fahrzeug erwerben, gleich (BGH, Urteil vom 25.05.2020 - VI ZR 252/19 -, NJW 2020, 1962 Rn. 25).
5
b) Das Handeln der Beklagten war gegenüber den Käufern der betroffenen Fahrzeuge - und damit auch gegenüber der Klägerin - sittenwidrig im Sinne von § 826 BGB. Der auf der Grundlage einer strategischen Entscheidung über Jahre hinweg erfolgte systematische Einsatz der gegenüber der zuständigen Typgenehmigungs- und Marktüberwachungsbehörde, dem Kraftfahrt-Bundesamt (KBA), arglistig geheim gehaltenen unzulässigen Abschalteinrichtung mit dem Ziel des gewinnorientierten Absatzes nicht vorschriftsmäßiger Fahrzeuge unter in Kauf genommener Täuschung der Kunden stellt sich als besonders verwerflich dar (vgl. BGH, a. a. O., Rn. 16 ff.; OLG Koblenz, a. a. O., Rn. 45 ff.). Die Verwerflichkeit des Handelns der Beklagten erhellt auch aus seinen Folgen (OLG Koblenz, Urteil vom 20.11.2019 - 10 U 731/19 -, MDR 2020, 603 Rn. 71). Die im Umsatzinteresse erfolgte Umgehung der gesetzlichen Vorgaben, welche eine geringere Belastung der Umwelt mit Stickoxiden und damit den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung bezweckten, offenbart eine rücksichtslose und gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstoßende Gesinnung (BGH, a. a. O., Rn. 27). Darüber hinaus bestand für die Käufer die Gefahr, dass bei einem Bekanntwerden des Sachverhalts die Nutzung ihrer Fahrzeuge nach § 5 Abs. 1 Fahrzeug-Zulassungsverordnung (FZV) beschränkt oder untersagt werden und damit der Zweck des Fahrzeugerwerbs vereitelt würde.
6
c) Das Verhalten der Beklagten geschah vorsätzlich, wobei sie sich das Handeln der in ihrem Haus für den Einbau von Motoren einschließlich Steuerungssoftware verantwortlichen Personen analog § 31 BGB zurechnen lassen muss.
7
aa) Die Zurechnung erfasst neben den Vorstandsmitgliedern und verfassungsmäßig berufenen besonderen Vertretern über den Wortlaut hinaus auch sog. Repräsentanten, d. h. Personen, denen durch die allgemeine Betriebsregelung und Handhabung bedeutsame, wesensmäßige Funktionen der juristischen Person zur selbständigen, eigenverantwortlichen Erfüllung zugewiesen sind, so dass sie die juristische Person im Rechtsverkehr repräsentieren (BGH, Urteil vom 14.03.2013 - III ZR 296/11 -, BGHZ 196, 340 Rn. 12 m. w. N.). Da es der juristischen Person nicht freisteht, selbst darüber zu entscheiden, für wen sie ohne Entlastungsmöglichkeit haften will, kommt es nicht entscheidend auf die Frage an, ob die Stellung des „Vertreters“ in der Satzung der Körperschaft vorgesehen ist oder ob er über eine entsprechende rechtsgeschäftliche Vertretungsmacht verfügt. Hierzu zählt auch der Personenkreis der leitenden Angestellten (BGH, Urteil vom 05.03.1998 - III ZR 183/96 -, NJW 1998, 1854 Rn. 18 m. w. N.).
8
bb) Die Klägerin hat hinreichende Anhaltspunkte für eine Kenntnis der im Bereich der für den Einbau von Motoren einschließlich Steuerungssoftware maßgebend tätigen und verantwortlichen Mitarbeiter der Beklagten - insbesondere der in der Zeit bis 1998 und sodann erneut von 2002 bis einschließlich 2006 als Leiter der Sparte Konzeptentwicklung, Entwicklung Aufbau, Elektrik/Elektronik tätigen Führungskraft ...[A] - von der Verwendung der unzulässigen Abschalteinrichtung vorgetragen. Soweit die Beklagte geltend macht, der Motor des streitgegenständlichen Fahrzeugs sei von der ...[B] AG entwickelt worden und nicht von ihr, weshalb es an einem ihr zurechenbaren Vorsatz fehle, entlastet dies die Beklagte nicht.
9
(1) In der EG-Übereinstimmungsbescheinigung vom 22.09.2009 (Anlage K 4, Bl. 33 f. d.A.) ist als Hersteller der Antriebsmaschine die Beklagte genannt. Darüber hinaus ist das streitgegenständliche Fahrzeug von der Beklagten in Verkehr gebracht worden. Schließlich hat die Klägerin bereits erstinstanzlich vorgetragen, es müsse wegen des vom Vorstand der Beklagten einzurichtenden Compliance-Systems davon ausgegangen werden, dass Berichtspflichten gegenüber dem Vorstand im Hinblick auf alle wesentlichen Entscheidungen eingerichtet sind und deren Einhaltung durch entsprechende Kontrollmaßnahmen gewährleistet sei. Deshalb sei es mehr als naheliegend, dass dem Vorstand oder Teilen des Vorstandes der Einbau der unzulässigen Abschalteinrichtung zur Erreichung der EG-Typgenehmigung sowie das Inverkehrbringen eines gesetzwidrigen Fahrzeuges bekannt gewesen seien. Dies gelte auch deshalb, weil die Abgasrückführ-ung einer ganzen Motorenreihe für eine Vielzahl von Fahrzeugen hinsichtlich ihres Entwicklungsaufwands in technischer und finanzieller Hinsicht eine wesentliche, vom Vorstand zu treffende Entscheidung darstelle und die Verwendung einer solchen unzulässigen Abschalteinrichtung sämtliche in der EU zuzulassenden Fahrzeuge betreffe (vgl. S. 9 des Schriftsatzes vom 24.04.2019, Bl. 184 d.A.).
10
(2) Trotz des vom Landgericht in der Sitzung vom 31.07.2019 erteilten Hinweises (Bl. 215 f. d.A.), die Beklagte treffe in Anbetracht des klägerischen Vortrags eine sekundäre Darlegungslast zu den damaligen Entscheidungsprozessen im Unternehmen, die internen Vorgänge zu der Kontrolle und der Verwendung der Motorsteuerungssoftware seien konkret darzulegen, hat die Beklagte innerhalb der ihr eingeräumten Schriftsatzfrist keinen weiteren Sachvortrag gehalten. Da die Klägerin den internen Entscheidungsvorgängen bei der Beklagten fernsteht, daher keine nähere Kenntnis der maßgeblichen Umstände und auch keine Möglichkeit zur weiteren Sachaufklärung hat, während die Beklagte, die das Fahrzeug mit dem EA 189-Motor versehen und in Verkehr gebracht hat sowie in der EG-Übereinstimmungsbescheinigung vom 22.09.2009 als Hersteller der Antriebsmaschine genannt ist, alle wesentlichen Tatsachen kennt und es ihr unschwer möglich und zumutbar war, nähere Angaben zu machen, oblag es der Beklagten im Rahmen ihrer sekundären Darlegungslast, näher zu den Entscheidungsvorgängen bei ihr in Bezug auf den Einsatz der Software vorzutragen (vgl. BGH a. a. O., Rn. 34 ff.; OLG Hamm, Urteil vom 14.08.2020 - 45 U 22/19 -, Rn. 115). Da die Beklagte ihrer sekundären Darlegungslast nicht nachgekommen ist, muss der erstinstanzliche klägerische Vortrag einer Kenntnis der maßgeblichen Entscheidungsträger der Beklagten gemäß § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden gewertet werden.
11
(3) Erstmals im Rahmen des Berufungsverfahrens hat die Beklagte mit Schriftsatz vom 10.08.2020 (dort S. 6 ff., Bl. 335 ff. d.A.) unter Vorlage von Organigrammen zur Strukturierung der Motorenentwicklung in ihrem Unternehmen nähere Ausführungen gemacht sowie vorgetragen, dass an dem Inverkehrbringen des Fahrzeuges eine Vielzahl unterschiedlicher Abteilungen beteiligt sei und die Anpassung der Motorsteuerungssoftware an das Fahrzeug Audi Q5 der Modulverantwortung der ...[B] AG unterfalle. Dies verdeutliche, dass ihr auch keine Benennung der mit dem Inverkehrbringen des Fahrzeuges betrauten Personen und eine negative Darlegung ihres Kenntnisstandes möglich und zumutbar sei. Dieser Vortrag ändert allerdings nichts daran, dass die klägerische Behauptung einer Kenntnis der maßgebenden Entscheidungsträger bei der Beklagten nach § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden zu werten ist. Zum einen ist - worauf der Senat in der Berufungsverhandlung vom 20.08.2020 hingewiesen hat (vgl. Bl. 352 d.A.) – we-der dargelegt noch glaubhaft gemacht, dass die Voraussetzungen für eine Zulassung des erstmals im Berufungsrechtszugs geltend gemachten, von der Klägerin weiterhin bestrittenen Vorbringens nach § 531 Abs. 2 ZPO erfüllt sind; es ist auch sonst nicht ersichtlich, dass die Voraussetzungen für eine Zulassung des neuen Vorbringens erfüllt sind. Zum anderen geht aus dem Vortrag der Beklagten nicht hervor, dass und warum niemand von den Repräsentanten der Beklagten Kenntnis von der Verwendung der unzulässigen Abschalteinrichtung im streitgegenständlichen Fahrzeug gehabt haben soll, obwohl ihr dies als Herstellerin des Fahrzeugs entgegen ihrer Behauptung möglich gewesen wäre (s. o. (2)). In Ermangelung substantiierten Sachvortrags gibt es insbesondere keinen Anlass für die Annahme, dass keinerlei Informationsaustausch zwischen der Beklagten und der nach ihrer Darstellung für die Entwicklung des streitgegenständlichen Motors verantwortliche ...[B] AG im Hinblick auf die Software zur Motorsteuerung stattgefunden hätte, denn es handelte sich beim Einbau des betroffenen Motors in zahlreiche Modelle der Beklagten nicht nur für die ...[B] AG (vgl. dazu BGH, Urteil vom 25.05.2020 - VI ZR 252/19 -, NJW 2020, 1962, Rn. 39), sondern auch für die Beklagte um eine strategische Entscheidung mit weitreichender Bedeutung (vgl. OLG Hamm, a.a.O.).
12
d) Der Klägerin ist durch die Verletzungshandlung auch ein Schaden entstanden, denn sie ist aufgrund des sittenwidrigen Verhaltens der Beklagten eine ungewollte Verpflichtung eingegangen; schon eine ungewollte Verpflichtung kann einen gemäß § 826 BGB zu ersetzenden Schaden darstellen (vgl. BGH, Urteil vom 26.09.1997 - V ZR 29/96 -, NJW 1998, 302 Rn. 24; Urteil vom 28.10.2014 - VI ZR 15/14 -, NJW-RR 2015, 275 Rn. 19).
13
aa) Voraussetzung ist, dass die Leistung für die Zwecke des Erwerbers in dem Sinn nicht voll brauchbar ist (BGH, Urteil vom 26.09.1997 - V ZR 29/96 -, NJW 1998, 302 Rn. 28), dass die durch den unerwünschten Vertrag erlangte Leistung nicht nur aus rein subjektiver Sicht als Schaden angesehen wird, sondern auch die Verkehrsanschauung anhand der Umstände den Vertragsschluss als unvernünftig, den konkreten Vermögensinteressen nicht angemessen und damit als nachteilig ansieht (BGH, Urteil vom 25.05.2020 - VI ZR 252/19 -, NJW 2020, 1962 Rn. 54).
14
bb) So verhält es sich hier. Das von der Klägerin erworbene Fahrzeug war mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgerüstet, d. h. die EG-Typgenehmigung für das Modell war mittels Täuschung erschlichen worden. Mithin war sowohl im Zeitpunkt des Inverkehrbringens des Fahrzeugs wie auch seines Erwerbs durch die Klägerin im Februar 2014 die uneingeschränkte Nutzungsmöglichkeit des Fahrzeugs im Straßenverkehr gefährdet, weil bei Bekanntwerden der unzulässigen Abschalteinrichtung eine Betriebsbeschränkung oder -untersagung nach § 5 Abs. 1 FZV drohte und nicht absehbar war, ob dieses Problem behoben werden kann. Darüber hinaus ergaben sich aus diesem Umstand erhebliche Risiken im Hinblick auf einen etwaigen Weiterverkauf des Fahrzeugs. Hieraus erschließt sich ohne Weiteres, dass ein Käufer - wie hier die Klägerin -, dem es maßgeblich auf die Gebrauchsfähigkeit ankommt, zum damaligen Zeitpunkt im Februar 2014 bei Kenntnis der unzulässigen Abschalteinrichtung vernünftigerweise vom Erwerb des Fahrzeugs abgesehen hätte.
15
cc) Demgegenüber kann sich die Beklagte nicht mit Erfolg darauf berufen, es könne der Klägerin beim Kauf typischerweise nur auf das Bestehen der EG-Typgenehmigung angekommen sein. Diese Sichtweise vernachlässigt den Umstand, dass es für die Frage der Brauchbarkeit aus der ex-ante-Sicht eines Käufers auf die dauerhafte, uneingeschränkte Gebrauchsfähigkeit des Fahrzeuges ankommt; es darf nicht vom Zufall abhängen, ob der unerkannt bestehende Mangel aufgedeckt wird und sich die objektiv von vornherein vorhandene Stilllegungsgefahr verwirklicht oder nicht (vgl. BGH, a. a. O.).
16
dd) Der Schaden ist auch nicht etwa dadurch entfallen, dass das Fahrzeug zwischenzeitlich das Software-Update erhalten hat. Dies ändert nichts daran, dass die Klägerin mit einer ungewollten Verbindlichkeit belastet ist. Der im Februar 2014 unter Verletzung des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts der Klägerin sittenwidrig herbeigeführte ungewollte Vertragsschluss wird durch das Jahre später aufgespielte Software-Update nicht rückwirkend zu einem gewollten Vertragsschluss (vgl. BGH, a. a. O., Rn. 58). Die Möglichkeit einer Nachbesserung sieht das Deliktsrecht nicht vor. Im Übrigen ist auch zu berücksichtigen, dass die Käufer das Software-Update nicht aus Gründen der Schadensbeseitigung haben durchführen lassen, sondern weil die Fahrzeuge von der vom KBA angeordneten Rückrufaktion betroffen waren und anderenfalls eine Betriebsuntersagung gedroht hätte (OLG Koblenz, Urteil vom 20.11.2019 - 10 U 731/19 -, MDR 2020, 603 Rn. 94).
17
e) Auch ein Schädigungsvorsatz der bei der Beklagten handelnden Personen ist zu bejahen. Schon nach der Lebenserfahrung ist davon auszugehen, dass den für den Einbau von Motoren einschließlich Steuerungssoftware maßgebenden und verantwortlichen Mitarbeitern der Beklagten bei der strategischen Entscheidung zum Einsatz der unzulässigen Abschalteinrichtung bewusst gewesen ist, dass ein mit dem Risiko der Betriebsuntersagung oder -beschränkung belastetes Fahrzeug ohne einen erheblichen, dies berücksichtigenden Abschlag vom Kaufpreis keinen Käufer finden würde (vgl. BGH, a. a. O., Rn. 63).
18
f) Nach § 249 Abs. 1 BGB hat der zum Schadensersatz Verpflichtete den Zustand herzustellen, der bestehen würde, wenn der zum Ersatz verpflichtende Umstand nicht eingetreten wäre. Der Geschädigte ist wirtschaftlich möglichst so zu stellen, wie er ohne das schadenstiftende Ereignis stünde (BGH, Urteil vom 28.10.2014 - VI ZR 15/14 -, NJW-RR 2015, 275 Rn. 25). Ein Zustand, der dieser hypothetischen Situation wirtschaftlich gleichwertig ist, wird dadurch erreicht, dass die Klägerin den gezahlten Kaufpreis abzüglich einer Anrechnung der genossenen Nutzungsvorteile des Fahrzeugs von der Beklagten zurückerhält und die Klägerin der Beklagten im Gegenzug das streitgegenständliche Fahrzeug übereignet.
19
aa) Nach den von der Rechtsprechung im Bereich des Schadensersatzrechts entwickelten Grundsätzen der Vorteilsausgleichung sind dem Geschädigten in gewissem Umfang diejenigen Vorteile zuzurechnen, die ihm in adäquatem Zusammenhang mit dem Schadensereignis zugeflossen sind. Der Geschädigte darf einerseits im Hinblick auf das schadensersatzrechtliche Bereicherungsverbot nicht besser gestellt werden, als er ohne das schädigende Ereignis stünde. Andererseits sind nur diejenigen durch das Schadensereignis bedingten Vorteile auf den Schadensersatzanspruch anzurechnen, deren Anrechnung mit dem jeweiligen Zweck des Ersatzanspruchs übereinstimmt, also dem Geschädigten zumutbar ist und den Schädiger nicht unangemessen entlastet (vgl. BGH, Urteil vom 25.05.2020 - VI ZR 252/19 -, NJW 2020, 1962 Rn. 65 m. w. N.). Die Grundsätze der Vorteilsausgleichung gelten auch für einen Anspruch aus vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung gemäß § 826 BGB; es ist der Klägerin zumutbar und entlastet die Beklagte nicht unangemessen, wenn sich die Klägerin diejenigen Vorteile anrechnen lassen muss, die ihr durch die tatsächliche, ohne besondere Einschränkungen mögliche Nutzung des Fahrzeugs zugute gekommen sind (vgl. BGH, a. a. O., Rn. 66).
20
bb) Bei Kraftfahrzeugen wird die Höhe des Nutzungsersatzes gemäß § 287 ZPO auf der Grundlage einer in der Rechtsprechung entwickelten Formel berechnet, nach der der (Brutto-) Kaufpreis durch die voraussichtliche Restlaufleistung des Fahrzeugs (zum Zeitpunkt der Übergabe des Fahrzeugs an den Käufer) geteilt und mit den gefahrenen Kilometern multipliziert wird (vgl. BGH, Urteil vom 09.04.2014 - VIII ZR 215/13 -, NJW 2014, 2435 Rn. 6, 11 f.; Beschluss vom 09.10.2014 - VIII ZR 196/14 -, Schaden-Praxis 2015, 277 Rn. 3; Urteil vom 25.05.2020 - VI ZR 252/19 -, NJW 2020, 1962 Rn. 80). Die Gesamtlaufleistung des streitgegenständlichen Fahrzeugs beträgt nach einer vom Senat unter Berücksichtigung des Fahrzeugtyps und der Motorgröße (2,0 l Hubraum) gemäß § 287 ZPO vorgenommenen Schätzung 250.000 km (vgl. auch OLG Koblenz, Urteil vom 16.09.2019 - 12 U 61/19 -, Rn. 78), wovon auch das Landgericht ausgeht. Dies greift die Beklagte mit ihrer Berufung ausdrücklich nicht an.
21
cc) Im Streitfall ergibt sich daher ausgehend von dem Kilometerstand des Fahrzeugs im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat (169.989 km) und einem Kilometerstand von 94.250 km bei Fahrzeugübergabe (mithin 75.739 von der Klägerin gefahrenen Kilometern) folgende Berechnungsformel:
22
27.200,-- € : (250.000 km - 94.250 km) x 75.739 km seit Erwerb = 13.226,97 € Nutzungsentschädigung. Die Klägerin kann daher im Ergebnis nur Zahlung von 13.973,03 € (27.200,-- € abzüglich 13.226,97 €) verlangen, Zug um Zug gegen Übereignung des Audi Q5.
23
g) Die Forderung der Klägerin ist gemäß §§ 286 Abs. 1, 288 Abs. 1 BGB i.V.m. § 253 Abs. 1 ZPO für die Zeit ab Rechtshängigkeit der Klage mit 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz zu verzinsen; die Verzinsungspflicht beginnt in entsprechender Anwendung von § 187 Abs. 1 BGB mit dem Folgetag der Klagezustellung, die am 24.01.2019 stattfand, mithin am 25.01.2019 (vgl. BGH, Urteil vom 24.01.1990 - VIII ZR 296/88 -, NJW-RR 1990, 518 Rn. 25). Zu berücksichtigen ist jedoch, dass die Klägerin die auf den Kaufpreiserstattungsanspruch anzurechnenden Nutzungsvorteile zum Teil erst zwischen dem Eintritt der Rechtshängigkeit und dem Schluss der mündlichen Berufungsverhandlung erlangt hat (vgl. BGH, Urteil vom 30.07.2020 - VI ZR 397/19 -, NJW 2020, 2806 Rn. 38). Das Landgericht hat unter Zugrundelegung des Kilometerstands in der mündlichen Verhandlung vom 31.07.2019 (168.109 km, mithin 73.859 von der Klägerin gefahrenen Kilometern) entsprechend der oben unter f) bb) dargestellten Formel rechnerisch zutreffend die Nutzungsentschädigung auf 12.898,65 € beziffert und damit einen durch die Beklagte zu erstattenden Betrag von 14.301,35 € ermittelt (27.200,-- € abzüglich 12.898,65 €). Da die Beklagte als Rechtsmittelführerin im Berufungsverfahren nicht schlechter gestellt werden darf als durch das von ihr angefochtene Urteil (Verbot der reformatio in peius, § 528 ZPO), sind die Zinsen - wie vom Landgericht entschieden - von der Beklagten nur aus dem Betrag von 14.301,35 € geschuldet, der sich bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung vor dem Senat sukzessive Tag für Tag um die jeweiligen Nutzungsvorteile auf den schließlich zuzuerkennenden Betrag von 13.973,03 € ermäßigt (vgl. BGH, a. a. O.).
24
2. Zu Unrecht hat das Landgericht festgestellt, dass sich die Beklagte mit der Rücknahme des Pkw in Verzug befindet. Die Beklagte befindet sich trotz Stellung des Klageabweisungsantrages nicht in Annahmeverzug gemäß §§ 293, 295 BGB, weil die Klägerin die Übereignung und Übergabe des Fahrzeuges in der Klageschrift nicht zu Bedingungen angeboten hat, von denen sie sie tatsächlich hätte abhängig machen dürfen; es fehlt deshalb an einem zur Begründung von Annahmeverzug geeigneten Angebot (vgl. BGH, Urteil vom 25.05.2020 - VI ZR 252/19 -, NJW 2020, 1962 Rn. 85; Urteil vom 20.07.2005 - VIII ZR 275/04 -, NJW 2005, 2848 Rn. 30). Die Klägerin hat die Übereignung und Übergabe des Fahrzeuges in der Klageschrift u. a. davon abhängig gemacht, dass die Beklagte sog. Deliktszinsen in Höhe von 4 % aus dem Kaufpreis von 27.200,-- € seit dem 25.04.2014 zahlt und dabei die bis zum 08.10.2018 aufgelaufenen Zinsen mit 5.029,-- € beziffert. Darüber hinaus hat die Klägerin mit der Klage den vollen Kaufpreis von 27.200,-- € zurückgefordert, ohne die von ihr gezogenen Nutzungen in Abzug zu bringen, deren Höhe sie selbst - hilfsweise - mit 8.388,-- € angegeben hat. Unter diesen Umständen hat die Klägerin ihr Rückgabeangebot an die Erfüllung erheblicher überhöhter Forderungen geknüpft mit der Folge, dass ein zur Begründung von Annahmeverzug geeignetes Angebot nicht vorliegt.
25
3. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 92 Abs. 1 und 2 Nr. 1, 97 Abs. 1 ZPO und berücksichtigt den Umstand, dass die von der Klägerin in erster Instanz geltend gemachten Nebenforderungen (die in der Klageschrift für die Zeit bis zum 08.10.2018 auf 5.029,-- € bezifferten Deliktszinsen nebst für die Folgezeit geltend gemachter weiterer Zinsen in Höhe von 4 % aus 27.200,-- €) mehr als 10 % eines fiktiven Streitwertes aus Hauptforderung und Zinsen ausmachen. Wird ein Kläger mit einem Teil seiner Nebenforderungen abgewiesen, so trifft § 92 Abs. 1 ZPO zu, auch wenn dieselbe Wertstufe vorliegt, aber die streitwertmäßig nicht zu berücksichtigenden Zinsen der Höhe nach 10 % des fiktiven Streitwerts aus Hauptforderung und Zinsen überschreiten (vgl. OLG Stuttgart, Urteil vom 12.12.2019 - 13 U 13/19 -, Rn. 146; Zöller/Herget, ZPO, 33. Aufl., § 92 Rn. 11). So verhält es sich hier. Die Quoten für die beiden Instanzen errechnen sich dementsprechend wie folgt:
26
Unterliegen der Beklagten in erster Instanz: 13.973,03 € im Verhältnis zu einem fiktiven Streitwert von 32.371,73 €. Dies ergibt eine Quote von 43 % zu 57 % zu Lasten der Klägerin.
27
Unterliegen der Beklagten in zweiter Instanz: 13.973,03 € im Verhältnis zum (mangels Überschreiten der Grenze von 10 % nicht durch Zinsen erhöhten) Streitwert von 14.301,35 €. Dies ergibt eine Quote von 98 % zu 2 % zu Lasten der Beklagten und führt unter Anwendung von § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO dazu, dass wegen des verhältnismäßig geringfügigen Obsiegens der Beklagten die Kosten des Berufungsverfahrens vollständig der Beklagten auferlegt werden.
28
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.
29
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Zulassungsvoraussetzungen nach § 543 Abs. 2 ZPO nicht gegeben sind. Die im vorliegenden Rechtsstreit maßgebenden Rechtsfragen sind durch die zitierte Rechtsprechung des Bundesbundesgerichtshofs höchstrichterlich geklärt; im Hinblick auf die die Beklagte für den Einbau eines Dieselmotors vom Typ EA 189 treffende Haftung weicht der Senat - soweit ersichtlich - nicht von der Rechtsprechung anderer Oberlandesgerichte ab.
30
4. Der Senat hat beschlossen, den Streitwert für das Berufungsverfahren auf 13.301,35 € festzusetzen.
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Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das am 27.11.2019 verkündete Urteil der 13. Zivilkammer – Kammer für Handelssachen – des Landgerichts Bochum – unter Zurückweisung der weitergehenden Berufung – teilweise abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:
Es wird festgestellt, dass
1. die Beklagte zu 1) keinen Anspruch gegen die Klägerin hat, dass diese es unterlässt, sie bei „B“ anzuschwärzen oder durch aggressive geschäftliche Handlungen zu belasten, wie mit Schreiben vom 04.07.2019 (Anlage F9) behauptet;
2. die Beklagte zu 1) keinen Schadensersatzanspruch gegen die Klägerin in Bezug auf Handlungen gemäß Ziffer 1. hat, wie mit Schreiben vom 04.07.2019 (Anlage F9) behauptet;
3. die Beklagte zu 1) keinen Auskunftsanspruch gegen die Klägerin in Bezug auf Handlungen gemäß Ziffer 1. hat, wie mit Schreiben vom 04.07.2019 (Anlage F9) behauptet;
4. die Beklagte zu 1) keinen Anwaltsgebührenersatzanspruch gegen die Klägerin in Höhe von 3.652,71 € hat, wie mit Schreiben vom 04.07.2019 (Anlage F9) behauptet.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Klägerin trägt 9% ihrer eigenen erst- und zweitinstanzlichen außergerichtlichen Kosten, 9% der erst- und zweitinstanzlichen gerichtlichen Kosten sowie die erst- und zweitinstanzlichen außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 2) und 3). Die Beklagte zu 1) trägt 91% der erst- und zweitinstanzlichen gerichtlichen Kosten, 91% der erst- und zweitinstanzlichen außergerichtlichen Kosten der Klägerin sowie ihre eigenen erst- und zweitinstanzlichen außergerichtlichen Kosten.
Das Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die jeweilige Vollstreckungsschuldnerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrages abwenden, sofern nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
1G r ü n d e
2A.
3Die Klägerin vertreibt Lampen und Leuchten auf dem deutschen Markt. Die Beklagte zu 1), eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts, vertreibt ebenfalls Lampen und Leuchten auf dem deutschen Markt, die Beklagten zu 2) und 3) sind die Gesellschafter der Beklagten zu 1).
4Anfang Juni 2019 unterhielt die Beklagte zu 1) auf der Internetplattform „B“ u.a. unter der B SIN #00#0#####1 das Produktangebot „LED Einbaustrahler schwenkbar flach 3000K warmweiß 230V dimmbar Deckenstrahler Einbauleuchte Einbauspot, Farbe:Weiß, Einheit:1 Stück [Energieklasse A+++]“ (Internetausdruck Anlage F1b = Blatt 10-13 der Gerichtsakte) und unter der B SIN #00#0#####2 das Produktangebot „LED Einbaustrahler schwenkbar flach 3000K warmweiß 230V dimmbar Deckenstrahler Einbauleuchte Einbauspot, Farbe:Weiß, Einheit:6 Stück [Energieklasse A+++]“ (Internetausdruck Anlage F1c = Blatt 14-17 der Gerichtsakte).
5Die Klägerin erhielt spätestens am 03.06.2019 Kenntnis von den beiden vorbezeichneten Produktangeboten. Am 03.06.2019 wandte sich die Klägerin an den Betreiber der Internetplattform „B“ (im Folgenden zur Vereinfachung: Plattformbetreiber) und äußerte, (zumindest) diese beiden Produktangebote entsprächen nicht den Vorgaben der „Delegierten Verordnung (EU) Nr. 874/2012 der Kommission vom 12.07.2012 zur Ergänzung der Richtlinie 2010/30/EU des Europäischen Parlaments und des Rates im Hinblick auf die Energieverbrauchskennzeichnung von elektrischen Lampen und Leuchten“ (im Folgenden: VO (EU) Nr. 874/2012). Der Plattformbetreiber entfernte daraufhin die beiden oben bezeichneten Produktangebote sowie zehn weitere Produktangebote der Beklagten zu 1) von der Internetplattform „B“ und informierte die Beklagte zu 1) hierüber mit E-Mail vom 11.06.2019 (Anlage F4 = Blatt 25 der Gerichtsakte). Die Entfernung der Produktangebote begründete der Plattformbetreiber in dieser E-Mail wie folgt:
6„(…) Das Energieeffizienzlabel wird bei den Angeboten nicht ordnungsgemäß dargestellt (Anhang VIII der Verordnung EU 874/2012). Das Label wird weder unmittelbar neben dem Preis noch mittels einer geschachtelten Anzeige dargestellt. (…)“
7Mit anwaltlichem Schriftsatz vom 04.07.2019 (Anlage F9 = Blatt 58-64 der Gerichtsakte) mahnte die Beklagte zu 1) die Klägerin ab. Die „Beschwerde“ der Klägerin bei dem Plattformbetreiber sei unlauter gewesen. Sie stelle eine aggressive geschäftliche Handlung im Sinne des § 4a UWG, eine „Anschwärzung“ im Sinne des § 4 Nr. 2 UWG und eine gezielte Behinderung im Sinne des § 4 Nr. 4 UWG dar. Ihr, der Beklagten zu 1), stehe daher ein Unterlassungsanspruch gegen die Klägerin zu. Die Klägerin sei darüber hinaus zur Auskunftserteilung über den Umfang ihres unlauteren Verhaltens und zur Leistung von Schadensersatz verpflichtet; sie, die Beklagte zu 1), schätze den entstandenen Schaden überschlägig auf einen Betrag von ca. 191.000,00 €. Schließlich sei die Klägerin verpflichtet, die ihr, der Beklagten zu 1), entstandenen Abmahnkosten in Höhe von 3.652,71 € (Rechtsanwaltsvergütung, berechnet nach einem Gegenstandswert von 60.000,00 €) zu erstatten.
8Die Klägerin mahnte ihrerseits mit anwaltlichem Schriftsatz vom 20.07.2019 (Anlage F5 = Blatt 26-29 der Gerichtsakte) die Beklagte zu 1) ab. Die von der Beklagten zu 1) auf der Internetplattform „B“ unterhaltenen Produktangebote für Leuchten hätten den sich aus Anhang VIII der VO (EU) Nr. 874/2012 ergebenden unionsrechtlichen Anforderungen an die Information über die Energieeffizienzklasse nicht genügt.
9Mit E-Mail vom 26.07.2019 (Anlage BK7) informierte der Plattformbetreiber die Beklagte zu 1) darüber, dass er weitere 29 Produktangebote der Beklagten zu 1) von der Internetplattform „B“ entfernt habe. Die Entfernung der Produktangebote begründete der Plattformbetreiber erneut mit folgender Aussage:
10„(…) Das Energieeffizienzlabel wird bei den Angeboten nicht ordnungsgemäß dargestellt (Anhang VIII der Verordnung EU 874/2012). Das Label wird weder unmittelbar neben dem Preis noch mittels einer geschachtelten Anzeige dargestellt. (…)“
11Zu den vom Plattformbetreiber entfernten Produktangeboten gehörten u.a. das Angebot mit der B SIN #000######3 (Internetausdruck [Stand: 20.07.2019] Anlage F6 = Blatt 30-39 der Gerichtsakte) und das Angebot mit der B SIN #00##00###4 (Internetausdruck [Stand: 20.07.2019] Anlage F8a [= Blatt 49-56 der Gerichtsakte] und Anlage F8b = Blatt 57 der Gerichtsakte]).
12Das Landgericht Frankfurt am Main gab der Beklagten zu 1) auf Antrag der Klägerin mit Beschluss vom 30.07.2019 – 3-10 O 86/19 – (Anlage F12 = Blatt 81-83 der Gerichtsakte) im Wege der einstweiligen Verfügung unter Androhung von Ordnungsmitteln auf, es zu unterlassen,
13„bei Onlineangeboten elektrische Lampen und Leuchten in den Verkehr zu bringen, ohne hierbei im Wege einer verschachtelten Anzeige gemäß Anhang VIII Absatz 3 der Delegierten Verordnung (EU) Nr. 874/2012 das Etikett gemäß Anhang I Absatz 3 der Delegierten Verordnung (EU) Nr. 874/2012 zu verbinden, wenn dies wie in den Anlagen (…) ersichtlich geschieht.“
14Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, die von der Beklagten zu 1) in ihrer Abmahnung vom 04.07.2019 genannten Ansprüche bestünden nicht. Gegenstand ihrer, der Klägerin, Eingabe an den Plattformbetreiber vom 03.06.2019 seien lediglich das Produktangebot mit der B SIN #00#0#####1 und das Produktangebot mit der B SIN #00#0#####2 gewesen. Sie, die Klägerin, sei berechtigt gewesen, dem Plattformbetreiber diese beiden Angebote zu melden, weil sie den Vorgaben der VO (EU) Nr. 874/2012 nicht entsprochen hätten. Der Plattformbetreiber stelle sogar ein besonderes Software-„Tool“ zur Verfügung, das es den Anbietern ermögliche, ihre Produktangebote rechtskonform zu gestalten. Dieses „Tool“ ermögliche auch eine sogenannte „geschachtelte Anzeige“ im Sinne der VO (EU) Nr. 874/2012 und stehe allen Anbietern auf der Internetplattform „B“ – unabhängig von ihrer Größe – zur Verfügung. Mit den – nachfolgend wiedergegebenen – Klageanträgen (negativen Feststellungsanträgen) zu 1) bis 4) wende sie, die Klägerin, sich gegen die von der Beklagten zu 1) in ihrer Abmahnung vom 04.07.2019 geltend gemachten Ansprüche, der – nachfolgend wiedergegebene – Klageantrag zu 5) betreffe die „Gesellschafterhaftung der Beklagten zu 2) und 3)“ nach „§ 128 HGB analog“.
15Die Klägerin hat beantragt,
161. festzustellen, dass die Beklagte zu 1) keinen Anspruch gegen sie, die Klägerin, hat, dass diese es unterlässt, sie bei „B“ anzuschwärzen oder durch aggressive geschäftliche Handlungen zu belasten, wie mit Schreiben vom 04.07.2019 (Anlage F9) behauptet, sowie insbesondere in Bezug auf Vorgänge wie aus der Anlage F4 ersichtlich;
172. festzustellen, dass die Beklagte zu 1) keinen Schadensersatzanspruch gegen sie, die Klägerin, in Bezug auf Handlungen gemäß Ziffer 1. hat, wie mit Schreiben vom 04.07.2019 (Anlage F9) behauptet, sowie insbesondere nicht in Bezug auf die Vorgänge wie aus der Anlage F4 ersichtlich, sowie insbesondere nicht in Höhe von ca. 191.000,00 €;
183. festzustellen, dass die Beklagte zu 1) keinen Auskunftsanspruch gegen sie, die Klägerin, in Bezug auf Handlungen gemäß Ziffer 1. hat, wie mit Schreiben vom 04.07.2019 (Anlage F9) behauptet, sowie insbesondere nicht in Bezug auf die Vorgänge wie aus der Anlage F4 ersichtlich;
194. festzustellen, dass die Beklagte zu 1) keinen Anwaltsgebührenersatzanspruch gegen sie, die Klägerin, in Höhe von 3.652,71 € hat, wie mit Schreiben vom 04.07.2019 (Anlage F9) behauptet,
205. den Beklagten zu 1) bis 3) die Kosten des Rechtsstreits gesamtschuldnerisch aufzuerlegen.
21Die Beklagten haben beantragt,
22die Klage abzuweisen.
23Die Beklagten haben die Auffassung vertreten, der Zulässigkeit der Klage stehe angesichts des beim Landgericht Frankfurt am Main anhängigen Verfahrens zum Erlass einer einstweiligen Verfügung der Einwand anderweitiger Rechtshängigkeit entgegen. Der negative Feststellungsantrag zu 1) sei zu unbestimmt. Für den negativen Feststellungsantrag zu 2) bestehe kein Feststellungsinteresse: Die Beklagte zu 1) habe in ihrer Abmahnung vom 04.07.2019 lediglich einen Unterlassungsanspruch geltend gemacht, der eingetretene Schaden sei lediglich erwähnt worden, um den Gegenstandswert der Angelegenheit zu bestimmen. Die Beklagte zu 1) habe im Übrigen einen Schadensersatzanspruch gegen die Klägerin. Das Verhalten der Klägerin stelle insbesondere eine gezielte Behinderung im Sinne des § 4 Nr. 4 UWG dar. Vor dem 26.07.2019 müsse sich die Klägerin ein weiteres Mal bei dem Plattformbetreiber über Angebote der Beklagten zu 1) beschwert haben. Die Klägerin habe für ihre Beschwerden das für die Meldung von Verletzungen gewerblicher Schutzrechte vorgesehene Verfahren des Plattformbetreibers (sogenanntes „Infringement“-Verfahren) zum Zwecke einer gezielten Absatzbehinderung missbraucht. Die Beschwerden der Klägerin beim Plattformbetreiber sowie die Abmahnung der Klägerin vom 20.07.2019 seien unberechtigt gewesen. Die Produktangebote der Beklagten zu 1) seien rechtskonform gewesen. Im Übrigen sei es für kleine Händler wie die Beklagte zu 1) technisch gar nicht möglich, das vom Plattformbetreiber bereitgestellte „Tool“ für eine sogenannte „geschachtelte Anzeige“ zu nutzen.
24Mit dem angefochtenen, am 27.11.2019 verkündeten Urteil hat die 13. Zivilkammer – Kammer für Handelssachen – des Landgerichts Bochum der Klage in vollem Umfang stattgegeben.
25Gegen dieses Urteil wenden sich die Beklagten mit ihrer form- und fristgerecht eingelegten Berufung.
26Die Beklagten wiederholen und vertiefen ihr erstinstanzliches Vorbringen. Sie wiederholen insbesondere den Vorwurf, die Klägerin habe mit ihren Beschwerden das für die Meldung von Verletzungen gewerblicher Schutzrechte vorgesehene Verfahren des Plattformbetreibers („Infringement“-Verfahren) missbraucht.
27Die Beklagten beantragen – nach zunächst anderslautend formulierten Berufungsanträgen – nunmehr (sinngemäß),
28das angefochtene Urteil abzuändern und die Klage abzuweisen.
29Die Klägerin beantragt,
30die Berufung zurückzuweisen.
31Die Klägerin verteidigt das angefochtene Urteil unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens. Sie, die Klägerin, habe für ihre (einzige) Beschwerde nicht das „Infringement“-Verfahren des Plattformbetreibers genutzt, sondern sich direkt an die „B“-Rechtsabteilung gewandt. Der Plattformbetreiber habe aufgrund dieser Beschwerde nicht nur die von ihr, der Klägerin, beanstandeten Produktangebote der Beklagten zu 1), sondern darüber hinaus offenbar auch weitere Produktangebote der Beklagten zu 1) überprüft und von der Internetplattform entfernt.
32Soweit in den Gründen dieses Urteils Fundstellen in der Gerichtsakte angegeben sind, wird wegen der Einzelheiten auf die dort befindlichen Dokumente verwiesen.
33B.
34Die – zulässige – Berufung der Beklagten ist begründet, soweit sie sich gegen die Verurteilung der Beklagten zu 2) und 3) nach dem erstinstanzlichen Klageantrag zu 5) richtet; im Übrigen ist die Berufung unbegründet.
35I. Zulässigkeit der Berufung
36Die Berufung ist zulässig. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt worden (§§ 517, 519 ZPO). Die Berufung ist auch form- und fristgerecht begründet worden (§ 520 ZPO). Die Beklagten haben zunächst mit Schriftsatz vom 17.02.2020 (Blatt 223 ff. der Gerichtsakte) – innerhalb der Berufungsbegründungsfrist – als Berufungsanträge positive Feststellungsanträge hinsichtlich der in der Abmahnung der Beklagten zu 1) vom 04.07.2019 genannten Ansprüche auf Unterlassung, Schadensersatz und Abmahnkostenerstattung formuliert und beantragt, der Klägerin die Kosten des Rechtsstreits aufzuerlegen. Diese – zumindest bedenkliche – Antragsformulierung sowie der weitere Inhalt des Berufungsbegründungsschriftsatzes vom 17.02.2020 ließen gleichwohl bereits erkennen, dass die Beklagten sich mit ihrer Berufung (jedenfalls) gegen die Verurteilung nach den erstinstanzlichen Klageanträgen zu 1), 2), 4) und 5) wenden wollten. Nachdem der Senat die Beklagten mit Schreiben vom 09.04.2020 (Blatt 274 der Gerichtsakte) auf Bedenken gegen die Formulierung der Berufungsanträge hingewiesen hatte, haben die Beklagten ihr Berufungsbegehren mit Schriftsatz vom 20.05.2020 (Blatt 312, 315 der Gerichtsakte) klargestellt und nunmehr den oben unter A. wiedergegebenen Berufungsantrag gestellt. Dass diese Klarstellung nach Ablauf der Berufungsbegründungsfrist erfolgt ist, ist unschädlich. Ebenso unschädlich ist, dass der nunmehr gestellte Berufungsantrag auch einen Angriff gegen die Verurteilung nach dem erstinstanzlichen Klageantrag zu 3) einschließt: Soweit hierin eine nachträgliche Erweiterung des Berufungsangriffes liegen sollte, ist diese zulässig, weil sie hier fraglos auf die bereits zuvor – fristgerecht vorgelegten – Ausführungen zur Begründung der Berufung gestützt werden kann (vgl. Heßler in: Zöller, Zivilprozessordnung, 33. Aufl. [2020], § 520 Rdnr. 10).
37II. Begründetheit der Berufung
38Die Berufung ist begründet, soweit sie sich gegen die Verurteilung der Beklagten zu 2) und 3) nach dem erstinstanzlichen Klageantrag zu 5) richtet; im Übrigen ist sie unbegründet.
391. Erstinstanzlicher Klageantrag zu 1)
40a) Die Klage ist mit diesem negativen Feststellungsantrag zulässig.
41Der Antrag ist aufgrund der darin enthaltenen Bezugnahme auf die Abmahnung der Beklagten zu 1) vom 04.07.2019 hinreichend bestimmt im Sinne des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO; der Senat streicht bei der Neufassung der Urteilsformel allerdings klarstellend den überflüssigen Satzbestandteil „sowie insbesondere in Bezug auf Vorgänge wie aus der Anlage F4 ersichtlich“.
42Der Zulässigkeit der Klage stehen das beim Landgericht Frankfurt am Main anhängige Verfahren zum Erlass einer einstweiligen Verfügung und das – mittlerweile ebenfalls beim Landgericht Frankfurt am Main anhängige – diesbezügliche Hauptsacheklageverfahren zwischen der Klägerin und der Beklagten zu 1) (siehe auch das im Hauptsacheklageverfahren am 30.04.2020 verkündete Urteil [Blatt 292-306 der Gerichtsakte]) nicht entgegen. Gegenstand dieser beiden Verfahren ist die Frage, ob der Klägerin gegen die Beklagte zu 1) aufgrund der Gestaltung der Produktangebote der Beklagten zu 1) auf der Internetplattform „B“ (lauterkeitsrechtliche) Ansprüche zustehen. Diese Frage ist im vorliegenden Rechtsstreit allenfalls eine Vorfrage, weshalb der von den Beklagten hier erhobene Einwand anderweitiger Rechtshängigkeit nicht durchgreift.
43b) Die Klage ist mit diesem negativen Feststellungsantrag auch begründet. Der Beklagten zu 1) steht der mit der Abmahnung vom 04.07.2019 geltend gemachte Unterlassungsanspruch unter keinem denkbaren rechtlichen Gesichtspunkt zu.
44Als Grundlage für den geltend gemachten Unterlassungsanspruch kommt allenfalls die Regelung in § 8 Abs. 1 Satz 1, § 3 Abs. 1 UWG in Betracht. Die „Beschwerde“ der Klägerin bei dem Plattformbetreiber vom 03.06.2019 – nur diese ist Gegenstand der Abmahnung der Beklagten zu 1) vom 04.07.2019 – stellt indes keine unlautere geschäftliche Handlung dar.
45aa) Es handelt sich um keine „aggressive geschäftliche Handlung“ im Sinne des § 4a UWG. Eine solche geschäftliche Handlung setzt nach § 4a Abs. 1 Satz 2 UWG eine Belästigung, eine Nötigung oder eine unzulässige Beeinflussung voraus. Dass die Klägerin den „B“-Plattformbetreiber mit ihrer Beschwerde belästigt oder genötigt hat, ist nicht ersichtlich. Auch eine unzulässige Beeinflussung liegt nicht vor. Nach § 4a Abs. 1 Satz 3 UWG liegt eine unzulässige Beeinflussung vor, wenn der Unternehmer eine Machtposition gegenüber dem Verbraucher oder sonstigen Marktteilnehmer zur Ausübung von Druck, auch ohne Anwendung oder Androhung von körperlicher Gewalt, in einer Weise ausnutzt, die die Fähigkeit des Verbrauchers oder sonstigen Marktteilnehmers zu einer informierten Entscheidung wesentlich einschränkt. Hierfür fehlt jeglicher Anhaltspunkt.
46bb) Die Beschwerde vom 03.06.2019 beinhaltete auch keine „Anschwärzung“ im Sinne des § 4 Nr. 2 UWG. Eine solche Anschwärzung setzt nach dem Wortlaut der vorbezeichneten Vorschrift die Behauptung oder Verbreitung falscher oder nicht erweislich wahrer Tatsachen voraus.
47(1) Es liegt kein Anhaltspunkt dafür vor, dass die Klägerin – sei es nun in der Beschwerde vom 03.06.2019 und/oder in einer etwaigen weiteren Beschwerde – dem Plattformbetreiber über das Produktangebot mit der B SIN #00#0#####1 und das Produktangebot mit der B SIN #00#0#####2 hinaus weitere Produktangebote der Beklagten zu 1) gemeldet hat. Die Beklagten haben insofern letztlich nur Vermutungen geäußert. Dass die Beklagten – die Beklagte zu 1) verfügt immerhin über eine eigene vertragliche Beziehung zu dem Plattformbetreiber – nicht in der Lage gewesen wären zu eruieren, wie häufig und mit welchem jeweiligen konkreten Inhalt die Klägerin sich über die Beklagte zu 1) bei dem Plattformbetreiber beschwert hat, und hierzu im vorliegenden Rechtsstreit konkret vorzutragen, ist nicht erkennbar. Der Umstand, dass der Plattformbetreiber sowohl in seiner E-Mail vom 11.06.2019 als auch in seiner E-Mail vom 26.07.2019 auf eine „Beschwerde“ der Klägerin Bezug genommen hat, ist ohne Aussagekraft, weil die – einzige und auf die beiden oben bezeichneten Produktangebote beschränkte – Eingabe der Klägerin als Auslöser für eigene Überprüfungen des Plattformbetreibers gedient haben kann und nur aus diesem Grunde in den E-Mails Erwähnung gefunden haben mag.
48(2) Dass die Klägerin über die beiden unter (1) genannten Produktangebote falsche oder nicht erweislich wahre Tatsachen behauptet hat, ist nicht ersichtlich. Es wäre ohnehin unsinnig, gegenüber dem „B“-Plattformbetreiber unrichtige Tatsachen über den Wortlaut oder die sonstige Gestaltung von Produktangeboten auf seiner eigenen Internetplattform zu behaupten.
49cc) Die Beschwerde der Klägerin vom 03.06.2019 enthielt auch keine Herabsetzung oder Verunglimpfung der Beklagten zu 1) im Sinne des § 4 Nr. 1 UWG. Die in dieser Beschwerde von der Klägerin geäußerte Rechtsauffassung, die beiden Produktangebote, die Gegenstand der Beschwerde waren und die hier auch nur in Rede stehen, entsprächen nicht den Vorgaben der VO (EU) Nr. 874/2012, war vielmehr zutreffend.
50Gegenstand des Produktangebotes mit der B SIN #00#0#####1 und des Produktangebotes mit der B SIN #00#0#####2 waren jeweils Leuchten mit fest eingebauten LED-Modulen. Art. 4 Abs. 2 lit. d) der VO (EU) Nr. 874/2012 in der bis zum 24.12.2019 geltenden Fassung verpflichtete Händler von Leuchten, die an Endnutzer vermarktet wurden, dafür zu sorgen, dass jedes Modell, das im Internet zum Verkauf, zur Vermietung oder zum Ratenkauf angeboten wurde und für das vom Leuchtenlieferanten ein elektronisches Etikett bereitgestellt wurde, mit diesem Etikett gemäß dem Anhang VIII der Verordnung versehen war.
51Die beiden hier in Rede stehenden „B“-Produktangebote der Beklagten zu 1) richteten sich – jedenfalls auch – an Endnutzer. Dass der Lieferant der Leuchten für diese Produkte kein elektronisches Etikett bereitstellte, haben die Beklagten nicht vorgetragen. Die beiden Produktangebote genügten den Vorgaben des Anhanges VIII der VO (EU) Nr. 874/2012 indes nicht. Nach Anhang VIII Nr. 2 Sätze 1 und 2 der VO (EU) Nr. 874/2012 musste das Etikett gut sichtbar und leserlich in der Nähe des Produktpreises dargestellt werden; hilfsweise erlaubte Anhang VIII Nr. 2 Sätze 3 und 4 der VO (EU) Nr. 874/2012 die Anzeige des Etiketts mit Hilfe einer sogenannten „geschachtelten Anzeige“ (Legaldefinition in Anhang VIII Nr. 1 lit. b) der VO (EU) Nr. 874/2012). Nach Anhang VIII Nr. 3 lit. a) der VO (EU) Nr. 874/2012 musste das als „Link“ für den Zugang zum Etikett genutzte Bild bei einer geschachtelten Anzeige ein Pfeil in der Farbe der Energieeffizienzklasse des Produkts auf dem Etikett sein; Anhang VIII Nr. 3 litt. b) und c) der VO (EU) Nr. 874/2012 enthielten weitere Vorgaben für die Gestaltung dieses Pfeils. Dieser Pfeil musste wiederum nach Anhang VIII Nr. 4 lit. a) der VO (EU) Nr. 874/2012 in der Nähe des Produktpreises dargestellt werden. Die beiden hier in Rede stehenden Produktangebote der Beklagten zu 1) enthielten in der Nähe des jeweiligen Produktpreises weder ein den Vorgaben des Anhanges I der VO (EU) Nr. 874/2012 entsprechendes Etikett noch einen den oben dargestellten Vorgaben entsprechenden „Link“ für eine „geschachtelte Anzeige“ des Etiketts.
52dd) Die Beschwerde der Klägerin vom 03.06.2019 ist schließlich auch nicht als gezielte Behinderung der Beklagten zu 1) im Sinne des § 4 Nr. 4 UWG zu werten.
53Nicht jede Behinderung eines Wettbewerbers unterfällt der Regelung des § 4 Nr. 4 UWG. Es müssen vielmehr besondere, die Unlauterkeit der Behinderung des Wettbewerbers begründende Umstände hinzutreten (vgl. Köhler/Bornkamm/Feddersen, UWG, 38. Aufl. [2020], § 4 Rdnr. 4.7 m.w.N.). Derartige besondere Umstände sind hier nicht ersichtlich.
54(1) Dass die beiden hier in Rede stehenden Produktangebote den für sie geltenden gesetzlichen Anforderungen nicht genügten und dementsprechend die von der Klägerin gegenüber dem „B“-Plattformbetreiber geäußerte Rechtsauffassung zutreffend war, hat der Senat oben bereits ausgeführt.
55(2) Dass die Klägerin ihre Beschwerde an den Plattformbetreiber aus sachfremden – wettbewerbsfremden – Interessen abgesetzt hat, ist nicht ersichtlich. Dass die Klägerin zunächst den Weg der Beschwerde an den Plattformbetreiber gewählt hat, der überdies schnell und effizient zu einer Entfernung der nicht gesetzeskonformen Produktangebote aus dem Internet geführt hat, und nicht sofort eine gegebenenfalls Kostenerstattungsansprüche auslösende Abmahnung ausgesprochen hat, spricht im Gegenteil dafür, dass ihr Vorgehen dem Interesse an einem lauteren, gesetzeskonformen Wettbewerb entsprang.
56(3) Dass die Klägerin das sogenannte „Infringement“-Verfahren des „B“-Plattformbetreibers missbraucht hat, ist ebenfalls nicht ersichtlich. Die Klägerin hat vorgetragen, sie habe dieses Verfahren nicht genutzt, sondern sich vielmehr direkt an die Rechtsabteilung des Plattformbetreibers gewandt. Hierfür spricht auch der Wortlaut der beiden E-Mails vom 11.06.2019 und vom 26.07.2019, in denen von einer Verletzung gewerblicher Schutzrechte nicht die Rede ist, sondern ausdrücklich auf eine Zuwiderhandlung gegen Anhang VIII der VO (EU) Nr. 874/2012 abgestellt wird. Das Vorbringen der Beklagten zu einem angeblichen Missbrauch des „Infringement“-Verfahrens ist vor diesem Hintergrund substanzlos und geht über bloße Vermutungen nicht hinaus.
57(4) Eine gezielte Behinderung könnte allenfalls dann vorliegen, falls der Klägerin im unmittelbaren Rechtsverhältnis zwischen ihr und der Beklagten zu 1) keine (lauterkeitsrechtlichen) Ansprüche gegen die Beklagte zu 1) wegen der Zuwiderhandlung gegen Anhang VIII der VO (EU) Nr. 874/2012 zustehen, z.B. weil diese Zuwiderhandlungen nicht spürbar im Sinne des § 3a UWG sind. Die von der Klägerin beim Plattformbetreiber erhobene Beschwerde wäre dann mit dem Fall einer unberechtigten „externen“ Abmahnung gegenüber einem für den (vermeintlichen) Wettbewerbsverstoß „Mitverantwortlichen“ vergleichbar (vgl. zu dieser Fallgruppe: Köhler/Bornkamm/Feddersen, a.a.O., § 4 Rdnr. 4.167). Abgesehen davon, dass das Landgericht Frankfurt am Main in den beiden dort anhängigen Verfahren jeweils lauterkeitsrechtliche Ansprüche der Klägerin gegen die Beklagte zu 1) bejaht hat, wäre eine „gezielte Behinderung“ der Beklagten zu 1) durch die Beschwerde der Klägerin bei dem Plattformbetreiber nur dann anzunehmen, wenn die Klägerin Kenntnis vom Fehlen (unmittelbarer) lauterkeitsrechtlicher Ansprüche gegen die Beklagte zu 1) gehabt hätte oder sich dieser Kenntnis bewusst verschlossen hätte (vgl. Köhler/Bornkamm/Feddersen, a.a.O., § 4 Rdnr. 4.167). Hierfür fehlt jeglicher Anhaltspunkt.
582. Erstinstanzlicher Klageantrag zu 2)
59a) Mit diesem negativen Feststellungsantrag ist die Klage ebenfalls zulässig. Es besteht insbesondere ein Feststellungsinteresse (§ 256 Abs. 1 ZPO). Auch wenn die Beklagte zu 1) die Klägerin in ihrer Abmahnung vom 04.07.2019 nicht unmittelbar zu einer Zahlung aufgefordert hat, hat sie sich doch eines Schadensersatzanspruches berühmt, was für die Bejahung eines Feststellungsinteresses ausreicht.
60Bei der Neufassung der Urteilsformel streicht der Senat klarstellend den überflüssigen Satzbestandteil „sowie insbesondere nicht in Bezug auf die Vorgänge wie aus der Anlage F4 ersichtlich, sowie insbesondere nicht in Höhe von ca. 191.000,00 €“.
61b) Die Klage ist mit diesem negativen Feststellungsantrag aus den oben unter 1.b) genannten Gründen auch begründet.
623. Erstinstanzlicher Klageantrag zu 3)
63a) Die Klage ist mit diesem negativen Feststellungsantrag zulässig. Der Senat streicht allerdings bei der Neufassung der Urteilsformel klarstellend den überflüssigen Satzbestandteil „sowie insbesondere nicht in Bezug auf die Vorgänge wie aus der Anlage F4 ersichtlich“.
64b) Die Klage ist mit diesem negativen Feststellungsantrag aus den oben unter 1.b) genannten Gründen auch begründet.
654. Erstinstanzlicher Klageantrag zu 4)
66Die Klage ist mit diesem negativen Feststellungsantrag zulässig und aus den oben unter 1.b) genannten Gründen auch begründet.
675. Erstinstanzlicher Klageantrag zu 5)
68Soweit dieser Antrag die Beklagte zu 1) betrifft, handelt es sich nicht um einen Klageantrag im eigentlichen Sinne, sondern nur um eine Anregung für die von Amts wegen zu treffende Entscheidung über den prozessrechtlichen Kostenerstattungsanspruch nach §§ 91 ff. ZPO.
69Einen „echten“ Klageantrag enthält der erstinstanzliche Antrag zu 5) allerdings, soweit er sich gegen die Beklagten zu 2) und 3) richtet. Insofern macht die Klägerin nämlich nicht den prozessrechtlichen Kostenerstattungsanspruch, sondern einen materiell-rechtlichen Kostenerstattungsanspruch aufgrund der von ihr angenommenen Gesellschafterhaftung der Beklagten zu 2) und 3) geltend.
70Mit diesem Klageantrag ist die Klage unzulässig. Da der Kostenerstattungsanspruch nicht beziffert wird, handelt es sich bei diesem Klageantrag der Sache nach um einen Feststellungsantrag. Für diesen Feststellungsantrag fehlt indes unter dem Gesichtspunkt des „Vorrangs der Leistungsklage“ das nach § 256 Abs. 1 ZPO erforderliche Feststellungsinteresse. Die Klägerin ist sofort nach der Beendigung des vorliegenden Rechtsstreits in der Lage, die ihr entstandenen Kosten genau zu beziffern und sodann unmittelbar eine entsprechende Leistungsklage gegen die Beklagten zu 2) und 3) zu erheben. Für eine vorherige Feststellung der grundsätzlichen Leistungspflicht der Beklagten zu 2) und 3) fehlt jedes Bedürfnis. Eine solche Feststellung wäre auch nicht zur Sicherung eines etwaigen Kostenerstattungsanspruches der Klägerin geeignet, da die Klägerin aufgrund eines bloßen Feststellungsurteils keine Sicherungsvollstreckung betreiben könnte.
71C.
72Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2, § 97 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 708 Nr. 10, § 711 ZPO.
73Anlass für die Zulassung der Revision (§ 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO) besteht nicht.
74D.
75I.
76Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird – in Abänderung der vorläufigen Wertfestsetzung durch den Senat – endgültig auf 291.000,00 € festgesetzt. Der Streitwert für das erstinstanzliche Verfahren wird – in Abänderung der landgerichtlichen Festsetzung – ebenfalls auf 291.000,00 € festgesetzt.
77Dieser Wert setzt sich aus folgenden Einzel-Streitwerten zusammen:
7879Erstinstanzlicher Klageantrag zu 1): 60.000,00 €
80Bei negativen Feststellungsklagen ist der Streitwert mit dem vollen Wert der entsprechenden umgekehrten Leistungsklage gleichzusetzen, weil ein stattgebendes Urteil einer Leistungsklage des Prozessgegners entgegensteht (Senat, Beschluss vom 01.12.2015 – 4 W 97/14 –, juris, Rdnr. 7 m.w.N.). Der genannte Wert entspricht der Wertangabe in der Abmahnung vom 04.07.2019.
8182Erstinstanzlicher Klageantrag zu 2): 191.000,00 €
83Die Beklagte zu 1) hat ihre Forderung auf den hier angesetzten Betrag beziffert. Hinreichende Anhaltspunkte für eine höhere Bewertung liegen nicht vor.
8485Erstinstanzlicher Klageantrag zu 3): 15.000,00 €
8687Erstinstanzlicher Klageantrag zu 5): 25.000,00 €
88II.
89Mit der – auf § 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG gestützten – Neufestsetzung des Streitwertes für das erstinstanzliche Verfahren ist die von dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin in eigenem Namen erhobene und hier beim Senat unter dem Aktenzeichen I-4 W 43/20 geführte Streitwertbeschwerde gegen die landgerichtliche Streitwertfestsetzung gegenstandslos geworden.
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Tenor
Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 4.300,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 22. Mai 2019 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens haben der Beklagte zu 4/5 und der Kläger zu 1/5 zu tragen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Streitwert wird auf 5.000,00 € festgesetzt.
Tatbestand
1
Der Kläger begehrt eine Entschädigung für immaterielle Nachteile wegen der unangemessenen Dauer eines vor dem Sozialgericht (SG) Hildesheim unter dem Az.: S 23 AS 1966/09 geführten Klageverfahrens sowie eines vor dem Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen unter dem Az. L 9 AS 29/14 geführten Berufungsverfahrens.
2
Der Kläger und seine drei Söhne erhoben am 26. Oktober 2009 Klage beim SG Hildesheim mit dem Ziel der Bewilligung höherer Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II für den Zeitraum vom 1. September 2009 bis zum 28. Februar 2010. Streitig waren insbesondere die Gewährung der tatsächlichen Kosten der Unterkunft, die Anrechnung des Kindergeldes, der Abzug des Warmwasseranteils sowie die Höhe der Regelleistungen. Im Dezember 2009 gingen beim SG die Klageerwiderung des Landkreises Göttingen sowie sieben klägerische Schriftsätze mit weiterem Sachvortrag ein. Bis einschließlich Juni 2010 erfolgte weiterer umfangreicher Sachvortrag der Beteiligten, insbesondere des Klägers. Im Juni 2010 gingen ein umfangreicher Schriftsatz des Landkreises Göttingen sowie die Replik des Klägers ein. Im Juli 2010 übersandte der Landkreis Göttingen dem Gericht seinen ergänzenden Verwaltungsvorgang. Im August 2010 wies das SG die Beteiligten darauf hin, dass es beabsichtige, die Gerichts- und Verwaltungsakten eines anderen beim SG anhängigen Verfahrens des Klägers vorübergehend beizuziehen und bat die Beteiligten um Mitteilung, ob diesbezüglich Bedenken bestünden. Die Antwort des Klägers ging noch im selben Monat bei Gericht ein. Im Oktober 2010 ergänzte der Landkreis Göttingen erneut seinen Verwaltungsvorgang. Im Januar und Februar 2011 erfolgte ergänzender Sachvortrag des Klägers. Im März 2011 übersandte der Landkreis Göttingen wiederum seinen aktualisierten Verwaltungsvorgang. Mit Schriftsatz vom 11. April 2011 machte der Kläger fehlende Rentenversicherungsbeiträge zum weiteren Klagegegenstand und nahm dieses Begehren mit Schriftsatz vom 23. Mai 2011 wieder zurück. Im Juni, Juli und August 2011 übersandte der Landkreis Göttingen jeweils erneut Aktualisierungen seines Verwaltungsvorgangs. Im September 2011 wies das Gericht den Landkreis Göttingen darauf hin, dass dessen Verwaltungsakten immer noch lückenhaft seien und forderte von diesem die fehlenden Aktenbestandteile an. Der Landkreis Göttingen übersandte im selben Monat Ergänzungen seiner Verwaltungsakte. Mit Schriftsatz vom 30. Dezember 2011 erhob der Kläger erstmals Verzögerungsrüge. Im Januar 2012 übersandte der Kläger eine Vollmacht aufgrund der inzwischen eingetretenen Volljährigkeit eines seiner Söhne. Mit Verfügung vom 13. Februar 2012 bat das Gericht den Landkreis Göttingen um Mitteilung, bei welchem Verfahren sich die streitgegenständlichen Verwaltungsakten befänden, woraufhin der Landkreis Göttingen im März 2012 mitteilte, dass sich sämtliche Verwaltungsakten bei dem Verfahren zum Aktenzeichen S 54 AS 1234/10 befänden. Im April und Juli 2012 erfolgte weiterer Sachvortrag des Klägers (Schriftsätze vom 2. April und 9. Juli 2012). Am 5. September 2012 ging beim SG der Schriftsatz des Landkreises Göttingen vom 24. August 2012 ein, in dem der Landkreis den Kläger u.a. um Mitteilung bat, ob der Stromverbrauch für die Heizungspumpe mittels eines gesonderten Zählers erfasst werde. Mit Schriftsatz vom 6. Oktober 2012 erhob der Kläger erneut Verzögerungsrüge und erwiderte mit Schriftsatz vom 15. Oktober 2012 unter Vorlage von Jahresverbrauchsabrechnungen der Stadtwerke für den streitigen Zeitraum auf den Schriftsatz des Landkreises Göttingen vom 24. August 2012. Im April 2013 rügte der Kläger abermals die Dauer des Verfahrens. Mit Schriftsatz vom 25. Juni 2013 erfolgte weiterer Sachvortrag des Klägers. Im August 2013 forderte das SG vom Kläger eine Vollmacht der Kindesmutter an, welche der Kläger noch im selben Monat übersandte. Im September 2013 trug der Kläger weiter ergänzend zur Sache vor. Im Oktober erfolgte die Ladung zur mündlichen Verhandlung für den 28. November 2013. Am 28. November 2013 wurde nach mündlicher Verhandlung das Urteil verkündet mit dem Ergebnis eines teilweisen Obsiegens des Klägers. Das Urteil wurde den Beteiligten im Januar 2014 zugestellt. Im selben Monat legte der Kläger beim LSG Niedersachsen-Bremen Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil des SG Hildesheim ein. Im März 2014 ging beim LSG die kurze Berufungserwiderung des Landkreises Göttingen ein, in welcher dieser zur Begründung lediglich auf seinen erstinstanzlichen Vortrag sowie das angegriffene Urteil verwies. In der Folgezeit bis einschließlich März 2018 rügte der Kläger insgesamt sieben Mal gegenüber dem LSG die Dauer des Verfahrens, nämlich mit Schriftsätzen vom 2. Februar 2015, 3. August 2015, 4. Februar 2016, 5. August 2016, 6. Februar 2017, 7. August 2017 und 8. Februar 2018. Im Übrigen übersandte der Landkreis Göttingen nahezu monatlich Aktualisierungen seiner Verwaltungsakte. Im April 2018 erfolgte eine gerichtliche Hinweisverfügung, auf die der Kläger im selben Monat antwortete und im Übrigen mit Schriftsatz vom 26. April 2018 ergänzend zum Rechtsstreit vortrug. Auch im Mai und Juni 2018 folgte mit den Schriftsätzen vom 7. und 22. Mai sowie 14. Juni 2018 ergänzender umfangreicher Sachvortrag des Klägers. Mit Schriftsatz vom 9. August 2018 erhob der Kläger abermals Verzögerungsrüge. Im September 2018 übersandte der Kläger aufgrund der inzwischen eingetretenen Volljährigkeit eines seiner Söhne eine Vollmacht zum Gericht. Im September 2018 folgte ergänzender Sachvortrag des Klägers sowie eine Anfrage des Gerichts an die Beteiligten, ob sie mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden seien. Nachdem im Oktober 2018 die Einverständniserklärungen der Beteiligten sowie weitere Schriftsätze eingegangen waren, erließ das LSG am 30. Oktober 2018 das Urteil ohne mündliche Verhandlung, in dem es der Berufung des Klägers teilweise stattgab. Das Urteil wurde den Beteiligten im November 2018 zugestellt.
3
Der Kläger hat am 11. März 2019 Klage auf Entschädigung wegen unangemessener Dauer des beim SG Hildesheim unter dem Az.: S 23 AS 1966/09 geführten Klage- und beim LSG Niedersachsen-Bremen unter dem Az.: L 9 AS 29/14 geführten Berufungsverfahrens erhoben. Er trägt vor, das Ausgangsverfahren sei ohne ersichtlichen Grund in einem Zeitraum von insgesamt 74 Monaten, konkret in den Monaten September bis Dezember 2010, März, Juni, Juli, September, Oktober und November 2011 sowie Februar, März, Mai, Juni, September, November und Dezember 2012, Januar bis März sowie Mai, Juli und September 2013, Februar sowie April bis Dezember 2014, Januar bis Dezember 2015, Januar bis Dezember 2016, Januar bis Dezember 2017 sowie in den Monaten Januar bis März, Juli und August 2018, nicht gefördert worden, so dass sich nach Abzug der nach der Rechtsprechung des BSG einzuräumenden Vorbereitungs- und Bedenkzeit von 12 Monaten pro Instanz eine überlange Verfahrensdauer von 50 Monaten ergebe, mithin ein Entschädigungsanspruch in Höhe von 5.000,00 €. Das Verfahren sei für ihn von erheblicher Bedeutung gewesen, da nicht nur existenzsichernde Leistungen, sondern insbesondere die Übernahme der tatsächlichen Kosten der Unterkunft im Streit gestanden habe. Aufgrund der unangemessenen Dauer der gerichtlichen Verfahren sei es Ende 2013 zu einem Räumungsurteil gegen ihn gekommen. Nur mit Mühe sei es ihm gelungen, im Januar 2014 für sich und seine Kinder eine neue Wohnung zu finden. Im Übrigen habe durch das lange Liegenlassen der Klageverfahren für ihn die Notwendigkeit bestanden, jeden Bewilligungszeitraum erneut zu beklagen. Auch habe es sich nicht um ein erkennbar aussichtsloses Verfahren gehandelt, wie sich schon aus seinem teilweisen Obsiegen in beiden Instanzen ergebe.
4
Der Kläger beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen,
5
den Beklagten zu verurteilen, ihm 5.000,00 € zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
6
Der Beklagte beantragt nach seinem schriftsätzlichen Vorbringen,
7
die Klage abzuweisen.
8
Er ist der Auffassung, für das erstinstanzliche Verfahren ließen sich Zeiten fehlender Verfahrensförderung in einem Umfang von 11 Monaten feststellen, nämlich in den Zeiträumen Januar bis März, Juni und Dezember 2012 sowie von Januar bis Mai und im August 2013. Damit sei der regelmäßig einzuräumende Vorbereitungs- und Bedenkzeitraum von 12 Monaten nicht überschritten worden, so dass das erstinstanzliche Verfahren nicht von unangemessener Dauer gewesen sei. Für das zweitinstanzliche Verfahren ließen sich Zeiträume der fehlenden Verfahrensförderung von insgesamt 48 Monaten feststellen, konkret von April 2014 bis März 2018. Abzüglich der für beide Instanzen jeweils zuzugestehenden Vorbereitungs- und Bedenkzeit von 12 Monaten ergebe sich somit ein entschädigungspflichtiger Zeitraum von maximal 35 Monaten. Allerdings habe dem Verfahren aufgrund der Vielzahl von Klage- und Beweisanträgen sowie den immer wieder nachgeschobenen Klagebegehren und –begründungen ein insgesamt deutlich überdurchschnittlich umfangreicher, unübersichtlicher und komplizierter Sachverhalt zugrunde gelegen, der eine längere Vorbereitungs- und Bedenkzeit rechtfertige. Dies gelte auch vor dem Hintergrund, dass es sich hinsichtlich der Ermittlungen der angemessenen Kosten der Unterkunft um schwierige Rechtsfragen gehandelt habe.
9
Ferner fehle es an einer erkennbaren besonderen Belastung des Klägers durch die Dauer der streitgegenständlichen Verfahren. Der Kläger habe seit 2005 bis Juni 2013 mehr als 80 erstinstanzliche Klageverfahren angestrengt, wobei die zahlreichen daran anschließenden weiteren Verfahren, wie z.B. Berufungs- und Beschwerdeverfahren noch nicht mitgezählt seien. Zudem bereite der Kläger alle seine Verfahren umfassend auf seiner Internetpräsenz auf und versehe diese mit ergänzenden Kommentaren, Verweisungen etc. Damit stelle erkennbar das Führen, Kommentieren und Darstellen von Rechtsstreitigkeiten einen Schwerpunkt der Beschäftigung des Klägers dar. Diese Tätigkeit als Vielkläger könne aber keine entschädigungspflichtige Belastung begründen.
10
Im Übrigen sei ein etwaiger Entschädigungsanspruch jedenfalls gemäß § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB II auf den Grundsicherungsträger übergegangen, da der Kläger nach seinem eigenen Vortrag bis zum Jahresbeginn 2019 und damit während der gesamten Dauer des Ausgangsverfahrens im Bezug von Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II gestanden habe.
11
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Rechtsstreits durch den Senat ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
12
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie auf die beigezogene Gerichtsakte des Ausgangsverfahrens S 23 AS 1966/09 bzw. L 9 AS 29/14 Bezug genommen. Diese Unterlagen sind Gegenstand der Entscheidung gewesen.
Entscheidungsgründe
13
Die Entscheidung ergeht mit Einverständnis der Beteiligten in Anwendung von § 124 Abs. 2 SGG durch den Senat ohne mündliche Verhandlung.
14
Die Klage ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang auch begründet. Im Übrigen ist sie unbegründet.
15
Der Kläger ist aktivlegitimiert.
16
Obwohl er während der gesamten Dauer des Ausgangsverfahrens im laufenden Bezug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II gestanden hat, steht seiner Aktivlegitimation die Vorschrift des § 33 Abs. 1 SGB II nach der ständigen Rechtsprechung des Senats (vgl. Urteil des Senats vom 10. August 2017, L 10 SF 10/17 EK U veröffentlicht in juris und in info also 2017, 276 ff; Beschluss vom 17. März 2017, L 10 SF 35/16 EK AS veröffentlicht in juris; zustimmend Schweigler in SGb 2017, 314 ff; Beschluss vom 29. April 2016, L 10 SF 22/15 EK AS veröffentlicht in juris m. Anm. von Wersig in info also 2017, 126; zustimmend auch Schmidt in jurisPK SGB XII, Hrsg. Coseriu/Siefert, Stand 1. Februar 2020 Rn. 14 zu § 83 SGB XII ausdrücklich auch in Bezug auf § 11 a Abs. 3 Satz 1 SGB II), die auch nach erneuter Überprüfung aufrecht erhalten wird, nicht entgegen (die Aktivlegitimation im Ergebnis ebenfalls bejahend: Sächsisches LSG, Urteil vom 29. März 2017, L 11 SF 17/16 EK, juris, Rn. 29; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 25. Januar 2018, L 37 SF 69/17 EK AS veröffentlicht in juris; Urteil vom 24. Januar 2019; L 37 SF 102/18 EK AS WA veröffentlicht in juris dort Rn. 36 – auch insoweit nicht beanstandet im Revisionsurteil des BSG vom 27. März 2020, B 10 ÜG 4/19 R veröffentlicht in juris; sowie LSG Saarland, Urteil vom 21. März 2018, L 2 SF 4/17 EK AS, juris, Rn. 21, jeweils mit der Begründung, dass § 198 Abs. 5 Satz 3 GVG den Anspruchsübergang bis zur rechtskräftigen Zuerkennung der Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer ausschließe - insoweit wäre indessen tiefergehend zu prüfen, wann die Fälligkeit eines Entschädigungsanspruchs anzunehmen ist, vgl. insoweit offen gelassen in der bereits zitierten Senatsentscheidung vom 10. August 2017, L 10 SF 10/17 EK U in juris zu Rn 34 ff).
17
Nach § 33 SGB II gehen zwar grundsätzlich Ansprüche, die Leistungsbezieher gegen einen Anderen haben, bis zur Höhe der geleisteten Aufwendungen auf den Leistungsträger über. Dies gilt aber nur, wenn die Leistungen bei rechtzeitiger Erfüllung des Anspruchs nicht erbracht worden wären. Für die Kausalität zwischen nicht rechtzeitiger Erfüllung des Anspruchs und einem etwa geminderten Grundsicherungsanspruch ist daher entscheidend, ob der Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts auch bei Erfüllung des fraglichen Anspruchs fortbestanden hätte. Dies ist – wie hier - nicht der Fall, wenn das Einkommen in Anwendung der §§ 11 ff. SGB II nicht zur Sicherung des Lebensunterhalts eingesetzt werden musste (vgl. Grote-Seifert in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II § 33 Rn. 52).
18
Leistungsbezieher nach dem SGB II sind in Anwendung von § 11 a Abs. 3 Satz 1 SGB II nicht verpflichtet, ihnen zustehende Entschädigungsleistungen aus der Anwendung von § 198 GVG zur Sicherung ihres Lebensunterhalts einzusetzen. Nach § 11 a Abs. 3 Satz 1 SGB II sind Leistungen, die aufgrund öffentlich-rechtlicher Vorschriften zu einem ausdrücklich genannten Zweck erbracht werden, nur soweit als Einkommen zu berücksichtigen, als die Leistungen nach dem SGB II im Einzelfall demselben Zweck dienen (vgl. auch die wörtlich identische Regelung in § 83 Abs. 1 SGB XII). Die hier streitigen Entschädigungsleistungen gemäß § 198 GVG sind im vorgenannten Sinne zweckbestimmt. Sie dienen anderen Zwecken als die zur Bestreitung des Lebensunterhalts des Klägers gewährten Leistungen nach dem SGB II.
19
„Ausdrücklich genannt“ ist eine Zweckbestimmung im Sinne von § 11 a Abs. 3 Satz 1 SGB II, wenn sie sich eindeutig aus dem Gesetz herleiten lässt, wobei es auch ausreicht, wenn sich der Zweck aus der Gesetzesbegründung ergibt (vgl. die Rechtsprechung des BSG zur gleichlautenden Vorschrift des § 83 Abs. 1 SGB XII: BSG, Urteil vom 23. März 2010, B 8 SO 17/09 R, juris, Rn. 24, die ausdrücklich Vorbild für die Neuregelung in § 11 a Abs. 3 SGB II sein sollte; vgl. dazu auch Schmidt in jurisPK-SGB XII, Hrsg. Coseriu/Siefert, Stand 1. Februar 2020, Rn. 11 zu § 83). Der Verwendung des Wortes „Zweck“ im Gesetzestext bedarf es hierfür nicht. Der ausdrückliche Zweck kommt auch durch die Worte „zur Sicherung“, „zum Ausgleich“ oder Ähnlichem ausreichend deutlich zum Ausdruck (vgl. Söhngen, in: Schlegel/Voelzke, juris PK-SGB II, 5. Auflage 2020, § 11 a SGB II, Rn. 39; Hengelhaupt, in: Hauck/Noftz, § 11 a SGB II, Rn. 170; Striebinger in Gagel SGB II / SGB III, Rn. 21 zu § 11 a SGB II).
20
Vorliegend ergibt sich die ausdrückliche Zweckbestimmung zunächst schon aus der im Gesetzestext des § 198 GVG verwendeten Formulierung der „Wiedergutmachung“ sowie außerdem aus der Gesetzesbegründung, wonach es sich um einen Anspruch „auf Ausgleich für Nachteile infolge rechtswidrigen hoheitlichen Verhaltens“ handelt (BT-Drucks. 17/3802, S. 19). Zwar soll es nach der Gesetzesbegründung zu § 11 a Abs. 3 Satz 1 SGB II an einer ausdrücklichen anderweitigen Zweckbestimmung fehlen, wenn der Leistungsbezieher weder rechtlich noch tatsächlich daran gehindert ist, die Leistung zur Deckung von Bedarfen nach dem SGB II einzusetzen (vgl. BT-Drucks. 17/3404, S. 94). Diese gesetzgeberischen Vorstellungen stehen jedoch im Widerspruch zur ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung zu § 83 Abs. 1 SGB XII, decken sich folglich nicht mit der vom Gesetzgeber beabsichtigten Harmonisierung beider Vorschriften und haben überdies in § 11 a Abs. 3 Satz 1 SGB II keinen hinreichenden normativen Ausdruck gefunden (vgl. Hengelhaupt in: Hauck/Noftz, § 11 a SGB II, Rn. 176). Mithin ist es für eine Zweckbestimmung im Sinne des § 11 a Abs. 3 Satz 1 SGB II nicht erforderlich, dass der Empfänger die andere Leistung nur zu dem in der Vorschrift vorgesehenen Zweck verwenden darf oder dass der Leistende ein Kontrollrecht oder einen Einfluss auf die Verwendung hat (vgl. Söhngen, in: Schlegel/Voelzke, juris PK-SGB II, 5. Auflage 2020, § 11 a SGB II, Rn. 41; Hengelhaupt, in: Hauck/Noftz, § 11 a SGB II, Rn. 176 m.w.N.; Schmidt in Eicher/Luik SGB II, 4. Aufl., § 11 a Rn. 20).
21
Zweckbestimmt im Sinne des § 11 a Abs. 3 SGB II sind auch solche Leistungen, die aus einem bestimmten Anlass und in einer bestimmten Erwartung gegeben werden und die der Empfänger zwar im Allgemeinen für den bestimmten Zweck verwenden wird, ohne dass er dazu jedoch angehalten werden könnte (vgl. Söhngen, a.a.O., Rn. 41). Mithin kann der Zweckbestimmung von Entschädigungen nach § 198 GVG im Sinne von § 11 a Abs. 3 SGB II nicht entgegengehalten werden, der Empfänger der Entschädigung sei in deren Verwendung völlig frei (so aber: Sächsisches LSG, Urteil vom 29. März 2017, L 11 SF 17/16 EK, juris, Rn. 28; Söhngen, a.a.O., Rn. 51 - anders noch in der Vorauflage; LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 26. November 2019, L 11 AS 1044/18, juris, Rn. 35; offengelassen in: LSG Saarland, Urteil vom 21. März 2018, L 2 SF 4/17 EK AS, juris, Rn. 21 und LSG Berlin-Brandenburg a.a.O.).
22
Nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers soll die Entschädigung die „seelische Unbill“ durch die lange Verfahrensdauer ausgleichen (vgl. BT-Drucks. 17/3802, S. 19; auf diesen Aspekt weist auch Schmidt in jurisPK-SGB XII, Hrsg. Coseriu/Siefert, Stand 1. Februar 2020; Rn. 14 zu § 83 SGB XII hin). Eine derartige Steigerung der Lebensqualität durch im Wege der Entschädigung zukommendes Geld ist nur möglich, wenn dieses für Dinge oder Dienstleistungen verwendet wird, die nicht unmittelbar der Sicherung des Lebensunterhalts dienen. Zwar ist damit kein rechtlicher oder tatsächlicher Zwang verbunden, das Geld für den gesetzlich bestimmten Zweck und nicht zur Sicherung des Lebensunterhalts zu verwenden, dies ist jedoch - wie aufgezeigt - auch nicht erforderlich (vgl. dazu bereits ausführlich Senatsurteil vom 10. August 2017, L 10 SF 10/17 EK U, juris, Rn. 39 ff.).
23
Die vorstehende Auslegung von § 11 a Abs. 3 Satz 1 SGB II ist in Anknüpfung an und in Weiterführung der zitierten Rechtsprechung der Landessozialgerichte Sachsen, Saarland und Berlin-Brandenburg auch unter Berücksichtigung dessen geboten, dass deutsche Gerichte verpflichtet sind, bei der Auslegung von Gesetzen das Völkerrecht zur Kenntnis zu nehmen und zu berücksichtigen.
24
§ 198 GVG dient der Umsetzung der menschenrechtlichen und grundgesetzlichen Verpflichtung (vgl. dazu unter anderem etwa den in Sachen des Klägers ergangenen Beschluss des BVerfG vom 27. September 2011, 1 BvR 232/11 = info also 2012, 28 ff m. Anm.) der Bundesrepublik Deutschland (BRD), wie sie mehrfach vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und dem BVerfG aus Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und aus Artikel 19 Abs. 4 GG abgeleitet worden ist. Der EGMR hat die BRD verpflichtet, ein wirksames System des Rechtsschutzes gegen überlange Gerichtsverfahren zu schaffen (vgl. kurz zusammenfassend unter Hinweis auf die Leitentscheidungen des EGMR Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, 6. Auflage, 10. Teil 1 a) = S. 461, die darauf hinweisen, dass die BRD bis 2011 über 100 Mal wegen überlanger Verfahrensdauer vom EGMR verurteilt worden ist).
25
Das BVerfG hat in seiner ständigen Rechtsprechung (vgl. zum Nachstehenden etwa Beschluss vom 14. Oktober 2004, 2 BvR 1481/04 = BVerfGE 111, 307 ff; Urteil vom 4. Mai 2011, 2 BvR 2333/08 u.a. = BVerfGE 128, 326 ff; = BVerfGE 148,296 ff) ausgeführt, die Gerichte der BRD seien verpflichtet, unter bestimmten Voraussetzungen die europäische Menschenrechtskonvention in der Auslegung durch den Gerichtshof bei ihrer Entscheidungsfindung zu berücksichtigen. Die EMRK gilt in der deutschen Rechtsordnung im Range eines Bundesgesetzes und ist bei der Interpretation des nationalen Rechts zu berücksichtigen. Die EMRK und ihre Zusatzprotokolle sind völkerrechtliche Verträge. Der Bundesgesetzgeber hat der EMRK und ihren Zusatzprotokollen jeweils mit förmlichen Gesetz in Anwendung von Art. 59 Abs. 2 Grundgesetz zugestimmt. Damit hat er sie in das deutsche Recht transformiert und einen entsprechenden Rechtsanwendungsbefehl erteilt. Innerhalb der deutschen Rechtsordnung stehen die EMRK und ihre Zusatzprotokolle im Range eines Bundesgesetzes. Diese Rangzuweisung führt dazu, dass deutsche Gerichte die Konvention wie anderes Gesetzesrecht im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden haben. Der Konventionstext und die Rechtsprechung des europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte dienen auf der Ebene des Verfassungsrechts als Auslegungshilfen für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes. Das Grundgesetz hat die deutsche öffentliche Gewalt programmatisch auf die internationale Zusammenarbeit (Art. 24 Grundgesetz) und auf die europäische Integration (Art. 23 Grundgesetz) festgelegt. Das Grundgesetz hat den allgemeinen Regeln des Völkerrechts Vorrang vor dem einfachen Gesetzesrecht eingeräumt (Art. 25 Satz 2 Grundgesetz) und das Völkervertragsrecht durch Art. 59 Abs. 2 Grundgesetz in das System der Gewaltenteilung eingeordnet. Mit diesem Normkomplex zielt die deutsche Verfassung, auch ausweislich ihrer Präambel, darauf, die BRD als friedliches und gleichberechtigtes Glied in eine dem Frieden dienende Völkerrechtsordnung der Staatengemeinschaft einzufügen. Das Bundesverfassungsgericht hat in diesem Zusammenhang insbesondere wiederholt darauf hingewiesen, alle Träger hoheitlicher Gewalt seien an die Gewährleistungen der Konvention gebunden. Danach unterlägen auch die deutschen Gerichte einer Pflicht zur Berücksichtigung der Entscheidungen des EGMR (vergleiche Beschluss vom 14. Oktober 2004 a.a.O. Rn. 46). Zwar könnten sich Gerichte nicht unter Berufung auf eine Entscheidung des EGMR von der rechtsstaatlichen Kompetenzordnung und der Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz) lösen. Zur Bindung an Gesetz und Recht gehört aber auch die Berücksichtigung der Gewährleistungen der EMRK und der Entscheidungen des EGMR im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung (a.a.O. Rn. 47). Dies erfordert zumindest, dass die entsprechenden Texte und Judikate zur Kenntnis genommen werden und in den Willensbildungsprozess des zu einer Entscheidung berufenen Gerichts einfließen. Das nationale Recht ist unabhängig von dem Zeitpunkt seines Inkrafttretens nach Möglichkeit im Einklang mit dem Völkerrecht auszulegen. Da die EMRK – in der Auslegung durch den EGMR – im Range eines förmlichen Bundesgesetzes gilt, ist sie in den Vorrang des Gesetzes einbezogen und muss von der rechtsprechenden Gewalt beachtet werden. Solange im Rahmen geltender methodischer Standards Auslegungs- und Abwägungsspielräume eröffnet sind, trifft deutsche Gerichte die Pflicht, der konventionsgemäßen Auslegung den Vorrang zu geben (a.a.O. Rn. 62; Urteil vom 12. Juni 2018 a.a.O. Rn 133).
26
Würde nun § 11 a Abs. 3 Satz 1 SGB II so ausgelegt, dass das zum Ausgleich immateriellen Schadens erstrittene Geld sogleich von einer anderen staatlichen Stelle wieder zur Minderung der von dort zu beanspruchenden Leistungen genutzt würde, um die die Kläger jahrelang gestritten haben, so wäre die Wirksamkeit dieses aufgrund menschenrechtlicher und grundgesetzlicher Verpflichtung eingerichteten Rechtsbehelfs für die bedürftigen Teile der Bevölkerung gleichsam entleert (zu dieser Gefahr auch schon Schweigler in SGb 2017, 314, 318). Bezieher von Grundsicherungsleistungen würden die ihnen an sich gegebene Rechtsschutzmöglichkeit nach § 198 GVG nicht nutzen, wenn ihnen klar wäre, dass sich etwa erstrittene Leistungen mindernd auf ihnen zustehende Grundsicherungsleistungen auswirken würden (zur durch Art. 13 EMRK geforderten „wirksamen“ Beschwerdemöglichkeit und ihre Verwirklichung durch § 198 GVG vgl. erneut Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, 6. Auflage, 10. Teil 1 f = S. 465). Auch eine menschenrechts- und völkerrechtsfreundliche (Art. 1 Abs. 2 GG) Auslegung von § 11 a Abs. 3 Satz 1 SGB II gebietet daher die vom Senat schon zuvor aus anderen Gründen gefundene Lösung.
27
Soweit demgegenüber Entschädigungen nach § 198 GVG, soweit sie - wie hier - dem Ausgleich immaterieller Schäden dienen, in entsprechender Anwendung von § 11 a Abs. 2 SGB II als privilegiert angesehen werden (vgl. so nunmehr Söhngen, a.a.O., Rn. 33 und 51), steht dem aus Sicht des Senats entgegen, dass es sich bei § 11 a Abs. 2 SGB II um eine abschließende, nicht analogiefähige Sonderregelung handelt (vgl. BSG, Urteil vom 5. September 2007, B 11 b AS 15/06 R, juris, Rn. 30; ebenso Sächsisches LSG, Urteil vom 29. März 2017, L 11 SF 17/16 EK, juris, Rn. 27; LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 26. November 2019, L 11 AS 1044/18, juris, Rn. 31).
28
Die Vorschrift des § 11 a Abs. 3 SGB II will nach der Rechtsprechung des BSG verhindern, dass eine sich aus einer öffentlich-rechtlichen Norm ergebende Zweckbestimmung einer Leistung durch Berücksichtigung im Rahmen des SGB II verfehlt wird und dass für einen identischen Zweck (Sicherung des Lebensunterhalts) Doppelleistungen erbracht werden (vgl. BSG, Urteil vom 17. Oktober 2013, B 14 AS 58/12 R, juris, Rn. 28 m.w.N.). Der mit § 198 GVG verfolgte Zweck der Wiedergutmachung staatlich erlittenen Unrechts (in Form der Verletzung des menschen- und grundrechtlich geschützten Rechts auf angemessene Verfahrensdauer) ginge bei einem Anspruchsübergang für Leistungsempfänger nach dem SGB II und SGB XII ins Leere. Da Wiedergutmachung nach § 198 Abs. 4 GVG auch auf andere Weise geleistet werden kann, würde der Anspruchsübergang zudem dazu führen, dass bei geringen Grundrechtsverstößen eine Wiedergutmachung, z.B. durch Feststellung der Überlänge, zugunsten von Leistungsempfängern möglich wäre, bei gravierenden Grundrechtsverletzungen mit der Folge eines Entschädigungsanspruchs in Geld die Wiedergutmachung durch die Überleitung auf den SGB II- bzw. SGB XII-Träger aber faktisch entfiele.
29
Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 8. April 2013 im erstinstanzlichen Verfahren sowie mit Schriftsätzen vom 3. August 2015, 4. Februar 2016, 5. August 2016, 6. Februar 2017, 7. August 2017, 8. Februar 2018 und 9. August 2018 in Berufungsverfahren wirksam Verzögerungsrügen im Sinne des § 198 Abs. 3 Satz 1 GVG erhoben. Zu diesen Zeitpunkten bestand jeweils die begründete Besorgnis, dass das Verfahren nicht in angemessener Zeit abgeschlossen werden würde, weil bereits längere Phasen der Nichtförderung des Verfahrens durch das Gericht eingetreten waren (vgl. dazu weiter unten; zu den Anforderungen an eine wirksame Verzögerungsrüge: Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, 2013, § 198 GVG, Rn. 188 ff.).
30
Dem Kläger steht wegen der unangemessenen Dauer des beim SG Hildesheim unter dem Az.: S 23 AS 1966/09 geführten Klageverfahrens sowie des beim LSG Niedersachsen-Bremen unter dem Az.: L 9 AS 29/14 geführten Berufungsverfahrens eine Entschädigung gemäß § 198 GVG in Höhe von 4.300,00 € zu. Das Verfahren war von unangemessener Dauer im Sinne des § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG. Insgesamt liegt eine entschädigungspflichtige Überlänge von 43 Monaten vor.
31
Die Angemessenheitsprüfung erfolgt in drei Schritten (vgl. BSG, Urteil vom 3. September 2014, B 10 ÜG 12/13 R, veröffentlich in juris, Rn. 29 ff.):
32
- Ausgangspunkt und erster Schritt der Angemessenheitsprüfung bildet die Feststellung der in § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG definierten Gesamtdauer des Gerichtsverfahrens von der Einleitung des Verfahrens in erster Instanz bis zur Zustellung der endgültigen rechtskräftigen Entscheidung (vgl. BSG, Urteil vom 12. Februar 2015, B 10 ÜG 7/14 R, veröffentlicht in juris, Rn. 26).
33
- In einem zweiten Schritt ist - monatsgenau - der Ablauf des Verfahrens an den von § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG genannten Kriterien zu messen. Dabei ist zu beachten, dass die Verfahrensführung des Ausgangsgerichts vom Entschädigungsgericht nicht auf ihre Richtigkeit, sondern nur auf ihre Vertretbarkeit zu überprüfen ist (BGH, Urteil vom 12. Februar 2015, III ZR 141/14, veröffentlicht in juris, Rn. 26; Urteil vom 13. März 2014, III ZR 91/13, veröffentlicht in juris, Rn. 34; ähnlich BSG Urteil vom 3. September 2014, B 10 ÜG 2/13 R, veröffentlicht in juris, Rn. 43).
34
- Auf dieser Grundlage ergibt erst die wertende Gesamtbetrachtung und Abwägung aller Einzelfallumstände in einem dritten Schritt, ob die Verfahrensdauer die äußerste Grenze des Angemessenen deutlich überschritten und deshalb das Recht auf Rechtschutz in angemessener Zeit verletzt hat. Dabei billigt das BSG den Ausgangsgerichten eine Vorbereitungs- und Bedenkzeit von bis zu 12 Monaten je Instanz zu, die für sich genommen noch nicht zu einer unangemessenen Verfahrensdauer führt, so dass insoweit „inaktive Zeiten“ unschädlich sind (dazu näher: BSG, Urteil vom 3. September 2014, B 10 ÜG 2/13 R, veröffentlicht in juris, Rn. 43 ff.).
35
Bei Zugrundelegung der vorstehenden Grundsätze weist das Verfahren eine unangemessene Verfahrensdauer von 43 Monaten auf.
36
Die Gesamtverfahrensdauer des Gerichtsverfahrens erstreckte sich von der Klageerhebung im Oktober 2009 bis zur Zustellung des zweitinstanzlichen Urteils im November 2018. Da nach der Rechtsprechung des BSG eingereichte Schriftsätze, die einen gewissen Umfang haben und sich inhaltlich mit Fragen des Verfahrens befassen, generell eine Überlegungs- und Bearbeitungszeit von einem Monat bei Gericht bewirken (vgl. BSG, Urteil vom 3. Dezember 2014, B 10 ÜG 12/13 R, juris, Rn. 57), sind aufgrund der in den Vormonaten eingereichten Schriftsätze der Beteiligten die Monate Juli 2010, März 2011, Mai 2012, August 2012, November 2012, Juli 2013 und Juli 2018 nicht als Zeiten fehlender Verfahrensförderung durch das Gericht zu werten. Für das erstinstanzliche Verfahren lassen sich damit Zeiträume fehlender Verfahrensförderung in den Monaten September bis Dezember 2010, März sowie Juni bis August 2011, Oktober bis Dezember 2011, Juni 2012 sowie von Dezember 2012 bis Mai 2013 feststellen, mithin in einem Gesamtzeitraum von 18 Monaten. Das zweitinstanzliche Verfahren wurde in der Zeit von April 2014 bis einschließlich März 2018 sowie erneut im August 2018, also insgesamt in einem Zeitraum von 49 Monaten, nicht erkennbar gefördert. Abzüglich der üblicherweise nach der Rechtsprechung des BSG jeder Instanz einzuräumenden Vorbereitungs- und Bedenkzeit von 12 Monaten ergibt sich somit eine unangemessene Dauer des Ausgangsverfahrens von 43 Monaten. Anhaltspunkte für eine Verlängerung der Vorbereitungs- und Bedenkzeit sieht der Senat vor dem Hintergrund der Gesamtverfahrensdauer, die sich über neun Jahre erstreckte, nicht. Zwar handelte es sich um einen komplexen Sachverhalt mit zahlreichen strittigen Fragen sowie hinsichtlich der Kosten der Unterkunft zudem um eine schwierige Rechtsfrage. Mit zunehmender Dauer des Verfahrens verdichtet sich jedoch die aus dem Justizgewährleistungsanspruch resultierende Pflicht des Gerichts, sich nachhaltig um eine Beschleunigung des Verfahrens und dessen Beendigung zu bemühen (vgl. BSG, Urteil vom 3. September 2014, B 10 ÜG 12/13 R, juris, Rn. 44 unter Bezugnahme auf BVerfG Beschlüsse vom 1. Dezember 2012 – 1 BvR 404/10 Rn. 11 unter Hinweis auf frühere Entscheidungen und vom 1. Oktober 2012 – 1 BvR 170/06 – Vz 1/12 dort Rn. 23), da die Rechtsschutzgarantie des Artikel 19 Abs. 4 Grundgesetz auch die Effektivität des Rechtsschutzes gewährleistet – wirksam ist danach nur zeitgerechter Rechtsschutz (vgl. BVerfG a.a.O. sowie in ständiger Rechtsprechung).
37
Dem Kläger ist gemäß § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG für jeden Monat der unangemessenen Verfahrensdauer für die von ihm erlittenen immateriellen Nachteile eine Entschädigung in Geld in Höhe von 100,00 € zuzusprechen, da weder eine Abweichung von dieser gesetzlichen Pauschale geboten ist (§ 198 Abs. 2 Satz 4 GVG) noch die Nachteile auf andere Weise wiedergutgemacht werden können (§ 198 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Abs. 4 GVG).
38
Eine Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß § 198 Abs. 4 GVG, insbesondere durch die Feststellung des Entschädigungsgerichts, dass die Verfahrensdauer unangemessen war, ist zur Überzeugung des Senats vorliegend nicht ausreichend (§ 198 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Abs. 4 GVG).
39
Nach der Rechtsprechung des BSG kommt eine Wiedergutmachung auf andere Weise bei festgestellter Überlänge eines Gerichtsverfahrens – mit Blick auf die Rechtsprechung des EGMR zu Artikel 6 und Artikel 41 EMRK – allenfalls ausnahmsweise in Betracht, wenn das Verfahren beispielsweise für den Entschädigungskläger aus der Sicht eines verständigen Dritten in der Lage des Klägers keine besondere Bedeutung hatte oder dieser durch sein Verhalten erheblich zur Verlängerung des Verfahrens beigetragen hat (vgl. BSG, Urteil vom 12. Februar 2015, B 10 ÜG 7/14 R, juris, Rn. 43).
40
Ein solcher Ausnahmefall liegt hier nicht vor. Zwar hat der Kläger durch seinen wiederholten umfangreichen Vortrag nicht unerheblich zur Gesamtdauer des Verfahrens, nicht jedoch zu dessen Verzögerung beigetragen. Die Bedeutung des Verfahrens war für den Kläger erkennbar groß. Zum einen standen existenzsichernde Leistungen im Streit, im Übrigen war die Frage der Kosten der Unterkunft für den Kläger und seine Söhne vor dem Hintergrund der im Jahre 2013 erfolgten und erfolgreichen Räumungsklage erkennbar von erheblicher Bedeutung. Der Hinweis des Beklagten, es handele sich um einen „Vielkläger“, vermag vorliegend nicht die erkennbar große Bedeutung des Verfahrens für den Kläger und die durch dessen Dauer erlittene „seelische Unbill“ zu schmälern, welche letztlich auch in den zahlreichen erst- und zweitinstanzlichen Verzögerungsrügen des Klägers zum Ausdruck gekommen ist. Zudem war das Verfahren keineswegs aussichtslos, wie sich an dem teilweisen Obsiegen des Klägers sowohl in erster als auch in zweiter Instanz zeigt. Vor diesem Hintergrund wirkt die Argumentation des beklagten Landes, der Kläger betreibe die Verfahren vor niedersächsischen Sozialgerichten gleichsam als Hobby und erleide schon deswegen keinen immateriellen Nachteil im Sinne von § 198 GVG, zynisch und unangemessen.
41
Ebenso wenig liegt ein Ausnahmefall vor, für den § 198 Abs. 2 Satz 4 GVG die Möglichkeit eröffnet, von der Pauschale des § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG nach oben oder unten abzuweichen. Dabei kann es stets nur um atypische Einzelfälle gehen (vgl. BSG, Urteil vom 3. September 2014, B 10 ÜG 9/13 R, juris, Rn. 51). Derartige besondere Umstände sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
42
Der zuerkannte Entschädigungsbetrag ist ab Eintritt der Rechtshängigkeit (Zustellung der Klage, § 94 Satz 2 SGG) – hier am 22. Mai 2019 – in entsprechender Anwendung der §§ 288, Abs. 1, 291 Satz 1 BGB mit 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz zu verzinsen (vgl. BSG, Urteil vom 3. September 2014, B 10 ÜG 2/13 R, juris, Rn. 54).
43
Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a SGG i.V.m. § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO und entspricht dem Verhältnis des Obsiegens und Unterliegens der Beteiligten.
44
Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.
45
Die Festsetzung des Streitwertes ergibt sich aus § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 52 Abse. 1 und 3 GKG und entspricht der von dem Kläger begehrten pauschalierten Entschädigung gemäß § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG.
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Gründe
1
Die Antragsteller begehren vorläufigen Rechtsschutz gegen eine der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung zum Neubau einer Schule; sie fürchten insbesondere Lärmbeeinträchtigungen ihrer benachbarten Wohnhäuser.
2
Die Antragsteller sind Eigentümer der im Aktivrubrum genannten Grundstücke östlich der Lüerstraße im Stadtgebiet der Antragsgegnerin. Die darauf stehenden Gebäude sind Teil einer auf einer Länge von rund 190 m geschlossenen zweigeschossigen Stadtvillenbebauung. Das sich westlich der Lüerstraße anschließende Straßengeviert nehmen im Nordwesten das Gelände des Kaiser-Wilhelm- und Ratsgymnasiums (KWR), im Westen und Nordosten Spielplätze, im Südwesten weitere Wohnhäuser ein. Im Südosten, gegenüber den Antragstellergrundstücken, liegt das Vorhabengrundstück, auf dem bislang eine Außenstelle des Gymnasiums Sophienschule betrieben wurde. Südlich des Vorhabengrundstücks verläuft die Schackstraße.
3
Sowohl das Vorhabengrundstück als auch die Antragstellergrundstücke liegen im Geltungsbereich des - mangels Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung einfachen - Bebauungsplans Nr. 1251 - „Hindenburgviertel“ der Antragsgegnerin, der für die Antragstellergrundstücke ein reines Wohngebiet, für das Vorhabengrundstück eine Gemeinbedarfsfläche mit der Zweckbestimmung „Schule“ festsetzt.
4
Die Beigeladene betreibt im Auftrag der Antragsgegnerin auf dem Vorhabengrundstück die Errichtung eines dreigeschossigen Schulneubaus mit Sporthalle, Mensa und Außenanlagen, der Haupt- und Außenstelle der Sopienschule ersetzen soll. Das Vorhaben soll ca. 1368 Schüler der Jahrgangsstufen 5 bis 13 und 100 Lehrkräfte aufnehmen. Unter dem 9. Juli 2019 erteilte die Antragsgegnerin der Beigeladenen eine Teilbaugenehmigung für Aushub- und Gründungsarbeiten. Unter dem 19. September 2019 erteilte sie die Baugenehmigung.
5
Den nach erfolglosem behördlichem Aussetzungsverfahren gestellten Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klagen gegen die Teilbau- und die Baugenehmigung hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 21. Februar 2020 abgelehnt und zur Begründung ausgeführt, die Genehmigungen verletzten voraussichtlich keine Nachbarrechte der Antragsteller. Sie verstießen nicht gegen das Bestimmtheitsgebot. Das Verhältnis der Teilbau- zur Baugenehmigung sei erkennbar. Gleiches gelte für die Frage, welche Bauvorlagen Genehmigungsbestandteil geworden seien und den genehmigten Nutzungsumfang mitbestimmten. Auch die Genehmigung der Aulanutzung „werktags“ sei unter Rückgriff auf § 3 Abs. 2 BUrlG bestimmbar. Der Art der baulichen Nutzung nach entspreche das Vorhaben den Festsetzungen des Bebauungsplans; für einen Rückgriff auf § 34 Abs. 1 BauGB sei daneben kein Raum. Die Art der baulichen Nutzung sei gebietsverträglich. Hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung, der Bauweise und der überbaubaren Grundstücksflächen könnten die Antragsteller sich nicht auf jeden Verstoß gegen § 34 Abs. 1 BauGB, sondern nur auf eine Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme berufen; eine solche liege nicht vor. Das Vorhaben erreiche ersichtlich nicht die Schwelle zur erdrückenden Wirkung. Es halte sich mit Blick auf seine Höhe und die geschlossene Bauweise in dem Rahmen, den die Bebauung auf der Straßenseite der Antragsteller vorgebe, und werde durch die 15 m breite Lüerstraße von dieser getrennt. Für eine Rücksichtslosigkeit der Entwässerungskonzeption hätten die Antragsteller nichts Hinreichendes vorgetragen. Dem Gesichtspunkt der Verkehrserschließung komme im Verhältnis zu den Antragstellern allenfalls mit Blick auf die Lärmproblematik Bedeutung zu.
6
Unzumutbare Lärmbeeinträchtigungen seien indes nicht zu besorgen. Die der Baugenehmigung zugrundeliegenden Schalluntersuchung der H. vom 1. Oktober 2019 und die Verkehrsuntersuchung der PGT sowie deren Ergänzungen vom 31. Januar 2020 und 4. Februar 2020 seien methodisch fehlerfrei und inhaltlich plausibel. Das gelte zunächst hinsichtlich der Prognose der Verkehrsbelastung der Lüerstraße im Istzustand (810-880 Kfz/Tag) und den vorhabenbedingten Anstieg auf 1085-1160 Kfz-Bewegungen, der konservativ unter Einschluss nicht genehmigter außerschulischer Nutzungen ermittelt sei. Die Methodik der Ermittlung des Ist-Zustandes aufgrund einer Verkehrsmessung sei nicht zu beanstanden; die von den Antragstellern geforderte Verkehrsmodellrechnung bzw. Untersuchung der Erschließungsstraßen nach den Anforderungen des „Handbuches für die Bemessung von Straßenverkehrsanlagen“ sei nicht erforderlich. Plausibel sei, dass Baustellen die Aussagekraft der Verkehrszählung nicht in Frage stellten. Der vorhabenbedingte Zusatzverkehr, namentlich der Anteil des motorisierten elterlichen Bringverkehrs, sei nicht unterschätzt worden. Die Anzahl von 63 Einstellplätzen sei plausibel als ausreichend erachtet worden, um nennenswertem Parkplatzsuchverkehr vorzubeugen. Soweit 44 weitere Stellplätze für die Sporthalle als Versammlungsstätte gefordert würden, werde missachtet, dass die Genehmigung lediglich die Schulnutzung abdecke. Die Einwände gegen die Leistungsfähigkeit der Kreuzung Lüerstraße/Schackstraße ließen einen erkennbaren Bezug zu Lärmschutzbelangen der Antragsteller vermissen. Die auf der Verkehrsprognose basierende Feststellung der H. mbH, dass die vorhabenbedingten Verkehrsgeräusche nach Punkt 7.4 der TA Lärm unberücksichtigt bleiben könnten, da sie mit Sicherheit den Beurteilungspegel der Verkehrsgeräusche nicht um mindestens 3 dB(A) erhöhten, sei nicht erschüttert. Die Gegenberechnung der Antragsteller, die zu Erhöhungen um 4,1 dB(A) nachts und 3,1 dB(A) tags komme, sei nicht plausibel. Weshalb sich das Vorhaben überhaupt auf nächtliche Werte auswirken solle, sei nicht verständlich. Der von den Antragstellern gerügte Wert der maximalen Querschnittsbelastung von (nur) 85 Kfz/h sei nicht Grundlage der angegriffenen Entscheidung. Selbst die von den Antragstellern genannten 185 Kfz-Bewegungen zur Spitzenstunde würden nur rund 3 Kfz/Minute bedeuten und damit keine schwerwiegende Verschärfung der Situation bewirken. Die Kritik der Antragsteller an den in der Untersuchung angesetzten Lärmkennwerten DTV, Mt, Mn, pt und pn greife nicht durch. Ebenso wenig sei die Beanstandung der Kumulationswirkung und des Ansatzes eines Emissionspegels von Lm (25) schlüssig. Die Lieferung von Schulmaterialien sei berücksichtigt, der Pegel für LKW von 63 dB(A) sei nicht zu beanstanden. Ein Ansatz für Kleinkrafträder und Motorräder sei nicht erforderlich gewesen, da eine Ergebnisrelevanz auszuschließen sei.
7
Die mit dem Schulbetrieb verbundenen Immissionsquellen begründeten ebenfalls keine unzumutbare Lärmbeeinträchtigung. Die für gelegentliche Veranstaltungen vorgesehene zulässige Nutzungsdauer der Aula bis 22 Uhr einschließlich des Betriebes der Lüftungsanlage hierfür sei hinzunehmen; die damit verbundenen Lärmbeeinträchtigungen seien seltene Ereignisse i.S.d. Punktes 7.2 der TA Lärm. Der von den Parkplätzen und der Müllentsorgung ausgehende Lärm sei nicht unterschätzt worden; der Parkvorgang von LKW sei mit 108,00 dB(A) abgedeckt. Soweit der Nutzungszeitraum des Parkplatzes zu kurz angenommen worden sei, ändere dies an der Lärmbelastung im Tagesschnitt nichts. Der von Elternabenden hervorgerufene Kfz-Verkehr sei mit 20 Parkvorgängen pro Stunde von 17-22 Uhr mehr als abgedeckt. Eine Parkplatznutzung nach 22 Uhr sei auch im Hinblick auf Elternabende nicht genehmigt. Die Lärmprognose für die Sportanlagen sei ebenfalls nicht zu beanstanden. Schiedsrichterpfiffe seien berücksichtigt, die fehlende Berücksichtigung von Starterklappen wirke sich nicht auf das Gutachtenergebnis aus. Die Nutzung des Bolzplatzes an Wochentagen durch durchschnittlich 5 Personen von 14 bis 20 Uhr und am Wochenende durch durchschnittlich 2-3 Personen von 7 bis 20 Uhr sei bei summarischer Prüfung plausibel. Zudem sei nicht dargelegt, wie sich andere Ansätze angesichts der Abschirmung des Bolzplatzes durch die Turnhalle des KWR auf ihr Grundstück auswirken würden. Die Vorbelastung des KWR sei im Planzustand, nicht unter Berücksichtigung künftiger Erweiterungen zu berücksichtigen; zudem wirke sich der Betrieb des KWR an den maßgeblichen Immissionspunkten nur marginal aus. Die Lüftungsanlagen von Mensa, Küche und Sporthalle seien korrekt berücksichtigt worden; niedrigere Emissionswerte gegenüber früheren Gutachtenentwürfen seien auf eine fortgeschrittene Konkretisierung der Vorhabenplanung zurückzuführen. Die Betriebszeit der Küche, in der nur vorgefertigtes Essen erwärmt werde, sei plausibel. Bei Elternabenden nach 18 Uhr sei ein Betrieb der Lüftungsanlage nicht zu erwarten, zumal diese in den heißen Sommermonaten ferienbedingt regelmäßig nicht stattfänden. Der Ansatz von nur 150 Personen zeitgleich im Außenbereich der Mensa zur Mittagszeit sei trotz eines Ansatzes von 300 Personen in Schulpausen plausibel, da viele Kinder das fakultative Mittagessen nicht in Anspruch nähmen. Eine Nebenbestimmung mit konkreten Lärmwerten sei nach dem Dargestellten nicht erforderlich gewesen.
8
Für Geruchsstundenhäufigkeiten über 10 % der Jahresgeruchsstunden durch Küche und Mülltonnen gebe es keine Anhaltspunkte. Immissionen, die auf außerschulischen Nutzungen der Sportanlagen beruhten, seien nicht Genehmigungsgegenstand. Sei das Vorhaben mithin baurechtskonform, so sei unerheblich, ob alternative Baukonzeptionen oder die Beibehaltung des historischen Standorts der Sophienschule die Antragsteller weniger belasteten. Auf einen allgemeinen Wertverlust ihrer Grundstücke könnten die Antragsteller sich nicht berufen.
II.
9
Die gegen diesen Beschluss gerichtete Beschwerde, auf deren fristgemäß vorgetragene Gründe sich die Prüfung des Senats gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt, ist unbegründet.
10
Ohne Erfolg bleiben die gegen die Ausführungen des Verwaltungsgerichts zur Bestimmtheit der Baugenehmigung gerichteten Angriffe. Zu Recht hat das Verwaltungsgericht ausgeführt, dass Baunachbarn sich nur auf Bestimmtheitsmängel der Baugenehmigung berufen können, wenn eine infolge der Unbestimmtheit denkbare Lesart der Baugenehmigung Nachbarrechte verletzt. Soweit die Antragsteller das Fehlen von Lärmwerten, die das Vorhaben einhalten müsse, rügen, machen sie in der Sache ohnehin nicht geltend, die Genehmigung sei zu unbestimmt - der Regelungsgehalt ist eindeutig -, sondern erlaube eine Nutzung des Vorhabens, die nicht dem Rücksichtnahmegebot entspreche (vgl. Senatsbeschl. v. 18.2.2020 - 1 ME 103/19 -, NVwZ-RR 2020, 628 = juris Rn. 12). Das trifft indes nicht zu. Zu Recht hat das Verwaltungsgericht ausgeführt, die Vorgabe von Lärmgrenzwerten sei unnötig, wenn die in der Genehmigung geregelten Betriebsmodalitäten eine unzumutbare Lärmbelästigung nicht erwarten ließen. So verhält es sich nach den Ausführungen des Verwaltungsgerichts hier; hinsichtlich der die gegen diese Ausführungen im Einzelnen gerichteten Rügen der Antragsteller wird auf die nachfolgenden Erwägungen verwiesen. Soweit die Antragsteller die Beschränkung der schulischen Abendveranstaltungen nur durch das Wort „gelegentlich“ rügen, ist eine Nachbarrechtsverletzung ebenfalls nicht ersichtlich. Das Verwaltungsgericht hat insoweit sinngemäß darauf abgestellt, dass schon nach der allgemeinen Lebenserfahrung schulische Abendveranstaltungen an Wochenenden so selten stattfänden, dass eine zahlenmäßige Begrenzung zur Sicherstellung einer nachbarverträglichen Nutzung nicht erforderlich sei. Das Beschwerdevorbringen setzt sich damit in tatsächlicher Hinsicht nicht auseinander. Aus dem gleichen Grund ist keine Nachbarrechtsverletzung daraus dargelegt, dass die unbeschränkte Zulassung der allgemeinen Schulnutzung „werktags“ auch eine in ihrer Häufigkeit unbegrenzte Nutzung für Abendveranstaltungen an Samstagen beinhaltet. Gleiches gilt sinngemäß für die Rüge, es fehlten Regelungen zu den Nutzungszeiten und -intensitäten der Sportanlagen im Freien sowie zu den Geruchsimmissionen. Solange die Bauaufsichtsbehörde davon ausgehen konnte, dass die von der zu erwartenden Nutzungsdauer und -intensität der Sportanlagen ausgehenden Lärmimmissionen sich sicher im Bereich des Zumutbaren bewegen würden - zu den dagegen gerichteten Beschwerdeangriffen unten -, bestand kein Regelungsbedarf.
11
Die Rüge, aus den Ausführungen in der Begründung des Bebauungsplans Nr. 1251 zur Frage, weshalb auf Maßfestsetzungen verzichtet werde, ergebe sich bereits, dass dem Plan insoweit Drittschutz zukommen solle, ist unbegründet. Drittschutz kann der Plangeber nur bestimmten Festsetzungen des Bebauungsplans zukommen lassen. Über die Frage, unter welchen Voraussetzungen der hier mangels planerischer Festsetzungen einschlägigen gesetzlichen Regelung des § 34 BauGB Drittschutz zukommt, kann der Plangeber nicht entscheiden.
12
Die Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts, Baunachbarn könnten nicht umfassend einfordern, dass sich ein Vorhaben dem Maß der baulichen Nutzung nach in die Eigenart der näheren Umgebung einfüge, sondern lediglich in dem Umfang, in dem es gerade ihrem Eigentum gegenüber die gebotene Rücksichtnahme vermissen lasse, ist nicht zu beanstanden. Aus der von den Antragstellern angeführten Passage aus dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 23. Mai 1986 (- 4 C 34.85 -, NVwZ 1987, 34 = juris Rn. 12) ergibt sich nichts Gegenteiliges. Die dortige Feststellung, dass das Rücksichtnahmegebot im Begriff des Einfügens aufgeht, bedeutet nicht, dass jeder Verstoß gegen das Einfügensgebot rücksichtslos ist, sondern - wie aus dem vorangegangenen Satz erkennbar ist - lediglich, dass sich umgekehrt ein rücksichtsloses Vorhaben nicht in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt. Insoweit hat das Verwaltungsgericht seine Prüfung zu Recht weniger auf die Kubatur als auf diejenigen Merkmale des Vorhabens konzentriert, die auf die Antragstellergrundstücke einwirken, nämlich dessen Höhe und die Länge der Fassadenfront zur Lüerstraße. Dass es insoweit angesichts der Tatsache, dass die Häuserreihe auf der Ostseite der Lüerstraße, zu der die Antragstellerhäuser gehören, vergleichbare Dimensionen und einen erheblichen Abstand aufweist, eine Rücksichtslosigkeit „ersichtlich“ ausgeschlossen hat, ist nicht zu beanstanden.
13
Mit den von den Antragstellern in der Beschwerdeschrift in Bezug genommenen Beanstandungen des Sachverständigenbüros I. in dessen Stellungnahmen vom Oktober 2019
14
- keine Angaben zu Motorrädern und Kleinkrafträdern
15
- Schalleistungspegel für LKW
16
- Personenzahl im Außenbereich der Mensa
17
- Lärmwerte für den Bolzplatz
18
- Starterklappe
19
- Schiedsrichterpfiffe
20
- Betrieb der raumlufttechnischen Anlagen bei Elternabenden
21
- Ableitung der Lärmkennwerte
22
- Aussagekraft der Verkehrszählung und daraus folgende Pegelerhöhungen
23
und den Rügen im Schriftsatz vom 24.1.2020
24
- LKW-Emissionen
25
- Vorbelastung durch das KWR
26
- nochmals Schalleistungspegel von LKW
27
- Erforderlichkeit einer Verkehrsmodellrechnung mit dem Verkehrsmodell der LH A-Stadt
28
hat sich das Verwaltungsgericht auf S. 19-30 des angegriffenen Beschlusses ausführlich und plausibel auseinandergesetzt. Das Vorbringen auf S. 8-11 der Beschwerdebegründung, das sich darin erschöpft, pauschal eine fehlende Sachkunde des Verwaltungsgerichts zu rügen, ohne im Einzelnen darzulegen, welche seiner Aussagen das Verwaltungsgericht aus welchem Grund nicht ohne Zuhilfenahme externen Sachverstandes hätte treffen können, ist nicht geeignet, diese Ausführungen in einer § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO genügenden Weise in Frage zu stellen. Allenfalls für die letzte Rüge - Zulässigkeit einer Verkehrsermittlung auf Grundlage einer Verkehrszählung - enthält das Beschwerdevorbringen ansatzweise individuelle Ausführungen, die allerdings unbegründet sind. Das Verwaltungsgericht hat entgegen der Behauptung der Antragsteller auf S. 20 f. vollständig und nachvollziehbar dargelegt, weshalb die Verkehrszählung für die Zwecke der Verkehrsuntersuchung verwendbar war, die von den Antragstellern erstinstanzlich angeführten Baustellen auf das Prognoseergebnis keinen Einfluss gehabt haben können.
29
Soweit die Antragsteller rügen, die Annahme des Verwaltungsgerichts, ein überwiegender Anteil der Schüler dürfte, wenn schon nicht fußläufig, so doch in Fahrradreichweite zur Schule wohnen, sei nicht schlüssig, folgt der Senat ihnen nicht. Auch wenn eine örtliche Beschränkung der Herkunft der Schülerschaft nicht durch einen entsprechenden rechtlich verbindlichen Schuleinzugsbezirk erfolgt, entspricht es doch der Lebenserfahrung, dass ein erheblicher Teil der Schüler bzw. Eltern dem Kriterium der Wohnortnähe eine große Bedeutung bei der Schulwahl beimessen. Ob, wie die Antragsteller meinen, sich auch zu Stoßzeiten wegen der zahlreichen Ampelanlagen für Fahrradfahrer kein Vorteil gegenüber dem Bringen durch das Kfz der Eltern ergibt, ist unerheblich; es verbleibt der Umstand, dass das Bringen der Kinder in den Klassenstufen 5-13 einem Großteil der Eltern schlicht nicht erforderlich erscheinen dürfte, soweit ein Schulweg per ÖPNV oder Fahrrad den Kindern zumutbar ist.
30
Der Rüge der Antragsteller, die raumlufttechnischen Anlagen würden voraussichtlich entgegen der Vermutung des Verwaltungsgerichts auch bei abendlichen Nutzungen laufen, da die heißen Sommermonate nicht zwangsläufig in die Sommerferien fielen und im Übrigen auch in den Sommerferien schulische Abendveranstaltungen erlaubt seien, hat die Beigeladene unwidersprochen entgegengehalten, die raumlufttechnischen Anlagen beinhalteten keine Kühlung, sondern dienten allein dem Luftaustausch, der in den Sommermonaten ohnehin durch Öffnen der Fenster erfolgen solle. Unabhängig davon hat die Antragsgegnerin unter Bezugnahme auf eine sachverständige Stellungnahme der H. mbH vom 7.4.2020 unwidersprochen ausgeführt, dass selbst ein Betrieb der Anlage in den Abendstunden bis 22 Uhr allenfalls Pegelveränderungen im Nachkommastellenbereich zur Folge hätte. Angesichts der Tatsache, dass die Schalltechnische Untersuchung vom 1.10.2019 an den Wohnhäusern der Antragsteller Taglärmpegel von 43,2 bzw. 46,1 dB(A) prognostiziert, die deutlich unter dem in reinen Wohngebieten zumutbaren Wert von 50 dB(A) liegen, ist dies unerheblich. Angesichts der Deutlichkeit der Unterschreitung der Pegelwerte überzeugt auch das Argument, mehrere für sich genommen geringfügige Fehler des Gutachtens könnten kumulativ zu einer Überschreitung der Zumutbarkeitsgrenze führen, nicht. Das Beschwerdevorbringen benennt insoweit lediglich noch die Betätigung der Starterklappen im Leichtathletikunterricht. Die H. mbH hat allerdings bereits in ihrer Stellungnahme vom 3.12.2019 dargelegt, dass sich diese auf den Dauerschallpegel überhaupt nicht auswirke, weil für den Sportunterricht das gegenüber dem Leichtathletikunterricht lautere Szenario eines Fußballspiels berücksichtigt worden sei.
31
Die Kritik von I. an der Änderung von Lärmwerten im H. -Gutachten vom Oktober 2019 gegenüber der Vorgängerfassung hat das Verwaltungsgericht entgegen dem Beschwerdevorbringen durchaus berücksichtigt und überzeugend auf die diesbezüglichen Erläuterungen der H. vom 31.1.2020 verwiesen, nach denen die Änderungen der zwischenzeitlich erfolgten Konkretisierung der Anlagenplanung geschuldet seien.
32
Die Ausführungen des Verwaltungsgerichts zur Plausibilität der Annahme, an Wochentagen werde der Bolzplatz im für die Ermittlung des Dauerschallpegels relevanten Durchschnitt, also unter Berücksichtigung vollständiger Nutzungspausen, von 14 bis 20 Uhr von 5 Kindern, am Wochenende im Zeitraum von 7 bis 20 Uhr von 2,3 Kindern genutzt werden, sind überzeugend. Einer Festlegung von Obergrenzen bedurfte es daher, wie bereits ausgeführt, nicht. Hinzu kommt, dass sich die Antragsteller nicht - wie für einen Erfolg der Beschwerde erforderlich - mit dem selbständig tragenden Argument des Verwaltungsgerichts auseinandersetzen, sie hätten nicht dargelegt, wie sich aus ihrer Sicht zutreffende Ansatzwerte in Anbetracht der Abschirmung des Bolzplatzes durch die Turnhalle des KWR auf ihre Grundstücke auswirken würden.
33
Ohne Erfolg bleibt das Argument, das Verwaltungsgericht habe sich nicht hinreichend mit vorhabenbedingten Parkplatzsuchverkehren auseinandergesetzt. Die Antragsteller begründen dies zum einen damit, Turniere zwischen Mannschaften verschiedener Schulen seien entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts von der Baugenehmigung, ungeachtet ihrer Beschränkung auf schulische Nutzungen, erfasst und hätten ein erhebliches Besucheraufkommen zur Folge, das parallel zum Schulbetrieb zu bewältigen sei. Dem ist entgegenzuhalten, dass derartige schulische Großturniere, wenn sie überhaupt auf einem Schul- und nicht auf einem größeren allgemeinen Sportplatz abgehalten werden, bei summarischer Betrachtung äußerst selten sein dürften und als seltene Ereignisse außer Betracht bleiben können. Hinzu kommt, dass sie, wenn sie parallel zum Schulbetrieb stattfinden, keinen erheblichen externen Besucherverkehr anziehen dürften, da die meisten Eltern während der Schulstunden ihrer Kinder arbeiten. Im Übrigen ist nicht dargelegt oder erkennbar, inwieweit selbst ein erheblicher durch solche Veranstaltungen ausgelöster Parkplatzsuchverkehr geeignet wäre, den für eine Berücksichtigungsfähigkeit dieses Verkehrs erforderlichen vorhabenbedingten Anstieg des über den Tag gemittelten Verkehrslärmpegels auf der Lüerstraße um 3 dB(A) - also eine Verdoppelung des Verkehrsaufkommens von bislang 810-880 Kfz - zu bewirken. Zum anderen verweisen die Antragsteller darauf, dass für die Aulanutzung für schulische Abendveranstaltungen bis zu 404 Sitzplätze genehmigt seien, wofür bei Richtzahlen von einem Einstellplatz je 5 bis 10 Sitzplätze (41 bis) 81 Stellplätze erforderlich seien. Weshalb die für das Vorhaben genehmigten 63 Stellplätze, die annähernd einen Mittelwert zwischen dem oberen und dem unteren von den Richtzahlen geforderten Wert darstellen, dem nicht genügen sollen, ist jedoch nicht erkennbar; dass zu einer schulischen Abendveranstaltung tendenziell mehr Personen mit dem Auto anreisen als zu anderen den Richtzahlen zugrundeliegenden Veranstaltungen, bleibt eine bloße Behauptung der Antragsteller. Vor diesem Hintergrund kann unentschieden bleiben, ob Schulveranstaltungen in Aulen - anders als außerschulische Veranstaltungen - bereits von Nr. 8.1, 8.2 des Stellplatzerlasses mit abgedeckt sind oder ob Schulen kumulativ zu dieser Nummer die Voraussetzungen der Nr. 4.2 des Stellplatzerlasses erfüllen müssen. Unentschieden bleiben kann auch, ob etwaiger Parkplatzsuchverkehr nicht tatsächlich durch die Nähe des - dem Vorhaben an der Schackstraße schräg gegenüberliegenden - Parkhauses des HCC aufgefangen würde und ob nicht die hervorragende Anbindung der Schule an den öffentlichen Personennahverkehr ohnehin eine geringe Stellplatzanzahl rechtfertigen würde (Nr. 2.5 des Stellplatzerlasses).
34
Zu Recht hat sich schließlich das Verwaltungsgericht nicht näher mit der Frage auseinandergesetzt, ob eine Fortsetzung des Betriebes der Sophienschule an zwei Standorten möglich gewesen wäre. Sein Standpunkt, unter mehreren für sich genommen zumutbaren Vorhabenalternativen müsse sich der Bauherr nicht für die seine Nachbarn - oder gar, wie hier: bestimmte Nachbarn - am wenigsten belastende Ausnutzung seines Grundeigentums entscheiden, entspricht der ständigen Rechtsprechung des Senats wie des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. zuletzt Senatsbeschl. v. 9.3.2020 - 1 ME 154/19 - juris Rn. 9 m.w.N.). Anderes mag allenfalls dann gelten, wenn überhaupt keine nachvollziehbaren Gründe für einen bestimmten, nachbarbeeinträchtigenden Vorhabenstandort sprechen (Senatsbeschl. v. 8.5.2006 - 1 ME 7/06 -, juris Rn. 5 f.). Davon kann hier indes keine Rede sein; dass die Aufteilung einer Schule auf verschiedene Standorte auch Nachteile mit sich bringt, liegt auf der Hand. Sinngemäß gleiches gilt, soweit die Antragsteller auf die Vermeidbarkeit von Abendveranstaltungen bis 22 Uhr verweisen und meinen, Veranstaltungen bis 20 Uhr seien ausreichend. Auch insoweit sprechen gute Gründe für die - an sich zumutbaren - Betriebszeiten. Gerade das Ende von Elternabenden hängt stark von der beruflichen Belastung der Eltern und dem Umfang des Besprechungsbedarfs ab. Dass die Beigeladene hier im Rahmen des Zumutbaren möglichst weitgehende Dispositionsfreiheit für die Schule erhalten möchte, ist nachvollziehbar.
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Tenor
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 356.520,00 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus einem Betrag in Höhe von 193.750,00 Euro brutto seit dem 01.06.2019 und aus einem Betrag in Höhe von 162.500,00 Euro seit dem 15.04.2020 zu zahlen.
Die Kosten des Rechtsstreits hat die Beklagte zu tragen.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
1
8 O 195/19
Verkündet am 07.10.2020 , Justizbeschäftigteals Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
2Landgericht DuisburgIM NAMEN DES VOLKESUrteil
3In dem Rechtsstreit
4hat die 8. Zivilkammer des Landgerichts Duisburgaufgrund mündlicher Verhandlung vom 02.09.2020durch den Richter am Landgericht C als Einzelrichter
5für Recht erkannt:
6Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 356.520,00 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus einem Betrag in Höhe von 193.750,00 Euro brutto seit dem 01.06.2019 und aus einem Betrag in Höhe von 162.500,00 Euro seit dem 15.04.2020 zu zahlen.
7Die Kosten des Rechtsstreits hat die Beklagte zu tragen.
8Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
9Tatbestand
10Der Kläger begehrt von der Beklagten Zahlung einer variablen Vergütung für die Geschäftsjahre 2018 und 2019.
11Die Beklagte war ursprünglich die deutsche Tochtergesellschaft der amerikanischen H, die ein Unternehmen im Bereich der Fahrzeuglederherstellung und Veredelung betreibt. Der Kläger war als Geschäftsführer der Beklagten angestellt und als solcher für den gesamten Geschäftsbereich der Beklagten sowie der europäischen und einen Teil der südafrikanischen Aktivitäten der Unternehmensgruppe verantwortlich. In dem Geschäftsführerdienstvertrag vom 22.08.2014 heißt es auszugsweise:
12„GESCHÄFTSFÜHRERDIENSTVERTRAG
13zwischen:
14(1) H2 GmbH, (ab 01.09.2014 T) L-Straße, ##### N, […], vertreten durch H, diese vertreten durch ihren CEO […]
15– nachfolgend „H3“ oder „Gesellschaft“ genannt –
16(2) Herrn E, […]
17§ 2Vergütung
18(1) Herr E erhält jährliche Festbezüge von EUR 240.000,00 brutto […].
19(2) Zusätzlich zu den Festbezügen nimmt Herr E an dem Management J („N2“) teil. Nach diesem Plan und dessen Voraussetzungen wird eine variable Vergütung (Bonus) gewährt. Der Zielbonus beträgt 40 % der jährlichen Festbezüge und variiert zwischen 0 und 80 % der jährlichen Festbezüge. Der Bonus kalkuliert sich zu 75 % auf Basis der Ergebnisse (EBITDA) der H4 sowie zu 25 % auf Basis der Ergebnisse (EBITDA) von T2. Für November und Dezember 2014 wird der Bonus pro rata temporis gezahlt.
20Die Gesellschaft behält sich das Recht vor, die Bonuskriterien vor Beginn eines Geschäftsjahres zu ändern, wird diese Änderung dann aber auf alle Teilnehmer weltweit anwenden. Der Bonus ist fällig und auszahlbar nach Feststellung der Jahresabschlüsse der H3 und der H5, spätestens jedoch am 15.04. des Folgejahres.
21(3) Bei einer Beendigung des Dienstverhältnisses im laufenden Geschäftsjahr entsteht der Anspruch auf den Bonus pro rata temporis, fällig dann, wenn der Bonus auch allen anderen Bonusberechtigten bezahlt wird. Sofern Herr E selber unter Einhaltung der vertraglichen Fristen und sonstigen Pflichten kündigt, erhält er ebenfalls einen Bonus pro rata, sofern der Bonus auch allen anderen Bonusberechtigten bezahlt wird.
22(4) Mit der Vergütung nach vorstehenden Absätzen (1) bis (3) ist die gesamte Tätigkeit von Herrn E für T und für verbundene Unternehmen sowie für sämtliche Mehr-, Sonntags- und Feiertagsarbeit abgegolten.
23(5) In Anerkennung der Tatsache, dass Herr E den Bonus bei seinem derzeitigen Dienstherrn bzw. Arbeitgeber verliert, bezahlt T ihm einen Signing Bonus von EUR 66.000,00 brutto, fällig spätestens am 31.12.2014 auf dem Konto von Herrn E eingehend.
24[…]
25§ 10Verschiedenes
26[…]
27(4) Dieser Vertrag unterliegt ausschließlich deutschem Recht und deutscher Gerichtsbarkeit. Gerichtsstand ist Sitz der Gesellschaft.“ (Bl. 8 ff. d.A.)
28Der N2 wurde ursprünglich bei der amerikanischen H eingeführt. Die Höhe des dort vorgesehenen Bonus richtete sich nach dem Erreichen des vorab durch die Muttergesellschaft geplanten („budgeted“) und vorgegebenen EBITDA in für den jeweiligen Teilnehmer definierten Regionen. Je nach prozentualer Unter- oder Überschreitung dieser Zielwerte war so eine variable Vergütung in bestimmter Höhe an den entsprechenden Teilnehmer zu zahlen. Der Zielbonus des Klägers beträgt 40 % des jährlichen Grundgehalts. Der tatsächlich erreichbare Bonus kann zwischen 0 % und 200 % des Zielbonus liegen. Bei einer Erreichung von unter 70 % des Soll-EBITDA wird kein Bonus gezahlt, ab einer Zielerreichung von 100 % wird auch der Bonus zu 100 % des Zielbonusbetrages ausgezahlt. Bei einer Zielerreichung von mehr als 120 % beträgt der Bonus 200 % des Zielbonusbetrages.
29Konkret heißt es in dem N2:
30„Table 1: EBITDA Incentive Payment Schedule:
31Upon achieving the following percentage of budgeted EBITDA
Target Bonus Attainment
Less than 70 %
0.00 %
> 70 %
50
> 75 %
55
> 80 %
60
> 85 %
70
> 90 %
80
> 95 %
90
> 100 %
100
> 105 %
125
> 110 %
150
> 115 %
175
> 120 %
200
32The entry level for incentive payment is 70 % of budgeted EBITDA.
33Payment of Bonus Award
34All calculated bonus payouts are to be accrued and qulified participants bonus award payments would be planned to bei paid by March 15th of the following year unless unforeseen developments arise.
35Eligibility to Receive Payment
36In order for any participant to be paid a bonus payout, the participant must be actively employed on the day of the payment unless the participant is not an active employee due to death, disability, or retirement, in which case the participant will be paid based on his/her earned income during the calendar year.“ (Bl. 19 d.A.)
37Ob noch eine weitere Regelung des N2 Grundlage des Geschäftsführerdienstvertrages zwischen den Parteien geworden ist, ist zwischen den Parteien streitig.
38Im Nachgang zu dem Geschäftsführerdienstvertrag einigten sich die Parteien auf jährliche Festbezüge des Klägers in Höhe von 250.000,00 Euro brutto. In den Jahren 2014 bis 2017 erhielt der Kläger Bonuszahlungen. Ihre Berechnung erfolgte dabei jeweils auf der Grundlage des EBITDA der H4 (zu 75 %) sowie der T2 (zu 25 %), wobei das EBITDA nach den Rechnungslegungsvorschriften der USA, den sog. US-GAAP, ermittelt wurde. Für das Geschäftsjahr 2017, also im Jahr 2018, erhielt der Kläger keinen Bonus.
39Das Zielbudget für den EBITDA 2018 („Soll-EBITDA“) wurde für Europa zunächst auf ca. 4.400.000,00 Euro und für Südafrika auf ca. 90.000.000,00 Rand festgesetzt.
40Im Laufe des Jahres 2017 verschlechterte sich die finanzielle Situation des Konzerns mit der Folge, dass die Konzernleitung der H im Oktober 2017 die Durchführung eines Insolvenzverfahrens nach US-amerikanischem Recht („Chapter 11“) beantragte. Im Januar 2018 wurde die H6 Gruppe an eine Investorengruppe unter Führung des Unternehmens C2 veräußert. Zum Zweck des Kaufs gründete die Investorengruppe zum 26.04.2018 die H7 und die H8. Zum 22.05.2018 akquirierten diese beiden Unternehmen sodann das Betriebsvermögen der H und Teile der Tochtergesellschaften im Wege eines sogenannten Asset Deals.
41Im Frühjahr 2018 wurde ein neues Budget („Re-budget“) für Europa festgesetzt auf ca. minus 1.100.000,00 Euro und dem Kläger sowie dem übrigen bonusberechtigten Team der Beklagten bekannt gegeben. Für Südafrika wurde das „Re-budget“ auf 87.000.000,00 Rand festgesetzt.
42Am 21.12.2018 / 09.01.2019 schlossen die Parteien eine Vereinbarung zum Geschäftsführerdienstvertrag, die auszugsweise wie folgt lautet:
43„PRÄAMBEL
44Herr E war Geschäftsführer der T, der früheren H2 GmbH. Die Rechte und Pflichten der Parteien sind in dem Geschäftsführerdienstvertrag vom 22. August 2014 geregelt. Die Gesellschaft hat Herrn E am 10. August 2018 abberufen und sein Dienstverhältnis mit ordentlicher Kündigung vom 08. August 2018 (zugestellt am 17.08.2018) zum nächst zulässigen Termin gekündigt.
45Dies vorausgeschickt, vereinbaren die Parteien was folgt:
46[…]
47§ 2Abwicklung
48(1) Das Dienstverhältnis wird bis zu seinem Ende ordnungsgemäß abgewickelt auf Basis des Geschäftsführungsdienstvertrages vom 22. August 2014, soweit sich aus dieser Vereinbarung nichts anderes ergibt. Zu der ordnungsgemäßen Abwicklung gehören insbesondere auch die Zahlungen der Boni für 2018 und 2019.“ (Bl. 15 f. d.A.)
49Mit E-Mail vom 17.05.2019 forderte der spätere Prozessbevollmächtigte des Klägers die Beklagte vergeblich zur Zahlung des Bonus für das Geschäftsjahr 2018 bis zum 31.05.2019 auf. Mit anwaltlichem Schreiben vom 23.05.2019 lehnte die Beklagte die Zahlung jeglicher Boni unter Verweis auf schlechte Umsätze im Jahr 2018 ab und übersandte dem Prozessbevollmächtigten des Klägers mit E-Mail vom 11.07.2019 Unterlagen zu den Geschäftsergebnissen. Daraus ist ersichtlich, dass das von der Beklagten erzielte Ergebnis, also das „Ist-EBITDA“ für das Geschäftsjahr 2018 in Bezug auf Europa, ca. 4.200.000,00 Euro und für Südafrika ca. 102.000.000,00 Rand beträgt.
50Mit anwaltlichem Schreiben vom 17.07.2019 forderte der Kläger die Beklagte vergeblich zur Zahlung des von ihm errechneten Bonus für das Jahr 2018 in Höhe von 193.800,00 Euro bis zum 31.07.2019 auf.
51Für das Jahr 2019 wurde in Bezug auf Europa ein „Soll-EBITDA“ in Höhe von 10,68 Mio $ vorgegeben. Das „Ist-EBITDA“ beträgt 18,38 Mio. $. In Bezug auf Südafrika wurde für das Jahr 2019 ein „Soll-EBITDA“ in Höhe von 45,8 Mio. Rand vorgegeben, das „Ist-EBITDA“ beträgt 32,6 Mio. Rand.
52Der Kläger ist der Ansicht, ihm stünde für das Jahr 2018 ein Bonus in Höhe von insgesamt 193.750,00 Euro zu. Dabei stehe ihm aus dem Jahresergebnis für Europa ein Anspruch in Höhe von 150.000,00 Euro und aus dem Jahresergebnis für Südafrika ein Anspruch in Höhe von 43.750,00 Euro zu. Für das Jahr 2019 stehe ihm ein Bonus in Höhe von insgesamt 162.500,00 Euro zu, wobei ihm aus dem Jahresergebnis für Europa ein Anspruch in Höhe von 150.000,00 Euro und für Südafrika ein Anspruch in Höhe von 12.500,00 Euro zustehe.
53Der Kläger beantragt,
541. die Beklagte zu verurteilen, an ihn einen Betrag in Höhe von 193.750,00 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 01.06.2019 zu zahlen;
552. die Beklagte zu verurteilen, an ihn weitere 162.500,00 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 15.04.2020 zu zahlen.
56Die Beklagte beantragt,
57die Klage abzuweisen.
58Sie ist der Ansicht, sie sei nicht die richtige Anspruchsgegnerin, dies sei vielmehr die H. Hierzu behauptet sie, der Kläger habe die Bonusansprüche in der Vergangenheit von der H erhalten. Zwar seien diese Zahlungen durch die Beklagte ausgeführt worden, Auszahlungsverpflichteter und Schuldner der jeweils entstandenen variablen Vergütung sei jedoch stets die H gewesen. Die getätigten Zahlungen habe die Beklagte im Nachhinein mit der Konzernmutter als verantwortliche Stelle abgerechnet. Die Durchführung der Zahlung durch die Beklagte sei vor dem Hintergrund erfolgt, dass diese im Gegensatz zu der Muttergesellschaft über eine eingerichtete Lohnbuchhaltung verfügt habe. Im Übrigen hätten die H7 und die H8 im Rahmen des Asset Deals den N2 nicht übernommen, so dass sie der Ansicht sind, der Kläger könne aus diesem Grund auch keine Ansprüche aus dem N2 herleiten. Sie ist ferner der Ansicht, dass dem Kläger selbst für den Fall, dass die Bonusvereinbarung zwischen den Parteien Anwendung finden sollte, sich ein Anspruch des Klägers für das Jahr 2018 nicht ergeben würde, da das maßgebliche „budgeted-EBITDA“ zu Beginn des Jahres 2018 zugrunde zu legen sei und sie zudem berechtigt sei, bestimmte Sonderaufwendungen von dem „Ist-EBITDA“ abzuziehen, so dass sich für Europa nur noch ein „Ist-EBITDA“ in Höhe von 1.800.000,00 Euro und für Südafrika nur noch ein „Ist-EBITDA“ in Höhe von 3.400.000,00 Euro ergäbe. Im Übrigen gebe es in dem N2 auch eine Abänderungsmöglichkeit, die wie folgt laute:
59„Discretionary Component in Selective Situations
60In certain situations after receiving input and at the sole discretion of the President and CEO, the actual bonus payout can be adjusted, up or down, in consideration of the participant’s acutal contribution to the success of meeting the company’s financial objectives.“ (Bl. 109 d.A.)
61Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die von den Parteien überreichten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf die tatsächlichen Feststellungen in den nachfolgenden Entscheidungsgründen verwiesen.
62Entscheidungsgründe
63Die zulässige Klage ist begründet.
64Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zahlung von Boni für die Jahre 2018 und 2019 in Höhe von insgesamt 356.520,00 Euro aus § 2 Abs. 2 des Geschäftsführerdienstvertrages vom 22.08.2014 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 der Vereinbarung zum Geschäftsführerdienstvertrag vom 21.12.2018/09.01.2019.
651.
66Dem Kläger steht gegen die Beklagte dem Grunde nach ein Anspruch auf Zahlung der Boni zu. Die Beklagte ist selbstverständlich die (richtige) Schuldnerin des Anspruchs. Soweit sie die Ansicht vertritt, nicht sie, sondern die H sei die richtige Schuldnerin des Bonusanspruchs, ist diese Ansicht originell, in rechtlicher Hinsicht jedoch schlicht abwegig.
67Zunächst haben allein die Beklagte und der Kläger den Geschäftsführerdienstvertrag geschlossen, in dessen Rubrum sie als zukünftige „T“ genannt und als „H3“ oder „Gesellschaft“ definiert wird. Im zweiten Absatz des § 2 Abs. 2 des Geschäftsführerdienstvertrages behält sich „die Gesellschaft“, also die zuvor definierte Beklagte, das Recht vor, die Bonuskriterien vor Beginn eines Geschäftsjahres zu ändern. Wenn die Ansicht der Beklagten zutreffen würde, wäre es nicht verständlich, warum sich die Beklagte das Recht zur Änderung der Bonuskriterien vorbehalten hätte, wenn sie doch die Auszahlung eines Bonus gar nicht schulden würde, sondern dies alleine Sache der H wäre, zu deren Lasten sie soeben einen Vertrag zu Lasten Dritter geschlossen hätte.
68Soweit die Beklagte für ihre Ansicht die Formulierung aus § 2 Abs. 2 des Geschäftsführerdienstvertrages heranziehen möchte, die lediglich dahingehend lautet, dass der Kläger „zusätzlich zu den Festbezügen an dem N2 teilnimmt“ und nicht etwa, „dass die Beklagte zusätzlich zu den Festbezügen einen Bonus nach Maßgabe ihres N2 zahlt“ und der Umstand, dass eine solche Formulierung gerade nicht gewählt worden sei, dafür spreche, dass durch die Verweisung auf die Teilnahme am Bonusprogramm der Konzernmutter auch gegenüber dieser ein originärer Anspruch auf Zahlung einer variablen Vergütung spreche, geht auch diese Ansicht fehl.
69Hätten die Parteien unter Einschluss der Konzernmutter eine solche Abrede treffen wollen, hätte es wohl nahe gelegen, dass § 2 Abs. 2 S. 2 des Geschäftsführerdienstvertrage wie folgt formuliert worden wäre: „Nach diesem Plan und dessen Voraussetzungen wird eine variable Vergütung (Bonus) durch die H gewährt.“ Eine solche Formulierung ist jedoch offensichtlich nicht gewählt worden. Dass der Bonus gemäß § 2 Abs. 2 des Geschäftsführerdienstvertrages Teil der von der Beklagten zu zahlenden Vergütung ist, ergibt sich ausdrücklich auch aus § 2 Abs. 4 des Geschäftsführerdienstvertrages. Danach ist mit der Vergütung nach vorstehenden Absätzen (1) bis (3) die gesamte Tätigkeit des Klägers für T und für verbundene Unternehmen sowie für sämtliche Mehr-, Sonntags- und Feiertagsarbeit abgegolten. Auch hieraus wird der sich ohnehin aufdrängende Umstand deutlich, dass die Beklagte die Zahlung eines Bonus als Teil der von ihr zu zahlenden Vergütung angesehen hat.
70Soweit die Beklagte weiter anführt, sie habe die Bonuszahlungen in den früheren Jahren zwar an den Kläger ausgezahlt, wobei sie jedoch lediglich als Zahlstelle fungiert und die Beträge von der H zurückerhalten habe, wäre dies für den Umstand, dass sie die richtige Anspruchsgegnerin ist, völlig irrelevant.
71Nach dem Vorstehenden ist es auch irrelevant, ob die neue Investorengruppe den N2 durch den Asset Deal erworben hat oder nicht. Die Beklagte hat mit dem Kläger eine Bonusvereinbarung getroffen, die sich nach den Kriterien des N2 richten sollte. Diese Kriterien hat die Beklagte vor Beginn der jeweiligen Geschäftsjahre nicht geändert, so dass diese Kriterien weiterhin maßgebend sind, unabhängig davon, ob die Muttergesellschaft den N2 übernommen hat. Folglich ist auch die E-Mail des Vizepräsidenten der H7, Herrn F, vom 11.03.2019 für diesen Rechtsstreit nicht von Bedeutung.
72Soweit die Beklagte weiter anführt, durch den Übergang auf die H7 und die H8 sei die Geschäftsgrundlage für den N2 entfallen, ist auch dies fernliegend. Die Beklagte hat doch in der Vereinbarung zum Geschäftsführerdienstvertrag vom 21.12.2018 / 09.01.2019 in § 2 Abs. 1 ausdrücklich erklärt, dass „zu der ordnungsgemäßen Abwicklung insbesondere auch die Zahlungen der Boni für 2018 und 2019 gehören“. Welche andere Bedeutung diese Erklärung der Beklagten, die sie über ein halbes Jahr nach der Übernahme durch die neue Investorengruppe abgegeben hat, gehabt haben könnte, als dass die Boni für 2018 und 2019 von ihr (!) gezahlt werden, ist schlicht nicht nachvollziehbar. Richtig ist allein, dass die Regelung nichts über den Bestand der Bonusansprüche selbst und insbesondere deren Höhe besagt. Dies richtet sich jedoch schlicht nach den bisherigen Kriterien, da die Parteien nichts anderes vereinbart haben.
73Soweit die Beklagte hilfsweise vorträgt, dass dem Anspruch des Klägers die Bestimmungen des N2 selbst entgegenstünden, wonach die Muttergesellschaft das Recht habe, die Kriterien für den Zielbonus jederzeit ändern zu dürfen, greift auch diese Ansicht nicht durch und zwar unabhängig davon, ob die streitige Regelung Grundlage des Geschäftsführerdienstvertrages geworden ist oder nicht. Denn der hierfür von ihr angeführte § 2 Abs. 2 des Geschäftsführerdienstvertrages erlaubt lediglich eine Änderung der Bonuskriterien vor Beginn eines Geschäftsjahres durch die Beklagte. Dass sie die Kriterien vor Beginn des jeweiligen Geschäftsjahres geändert hätte, trägt sie dagegen nicht einmal selbst vor. Ob und gegebenenfalls was die H7 oder die H8 in Bezug auf den N2, der nach ihrem Vortrag nicht übernommen worden sei, geändert haben oder nicht, ist daher ein weiteres Mal irrelevant. Es kommt daher auch nicht darauf an, ob sich die Wirksamkeit der streitigen Bestimmung aus dem N2 nach deutschem oder amerikanischen Recht richten würde, wobei diese Frage durch die eindeutige Regelung des § 10 Abs. 4 des Geschäftsführerdienstvertrages bzw. § 9 Abs. 1 der Vereinbarung zum Geschäftsführerdienstvertrag zugunsten des deutschen Rechts beantwortet werden würde. Die Frage, ob die Bestimmung nach deutschem Recht wirksam wäre und insbesondere einer Inhaltskontrolle nach §§ 307 ff. BGB standhalten würde, bedarf keiner Entscheidung, da die Beklagte, wie bereits erwähnt, selbst nicht einmal vorträgt, die Bonuskriterien vor Beginn des Geschäftsjahres geändert zu haben.
74Abwegig ist ferner die Ansicht der Beklagten, der Kläger habe auch deshalb keinen Bonusanspruch, weil er zum Zeitpunkt der Auszahlung noch aktiv beschäftigt sein müsse, da dieser Ansicht eindeutig die Regelung in § 2 Abs. 1 S. 2 der Vereinbarung zum Geschäftsführerdienstvertrag entgegensteht.
752.
76Dem Kläger steht für das Jahr 2018 ein Anspruch auf Zahlung eines Bonus in Höhe von insgesamt 193.750,00 Euro zu.
77a)
78Für das Geschäftsjahr 2018 für Europa steht dem Kläger ein Bonus in Höhe von 150.000,00 Euro zu.
79Die Beklagte hatte zunächst als zu erreichendes Ziel ein „Soll-EBITDA“ in Höhe von ca. 4.4.000.000,00 Euro vorgegeben, dieses sodann im Frühjahr 2018, also im Lauf des Geschäftsjahres 2018 auf ca. minus 1.100.000,00 Euro herabgesetzt. Das Gericht sieht das zuletzt genannte „Soll-EBITDA“ als das maßgebliche an.
80Beide Parteien beanspruchen für ihre jeweilige Rechtsansicht die Gebote der Logik, wobei die Beklagte dies damit begründet, dass, soweit eine Abänderung der Zielbonuskriterien für das Jahr 2018 nicht mehr möglich gewesen sei, dies auch für den zugrundeliegenden „Soll-EBITDA“ gelten müsse. Diese Schlussfolgerung ist jedoch mit Sinn und Zweck der vereinbarten Bonusregelung nicht vereinbar. Durch die Vereinbarung einer variablen Vergütung soll ein Anreiz (engl. incentive) für den Begünstigten geschaffen werden, ein von der Gesellschaft vorgegebenes wirtschaftliches Ziel zu erreichen, um so am Erfolg des Unternehmens teilzunehmen. Unmittelbar Begünstigter der Bonusvereinbarung ist daher derjenige, an den der Bonus ausgezahlt werden soll. Dementsprechend bedarf es im Vorfeld eindeutige Regelungen, welches Ziel in welchem Zeitraum erreicht werden soll. Die Parteien haben in § 2 Abs. 2 des Geschäftsführerdienstvertrages vereinbart, dass diese Ziel ein von der Gesellschaft im Vorfeld des jeweiligen Geschäftsjahres vorgegebenes „Soll-EBITDA“ sein soll und dass die Gesellschaft nur berechtigt sein soll, die Bonuskriterien vor Beginn eines Geschäftsjahres zu ändern. Sinn und Zweck dieser Regelung kann jedoch nur sein, dass es der Gesellschaft nicht zustehen soll, die Bonuskriterien nach Beginn des jeweiligen Geschäftsjahres zum Nachteil des Bonusberechtigten zu ändern. Diese Regelung soll die Beklagte jedoch nicht daran hindern, die Bonuskriterien zugunsten des Bonusberechtigten zu ändern. Hierfür gäbe es bereits deshalb keinen Grund, da die Beklagte diejenige ist, die die Bonuskriterien vorgibt. Möchte sie die Bonuskriterien nicht zugunsten der Bonusberechtigten ändern, wird sie dies unterlassen. Nimmt sie hingegen (freiwillig) eine Änderung zugunsten der jeweils Bonusberechtigten vor, um für diese während eines Geschäftsjahres einen neuen Anreiz zur Erreichung eines von ihr nunmehr vorgegebenen Ziels aufzustellen, gebietet es schon Sinn und Zweck einer Bonusregelung, dass die Kriterien zugunsten der Berechtigten angepasst werden können.
81Maßgeblich ist daher das vorgegebene „Soll-EBITDA“ in Höhe von ca. minus 1.200.000,00 Euro. Woraus sich ergeben soll, dass eine fehlende gezielte und beabsichtigte Profitabilität Voraussetzung für die Zahlung eines Bonus sein soll, erschließt sich nicht.
82Auf die Frage, ob bestimmte Sonderaufwendungen bei der Ermittlung des „Ist-EBITDA“ abzuziehen sind, so dass sich lediglich ein „Ist-EBITDA“ in Höhe von 1.200.000,00 Euro ergeben würde, kommt es nicht an, da selbst in diesem Fall der Kläger den maximal erzielbaren Bonus erreicht hätte. Denn auch in diesem Fall beträgt das „Ist-EBITDA“ mehr als 120 % des maßgeblichen „Soll-EBITDA“.
83Der Zielbonus des Klägers beträgt gem. § 2 Abs. 2 des Geschäftsführerdienstvertrages 40 % der jährlichen Bezüge, mithin 100.000,00 Euro. Da das Ist-EBITDA mehr als 120 % des maßgeblichen Soll-EBITDA beträgt, steht dem Kläger nach dem N2 ein Bonus in Höhe von 200 % zu, mithin 200.000,00 Euro. Da nach § 2 Abs. 2 des Geschäftsführerdienstvertrages der Bonus des Klägers sich zu 75 % auf Basis der Ergebnisse für Europa und zu 25 % auf Basis der Ergebnisse für Südafrika bemisst, ergibt sich für Europa ein Bonusanspruch des Klägers in Höhe von 150.000,00 Euro.
84b)
85Für den Bonusanspruch des Klägers in Bezug auf das Ergebnis für Südafrika im Jahr 2018 kommt es nach den vorstehenden Ausführungen auf das korrigierte „Soll-EBITDA“ in Höhe von 87.000.000,00 Rand an. Das „Ist-EBITDA“ in Höhe von 102.000.000,00 Rand ist auch nicht durch Sonderaufwendungen zu reduzieren. Der Vortrag der Beklagten hierzu ist bereits gänzlich unsubstantiiert und daher unbeachtlich, worauf der Kläger im Schriftsatz vom 02.12.2019 (Bl. 128 d.A.) bereits ausdrücklich hingewiesen hat.
86Das „Ist-EBITDA“ in Höhe von 102.000.000,00 Rand entspricht einem Zielerreichungsgrad von 117 %, was ausweislich der Bonustabelle einem Betrag in Höhe von 175.000,00 Euro entspricht. Da von diesem Betrag gem. § 2 Abs. 2 des Geschäftsführerdienstvertrages 25 % in den Bonusanspruch des Klägers einfließen, beträgt der Anspruch des Klägers auf Zahlung eines Bonus für das Jahr 2018 für Südafrika 43.750,00 Euro.
873.
88Dem Kläger steht für das Jahr 2019 ein Anspruch auf Zahlung eines Bonus in Höhe von insgesamt 162.500,00 Euro zu.
89a)
90In Bezug auf Europa hat die Beklagte für das Jahr 2019 ein „Soll-EBITDA“ in Höhe von 10,68 Mio $ vorgegeben. Das „Ist-EBITDA“ beträgt 18,38 Mio. $ und erreicht damit einen Zielerreichungsgrad von über 120 % der Bonustabelle. Entsprechend den Ausführungen unter 2.a) steht dem Kläger daher auch für das Jahr 2019 für Europa ein Bonusanspruch in Höhe von 150.000,00 Euro zu.
91b)
92In Bezug auf Südafrika hat die Beklagte für das Jahr 2019 ein „Soll-EBITDA“ in Höhe von 45,8 Mio. Rand vorgegeben. Das „Ist-EBITDA“ beträgt 32,6 Mio. Rand, was einem Zielerreichungsgrad von 71,17 % entspricht, so dass sich ausweislich der Bonustabelle ein Anspruch in Höhe von 50 % des Zielbonus, mithin 50.000,00 Euro ergibt, der zu 25 % in den Bonusanspruch des Klägers einfließt. Für das Jahr 2019 für Südafrika steht dem Kläger daher ein Anspruch auf Zahlung eines Bonus in Höhe von 12.500,00 Euro zu.
934.
94Der jeweilige Zinsanspruch folgt aus § 286 Abs. 2 Nr. 1 BGB i.V.m. § 2 Abs. 2 des Geschäftsführerdienstvertrages, wonach der Bonus spätestens am 15.04. des Folgejahres fällig ist.
955.
96Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 91 Abs. 1, 709 ZPO.
97Der Streitwert wird wie folgt festgesetzt:
98Bis zum 03.06.2020:193.750,00 Euro
99Danach: 356.250,00 Euro.
100C
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"jurisdiction": "Germany",
"type": "caselaw",
"language": "de"
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Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
1Tatbestand:
2Streitig ist, ob bei den Einkünften der Klägerin aus nichtselbständiger Tätigkeit Werbungskosten für eine doppelte Haushaltsführung steuerlich anzuerkennen sind.
3Nach Abschluss ihrer Schulausbildung absolvierte die am ...1992 geborene Klägerin in den Jahren 2013 bis 2015 eine Berufsausbildung zur ... in C.. In dieser Zeit wohnte sie in einem angemieteten Zimmer an ihrem Ausbildungsort.
4Seit dem 01.09.2015 war die Klägerin für die X. in K. tätig. Ihr Arbeitsvertrag war ursprünglich bis zum 31.08.2018 befristet, da sie zur Vertretung einer Arbeitnehmerin in Mutter- bzw. Elternzeit beschäftigt wurde. Die Klägerin mietete zum 01.01.2016 eine 54 qm große Zwei-Zimmer-Wohnung mit Küche, Bad und Kellerraum in K. an. Die Wohnung befand sich in unmittelbarer räumlicher Nähe ihrer Arbeitsstätte bei der X.. Die Klägerin meldete ihre Wohnung in K. beim dortigen Einwohnermeldeamt als Zweitwohnsitz an. Ihren melderechtlichen Hauptwohnsitz hatte die Klägerin wie bisher im Haus ihrer Eltern unter der Anschrift Q.-Straße 01, U..
5Nach eigenen Angaben der Klägerin befand sich ihr Lebensmittelpunkt im Streitjahr 2016 nach wie vor an ihrem Heimatort in U.. Mit ihren Eltern vereinbarte die Klägerin eine Kostenbeteiligung in Höhe von 200,00 € pro Monat. Diesen Betrag hat die Klägerin im Streitjahr per Dauerauftrag auf ein Bankkonto ihrer Eltern überwiesen.
6Am 01.06.2019 bezog die Klägerin eine andere Wohnung in K., in der sie mit ihrem Lebensgefährten zusammenlebt, den sie nach eigenen Angaben Anfang 2018 kennengelernt hat. Ebenfalls seit dem 01.06.2019 hat die Klägerin ihren Hauptwohnsitz in K. gemeldet. Der befristete Arbeitsvertrag der Klägerin mit der X. lief im März 2020 endgültig aus. Seit dem 01.04.2020 arbeitet die Klägerin für eine ... in D..
7In ihrer Einkommensteuererklärung für das Jahr 2016 machte die Klägerin bei den Einkünften aus nichtselbständiger Tätigkeit Werbungskosten für eine doppelte Haushaltsführung in Höhe von insgesamt 9.903,20 € geltend (Fahrtkosten: 1.780,20 €, Unterkunftskosten: 6.667,00 €; Verpflegungsmehraufwand: 1.296,00 €, Telefonkosten: 160,00 €).
8Am 13.07.2017 erließ der Beklagte den Einkommensteuerbescheid für 2016, in welchem er die erklärten Aufwendungen für die doppelte Haushaltsführung nicht anerkannte. Zur Begründung führte der Beklagte aus, dass die Klägerin keinen eigenen Hausstand in U. unterhalten habe.
9Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin fristgemäß Einspruch ein. Im Rahmen des Einspruchsverfahrens wies der Beklagte die Klägerin mit Schreiben vom 13.11.2017 darauf hin, dass mit der Einspruchsentscheidung eine höhere Einkommensteuer festzusetzen sei, da in dem angefochtenen Bescheid irrtümlich die Verpflegungsmehraufwendungen berücksichtigt seien, welche die Klägerin für die doppelte Haushaltsführung geltend gemacht hatte. Mit Einspruchsentscheidung vom 07.05.2018 wies der Beklagte den Einspruch der Klägerin als unbegründet zurück und setzte die Einkommensteuer von ... € auf ... € herauf. Im Rahmen der Einkommensteuerfestsetzung berücksichtigte der Beklagte Werbungskosten für Fahrten zwischen Wohnung und erster Tätigkeitstätte in Höhe von 3.308,00 €. Hierbei handelte es sich um die wöchentlichen Familienheimfahrten sowie um zusätzliche Fahrten zwischen K. und U., welche die Klägerin nach eigenen Angaben jeweils innerhalb der Woche zusätzlich zu den Familienheimfahrten unternommen hat.
10Die Klägerin ist der Auffassung, dass die Ausgaben für die doppelte Haushaltsführung entgegen der Auffassung des Beklagten steuerlich zu berücksichtigen seien. Sie trägt vor, dass sich ihr Lebensmittelpunkt im Streitjahr 2016 in ihrem Heimatort U. befunden habe. Sie habe hier eine aktive Tätigkeit in einem Verein ausgeübt; hier lebten außerdem ihre Familie und Freunde.
11Sie, die Klägerin, habe entgegen der Auffassung des Beklagten auch einen eigenen Hausstand in U. unterhalten. Sie sei gemeinsam mit ihren Eltern ein wesentlich bestimmender Teil der Haushaltsführung. Der ursprünglich kleinfamilientypische Haushalt der Eltern habe sich mit zunehmendem Alter und zunehmender Lebenserfahrung der Klägerin in einen gemeinsamen Mehrgenerationenhaushalt entwickelt. Die Klägerin habe das Haus gemeinsam mit ihren Eltern bewohnt und sich wie in einer fremden Wohngemeinschaft an der Haushaltsführung beteiligt. Der Umstand, dass die Klägerin während ihrer Ausbildung in C. auswärtig gewohnt habe, spreche dafür, dass sie schon in frühen Jahren an Lebenserfahrung gewonnen habe, die sie in den gemeinsamen Haushalt in U. habe einbringen können. Ihr Rat sei bei ihren Eltern gefragt und geschätzt. Es sei geplant, dass die Klägerin später den elterlichen Hof der Eltern übernehme, der allerdings nicht mehr aktiv bewirtschaftet werde. Die Mitbestimmung im elterlichen Haushalt zeige sich daran, dass die Klägerin im Jahr 2016 nicht nur Familienheimfahrten am Wochenende durchgeführt habe, sondern an 59 Tagen auch in der Woche u.a. zwecks Besprechung von Investitionsentscheidungen mit den Eltern nach U. gefahren sei.
12Dass die Klägerin im Haushalt ihrer Eltern ihr früheres Kinder-/Jugendzimmer genutzt habe, welches lediglich 14 qm groß sei, spreche entgegen der Auffassung des Beklagten nicht gegen das Unterhalten eines eigenen Hausstandes. Die Klägerin habe auch sämtliche andere Räume der Wohnung (Wohnzimmer, Küche, Bad etc.) mitbenutzen können.
13Die steuerlich anzuerkennenden Aufwendungen für die doppelte Haushaltsführung betrügen 9.799,00 € (vgl. Klagebegründung vom 28.08.2018). Nach Abzug der vom Beklagten steuerlich berücksichtigten Fahrtkosten verblieben zusätzlich zu berücksichtigende Werbungskosten in Höhe von 6.491,00 €.
14Die Klägerin beantragt,
15den Einkommensteuerbescheid für 2016 vom 13.07.2017 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 07.05.2018 dergestalt zu ändern, dass bei den Einkünften der Klägerin aus nichtselbständiger Tätigkeit zusätzliche Werbungskosten in Höhe von 6.491,00 € berücksichtigt werden.
16Der Beklagte beantragt,
17die Klage abzuweisen.
18Er verweist auf die Begründung der Einspruchsentscheidung. Bei der gebotenen Gesamtwürdigung aller Umstände sei nicht davon auszugehen, dass die Klägerin in U. einen eigenen Hausstand unterhalten habe. Wenn junge Arbeitnehmer nach Beendigung ihrer Ausbildung weiterhin im elterlichen Haushalt wohnten, sei regelmäßig nicht davon auszugehen, dass sie dort einen eigenen Hausstand unterhalten. Dies gelte auch dann, wenn eine Kostenbeteiligung vereinbart worden sei. Der Vergleich der Wohnsituation in U. und in K. spreche gegen das Unterhalten eines eigenen Hausstandes in U.. Während die Klägerin in U. ihr 14 qm großes früheres Kinder-/Jugendzimmer nutze, stehe ihr in K. eine 54 qm große eigene Wohnung zur Verfügung. Die mit den Eltern vereinbarte finanzielle Beteiligung in Höhe von 200,00 € erscheine fragwürdig. Aufgrund der erheblichen Aufwendungen für die Wohnung in K. und für die häufigen Familienheimfahrten habe sich die Klägerin eine solche Kostenbeteiligung finanziell kaum leisten können. Ergänzend weist der Beklagte darauf hin, dass zwei Schwestern der Klägerin, ... und ..., am Wohnsitz der Eltern in U. gemeldet seien. Auch dies lasse fraglich erscheinen, ob die Klägerin dort tatsächlich einen eigenen Hausstand unterhalten habe.
19Der Rechtsstreit ist am 18.08.2020 vor dem Berichterstatter erörtert und am 07.10.2020 mündlich vor dem Senat verhandelt worden. Auf die Protokolle zum Erörterungstermin und zur mündlichen Verhandlung wird Bezug genommen.
20Entscheidungsgründe:
21Die Klage ist zulässig, jedoch unbegründet. Der angefochtene Einkommensteuerbescheid in Gestalt der Einspruchsentscheidung ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO). Der Beklagte geht zu Recht davon aus, dass die Voraussetzungen der doppelten Haushaltsführung gem. § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 des Einkommensteuergesetzes – EStG – im vorliegenden Fall nicht erfüllt sind. Weiterhin war es verfahrensrechtlich zulässig, dass der Beklagte die festgesetzte Einkommensteuer mit der Einspruchsentscheidung zuungunsten der Klägerin erhöht hat.
22I. Gemäß § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 EStG sind notwendige Mehraufwendungen, die einem Arbeitnehmer wegen einer aus beruflichem Anlass begründeten doppelten Haushaltsführung entstehen, Werbungskosten. Eine doppelte Haushaltsführung liegt nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 Satz 2 EStG vor, wenn der Arbeitnehmer außerhalb des Ortes seiner ersten Tätigkeitsstätte einen eigenen Hausstand unterhält und auch am Ort der Tätigkeitsstätte wohnt. Gemäß § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 Satz 3 EStG setzt das Unterhalten eines eigenen Hausstandes unter anderem das Innehaben einer Wohnung sowie eine finanzielle Beteiligung an den Kosten der Lebensführung voraus.
231. Hausstand i.S. des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 Satz 2 EStG ist der Haushalt, den der Arbeitnehmer am Lebensmittelpunkt führt, also sein Erst- oder Haupthaushalt. Bei einem alleinstehenden Arbeitnehmer ist entscheidend, dass er sich in dem Haushalt regelmäßig aufhält, im Wesentlichen nur unterbrochen durch die arbeits- und urlaubsbedingte Abwesenheit; denn allein das Vorhalten einer Wohnung für gelegentliche Besuche oder für Ferienaufenthalte ist noch nicht als Unterhalten eines Hausstands zu bewerten. Ebenfalls wird ein eigener Hausstand nicht unterhalten, wenn der nicht verheiratete Arbeitnehmer als nicht die Haushaltsführung wesentlich bestimmender bzw. mitbestimmender Teil in einen Hausstand eingegliedert ist, wie es regelmäßig bei jungen Arbeitnehmern der Fall ist, die nach Beendigung der Ausbildung weiterhin – wenn auch gegen Kostenbeteiligung – im elterlichen Haushalt ihr Zimmer bewohnen. Die elterliche Wohnung kann in einem dieser häufigen Fälle zwar, auch wenn das Kind am Beschäftigungsort eine Unterkunft bezogen hat, wie bisher der Mittelpunkt seiner Lebensinteressen sein, sie ist aber nicht ein von dem Kind unterhaltener eigener Hausstand (vgl. z.B. Urteil des Bundesfinanzhofs –BFH– vom 05.06.2014 – VI R 76/13, BFH/NV 2014, 1884, Juris Rn. 10; BFH-Urteil vom 14.11.2013 – VI R 10/13, BFH/NV 2014, 507, Juris Rn. 13; BFH-Urteil vom 16.01.2013 – VI R 46/12, BStBl. II 2013, 627, Juris Rn. 9).
24Bei älteren, wirtschaftlich selbständigen, berufstätigen Kindern, die mit ihren Eltern oder einem Elternteil in einem gemeinsamen Haushalt leben, ist hingegen zu vermuten, dass sie die Führung des Haushalts maßgeblich mitbestimmen, so dass ihnen dieser Hausstand als „eigener“ zugerechnet werden kann. Der Umstand, dass der Arbeitnehmer dabei am Heimatort nicht über eine abgeschlossene Wohnung verfügt, steht dieser Vermutung nicht zwingend entgegen (vgl. BFH-Urteil vom 05.06.2014 – VI R 76/13, BFH/NV 2014, 1884; BFH-Urteil vom 14.11.2013 – VI R 10/13, BFH/NV 2014, 507).
25Die Frage, ob der alleinstehende Arbeitnehmer einen eigenen Hausstand unterhält oder aber nur in einen fremden Hausstand eingegliedert ist, entscheidet sich unter Einbeziehung und Gewichtung aller tatsächlichen Verhältnisse im Rahmen einer den Finanzgerichten als Tatsacheninstanz obliegenden Gesamtwürdigung (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 18.12.2017 – VI B 66/17, BFH/NV 2018, 430; BFH-Beschluss vom 12.06.2012 – VI B 73/12, BFH/NV 2012, 1593).
262. Die vorstehend dargestellte Rechtsprechung ist zu § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 EStG in der bis zum 31.12.2013 geltenden Fassung ergangen. Diese Bestimmung ist durch das „Gesetz zur Änderung und Vereinfachung der Unternehmensbesteuerung und des Reisekostenrechts“ mit Wirkung zum 01.01.2014 neu gefasst worden. Ungeachtet dieser Neufassung des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 EStG gelten die vorstehend dargestellten Rechtsprechungsgrundsätze nach Auffassung des Senats indes unverändert fort.
27Eine der wesentlichen Änderungen des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 EStG lag darin, dass der Gesetzgeber in Satz 3 den Begriff des eigenen Hausstands konkretisiert hat. Danach setzt ein eigener Hausstand – zusätzlich zu den durch der Rechtsprechung entwickelten Voraussetzungen – das Innehaben einer Wohnung sowie eine finanzielle Beteiligung an den Kosten der Lebensführung voraus. Unter der bisherigen Rechtslage und nach der hierzu ergangenen BFH-Rechtsprechung handelte es sich bei dem Innehaben einer Wohnung und der finanziellen Beteiligung an den Kosten der Lebensführung nicht um unabdingbare Tatbestandsvoraussetzungen eines eigenen Hausstandes; vielmehr handelte es sich um Indizien, die nicht zwingend erfüllt sein mussten, jedoch im Rahmen der gebotenen Gesamtwürdigung für das Unterhalten eines eigenen Hausstandes sprechen konnten (zur alten Rechtslage vgl. insb. das BFH-Urteil vom 16.01.2013 – VI R 46/12, BStBl. II 2013, 627, welches den Gesetzgeber zur Änderung des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 EStG veranlasst hat).
28Die Regelung des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 Satz 3 EStG beinhaltet indes nach zutreffender Auffassung keine abschließende Definition des Merkmals „eigener Hausstand“, so dass die bisherige BFH-Rechtsprechung – abgesehen von den vorstehend dargestellten Änderungen – weiterhin Bestand hat. Wie schon unter der bisherigen Gesetzeslage ist mithin zu prüfen, wo der Steuerpflichtige seinen Lebensmittelpunkt hat und ob er an diesem Ort tatsächlich einen eigenen Hausstand unterhält oder lediglich in einen fremden Hausstand eingegliedert ist (allgemeine Auffassung, z.B.: Schmidt-Krüger, EStG § 9 Rn. 225; Herrmann/Heuer/Raupach-Bergkemper, EStG, § 9 Rn. 497; Blümich-Thürmer, EStG § 9 Rn. 337; Kirchhof-Oertel, EStG, § 9 EStG Rn. 102; im Ergebnis ebenso, wenn auch die fehlende Klarheit des Gesetzes kritisierend: Bordewin/Brandt-Köhler, EStG § 9 Rn. 1007f.). Falls auf die Prüfung dieser allgemein anerkannten Voraussetzungen der doppelten Haushaltsführung verzichtet würde, würde dies zu einer erheblichen Ausweitung des Abzugstatbestands des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 EStG führen. Dies widerspräche dem Willen des Gesetzgebers, nach dessen Vorstellung durch die Neufassung des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 EStG die bisherige Rechtsprechung konkretisiert und lediglich im Hinblick auf die Notwendigkeit einer Kostenbeteiligung revidiert werden sollte (vgl. Begründung zum Gesetzesentwurf, Bundestags-Drucksache 17/10774, S. 13f.). Wenn man der Auffassung der Klägerin folgte, dass die bislang geltenden Rechtsgrundsätze zum Begriff des Hausstands und des Lebensmittelpunkts aufgrund der Gesetzesänderung hinfällig wären, könnten Aufwendungen für doppelte Haushaltsführungen zudem auch dann steuerlich abzugsfähig sein, wenn diese gänzlich privat veranlasst wären, z.B. wenn eine Wohnung bzw. ein früheres Kinder-/Jugendzimmer lediglich für gelegentliche oder auch regelmäßige Familienbesuche vorgehalten wird. Dies läge in erkennbarem Widerspruch zum allgemeinen Grundsatz, dass nur solche Aufwendungen als Werbungskosten abzugsfähig sind, die durch den Beruf oder die Erzielung steuerlicher Einnahmen veranlasst sind (vgl. § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG).
29II. Unter Berücksichtigung der vorstehend dargestellten Rechtsgrundsätze sind die Voraussetzungen der doppelten Haushaltsführung gem. § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 EStG im vorliegenden Fall nicht erfüllt.
30Insoweit kann zwar davon ausgegangen werden, dass die Klägerin im Streitjahr 2016 ihren Lebensmittelpunkt in U. hatte. Die Voraussetzungen der doppelten Haushaltsführung sind aber jedenfalls deshalb nicht erfüllt, weil es an einem eigenen Hausstand der Klägerin in U. fehlte. Die gebotene Gesamtwürdigung aller tatsächlichen Verhältnisse führt nach Auffassung des Senats zu der Schlussfolgerung, dass die Klägerin im Streitjahr 2016 einen eigenen Hausstand lediglich in K. gehabt hat und in U. noch in den Haushalt ihrer Eltern eingegliedert war.
311. Wie vorstehend ausgeführt ist bei jungen Arbeitnehmern, die – wie die Klägerin – nach Beendigung der Ausbildung weiterhin im elterlichen Haushalt ihr Zimmer bewohnen, zu vermuten, dass sie im Haus ihrer Eltern bzw. gemeinsam mit ihren Eltern keinen eigenen Hausstand unterhalten. Vielmehr ist der junge Arbeitnehmer in einer solchen Konstellation in den (fremden) Hausstand der Eltern eingegliedert, den er nicht wesentlich bestimmt bzw. mitbestimmt. Dieser vom BFH aufgestellten Regelvermutung ist nach Auffassung des Senats zu folgen; die ihr zugrundeliegenden Wertungen sind zutreffend und überzeugend. Es widerspräche nach Auffassung des Senats dem gesetzlichen Bild der doppelten Haushaltsführung, wenn bei jungen Steuerpflichtige, die sich zu keinem früheren Zeitpunkt vollständig aus dem elterlichen Haushalt gelöst hatten und denen – wie dies oftmals der Fall sein dürfte – bei ihren Eltern noch ihr altes Kinder-/Jugendzimmer zur Verfügung steht, im Regelfall von einer doppelten Haushaltsführung auszugehen sein sollte. Die vom BFH formulierte Regelvermutung begründet auch keine unangemessene Benachteiligung junger Steuerpflichtiger. Denn auch bei jungen Steuerpflichtigen ist das Bestehen einer doppelten Haushaltsführung nicht generell ausgeschlossen, vielmehr handelt es sich bei dem Alter des Steuerpflichtigen um eines von mehreren Kriterien, welches in der vorzunehmenden Gesamtwürdigung zu berücksichtigen ist.
322. Von der vorgenannten Regelvermutung ist auch im vorliegenden Fall auszugehen. Die von der Klägerin vorgetragenen und sonst ersichtlichen Umstände sind nach der Überzeugung des Senates nicht geeignet, die Vermutung dafür zu erschüttern, dass die Klägerin bei ihren Aufenthalten in U. noch in den Hausstand ihrer Eltern eingegliedert war.
33Bereits der Vergleich der Wohnverhältnisse in U. und K. spricht nach Auffassung des Senats für das vorstehend gefundene Ergebnis. Während der Klägerin im Haus ihrer Eltern keine abgeschlossene Wohnung, sondern nur ihr früheres Kinder-/Jugendzimmer zur alleinigen Nutzung zur Verfügung stand, verfügte sie in K. über eine eigene, vollständig eingerichtete Wohnung. Diese objektiven Wohnverhältnisse sprechen dafür, dass die Klägerin einen eigenen Hausstand nur in K. hatte und sie sich in U. – wenngleich auch häufig – zu Besuch im fremden Haushalt ihrer Eltern aufgehalten hat. Für die fortbestehende Eingliederung der Klägerin in den Haushalt der Eltern spricht ferner die seit Kindheit/Jugend der Klägerin durchgehend unveränderte Wohnsituation der Klägerin im Haus ihrer Eltern. Die Klägerin ist nicht nach einer längerfristigen Abwesenheit oder nach Beendigung einer Beziehung in das Haus ihrer Eltern zurückgekehrt. Sie war während ihrer Ausbildung durchgehend in den fremden Haushalt ihrer Eltern eingegliedert und hat einen eigenen Haushalt in K. nach Abschluss ihrer Ausbildung erst zu Beginn des Streitjahres begründet. Auch haben sich weder während ihrer Ausbildung noch im Streitjahr Veränderungen in Bezug auf die Wohnsituation der Klägerin im Haus ihrer Eltern ergeben.
34Der Umstand, dass der Arbeitsvertrag der Klägerin mit der X. in K. befristet war, ist ebenfalls nicht geeignet, die Vermutung für ihren alleinigen Hausstand in K. zu erschüttern. Insoweit ist zu bedenken, dass ihr Arbeitsvertrag nicht auf einen Zeitraum von nur wenigen Monaten, sondern vielmehr auf eine Zeitraum von immerhin drei Jahren befristet war, wobei zusätzlich – wie der weitere Geschehensablauf zeigt – auch die Möglichkeit einer Verlängerung der Befristung bestand. Da der Aufenthalt der Klägerin in K. somit von Beginn an auf einen vergleichsweise langen Zeitraum angelegt war, erscheint nicht ausgeschlossen, dass sie dort bereits im Streitjahr 2016 ihren eigenen Hausstand geführt hat. Die grundsätzliche Bereitschaft der Klägerin, ihren dauerhaften Hausstand in K. zu nehmen, zeigt sich auch daran, dass sie im Jahr 2019 mit ihrem Lebensgefährten eine gemeinsame Wohnung in K. bezogen hat.
35Auch dass die Klägerin eine Kostenbeteiligung an ihre Eltern gezahlt hat, kann die Vermutung der Eingliederung in den Haushalt ihrer Eltern nicht erschüttern. Nach der bisherigen BFH-Rechtsprechung handelt es sich bei der Vereinbarung einer Kostenbeteiligung zwar um ein durchaus gewichtiges, jedoch nicht um ein zwingendes Indiz für das Unterhalten eines eigenen, gemeinsam Hausstands (BFH-Urteil vom 16.01. 2013 – VI R 46/12, BStBl. II 2013, 627, Juris Rn. 11, unter Verweis auf BFH-Urteil vom 28.03.2012 – VI R 87/10, BStBl. II 2012, 800). Da die Vereinbarung einer Kostenbeteiligung somit nicht zwingend auf das Unterhalten eines eigenen Hausstands schließen lässt, kann sie allein die zuungunsten der Klägerin greifende Regelvermutung nicht erschüttern, zumal sie eigene Aufwendungen dadurch erspart hat, dass der von ihr genutzte Pkw von ihren Eltern angeschafft worden ist.
36Der Senat vermochte auch nicht festzustellen, dass die Klägerin den Haushalt in U. gleichberechtigt mit ihren Eltern geführt hat. Zwar hat die Klägerin geltend gemacht, sie habe bei Gelegenheit im Haushalt in U. anfallende Arbeiten übernommen. Es ist jedoch schon nicht ersichtlich, dass die Klägerin in größerem Umfang Aufgaben im Haushalt übernommen hat, als dies von noch im Haushalt befindlichen erwachsenen Kindern verlangt werden kann; derartige Aufgaben sind zudem auch von der ebenfalls in U. wohnhaften und als Studentin in den Haushalt ihrer Eltern eingegliederten Schwester der Klägerin übernommen worden. Soweit die Klägerin ferner geltend gemacht hat, sie sei als geschätzte Ratgeberin in Investitionsentscheidungen ihrer Eltern einbezogen gewesen, spricht dies nach Auffassung des Senates ebenfalls nicht für eine gleichberechtigte Haushaltsführung, denn eine gleichberechtigte Haushaltsführung nach Art einer Wohngemeinschaft zeichnet sich nicht dadurch aus, dass einer der Beteiligten lediglich Ratschläge zu Investitionsentscheidungen erteilt, sondern dass derartige Entscheidungen gemeinsam getroffen und umgesetzt werden.
37Soweit die Klägerin vorträgt, dass sie später den elterlichen Hof in U. übernehmen solle, rechtfertigt dies ebenfalls nicht die Annahme eines eigenen Hausstandes in U.. Zum einen hat die Klägerin auf Nachfrage erklärt, dass der Hof von den Eltern nicht mehr bewirtschaftet werde, so dass es zu einer „Übernahme“ des Hofes im üblichen Wortsinne ohnehin nicht mehr kommen kann. Zum anderen begründet der Umstand, dass die Klägerin im Jahr 2019 mit ihrem Lebensgefährten in K. zusammengezogen ist, zusätzliche Zweifel daran, dass konkrete Pläne zur Übernahme des Hofes durch die Klägerin bestanden.
38Die Klägerin kann sich schließlich auch nicht mit Erfolg auf das Urteil des Niedersächsischen Finanzgerichts vom 18.09.2019 (9 K 209/18, EFG 2020, 262, Revision anhängig unter VI R 39/19) berufen. Das Niedersächsische Finanzgericht stützt sein Urteil ausdrücklich auf die BFH-Rechtsprechung, die auch dem vorliegenden Urteil zugrunde liegt (z.B. BFH-Urteil vom 05.06.2014 – VI R 76/13, BFH/NV 2014, 1884; BFH-Urteil vom 16.01.2013 – VI R 46/12, BStBl. II 2013, 627). Der Umstand, dass das Niedersächsische Finanzgericht der dortigen Klage stattgegeben hat, ist offenbar darauf zurückzuführen, dass es nicht über die doppelte Haushaltsführung eines jungen Steuerpflichtigen unmittelbar nach der Berufsausbildung zu entscheiden hatte, sondern vielmehr über die doppelte Haushaltsführung eines älteren, wirtschaftlich selbständigen Steuerpflichtigen. Damit unterscheidet sich der vom Niedersächsischen Finanzgericht entschiedene Fall in einem zentralen Punkt von dem vorliegenden Fall der Klägerin.
39III. Der Beklagte durfte mit der Einspruchsentscheidung vom 07.05.2018 eine höhere Einkommensteuer zuungunsten der Klägerin festsetzen. Gemäß § 367 Abs. 2 Satz 2 AO darf ein Steuerbescheid auch zum Nachteil des Einspruchsführers geändert werden, wenn dieser auf die Möglichkeit einer verbösernden Entscheidung unter Angabe von Gründen hingewiesen und ihm Gelegenheit gegeben worden ist, sich hierzu zu äußern. Vorliegend hat der Beklagte die Klägerin mit Schreiben vom 13.11.2017 unter Angabe der zugrundeliegenden rechtlichen Erwägungen auf eine mögliche verbösernde Einspruchsentscheidung hingewiesen und ihr Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.
40IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
41V. Gründe für die Zulassung der Revision gem. § 115 Abs. 2 Nr. 1 und 2 FGO sind nicht ersichtlich. Das vorliegende Urteil beruht auf der gefestigten BFH-Rechtsprechung zum Begriff des eigenen Hausstands.
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Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Klägerin.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
1Tatbestand:
2Die Klägerin ist Kundin der Beklagten und führt seit Jahren unter anderem ein Girokonto bei der Beklagten. Am 18.12.2019 erhielt die Klägerin einen Brief der Rechtsanwaltskanzlei U , I 45-47, ##### L, in dem sich Duplikate ihrer Kontoauszüge vom 02.12.2019 befanden. Es handelt sich um sechs Blätter, die einen Eingangsstempel der Rechtsanwaltskanzlei U vom 03.12.2019 aufweisen und Kontobewegungen vom 14.10.2019 bis 29.11.2019 sowie ein Deckblatt umfassen (vgl. im Einzelnen Anlage K1). Die Beklagte hatte diese zuvor versehentlich postalisch adressiert an „Herrn RechtsAnw T“, I 45-47, ##### L, übersandt, der im Jahr 2014 Betreuer der Mutter der Klägerin gewesen war. Nach dem Tod der Mutter im Jahr 2015 wurde deren Konto auf die Klägerin umgeschrieben, die Versandanschrift jedoch im System der Beklagten nicht gelöscht.
3Nach Erhalt der Kontoauszüge rief die Klägerin unmittelbar am 18.12.2019 bei der Beklagten an, deren Datenschutzbeauftragter, der Zeuge T1, sie am gleichen Tag zurückrief. Am 23.12.2019 übersandte die Zeugin C für die Beklagte die E-Mail gemäß Anlage B1 an die Adresse ####@gmx.de, um die Klägerin über den Sachverhalt weiter zu informieren. Die entsprechende E-Mail wurde von der Klägerin nicht abgerufen, was der Beklagten am 01.01.2020 vom System mitgeteilt wurde (vgl. Anlage B2).
4Mit anwaltlichen Schreiben vom 31.12.2019 forderte die Klägerin die Beklagte zur Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungsverpflichtungserklärung, Zahlung eines Schmerzensgeldes von 25.000 € und datenschutzrechtlicher Auskunft auf (vgl. Anlage K2). Die datenschutzrechtliche Auskunft erteilte die Beklagte mit Schreiben vom 09.01.2020 (vgl. Anlage K4), die übrigen Ansprüche wies die Beklagte mit Schreiben vom 07.01.2020 zurück (vgl. Anlage K3).
5Die Klägerin trägt vor, dass Rechtsanwalt T für sie mit einer sehr belastenden Erbstreitigkeit im Jahr 2015 über das Vermögen ihres verstorbenen Vaters verbunden sei, wobei dieser damals die Gegenseite vertreten habe. Nach Erhalt des Briefes am 18.12.2019 habe sie sich sofort an die zurückliegende, für sie schreckliche Zeit erinnert, was für sie zutiefst verletzend und traurig gewesen sei. Es sei unerträglich für sie, dass ausgerechnet Rechtsanwalt T detaillierte Informationen über ihren Kontostand erhalten habe. Diese Trauer und Verletztheit würden bei ihr bis heute anhalten. Sie bekomme bei dem Thema Herzrasen, werde nervös und fange an zu zittern und zu weinen. Zudem habe sie das Verhalten der Beklagten und deren Reaktion als unerträglich und verletzend empfunden. Die Weitergabe von Bankdaten stelle eine grobe Verletzung aus dem Girovertrag und einen schweren Verstoß gegen die DSGVO dar. Ihr stehe ein immaterieller Schadensersatzanspruch gemäß Art. 82 DSGVO zu, da eine verbotene Offenlegung von personenbezogenen Daten erfolgt sei, die für ihren Schaden kausal sei. Der Verstoß sei schwerwiegend, weshalb ihr ein Schmerzensgeld von mindestens 25.000 € zustehe.
6Die Klägerin beantragt,
71) die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin ein angemessenes Schmerzensgeld nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 11.01.2020 zu zahlen;
82) die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin außergerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 1.954,46 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
9Die Beklagte beantragt,
10 die Klage abzuweisen.
11Die Beklagte trägt vor, dass die Klägerin keinen Schaden erlitten und auch nicht substantiiert dargelegt habe. Eine schwere Persönlichkeitsrechtsverletzung sei nicht ersichtlich, wobei eine kurze emotionale Aufgewühltheit dafür nicht ausreiche. Zudem sei ein einmaliger Fehlversand erfolgt, was einen geringen Eingriff darstelle. Die Beklagte habe unverzüglich alle Maßnahmen eingeleitet, um eine Wiederholung zu vermeiden.
12Wegen der näheren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze und den weiteren Akteninhalt Bezug genommen.
13Entscheidungsgründe:
14Die Klage ist unbegründet.
15I.
16Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Schadensersatzanspruch gemäß Art. 82 Abs. 1 DSGVO.
171.
18Gemäß Art. 82 Abs. 1 DSGVO hat jede Person, der wegen eines Verstoßes gegen diese Verordnung ein materieller oder immaterieller Schaden entstanden ist, Anspruch auf Schadenersatz gegen den Verantwortlichen oder gegen den Auftragsverarbeiter.
19Für den immateriellen Schadensersatz gelten dabei die im Rahmen von § 253 BGB entwickelten Grundsätze, die Ermittlung obliegt dem Gericht nach § 287 ZPO (BeckOK DatenschutzR/Quaas, 32. Ed. 1.2.2020, DS-GVO Art. 82 Rn. 31). Es können für die Bemessung die Kriterien des Art. 83 Abs. 2 DSGVO herangezogen werden, bspw. die Art, Schwere und Dauer des Verstoßes unter Berücksichtigung der Art, des Umfangs oder des Zwecks der betreffenden Verarbeitung, die betroffenen Kategorien personenbezogener Daten. Zu berücksichtigen ist auch, dass die beabsichtigte abschreckende Wirkung nur durch für den Anspruchsverpflichtenden empfindliche Schmerzensgelder erreicht wird, insbesondere wenn eine Kommerzialisierung fehlt. Ein genereller Ausschluss von Bagatellfällen ist damit nicht zu vereinbaren (BeckOK DatenschutzR/Quaas, 32. Ed. 1.2.2020, DS-GVO Art. 82 Rn. 31).
202.
21Nach Maßgabe dieser Grundsätze ergibt die vorzunehmende Gesamtwürdigung hier, dass ein Schadensersatzanspruch der Klägerin nicht besteht.
22Unabhängig davon, dass es – wie von der Beklagten zu Recht bemängelt – an einer substantiierten Darlegung eines immateriellen Schadens fehlt, handelt es sich vorliegend bei dem Datenschutzverstoß nach Art, Schwere, Dauer und Umfang des Verstoßes um einen Bagatellfall, der auch unter Berücksichtigung der weiteren Umstände des Einzelfalls die Zuerkennung eines Schmerzensgeldes nicht rechtfertigen kann. Es erfolgte eine einmalige und erstmalige Übersendung eines wenige Blätter umfassenden Kontoauszugs an einen falschen Empfänger. Anzumerken ist, dass durch die Klägerin im Übrigen bereits nicht dargelegt wurde, dass Rechtsanwalt T überhaupt Kenntnis vom Inhalt des Schreibens genommen hat, insoweit sprechen vielmehr der entsprechende Eingangsstempel der Kanzlei U und das Durchstreichen des Adressfelds wesentlich dagegen. Jedenfalls erfolgte auch nach dem Vortrag der Klägerin keine Weitergabe der Kontoauszüge an weitere Personen, sondern unmittelbar ein Weiterversand an die Klägerin. Grundlage der Fehlversendung war eine versehentliche Falscherfassung im System der Beklagten, die unmittelbar nach Kenntnisnahme korrigiert wurde. Das Zuerkennen von Schmerzensgeld in derartigen Bagatellfällen würde die Gefahr einer nahezu uferlosen Häufung der Geltendmachung von Ansprüchen bergen, was nicht Sinn und Zweck von Art. 82 DSGVO entsprechen kann. Die Kammer übersieht bei ihrer Gesamtwürdigung unter Berücksichtigung der Kriterien des Art. 83 Abs. 2 DSGVO nicht, dass die Klägerin den vorliegenden Vorgang als subjektiv sehr belastend empfinden mag, hält aber dennoch insgesamt das Zusprechen eines Schmerzensgeldes für nicht vertretbar.
233.
24Sonstige Anspruchsgrundlagen sind nicht ersichtlich.
25II.
26Mangels Hauptanspruch unterliegt auch der Antrag zu 2) der Abweisung.
27III.
28Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 91, 709 ZPO.
29Streitwert: 25.000 €.
30Rechtsbehelfsbelehrung:
31Gegen dieses Urteil ist das Rechtsmittel der Berufung für jeden zulässig, der durch dieses Urteil in seinen Rechten benachteiligt ist,
321. wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 600,00 EUR übersteigt oder
332. wenn die Berufung in dem Urteil durch das Landgericht zugelassen worden ist.
34Die Berufung muss innerhalb einer Notfrist von einem Monat nach Zustellung dieses Urteils schriftlich bei dem Oberlandesgericht Köln, Reichenspergerplatz 1, 50670 Köln, eingegangen sein. Die Berufungsschrift muss die Bezeichnung des Urteils (Datum des Urteils, Geschäftsnummer und Parteien) gegen das die Berufung gerichtet wird, sowie die Erklärung, dass gegen dieses Urteil Berufung eingelegt werde, enthalten.
35Die Berufung ist, sofern nicht bereits in der Berufungsschrift erfolgt, binnen zwei Monaten nach Zustellung dieses Urteils schriftlich gegenüber dem Oberlandesgericht Köln zu begründen.
36Die Parteien müssen sich vor dem Oberlandesgericht Köln durch einen Rechtsanwalt vertreten lassen, insbesondere müssen die Berufungs- und die Berufungsbegründungsschrift von einem solchen unterzeichnet sein.
37Mit der Berufungsschrift soll eine Ausfertigung oder beglaubigte Abschrift des angefochtenen Urteils vorgelegt werden.
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Tenor
1. Der Senat beabsichtigt, die Berufung der Klägerin gegen das am 25.02.2019 verkündete Urteil des Einzelrichters der 2. Zivilkammer des Landgerichts Landau in der Pfalz gemäß § 522 Abs. 2 ZPO durch einstimmigen Beschluss zurückzuweisen.
2. Der Klägerin wird Gelegenheit gegeben, hierzu bis zum 30.10.2020 Stellung zu nehmen.
Gründe
1
Die Berufung der Klägerin hat offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg (§ 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO). Ein Anspruch auf Schadensersatz aus übergegangenem Recht gegen die Beklagte als Haftpflichtversicherer des verunfallten Pkw der Frau … (§§ 86 VVG, 7 Abs. 1 StVG, 115 PflVG) besteht nicht. Das angefochtene Urteil erweist sich im Ergebnis als zutreffend.
2
1. Zwar trifft es zu, dass eine Haftung nach § 7 Abs. 1 StVG in Betracht kommt, wenn sich ein Kfz im örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit seiner Fortbewegungs-/Transportfunktion z. B. durch einen Kurzschluss selbst entzündet und hierdurch Sachen bzw. Personen geschädigt werden. Auch dann ist der Schaden bei dem Betrieb des Kfz entstanden und haftet der Halter auf Schadensersatz (BGH, Urteil vom 26.03.2019, Az. VI ZR 236/18, Juris). Der Senat hat indes bereits Zweifel daran, ob auf der Grundlage der Aussagen der Zeugen … und …, der Feststellungen des Sachverständigen … sowie der beigezogenen Akte der Staatsanwaltschaft Landau in der Pfalz mit hinreichender Sicherheit davon ausgegangen werden kann, dass das streitgegenständliche Schadensereignis durch eine kurzschlussbedingte Selbstentzündung des in der Werkstatt des Zeugen … abgestellten Pkw verursacht wurde. Eine weitere Aufklärung ist insoweit allerdings ausgeschlossen, da das seinerzeit verunfallte Fahrzeug der Geschädigten … und die Brandschäden in der Halle des Zeugen … nicht mehr in Augenschein genommen werden können.
3
Zwar scheint es sich nach den zur Akte gereichten Bildern so zu verhalten, dass im Frontbereich des VW Golf die stärksten Brandspuren sichtbar waren. Als effektive Zündquelle kam bei dem seit längerem bereits abgestellten Wagen lediglich die Fahrzeugbatterie in Betracht. Zudem sind offenbar (nur) die Deckenplatten über dem Golf durch den Brand zerstört worden. Außerdem wurde ein neben dem Golf stehendes Fahrzeug sekundär beschädigt. Die Halle des Zeugen … wies keine (äußeren) Einbruchspuren auf und es bestanden auch keinerlei Anhaltspunkte dahingehend, dass andere technische Geräte in der Halle den Brand ausgelöst haben könnten. Nach den Darlegungen des Sachverständigen … ist eine dahingehende Annahme auch äußerst unwahrscheinlich. Indes haben die Zeugen … und … den Ausbruch des Brandes nicht beobachtet, sondern waren erst später hinzugekommen; sie haben lediglich die Vermutungen der Feuerwehrleute wiedergegeben und vom Schadensbild darauf geschlossen, dass der Brand im Frontbereich des abgestellten VW Golf „von allein“ ausbrach.
4
Der Sachverständige hat diesbezüglich keine eigenen Untersuchungen angestellt, sondern lediglich im „Ausschlussverfahren“ konstatiert, dass, nachdem für Fremdeinwirkung (mangels Einbruchspuren) nach Angaben der Polizei (gemäß der Ermittlungsakte) keine Anhaltspunkte bestanden, nur noch die Möglichkeit einer Selbstentzündung verbleibe. Der Polizeibeamte hat indes angegeben, dass keine weiteren Untersuchungen von dort aus veranlasst wurden, sondern der Vorgang sogleich an die StA weitergeleitet wurde. In der Ermittlungsakte finden sich keine Hinweise auf weitere kriminaltechnische Ermittlungen. Den Schluss, den sowohl die Klägerin als wohl auch das Erstgericht ziehen, dass dann nur eine Selbstentzündung in Betracht komme, ist demnach nicht zwingend. Denn es verbleibt die Möglichkeit einer Brandstiftung durch den Inhaber oder Dritte, die sich ohne Einbruch den Zugang zur Halle verschafft haben könnten. Der Sachverständige hat bei der ergänzenden Anhörung angegeben, dass das Schadensbild identisch wäre, wenn das Fahrzeug aktiv angezündet worden wäre.
5
2. Zudem ist – entgegen der Auffassung des Vorderrichters – nicht davon auszugehen, dass das Handeln des Zeugen … zu einem Haftungsausschluss nach § 8 Nr. 2 StVG führt. Demnach gilt die Gefährdungshaftung des § 7 Abs. 1 StVG nicht gegenüber denjenigen Verletzten, die bei dem Betrieb des Kraftfahrzeugs tätig waren. Allein mit der Hereinnahme und Aufbewahrung des verunfallten PKW der Geschädigten … in seine Halle war der Zeuge indes nicht „beim Betrieb des Kraftfahrzeugs“ tätig (für einen vergleichbaren Fall ebenso OLG Hamm, Urteil vom 22.03.2019, Az. 9 U 93/17, Juris).
6
Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut der Bestimmung. „Beim Betrieb“ erfordert Tätigkeiten gerade im Hinblick auf die Eigenschaft des Fahrzeugs als Fortbewegungsmittel. Das Verwahren stellt indes – anders als das Fahren, Beladen oder Reparieren – schon kein aktives Tun dar. Nichts anderes ergibt sich aus historischer Sicht. Soweit ersichtlich, geht die Bestimmung auf den „Entwurf eines Gesetzes für den bei dem Betrieb von Kraftfahrzeugen entstehenden Schaden“ aus dem Jahr 1906 zurück (Drucksache Reichstag 1905/1906, Nr. 264, Anlageband IV, S. 3245 ff.), der infolge Ablaufs der Legislaturperiode des Reichstags nicht in Kraft gesetzt wurde; vielmehr erfolgte die erste Kodifizierung der Ausnahme mit dem Gesetz über den Verkehr mit Kraftfahrzeugen in der folgenden Legislaturperiode vom 03.05.1909 (RGBl. 1909, Nr. 26, S. 437 ff.). Der Gesetzgeber bezweckte – in Anlehnung an die bestehenden Regelungen für Schäden beim Betrieb von Eisenbahnen, Bergwerken usw. – mit dem Gesetzentwurf die Absicherung Derjenigen, die „mit den aufgedrungenen Gefahren des Automobilverkehrs“ in Berührung kommen. Der beim Betrieb des Kfz Tätige hat demgegenüber „die Gefahren freiwillig übernommen“. Die besonderen Gefahren des Automobilverkehrs sah der Gesetzgeber indes (nur) in der besonderen Geschwindigkeit der Fahrzeuge, zugleich aber auch in Bezug auf deren Emissionen (Lärm, Gestank, Staub). Hinzu kam, dass nach den Vorstellungen des historischen Gesetzgebers die bei Betrieb des Kfz (unselbstständig) Tätigen regelmäßig (unfall-pflicht-)versichert sind, also bereits insoweit hinreichend abgesichert sind (Drucksache Reichstag 1905/1906, 1905/1906, Nr. 264, Anlageband IV, S. 3247; Drucksache Reichstag 1907/1909, Band 22, S. 5595 ff., 5599). Beide Umstände rechtfertigen demnach nicht einen Haftungsausschluss zulasten des Zeugen … und damit auch zulasten der Klägerin.
7
Ohnehin ist schon zu Zeiten der ersten Kodifikationen umstritten gewesen, ob der Haftungsausschluss des heutigen § 8 Nr. 2 StVG ganz generell gerechtfertigt ist. Die insoweit seinerzeit geäußerten Bedenken sind auch heute nicht von der Hand zu weisen. Denn in nicht wenigen Fällen setzen sich die Beteiligten nur aufgrund sozialer oder rechtlicher Zwänge (namentlich benannt wurden kraft Angestelltenverhältnisses oder Geschäftsbesorgung zu Führung eines Kraftfahrzeugs Verpflichtete, aber auch die Verkehre der Post, der Feuerwehr, des Militärs, der Polizei und des Gefangenwesens) den Gefahren des Straßenverkehrs aus (s. die erste Beratung des Gesetzentwurfs am 28.04.1906, Drucksache Reichstag 1905/1906, Band IV, S. 2731 ff.; zusammenfassend Eger, DJZ 1908, Sp. 993 ff.).
8
In Fortführung dieses historischen Verständnisses gehen Rechtsprechung und Rechtswissenschaft deshalb - soweit ersichtlich: einhellig - davon aus, dass der Haftungsausschluss nach § 8 Nr. 2 StVG eng zu verstehen ist (BGH, Urteil vom 05.10.2010, Az. VI ZR 286/09, Juris; jurisPK-Straßenverkehrsrecht/Laws/Lohmeyer/Vinke, Stand 2019, § 8 StVG Rn. 15; Greger/Zwickel, Haftungsrecht des Straßenverkehrs, 5. Aufl. 2014, § 19 Rn. 10 f.). Erfasst werden nur solche Personen, die durch die unmittelbare Beziehung ihrer Tätigkeit zum Betrieb des Kraftfahrzeugs den von ihm ausgehenden besonderen Gefahren gerade als Fortbewegungsmittel stärker ausgesetzt sind als die Allgemeinheit, auch wenn sie nur kurzfristig oder aus Gefälligkeit beim Betrieb des Kraftfahrzeugs tätig geworden sind (BGH, Urteil vom 05.10.2010, Az. VI ZR 286/09 BGH, Urteil vom 16.12.1953, Az. VI ZR 131/52; OLG Koblenz, Urteil vom 19.08.2019, Az. 12 U 1444/18; OLG Köln, Urteil vom 05.07.2019, Az. 6 U 234/18; jeweils Juris). Das bloße Verwahren eines unfallbeschädigten Pkw stellt deshalb keine „Tätigkeit“ beim Betrieb des Kfz i.S.v. § 8 Nr. 2 StVG dar.
9
Dass die enge Auslegung von § 8 Nr. 2 StVG richtig ist, erweist sich letztlich anhand systematischer Erwägungen. Die vom Bundesgerichtshof zwischenzeitlich vorgenommene Ausdehnung der Gefährdungshaftung auch auf Sachverhalte, bei denen das Kfz nicht mehr in Bewegung ist, sich indes gleichwohl spezifische Betriebsgefahren realisieren, bedingt mitnichten, auch die Tatbestände zum Haftungsausschluss auszudehnen. Das folgt bereits aus den unterschiedlichen Schutzzwecken beider Rechtsinstitute. Käme es – mit der Auffassung des Vorderrichters – lediglich darauf an, dass der Verletzte die letztlich realisierten Gefahren „freiwillig“ übernommen hat, bestünde ganz generell keine Gefährdungshaftung gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern; denn auch diese haben sich der Gefahr, im Straßenverkehr durch andere Verkehrsteilnehmer in ihrer körperlichen Integrität bzw. in ihren Eigentums- und Besitzrechten verletzt zu werden, ausgesetzt. Ein derartig begrenztes Verständnis der Haftungsnorm des § 7 Abs. 1 StVG ist indes weder gewollt noch erwünscht. Ohnehin besteht wohl auch kein besonderes Interesse an einer Ausweitung von § 8 Nr. 2 StVG, denn ein sorgfaltspflichtwidriges Verhalten des Geschädigten kann ggfl. im Rahmen des Mitverschuldens hinreichend erfasst werden.
10
3. Die beiden vorgenannten Umstände können indes letztlich dahinstehen, denn die Klägerin hat bereits den dem Zeugen … entstandenen Schaden nicht hinreichend substantiiert behauptet; den in der Anspruchsbegründung benannten Beweisangeboten war und ist nicht nachzugehen, da dies zu einem unzulässigen Ausforschungsbeweis führen würde.
11
Sachvortrag zur Begründung eines Klageanspruchs ist nach herkömmlichen Verständnis dann schlüssig und als Prozessstoff erheblich, wenn die Partei Tatsachen vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet sind, das geltend gemachte Recht als in ihrer Person entstanden erscheinen zu lassen. Der Prozessgegner muss sich auf der Grundlage des Parteivortrags sachgerecht einlassen, das Gericht muss den Sachvortrag erfassen und beurteilen können sowie in die Lage versetzt werden, unter Rückgriff auf eine Norm mit ihren einzelnen Tatbestandsmerkmalen die begehrte Rechtsfolge herzuleiten. Genügt das Parteivorbringen diesen Anforderungen an die Substantiierung, kann kein Vortrag weiterer Einzeltatsachen verlangt werden; ggfl. ist es dann Sache des Tatrichters, bei der Beweisaufnahme weitere Einzelheiten in Erfahrung zu bringen (BGH, Beschluss vom 25.09.2018, Az. VI ZR 234/17, m.w.N., Juris). Daran gemessen ermangelt es an hinreichendem Vortrag der Klägerin.
12
Die Geltendmachung eines Schadensersatzanspruchs – auch aus übergegangenem Recht – setzt voraus, dass der Anspruchsinhaber den entstandenen Schaden nach Art und Umfang dergestalt benennt, damit Gericht und Prozessgegner beurteilen können, ob und in welcher Höhe – gemessen an §§ 249 ff. BGB – eine Einstandspflicht besteht. Der Senat lässt dahinstehen, ob die Anspruchsbegründung - dies in Verbindung mit dem vorgelegten Privatgutachten des Sachverständigen … (Anlage K1) - diesen Anforderungen genügt. Denn die Beklagte hat bereits in ihrer Klageerwiderung ausdrücklich darauf hingewiesen, dass keinerlei nachvollziehbarer Vortrag dazu vorliegt, welche Gegenstände des Zeugen … in welcher Weise beschädigt wurden, in welchem Zustand und welchem Alter die Gegenstände vor ihrer Beschädigung waren und wie sich die Schadenssumme im Einzelnen zusammensetzt. Zumindest seit der Klageerwiderung war die Klägerin gehalten, näher vorzutragen. Indes war und ist es weder der Beklagten noch dem Gericht möglich, den geltend gemachten Schadensersatzanspruch nachzuvollziehen und nachzuprüfen.
13
Auf die unzureichende Substantiierung ist die Klägerin bereits in ausreichender Weise durch die Beklagte hingewiesen worden (vgl. BGH, Beschluss vom 20.12.2007, Az. IX ZR 207/05, Juris). Dennoch hat auch der Vorderrichter im Termin der mündlichen Verhandlung vom 31.10.2018 nochmals auf den unzureichenden Vortrag der Klägerin zum Schaden hingewiesen, ohne dass diesbezüglich hinreichender weiterer Vortrag erfolgt wäre. Namentlich hat die Klägerin mit Schriftsatz vom 08.01.2019 lediglich die im Privatgutachten … aufgelisteten beschädigten Gegenstände und Schadensschätzungen (dort Anlage 1.1, Bl. 28 d.A.) „abgeschrieben“. Nach wie vor fehlt jeder Vortrag zum Anschaffungsdatum und zum Erhaltungszustand der beschädigten Gerätschaften und Einrichtungsgegenstände. Den dem Gutachten … beigefügten „Rechnungen“ lassen sich nur vereinzelt Modell und Typ der jeweils ersetzten bzw. instandgesetzten Geräte und Werkstatteinrichtungen entnehmen; Bezugsgrundlagen (bzgl. des „Kleinmaterials, aber vor allem auch bzgl. eines Abgasprüfgeräts [Pos. 5]; die in Bezug genommene Rechnung der Fa. verhält sich indes nur zu einem Drucker und einer Tastatur) und Schätzgrundlagen werden nicht offengelegt (v.a. bzgl. der zu sanierenden und zu überprüfenden Zweisäulenhebebühne). Namentlich wird die vormals vorhandene elektrische Anlage in der Halle des Zeugen … noch nicht einmal im Ansatz näher beschrieben, deren Neuerrichtung (Sanierung?) Kosten in Höhe von brutto 16.018,51 € verursachen soll (Anlage zum Gutachten …). An dieser Position zeigt sich exemplarisch, dass auch das klägerseits vorgelegte Rechenwerk noch nicht einmal in Ansatz nachvollzogen werden kann: Der Sachverständige … bemisst den Schaden an der Elektroanlage nach der Rechnung der Fa. …, leitet hieraus einen Neuwertschaden in Höhe von netto 8.054,30 € (mit Lampen 15.406,63 €) ab, was indes weder erläutert wird noch mit der Angebotssumme (und den dort enthaltenen Leistungspositionen) übereinstimmt. Auch zu den geltend gemachten Sanierungskosten (Rechnung Fa. …) wird nicht mitgeteilt, worauf diese sich im Einzelnen zusammensetzen bzw. worauf sie sich im Einzelnen beziehen.
14
Sachvortrag vermag die Klägerin im Berufungsverfahren insoweit nicht nachzuholen (§ 531 Abs. 2 ZPO). Die Klage war jedenfalls aus diesem Grund abzuweisen.
15
4. Lediglich weiterführend weist der Senat darauf hin, dass im Fall des Nachweises einer Selbstentzündung und der ordnungsgemäßen Darlegung des Schadens ein ganz erhebliches, wohl zum Haftungsausschluss zugunsten der Beklagten führendes Mitverschulden des Versicherungsnehmers der Klägerin bei der Schadensentstehung gemäß §§ 9 StVG, 254 Abs. 1 BGB zu berücksichtigen wäre.
16
Unstreitig ist, dass bei dem unfallbeschädigten Fahrzeug die Batterie nicht abgeklemmt und ausgebaut worden ist. Bereits nach Aktenlage, aber vor allem auch aufgrund der Darlegungen des Sachverständigen … (S. 6 des Gutachtens) ist ersichtlich, dass dies geboten gewesen wäre. Dem Senat ist bekannt, dass bei Fahrzeugen wie dem verunfallten die Fahrzeugbatterie im Motorraum untergebracht ist. Der Pkw der Unfallgeschädigten wurde im Frontbereich ganz erheblich beschädigt; vor allem Bild 2 aus dem Einsatzbericht der Polizeiinspektion … vom … (Bestandteil der beigezogenen Akte der Staatsanwaltschaft …) lässt sich entnehmen, dass die Frontpartie des Fahrzeugs weit in den Motorraum hineingedrückt worden ist und ganz erhebliche Deformationen bis weit in den Motorraum hinein bestanden. Auch einem Laien ist ersichtlich, dass in einem solchen Fall die nicht entfernt liegende Möglichkeit besteht, dass entweder die Batterie selbst beschädigt worden ist, Metallteile die beiden Pole der Batterie überbrücken können oder sonstige Beschädigungen der Stromkabel oder elektrischer Bauteile zu einem Kurzschluss führen können. Für den Zeugen … (bzw. seinen für ihn tätigen Sohn) musste sich dies in besonderer Weise aufdrängen, denn er ist insoweit Fachmann.
17
Soweit die Klägerin darauf hinweist, der Zeuge … habe keine dahingehenden Anweisungen von der Zeugin … und der Beklagte als Haftpflichtversicherung des Fahrzeugs erhalten, geht dieser Hinweis in mehrfacher Hinsicht fehl. Denn der Zeuge … hatte das verunfallte Fahrzeug berufsmäßig und auftragsgemäß in seine Obhut genommen; dementsprechend oblag ihm von nun an die Fürsorge über das Fahrzeug. Ohnehin hatte nur er die Entscheidung getroffen, dass verunfallte Fahrzeug in seiner Werkstatthalle, nicht aber auf dem Außengelände seines Unternehmens, aufzubewahren; insoweit kommt es auch nicht darauf an, ob die Hereinnahme an einem Wochentag oder aber einem Werktag erfolgte. Dass die Beklagte überhaupt Kenntnis von Art und Schwere der Unfallbeschädigungen hatte, hat die Klägerin weder vorgetragen noch ist dies nach Aktenlage ersichtlich. Soweit die Klägerin ein „überlegenes Wissen“ der Fahrzeughalterin … ins Feld führt, besteht dieses lediglich darin, die Unfallbeschädigungen ihres Pkw durch den Unfall wahrgenommen zu haben; über die gleichen Kenntnisse verfügte indes der Zeuge … ab dem Moment des Abschleppens und Aufbewahrens des Fahrzeugs.
18
Der Einwand der Klägerin, eine Lagerung des VW Golf auf dem Außengelände des Zeugen … sei nicht möglich gewesen, ist angesichts des detaillierten Vortrags der Beklagtenseite zu dessen Betriebsgrundstück gemäß § 138 Abs. 3 und 4 ZPO unbeachtlich. Soweit die Klägerin weiter bestritten hat, dass durch einen Ausbau der Batterie der Brand vermieden worden wäre, ist sie jedenfalls in Hinblick auf den von ihr behaupteten alternativen Kausalverlauf beweisfällig geblieben.
19
Ohne dass es hierauf für den Streitfall ankäme, würde die gravierende Sorgfaltspflichtverletzung des Zeugen ... die Betriebsgefahr des verunfallten Fahrzeugs so erheblich übersteigen, dass diese gänzlich zurücktritt.
20
5. Da die Berufung keine Aussicht auf Erfolg hat, legt der Senat der Klägerin aus Kostengründen die Rücknahme des Rechtsmittels nahe. Im diesem Falle ermäßigen sich die für das Verfahren anfallenden Kosten von 4,0 auf 2,0 Gebühren (Nr. 12222 KV GKG).
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Tenor
1. Der Senat beabsichtigt, die Berufung der Beklagten gegen das am 18.01.2019 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 2. Zivilkammer des Landgerichts Kaiserslautern, Az. 2 O 13/17, gemäß § 522 Abs. 2 ZPO durch einstimmigen Beschluss zurückzuweisen.
2. Den Parteien wird Gelegenheit gegeben, hierzu bis zum 30.10.2020 Stellung zu nehmen.
Gründe
1
Die Berufung der Beklagten hat offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg (§ 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO). Die Vorderrichterin ist im Ergebnis zutreffend davon ausgegangen, dass die Beklagten für das streitgegenständliche Unfallereignis haftungsrechtlich einzustehen haben. Ein Mitverschulden der Klägerin ist nicht erwiesen. Auch die Verurteilung der Beklagten dem Umfang nach ist nicht zu beanstanden; vielmehr ist davon auszugehen, dass – im Rahmen der Anschlussberufung der Klägerin – weiterer Sachschaden zuzusprechen ist, vor allem aber auch die begehrte Feststellung getroffen werden müsste.
2
Bei der Bewertung des Unfallgeschehens ist davon auszugehen, dass die Klägerin ein Pedelec i.S.v. § 1 Abs. 3 Satz 1 StVG führte; dabei handelt es sich nicht um ein Kraftfahrzeug im Rechtssinn. Die Klägerin hat hierzu detailliert und unter Vorlage der technischen Spezifikationen ihres Fahrrades (Bl. 91 d.A.) vorgetragen, dass dieses über einen Hilfsmotor mit einer Leistung von 250 Watt verfügt und die Unterstützung ihrer Muskelkraft zur Fortbewegung des Rads lediglich bis zu einer Geschwindigkeit von 25 km/h stattfindet. Dementsprechend hätte es den Beklagten oblegen, diesen Sachvortrag substantiiert anzugreifen; allein der Hinweis, die Klägerin habe „ein Kraftfahrzeug gesteuert“ (vorletzter Absatz der Berufungsbegründung, Schriftsatz vom 29.04.2019, Bl. 256 d.A.) genügt diesen Anforderungen nicht.
3
1. Die Beklagten beanstanden zu Unrecht, dass das Ausgangsgericht nicht das Fahrverhalten der Klägerin bei ihrer Auffahrt von der … auf die … berücksichtigt hat. Darauf, dass die Klägerin infolge eines Höhenunterschiedes beim Auffahren ins Schlingern geraten ist, was diese auch eingeräumt hat, kommt es für eine Haftung der Beklagten dem Grunde nach nicht an. Denn zum einen kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Klägerin im Folgenden ihre Fahrbewegungen wieder stabilisieren konnte; zum anderen und vor allem steht fest, dass sich der streitgegenständliche Unfall in zeitlicher und räumlicher Hinsicht deutlich nach dem Auffahren von der alten auf die neue … ereignet hat. Dementsprechend ist davon auszugehen, dass diese Umstände mit dem streitgegenständlichen Unfall – genauer: den haftungsbegründenden Zusammenhang – nicht in kausalem Zusammenhang stehen (zum Mitverschuldenseinwand der Beklagten im Hinblick auf die Fahrweise der Klägerin am eigentlichen Unfallort s. im Folgenden unter 3.).
4
2. Das Ausgangsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass die Beklagten für den Unfall und seine Folgen haftungsrechtlich einzustehen haben.
5
a) Die Haftung der Beklagten zu 2. und zu 3. ergibt sich bereits verschuldensunabhängig aus §§ 7 Abs. 1 StVG, 115 Abs. 1 VVG. Nach den Feststellungen des Sachverständigen …, die mit der Berufung auch nicht angegriffen werden, kam es während des Passierens durch den Beklagten zu 1. zum Zusammenstoß mit dem Fahrrad der Klägerin und dadurch zu deren Sturz. Bereits aus den polizeilich angefertigten Bildern ergibt sich, dass der Lenker des Fahrrades um 180° herumgeschlagen worden ist, was allein mit dem Umfallen des Rades nicht zu erklären ist. Zudem lassen sich die am Fahrzeug der Beklagten zu 2. auf der rechten Seite polizeilich gesicherten Kratz- und Streifspuren nach Art und Ausmaß nur damit erklären, dass der Lenker des Fahrrads die Scheibe der Beifahrertür und die Vorderradgabel den vorderen rechten Kotflügel sowie die Blechverkleidung der Beifahrertür berührt hatten. Nach den Feststellungen des Sachverständigen stimmen insofern nicht nur die jeweiligen Höhen von Fahrrad und PKW überein (Bl. 7 des Bildersatzes des Sachverständigen), sondern auch die weiteren Umstände sprechen für den von ihm angenommenen Unfallverlauf (namentlich das fehlende Umschlagen des rechten Außenspiegels des Pkw und die Endstellungen von PKW und Fahrrad).
6
Dass der Unfall durch höhere Gewalt i.S.v. § 7 Abs 2 StVG verursacht worden wäre, haben die Beklagten nicht vorgetragen; derartiges lässt sich auch der Gerichtsakte, namentlich der beigezogenen Unfallakte der Polizei, nicht entnehmen.
7
b) Der Beklagte zu 1. hat schuldhaft den Zusammenstoß mit der Klägerin verursacht. Hierfür spricht nach § 18 Abs. 1 StVG bereits eine Vermutung, die die Beklagten nicht zu widerlegen vermochten.
8
Der Senat lässt insoweit dahinstehen, ob dem Beklagten zu 1. – wie dies die Vorderrichterin angenommen hat – vorzuwerfen ist, die Klägerin entgegen § 5 Abs. 4 StVO mit unzureichendem Sicherheitsabstand passiert zu haben. Hierfür spricht der erste Anschein; denn es kam zu einem seitlichen Zusammenstoß des PKW mit der Klägerin im Moment des Überholvorgangs. Zudem hat der Beklagte zu 1. im Termin der mündlichen Verhandlung vom 04.07.2017 eingeräumt, lediglich einen Seitenabstand von 0,5 – 1,0m eingehalten zu haben; dies war bereits vor der Änderung von § 5 Abs. 4 StVO angesichts der Fahrweise der Klägerin verkehrsordnungswidrig (KG, Urteil vom 12.09.2002, Az. 12 U 9590/00, Juris). Nach den Feststellungen des Sachverständigen … erfolgte der Zusammenstoß in einem spitzen Winkel von ungefähr 15o (Skizzen 3 und 4, übergeben im Termin der mündlichen Verhandlung vom 30.04.2018, lose Anlage). Selbst wenn man davon ausgeht, dass der Beklagte zu 1. noch einen leichten Linksschwenk gefahren ist, um den Zusammenstoß mit dem Fahrrad zu vermeiden, so steht doch fest, dass die Klägerin unmittelbar vor dem Zusammenstoß am Fahrbahnrand fuhr und nur geringfügig in Richtung Fahrbahnmitte steuerte; dies ist indes keinesfalls untypisch für einen Radfahrer. Deshalb hätte der Beklagte zu 1. mit derartigen Fahrbewegungen rechnen müssen (KG, Urteil vom 12.09.2002, Az. 12 U 9590/00, Juris); das Verhalten der Klägerin hat deshalb den ersten Anschein zulasten eines schuldhaften Fehlverhaltens des Beklagten zu 1. nicht zerstört.
9
Vor allem aber hat der Beklagte zu 1. bei seiner informatorischen Anhörung vor der Kammer am 04.07.2017 angegeben, eine unsichere Fahrweise bereits beim Herannahen an die Klägerin wahrgenommen und noch versucht zu haben, den rechtsseitigen Abstand zur Klägerin zu vergrößern. Dies sei ihm indes aufgrund des entgegenkommenden Motorrades nicht stärker als beabsichtigt möglich gewesen. Deshalb ist dem Beklagten zu 1. jedenfalls vorzuwerfen, zum Überholen der Klägerin angesetzt zu haben, obgleich die Verkehrslage dies nicht gefahrenlos zuließ (§§ 1 Abs. 2, 5 Abs. 4 StVO). Denn einen – gemessen an den sichtbaren Fahrbewegungen der Klägerin – ausreichenden seitlichen Sicherheitsabstand zur Radfahrerin hätte der Beklagte zu 1. nur bei einem wesentlich stärkeren Ausweichen auf die Gegenfahrbahn einhalten können. Da dies indes aufgrund des Gegenverkehrs nicht möglich war, hätte er diesen zuerst passieren lassen müssen und erst sodann zum Überholen ansetzen dürfen. Das gilt umso mehr, als der entgegenkommende Motorradfahrer nahezu an der Mittellinie gefahren ist, dementsprechend auf der Gegenfahrbahn wohl keinerlei Raum für ein hinreichendes Ausweichmanöver war (s. die Aussagen des Zeugen … sowie die Breite der Straße, Bilder nach Anlage).
10
Eingedenk dessen geht auch der Einwand der Beklagten fehlt, der Unfall sei letztlich von dem - polizeilich nicht ermittelten, für den Streitfall aufgrund der Einlassungen des Beklagten zu 2. und der Angaben der Zeugen …, … und … aber zu unterstellenden - Fahrer des dem Beklagten zu 1. vorausfahrenden Fahrzeugs verursacht worden und die Klägerin habe nach dem Sturz eingeräumt, dies sei die Schuld des Vorausfahrenden, nicht aber des Beklagten zu 1. gewesen. Aufgrund welcher Umstände die Klägerin in eine unsichere Fahrweise geriet, ist für die Beurteilung des Sachverhalts unbeachtlich; das gilt umso mehr, als ihre Fahrweise – dies auch unter Berücksichtigung der Aussagen des Zeugen … – nicht untypisch war. Für die Frage der Haftung der Beklagten ist ebenfalls unbeachtlich, ob der Fahrer des vorausfahrenden Fahrzeugs sich seinerseits verkehrsordnungswidrig verhalten hat und gegebenenfalls der Klägerin ebenfalls haftet; relevant kann dies lediglich für einen Haftungsausgleich zwischen ihm und den Beklagten sein.
11
Ebenfalls unzutreffend ist der Einwand der Beklagten, der Zusammenstoß des Beklagten zu 1. mit der Klägerin sei für ersteren unvermeidbar gewesen. Zwar hat dies der Sachverständige … so beschrieben. Hierbei handelt es sich allerdings um eine rechtliche Würdigung, die ausschließlich dem Richter obliegt. „Höhere Gewalt“ i.S.v. § 7 Abs. 2 StVG ist weder eingewendet worden noch nach Aktenlage ersichtlich; eine Exkulpation ist dem Beklagten zu 1. gerade im Hinblick darauf nicht möglich, dass er angesichts der Verkehrslage die Klägerin nicht hätte überholen dürfen. Dass der Sachverständige angesichts hinreichender Anknüpfungstatsachen nicht mehr festzustellen vermochte, ob und ggfl. mit welchem zeitlichen und räumlichen Vorlauf der Beklagte zu 1. die unsichere Fahrweise der Klägerin hätte erkennen müssen, geht zu seinen Lasten, denn ihm obliegt die dahingehende Vortrags- und Beweislast. Lediglich der Vollständigkeit halber weist der Senat darauf hin, dass die dahingehende Sorgfaltspflicht vom Beklagten zu 1. letztlich eingeräumt worden ist. Denn er hat mitgeteilt, die Klägerin jedenfalls zu dem Zeitpunkt bemerkt zu haben, als diese von dem vorausfahrenden Fahrzeug passiert wurde. Obgleich er das Straucheln der Klägerin bemerkte, will er lediglich das Gas weggenommen, nicht aber auch (gefahrenmäßig) gebremst haben. Dies war angesichts der bestehenden Gefahrenlage unzureichend. Ohnehin haben weder die Zeugin … noch der Zeuge …. bestätigt, dass der Beklagte zu 1. bei Herannähern an die Klägerin in nennenswerter Weise gebremst hat.
12
3. Ein unfallursächliches Mitverschulden der Klägerin i.S.d. §§ 9 StVG, 254 Abs. 1 BGB ist nicht erwiesen.
13
Die Fahrbewegungen der Klägerin bei ihrem Wechsel von der alten auf die neue … sind für das Unfallgeschehen unbeachtlich. Denn nicht erwiesen ist, dass diese auch nach ihrer Auffahrt auf die neue … unsicher blieben; die Zeugenaussagen führten insoweit nicht zu einem eindeutigen Ergebnis. Während nach den Aussagen der Zeugen … und … eher davon auszugehen ist, dass sich die Fahrbewegungen der Klägerin wieder stabilisiert hatten, hat der Zeuge … bekundet, dass die Klägerin seit ihrer Einmündung auf die neue … unsicher fuhr und schwankte. Eingedenk dessen kann nicht davon sicher davon ausgegangen werden, dass die Klägerin nach ihrem Einfahren auf die neue …, aber noch vor den Überholvorgängen, hätte rechts heranfahren und anhalten müssen, um erneut zu einer – jetzt sicheren – Fahrbewegung anzusetzen.
14
Soweit sie auch im Moment des Zusammenstoßes mit dem vom Beklagten zu 1. geführten Fahrzeug unsicher fuhr und das Fahrrad nicht parallel zum Seitenstreifen, sondern in spitzem Winkel in Richtung Fahrbahnmitte lenkte, steht nicht fest, dass sie hierbei die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht ließ. Aufgrund der Ausführungen des Sachverständigen … ist zunächst davon auszugehen, dass die Klägerin im Bereich des rechten (durchgezogenen) Randstreifens der Straße gefahren sein muss; denn dort kam sie zu Fall und blieb liegen. Soweit sie infolge des Überholvorgangs durch den dem Beklagten zu 1. vorausfahrenden Pkw ins Schlingern geraten war, wurde dies durch den Fahrer dieses Fahrzeugs verursacht. Nach den Aussagen der Zeugen steht fest, dass das vorausfahrenden Fahrzeug den seitlichen Sicherheitsabstand zu dem Fahrrad nicht eingehalten hatte und die Klägerin deshalb ins Schlingern geraten war. Dass die Klägerin in dieser Situation In vorwerfbarer Weise falsch reagiert habe, haben die Beklagten schon nicht hinreichend substantiiert vorgetragen. Namentlich im Hinblick darauf, in einer solchen Situation das Rad an den Straßenrand zu lenken und dort gegebenenfalls anzuhalten, kann nach Zeugenaussagen und Aktenlage nicht davon ausgegangen werden, dass der Klägerin hierfür hinreichende Reaktionszeit und Reaktionsmöglichkeiten zur Verfügung standen.
15
4. Da die Berufung keine Aussicht auf Erfolg hat, legt der Senat den Beklagten aus Kostengründen die Rücknahme des Rechtsmittels nahe. Im diesem Falle ermäßigen sich die für das Verfahren anfallenden Kosten von 4,0 auf 2,0 Gebühren (Nr. 12222 KV GKG).
16
Diese Empfehlung gilt umso mehr, als mit der Berufungsrücknahme auch die Anschlussberufung der Klägerin wegfällt. Diese stellt sich derzeit nicht als erfolglos dar.
17
Zwar teilt der Senat die Auffassung der Vorderrichterin, dass ein Schmerzensgeld in Höhe von 6.000 € als angemessen erscheint (OLG Schleswig, Urteil vom 16.08.2019, Az. 11 U 87/16; OLG Hamm, Urteil vom 08.11.2013, Az.9 U 88/13, jeweils Juris). Zudem teilt der Senat die Auffassung der Vorderrichterin, dass der geltend gemachte (weitere) Sachschaden für Bekleidung (BH, Hose, anteilige weitere Kosten für T-Shirt und Top) schon in Ermangelung hinreichenden Vortrags der Klägerin nicht zuzusprechen ist. Hinreichende Belege für die bereits länger zurückliegende Anschaffung des BH und der Hose vermochte die Klägerin nicht vorzulegen; damit ermangelt es an unstreitigen Anknüpfungstatsachen für eine Schadensschätzung durch das Gericht. Hinsichtlich der zugesprochenen Sachschäden sind die von der Vorderrichterin vorgenommenen Abschläge aufgrund des Alters des T-Shirts und des Top nicht zu beanstanden. Ein diesbezüglicher richterlicher Hinweis war neben dem Bestreiten der Beklagten nicht erforderlich (BGH, Urteil vom 20.12.2007, Az. IX ZR 207/05, Juris).
18
Lediglich der Vollständigkeit halber weist der Senat darauf hin, dass die diesbezügliche Schadensberechnung der Klägerin auch im Berufungsverfahren unschlüssig ist. Ausweislich ihres Schriftsatzes vom 02.04.2019 verfolgt die Klägerin im Rahmen ihrer Anschlussberufung die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung eines weiteren Sachschadens in Höhe von 768,22 €. Auf den Krankentransport soll hiervon ein Betrag von 620,52 € entfallen. Aus der Differenz beider Beträge ergibt sich indes nicht der Betrag, den die Klägerin mit Schriftsatz vom 17.06.2019 benennt (142,75 €). Das Ausgangsgericht hat die Beklagten zur Zahlung eines Sachschadens in Höhe von 178,50 € verurteilt; insoweit ist die Klägerin mit einem Betrag von 868,72 € unterlegen. Soweit sie nunmehr weiteren Sachschadens in Höhe von 768,22 € verfolgt, errechnet sich hieraus eine Differenz von 100 €; rechnerisch stellt die Klägerin indes nur einen weiteren Anspruch in Höhe von 80,20 € dar (weiteren Schadenersatz für das T-Shirt in Höhe von 50 €, für das Top in Höhe von 10 €, für den BH in Höhe von10,20 € [Differenz zwischen Klage 32,95 € und Berufung 22,75 €] und für die Hose in Höhe von 10 € [Differenz zwischen Klage 50 € und Berufung 40 €]).
19
Anders stellt sich die Rechtslage allerdings für die geltend gemachten Kosten für den Krankentransport dar. Erstinstanzlich war davon auszugehen, dass die Klägerin versichert ist und sie deshalb Erstattung von ihrer Krankenkasse verlangen konnte. Soweit sie vorgetragen hat, dass eine solche Erstattung eine Selbstbeteiligung ausgelöst bzw. Beitragsrückerstattungen verhindert hätte bzw. hat, jeweils zumindest in dieser Höhe, hat sie hierzu bereits mit Schriftsatz vom 20.06.2017 hinreichend substantiiert vorgetragen, ohne dass dies im Folgenden von dem Beklagten in Abrede gestellt worden wäre. Dementsprechend hätte die Vorderrichterin einen rechtlichen Hinweis erteilen müssen, dass und aus welchen Gründen sie den Vortrag der Klägerin weiterhin für unzureichend oder unbeachtlich hält. Da dieser Hinweis unterblieben ist, ist auch der weitere Vortrag der Klägerin im Berufungsverfahren nicht verspätet. Indes trägt bereits der erstinstanzliche Vortrag eine Verurteilung der Beklagten zur Erstattung der Krankentransportkosten. Lediglich der Vollständigkeit halber weist der Senat allerdings darauf hin, dass der nunmehrige Vortrag der Klägerin zum Teil (v.a. im Hinblick auf die unfallunabhängigen Krankenkosten für die Jahre 2016 und 2017) im Widerspruch zum bisherigen Vortrag steht bzw. erläuterungsbedürftig erscheint (namentlich im Hinblick auf die Beitragsrückerstattungen für das Jahr 2017).
20
Nach derzeitiger Sachlage hätte zudem der geltend gemachten Feststellung entsprochen werden müssen. Die Rechtsprechung geht diesbezüglich davon aus, dass ein Feststellungsinteresse bei der Verletzung eines absoluten Rechtsguts bereits dann besteht, wenn künftige Schadensfolgen (wenn auch nur entfernt) möglich, ihr Eintritt sowie ihre Art und ihr Umfang derzeit aber noch ungewiss sind. Auf eine wie auch immer geartete Wahrscheinlichkeit weiterer Schäden kommt es insoweit nicht an (BGH, Urteil vom 17.10.2017, Az. VI ZR 423/16, Juris). Dementsprechend ist bereits dann von einem Feststellungsinteresse auszugehen, wenn ein Unfallbeteiligter an seiner Gesundheit verletzt worden ist und ihm hieraus bereits materielle und/oder immaterielle Schäden entstanden sind; Vortrag dazu, dass und ggfl. welche körperlichen Einschränkungen, ärztlich Heilbehandlungen und finanzielle Aufwendungen auch künftig entstehen oder bestehen, ist dementsprechend nicht erforderlich; dies jedenfalls solange, wie nicht sicher feststeht, dass die Verletzungen vollständig ausgeheilt sind und Folgeschäden auszuschließen sind. Ob der diesbezügliche Vortrag der Klägerin mit Schriftsatz vom 17.06.2019 verspätet ist, kann deshalb dahinstehen.
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Tenor
1. Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin gegen die Ordnungsverfügung der Antragsgegnerin vom 31. Juli 2020 wird hinsichtlich deren Ziffer II. Nrn. 1 und 2 wiederhergestellt und hinsichtlich deren Ziffer III. angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
2. Der Streitwert wird auf 2.500,- Euro festgesetzt.
1G r ü n d e :
2Der Antrag der Antragstellerin,
3die aufschiebende Wirkung ihrer Klage gegen die Ordnungsverfügung der Antragsgegnerin vom 31. Juli 2020 hinsichtlich deren Ziffer II. Nrn. 1 und 2 wiederherzustellen und hinsichtlich deren Ziffer III. anzuordnen,
4ist zulässig und begründet.
5Das Gericht kann gemäß § 80 Abs. 5 VwGO die aufschiebende Wirkung einer Klage gegen einen belastenden Verwaltungsakt im Fall einer Anordnung der sofortigen Vollziehung gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO wiederherstellen. In Bezug auf Vollstreckungsmaßnahmen wie die Androhung des unmittelbaren Zwangs zu Ziffer III. der angefochtenen Ordnungsverfügung kann es die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen, vgl. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO i. V. m. § 112 JustG NRW. Die Wiederherstellung oder Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO hängt von einer Abwägung der widerstreitenden Interessen an der Suspendierung der angefochtenen Maßnahme einerseits und der Vollziehung des Verwaltungsaktes andererseits ab. Im Rahmen dieser Interessenabwägung kommt es maßgeblich darauf an, ob der angefochtene Verwaltungsakt bei summarischer Prüfung voraussichtlich Bestand haben wird. Ist der Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig, kann an seiner sofortigen Vollziehung kein öffentliches Interesse bestehen. Ist der Verwaltungsakt offensichtlich rechtmäßig und besteht im Fall des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO darüber hinaus ein besonderes öffentliches Interesse an einer sofortigen Vollziehung, muss das private Interesse an dessen Aufschub zurücktreten. Bleibt die Frage der Rechtmäßigkeit des Veraltungsakts bei summarischer Prüfung offen, sind maßgeblich die jeweiligen Folgen in den Blick zu nehmen und gegeneinander abzuwägen, die sich im Falle einer Wiederherstellung bzw. Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage oder der Ablehnung des hierauf gerichteten Antrags ergeben könnten.
6Hiervon ausgehend fällt die Interessenabwägung zu Gunsten der Antragstellerin aus. Die hier angegriffenen Regelungen der Ordnungsverfügung vom 31. Juli 2020 sind weder offensichtlich rechtmäßig noch offensichtlich rechtswidrig. Die weitere Interessenabwägung ergibt ein Überwiegen des Interesses der Antragstellerin an der Suspendierung dieser Regelungen.
7Die Anordnungen zu Ziffer II. der Ordnungsverfügung vom 31. Juli 2020 stützen sich entscheidungstragend auf die Annahme, bei dem Hund „U. “ der Antragstellerin handele es sich um einen American Staffordshire Terrier – Mischling und damit um einen gefährlichen Hund gemäß § 3 Abs. 2 LHundeG NRW. Wenn diese Annahme unzutreffend ist, fehlt es an den Tatbestandsvoraussetzungen für das auf § 12 Abs. 2 Satz 1 und 4 LHundeG NRW gestützte Einschreiten der Antragsgegnerin. Wenn sie richtig ist, hängt die weitere Frage, ob die Haltung des Hundes nach § 12 Abs. 2 Satz 1 LHundeG NRW untersagt werden „soll“, davon ab, ob die Antragsgegnerin zu Recht ein öffentliches Interesse an der weiteren Haltung verneint hat. Nach der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen kann ein solches Interesse in der Vermeidung eines Tierheimaufenthalts bestehen, sofern nicht der Betroffene bei Inobhutnahme des Hundes weiß oder wissen muss, dass es sich um einen gefährlichen Hund im Sinne des § 3 Abs. 2 LHundeG NRW handelt. Hierbei sind wegen der von gefährlichen Hunden ausgehenden Gefahren grundsätzlich hohe Sorgfaltsanforderungen zu stellen, wobei jeweils die Besonderheiten des zugrundeliegenden Falles zu beachten sind.
8Vgl. nur OVG NRW, Beschluss vom 21. Oktober 2019 – 5 B 761/19 –, juris, m. w. N.
9Ob ggf. die Antragstellerin diese Sorgfaltsanforderungen eingehalten hat, erscheint offen und bleibt einer etwaigen Klärung im Hauptsacheverfahren vorbehalten. Das kann insbesondere von genaueren Feststellungen zum Phänotyp des streitgegenständlichen Hundes und weiteren Umständen seines Erwerbs abhängen.
10Ob „U. “ ein gefährlicher Hund im Sinne des § 3 Abs. 2 LHundeG NRW ist, lässt sich bei summarischer Prüfung nicht feststellen. Nach Satz 1 der Vorschrift sind gefährliche Hunde Hunde der Rassen Pittbull Terrier, American Staffordshire Terrier, Staffordshire Bullterrier und Bullterrier und deren Kreuzungen untereinander sowie deren Kreuzungen mit anderen Hunden. Gemäß Satz 2 sind Kreuzungen nach Satz 1 Hunde, bei denen der Phänotyp einer der dort genannten Rassen deutlich hervortritt. Ein deutliches Hervortreten in diesem Sinne kann (nur) dann angenommen werden, wenn ein Hund nach seiner äußeren Erscheinung trotz der erkennbaren Einkreuzung anderer Rassen in markanter und signifikanter Weise die Merkmale einer der in der Vorschrift genannten Rassen zeigt. Die Frage, wann bei einem Hund ein so verstandenes Hervortreten gegeben ist, ist einer rein schematischen Beantwortung nicht zugänglich. Maßgeblich ist vielmehr eine wertende Betrachtung im Einzelfall, die in den Blick nimmt, ob ungeachtet des nicht zu leugnenden Einflusses auch anderer Rassen bestimmte, die in Rede stehende Rasse besonders charakterisierende Merkmale deutlich ausgeprägt sichtbar sind.
11Vgl. OVG NRW, Urteil vom 12. März 2019 – 5 A 1210/17 –, juris.
12Eine phänotypische Beurteilung muss die Grundlage für eine entsprechende Einordnung erkennen lassen. Dabei ist auf den Gesamteindruck abzustellen. Geboten ist eine Gesamtbetrachtung des Erscheinungsbildes des Hundes, namentlich aller für und gegen eine Zuordnung zu einer der o. g. Rassen sprechenden Merkmale.
13Vgl. OVG NRW, a. a. O., ferner Beschluss vom 23. Juli 2020 – 5 B 667/19 –, n. v., vorgehend Beschluss der Kammer vom 2. Mai 2019 – 19 L 292/19 –, ebenfalls n. v.
14Nach diesem Maßstab reicht die phänotypische Beurteilung der Amtlichen Tierärztin Dr. I. vom 26. Juni 2020 nicht aus, um die Annahme, bei „U. “ handele es sich um einen American Staffordshire Terrier „bzw.“ eine Kreuzung mit einem American Staffordshire Terrier, zu tragen. Sie genügt nicht den vorstehenden Anforderungen.
15Bei „U. “ handelt es sich nach den Angaben der Antragstellerin um einen „American Pocket Bully“. Hunde der Züchtung „American Bully“ sind keine eigenständige Rasse im Sinne des Landeshundegesetzes. Darunter fallen nur solche Rassen, die bereits bei Inkrafttreten des Landeshundegesetzes im Jahr 2013 allgemein durch die großen nationalen und internationalen kynologischen Fachverbände anerkannt waren.
16Vgl. OVG NRW, Urteil vom 12. März 2019 – 5 A 1210/17 –, a. a. O.
17Laut Wikipedia ist der „American Bully“ weder von der FCI noch dem Verband für das Deutsche Hundewesen als eigene Hunderasse anerkannt. Der amerikanische United Kennel Club hat zwar einen entsprechenden Rassestandard anerkannt, jedoch erst im Jahr 2013. Der „American Bully“ ist nach der genannten Quelle ein „Hybridhund“, über dessen tatsächliche Abstammung es verschiedene Meinungen gibt. Es wird u. a. vermutet, dass er ursprünglich eine Züchtung aus American Staffordshire Terrier und American Pitbull Terrier war und später Kreuzungen mit verschiedenen Bulldoggenrassen wie American Bulldog, Old English Bulldog, Französische Bulldogge und Englische Bulldogge hinzugekommen sind. Laut
18https://www.zooplus.de/magazin/hund/hunderassen/american-bully
19bringt der „American Bully“ die „typische Bulldoggen-Optik“ aus einem „imposanten Körperbau mit kräftigem Kopf“ mit, hat einen breiten Brustkorb und sieht insgesamt massiger aus als beispielsweise der American Bulldog, mit dem er leicht zu verwechseln sein soll.
20Vor diesem Hintergrund muss die phänotypische Beurteilung eines als „American Bully“ präsentierten Hundes nachvollziehbar erkennen lassen, warum bei der geforderten wertenden Gesamtbetrachtung gerade den Phänotyp des American Staffordshire Terrier besonders charakterisierende Merkmale deutlich ausgeprägt sichtbar sein sollen. Dabei ist namentlich eine substanzielle, nachvollziehbare und schlüssige Abgrenzung zu den genannten Bulldoggenrassen zu fordern.
21Die Beurteilung der Amtlichen Tierärztin vom 26. Juni 2020 leistet dies nicht. Sie erschöpft sich weitgehend in der Beschreibung der Merkmale von „U. “, ohne den Maßstab für die phänotypische Einordnung und die dabei angewandten Erfahrungssätze darzulegen und die bei „U. “ festgestellten Merkmale in der Gesamtheit anhand eines solchen Maßstabs einer bestimmten Rasse zuzuordnen und zu bewerten. Der wertende, die Annahme eines American Staffordshire Terrier „bzw.“ eines American Staffordshire Terrier-Mischlings begründende Teil der Beurteilung beschränkt sich demgegenüber auf einen einzigen Satz. Dieser Satz lässt nicht einmal ansatzweise erkennen, ob geschweige denn wie die Amtliche Tierärztin den Phänotyp des American Staffordshire Terrier von anderen Rassen abgegrenzt hat. Er stellt zudem das Gegenteil einer Gesamtbetrachtung dar. Die Amtliche Tierärztin greift aus der Vielzahl der angeführten Merkmale mit dem „gut gerundeten, prominenten Kaumuskel“ und „sehr muskulösen und kräftigen Körper“ lediglich zwei Merkmale exemplarisch („z.B.“) heraus und würdigt damit das Erscheinungsbild nur rudimentär. Dabei drängt sich auf, dass diese Merkmale eine Abgrenzung zu den anderen beim „American Bully“ in Betracht kommenden Rassen nicht zu leisten vermögen. Insbesondere der „sehr muskulöse und kräftige Körper“ dürfte vielmehr typisch für all diese Rassen sein. Für eine Würdigung etwa des Einwands der Antragstellerin, „U. “ sei für einen reinrassigen American Staffordshire Terrier schon jetzt im noch jugendlichen Alter viel zu schwer, bietet die amtstierärztliche Beurteilung keine Grundlage. Auch die abschließende Feststellung, es handele es sich um einen „American Staffordshire bzw. American Staffordshire-Mischling“, legt in ihrer Unbestimmtheit nahe, dass es an einer hinreichend substanziellen Gesamtwürdigung der phänotypischen Merkmale von „U. “ in Abgrenzung des American Staffordshire Terrier zu anderen Hunderassen fehlt. Dass noch nicht einmal eine Festlegung erfolgt, ob es sich um einen reinrassigen Hund oder eine Kreuzung handeln soll, deutet darauf hin, dass die phänotypische Begutachtung zu oberflächlich vorgenommen wurde. Zudem bestehen Zweifel, inwieweit eine Rassebestimmung im Zeitpunkt der Begutachtung möglich war. Der Kammer ist aus anderen Verfahren mit einschlägiger Thematik bekannt, dass mehrere Behörden und Amtsveterinäre eine zuverlässige Bestimmung des Phänotyps erst ab einem Alter des Hundes von einem Jahr für möglich halten.
22Vgl. auch den OVG NRW, Beschluss vom 21. Oktober 2019 – 5 B 761/19 –, juris, zugrunde liegenden Sachverhalt.
23„U. “ war im Zeitpunkt seiner Begutachtung durch die Amtliche Tierärztin 8 Monate alt. Dass daraus Unsicherheiten der phänotypischen Beurteilung folgen, deutet Frau Dr. I. selbst am Ende ihrer Stellungnahme an, ohne die dort geäußerte Erwartung, dass der Hund „sicher noch an Masse und eventuell ein wenig an Größe zunehmen“ werde, nachvollziehbar einzuordnen.
24Die hiernach veranlasste offene Interessenabwägung unter maßgeblicher Berücksichtigung der Folgen fällt zu Gunsten der Antragstellerin aus. Sollte sich im Falle der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung später die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Regelungen herausstellen, hätte die Antragstellerin den Hund zu Unrecht noch länger ohne Erlaubnis halten können, bevor er an ein Tierheim oder eine andere geeignete Person oder Stelle abzugeben wäre. Würde dagegen die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage abgelehnt und sollten sich die streitgegenständlichen Anordnungen später als rechtswidrig erweisen, bestünde die Gefahr, dass „U. “ zu Unrecht in ein Tierheim hätte verbracht werden müssen. Die damit einhergehende Zerstörung der Bindung des Hundes zur Antragstellerin, die damit verbundene Kostenbelastung und vor allem Gründe des Tierschutzes (Verbleib des Hundes in seiner gewohnten Umgebung) haben gegenüber dem öffentlichen Interesse an einer sofortigen Vollziehung größeres Gewicht. Dabei ist maßgeblich zu berücksichtigen, dass die Antragstellerin „U. “ bislang beanstandungsfrei hält, ohne dass konkrete Gefahren für Rechtsgüter Dritter erkennbar geworden sind.
25Vgl. zu solchen Kriterien der Interessenabwägung OVG NRW, Beschluss vom 11. Juni 2018 – 5 B 222/18 –, juris.
26Die Äußerung der Betreiberin einer Hundeschule, dass „U. “ „problematisch“ sei, da er ängstlich sei, dabei aber nicht zurückweiche, sondern „aggressiv vorwärts“ gehe, ändert daran nichts, zumal die Antragstellerin, soweit ersichtlich, verantwortungsbewusst mit dem Hund umzugehen scheint. So hatte sie dem Hund bei der dem vorliegenden Verfahren zugrunde liegenden Kontrolle gerade wegen seines Verhaltens einen Maulkorb angelegt.
27Aus den vorstehenden Gründen überwiegt das Interesse der Antragstellerin an der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegenüber dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung auch im Hinblick auf die Androhung des unmittelbaren Zwangs zu Ziffer III. der angefochtenen Ordnungsverfügung. Dabei bedarf keiner Vertiefung, dass die Ermessenserwägungen, mit denen die Antragsgegnerin das Zwangsmittel des Zwangsgeldes verworfen hat, kaum tragfähig und mit der Nachrangigkeit des unmittelbaren Zwangs gemäß §§ 58 Abs. 3 Satz 1, 62 Abs. 1 Satz 1 schwer vereinbar sein dürften.
28Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 2 GKG.
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Tenor
Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides des Landesamtes für X. vom 30. Mai 2018 verpflichtet, über die Bewerbung des Klägers auf Zulassung zur Förderphase vor dem Studium zur Laufbahngruppe 2, zweites Einstiegsamt, eine neue Auswahlentscheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu treffen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
1Tatbestand:
2Der Kläger ist Kriminaloberkommissar im Dienste des beklagten Landes.
3Mit Schreiben vom 24. Oktober 2016 beantragte er erfolgreich die Teilnahme am Auswahlverfahren 2017 für die Zulassung zur Förderphase vor dem Studium zur Laufbahngruppe 2, zweites Einstiegsamt (im Folgenden: Auswahlverfahren 2017).
4Dieses bestand gemäß Erlass des (vormals) Ministeriums für Inneres und Kommunales des Landes Nordrhein-Westfalen (MIK) – jetzt Ministerium des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen (IM) – vom 18. Oktober 2016, Az.: 403-27.13.02 (im Folgenden: Erlass vom 18. Oktober 2016), aus drei Verfahrensteilen. Die in den einzelnen Teilen erbrachten Leistungen wurden auf einer Skala, ansteigend von 6 (liegt deutlich unter den Anforderungen) bis 1 (übertrifft die Anforderungen im besonderen Maße) – mit Zwischenstufen von jeweils 0,5 – eingestuft. Jeder Verfahrensteil für sich musste zunächst erfolgreich mit einem Leistungsgrad von 3,0 absolviert werden, um eine Zulassung zum nächsten Verfahrensteil zu erreichen.
5Gemäß Ziffer 4.2 des Erlasses vom 18. Oktober 2016 bestand der erste Verfahrensteil aus einem zweiteiligen PC-Testverfahren; einem Teil zur Überprüfung der intellektuellen Leistungsfähigkeit sowie einem Persönlichkeitsstrukturtest. Es wurde sodann ausschließlich aus den zu einem Leistungsgrad aggregierten Bewertungen des ersten Teils (Überprüfung der intellektuellen Leistungsfähigkeit) eine erste Rangordnungsliste gefertigt.
6Mit Bescheid vom 2. März 2017 teilte das Landesamt für X. (im Folgenden: M. ) dem Kläger mit, dass er im ersten Verfahrensteil einen Leistungsgrad von 6 erreicht habe und deshalb nicht zum zweiten Verfahrensteil zugelassen werde. Daraufhin beantragte der Kläger bei dem erkennenden Gericht unter dem Aktenzeichen 2 L 1490/17 den Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Inhalt, ihn vorläufig zum zweiten Verfahrensteil des Auswahlverfahrens zuzulassen. Mit Beschluss vom 19. April 2017 entschied die Kammer antragsgemäß mit der Begründung, dass der Beklagte mangels Offenlegung der einzelnen Prüfungsfragen und der gegebenen wie auch der erwarteten Antworten seinen Dokumentationspflichten nicht hinreichend Rechnung getragen hätte. Die dagegen eingelegte Beschwerde wurde mit Beschluss des OVG NRW vom 25. April 2017 (Az.: 6 B 480/17) aus den gleichen Gründen zurückgewiesen.
7Der zweite Verfahrensteil bestand entsprechend Ziffer 4.3 des Erlasses vom 18. Oktober 2016 aus einem Assessment-Center, unterteilt in Gruppendiskussion, Rollenspiel, Präsentation/Kurzvortrag und Einzelinterview. Nach dem zweiten Verfahrensteil wurde eine Rangordnungsliste anhand der zu einem Leistungsgrad aggregierten Einzelwerte gefertigt. Die Leistungen der Bewerber während des Assessment-Centers bewertete die Prüfungskommission in den folgenden sechs als „Dimensionen“ bezeichneten Kompetenzen:
8Kompetenz
Kompetenzmerkmale
Prozentuale Gewichtung
Soziale Sensibilität
Einfühlungsvermögen
16
Feedback-Fähigkeit
Kommunikationsfähigkeit (wertschätzende Kommunikation)
Auftreten
Auftreten/Repräsentation
15
Kommunikationsfähigkeit (zielorientierte Kommunikation)
Werteorientierung
Strategisches Denken
Analytische Fähigkeit
20
Fähigkeit zum strategischen Denken
Konfliktfähigkeit/Kontakt
Konfliktfähigkeit
14
Kooperationsfähigkeit
Entscheidungs- und Umsetzungsfähigkeit
Entscheidungs- und Umsetzungsfähigkeit
15
Ergebnisorientierung/Leistungsmotivation
Mitarbeiter-/Teamführungsfähigkeit
Mitarbeiter-/Teamführungsfähigkeit
20
9Mit Bescheid vom 14. Juni 2017 teilte das M. dem Kläger mit, dass er auch den zweiten Verfahrensteil des Auswahlverfahrens nicht bestanden habe, da er einen Leistungsgrad von lediglich 3,5 erreicht habe. Dagegen ersuchte der Kläger unter dem Aktenzeichen 2 L 3078/17 erneut um einstweiligen Rechtsschutz beim erkennenden Gericht. Mit Beschluss vom 12. Juli 2017 verpflichtete die Kammer den Beklagten im Wege der einstweiligen Anordnung antragsgemäß, den Kläger vorläufig auch am dritten Verfahrensteil des Auswahlverfahrens teilnehmen zu lassen. In seinem Beschluss wies die Kammer u.a. darauf hin, dass die dienstliche Beurteilung nicht hinreichend berücksichtigt worden sei, obwohl diese zu den im zweiten Verfahrensteil überprüften Kompetenzen Aussagen treffe. Die dagegen beim OVG NRW eingelegte Beschwerde blieb erfolglos (vgl. den Beschluss vom 3. August 2017, Az.: 6 B 829/17). In den Gründen heißt es, dass die Einbeziehung der dienstlichen Beurteilung in das Auswahlverfahren rechtsfehlerhaft unterblieben sei. Dieser ließen sich verlässliche Aussagen über die Eignung der Bewerber für den Laufbahnaufstieg entnehmen.
10Mit Erlass vom 20. Oktober 2017, Az.: 403-27.13.02 (im Folgenden: Erlass vom 20. Oktober 2017), erließ das IM für das Auswahlverfahren u.a. die folgende Regelung: „Die Beurteilung wird in das Behördenleitervotum einbezogen. Die Behördenleiterin/der Behördenleiter trifft auf der Grundlage der Beurteilung, der aktuellen Leistung, Eignung und Befähigung, der Bewerbungsmotivation sowie dem Persönlichkeitsbild eine grundsätzliche Aussage zur Teilnahme der Bewerberinnen und Bewerber am Auswahlverfahren. […] Zum Merkmal „Leistung" erfolgt ein positives Votum nur, wenn die Bewerberinnen und Bewerber in der letzten dienstlichen Beurteilung mindestens die Gesamtnote „3" (entspricht voll den Anforderungen) erreicht haben und dies auch dem aktuellen Leistungsstand entspricht.
11Der dritte Verfahrensteil bestand aus einem (teil-)strukturierten Interview. Jedes der fünf stimmberechtigten Mitglieder der Auswahlkommission bewertete dabei die Merkmale „Auftreten/Repräsentation“, „Selbstsicherheit“, „Ergebnisorientierung/Leistungsmotivation“ „Kommunikationsfähigkeit“, „Entscheidungs- und Umsetzungsfähigkeit“ „Mitarbeiter- und Teamführungsfähigkeit“, „Fähigkeit zum strategischen Denken“ „Berufsmotivation“ und „Werteorientierung“. Sämtliche Bewertungskriterien flossen mit gleichem Gewicht in das Endergebnis ein. Unter dem 25. September 2017 teilte das M. dem Kläger mit, dass beabsichtigt sei, ihn nicht zur Förderphase zuzulassen, weil er im dritten Verfahrensteil lediglich einen Leistungsgrad von 4,2 erreicht habe. Daraufhin beantragte der Kläger beim erkennenden Gericht den Erlass einer einstweiligen Anordnung, gerichtet auf die vorläufige Zulassung zur Förderphase. Mit Beschluss vom 22. November 2017 (Az.: 2 L 4783/17) entschied die Kammer antragsgemäß, da die Berücksichtigung der dienstlichen Beurteilung gemäß dem Erlass vom 20. Oktober 2017 im Auswahlverfahren nicht auf einer entsprechenden gesetzlichen Grundlage erfolgt sei. Das von dem Beklagten dagegen eingeleitete Beschwerdeverfahren wurde nach übereinstimmender Erledigungserklärung mit Beschluss des OVG NRW vom 30. Januar 2018 eingestellt. Zuvor hatte sich der Beklagte in einem Erörterungstermin vom 5. Januar 2018 bereiterklärt, den Kläger im Falle des Obsiegens im Hauptsacheverfahren in die anstehende bzw. laufende Förderphase aufzunehmen und ihm weder eine erschöpfte Kapazität noch das Überschreiten der Altershöchstgrenze entgegenzuhalten. Außerdem erklärte sich der Beklagte bereit, nach Inkrafttreten der geänderten Verordnung über die Laufbahn der Polizeivollzugsbeamtinnen und Polizeivollzugsbeamten des Landes Nordrhein-Westfalen (Laufbahnverordnung der Polizei - LVOPol) über den Antrag auf Zulassung zur Förderphase unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.
12Mit Bescheid vom 19. März 2018 hob das M. die drei Bescheide über die Mitteilung des Nichtbestehens der jeweiligen Verfahrensteile auf.
13Mit Bescheid vom 30. Mai 2018 teilte das M. dem Kläger nach vorheriger Anhörung mit, dass er am weiteren Auswahlverfahren auch unter Berücksichtigung der, aufgrund des Inkrafttretens der neuen LVOPol am 20. März 2018 und durch den Erlass des IM vom 11. April 2018, Az.: 403-27.13.02 (im Folgenden: Erlass vom 11. April 2018), eingetretenen Änderungen nicht teilnehmen könne. Das Auswahlverfahren bestehe nach wie vor aus drei Verfahrensteilen, die jeweils für sich genommen mindestens mit dem Leistungsgrad von 3,0 absolviert werden müssten. Die dienstliche Beurteilung fließe nunmehr mit einem Gewicht von 50 % in die Bewertung des ersten und zweiten Verfahrensteils ein. Dies erfolge durch Einbeziehung eines für die jeweilige dienstliche Beurteilung ermittelten Leistungswertes. Der Leistungswert sei gemäß der in dem Erlass enthaltenen Tabelle unter Berücksichtigung des statusrechtlichen Amtes aus der Summe der Einzelmerkmale gebildet worden. Auch nach dieser Maßgabe erfülle der Kläger die Voraussetzungen nicht, da er in dem ersten Verfahrensteil den Leistungsgrad 4,3, im zweiten Verfahrensteil den Leistungsgrad 3,1 und im dritten Verfahrensteil den Leistungsgrad 4,2 erreicht hätte.
14Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 19. Juni 2018 Klage erhoben. Zur Begründung trägt er unter anderem Folgendes vor: Die Nichtzulassung zur Förderphase vor dem Studium zur Laufbahngruppe 2, zweites Einstiegsamt sei rechtswidrig, weil das Auswahlverfahren den rechtlichen Anforderungen nicht genüge. Das Nichtbestehen des ersten Verfahrensteils könne ihm bereits deswegen nicht entgegengehalten werden, weil der Beklagte sich nach wie vor weigere, die entsprechenden Prüfungsunterlagen vorzulegen. Zudem leide das gesamte Verfahren an einer unzureichenden Einbeziehung der dienstlichen Beurteilung. Das Gesamturteil der dienstlichen Beurteilungen bleibe vollkommen unberücksichtigt. Zudem werde an den im Auswahlverfahren überprüften Kompetenzen deutlich, dass die dienstliche Beurteilung von Beamten des Laufbahnabschnitts II eine hinreichende Entscheidungsgrundlage für die Auswahl unter den Bewerbern für den Aufstieg in den Laufbahnabschnitt III biete. Denn diese beinhalte ebenfalls Aussagen über die im Auswahlverfahren überprüften Kompetenzen. Schließlich führe die Nichtberücksichtigung der dienstlichen Beurteilung im dritten Verfahrensteil dazu, dass die eigentliche Auswahlentscheidung rechtswidriger Weise gänzlich losgelöst von dieser Entscheidungsgrundlage getroffen werde. Dies könne zu dem inakzeptablen Ergebnis führen, dass ein Beamter, der eine Beurteilung mit der Höchstpunktzahl und die ersten beiden Verfahrensabschnitte mit Bestnoten abschließe, nicht zur Förderphase zugelassen werde, wenn er im dritten Verfahrensteil lediglich einen Wert von 3,1 erreiche.
15Der Kläger beantragt schriftsätzlich,
16den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides des Landesamtes für X. vom 30. Mai 2018 zu verpflichten, über seine Bewerbung auf Zulassung zur Förderphase vor dem Studium zur Laufbahngruppe 2, zweites Einstiegsamt, eine neue Auswahlentscheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu treffen.
17Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,
18die Klage abzuweisen.
19Zur Begründung führt er aus: Die Vorlage der Unterlagen des ersten Verfahrensabschnittes widersprächen einem berechtigten Geheimhaltungsinteresse. Dies könne allenfalls in einem In-Camera-Verfahren erfolgen. Zudem werde die dienstliche Beurteilung im Auswahlverfahren hinreichend berücksichtigt. Sie fließe an vier Stellen in die Auswahlentscheidung ein. An erster Stelle finde sie im Rahmen des Behördenleitervotums Berücksichtigung. Die Grundlagen des Votums seien in den Erlassen des IM vom 20. Oktober 2017 und vom 11. April 2018 detailliert geregelt worden. Dabei fänden sowohl das Gesamtergebnis als auch die Einzelmerkmale Berücksichtigung. Zudem fließe die dienstliche Beurteilung in den Verfahrensteilen 1 und 2 jeweils zu 50 % in die Auswahlentscheidung ein. Insgesamt werde die dienstliche Beurteilung in den drei Verfahrensteilen dadurch mit einem Gewicht von 33,33 % berücksichtigt. Es treffe im Übrigen nicht zu, dass über die im Auswahlverfahren überprüften Kompetenzen bereits hinreichende Aussagen in den dienstlichen Beurteilungen enthalten seien. Da der Laufbahnabschnitt III Aufgaben beinhalte, die grundlegende Unterschiede zu jenen des Laufbahnabschnitts II aufwiesen, könne die Bewertung der Kompetenzen nicht übertragen werden. Die im Auswahlverfahren überprüften einzelnen Kompetenzen würden in der dienstlichen Beurteilung zudem lediglich gebündelt berücksichtigt. Beispielsweise finde sich die Dimension „Analytische Fähigkeit“ unter dem Einzelmerkmal „Arbeitsweise“ wieder, welches jedoch zusätzlich drei weitere Bereiche beinhalte. Demzufolge könne der Bewertung des Merkmals „Arbeitsweise“ in der dienstlichen Beurteilung – anders als im Auswahlverfahren – keine eindeutige Aussage hinsichtlich des geforderten Merkmals „Analytische Fähigkeit“ entnommen werden. Das Merkmal „strategisches Denken“ werde in der dienstlichen Beurteilung in den Unterpunkten der Einzelmerkmale schon gar nicht aufgeführt. Die Dimensionen „Werteorientierung“, „Einfühlungsvermögen“ und „Konfliktfähigkeit“ gehörten nicht zu dem Einzelmerkmal „Soziale Kompetenz“ und die Dimension „Feedbackfähigkeit“ nicht zu dem Einzelmerkmal „Veränderungskompetenz“.
20Mit Schriftsätzen vom 8. September 2020 haben die Beteiligten ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.
21Entscheidungsgründe:
22Das Gericht konnte gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne die Durchführung einer mündlichen Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklärt haben.
23Die Klage hat Erfolg.
24Sie ist zulässig und begründet.
25Der Bescheid des Beklagten vom 30. Mai 2018 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 5 Sätze 1 und 2 VwGO. Der Kläger hat einen Anspruch auf eine erneute Entscheidung über seine Bewerbung auf Zulassung zur Förderphase vor dem Studium zur Laufbahngruppe 2, zweites Einstiegsamt.
26Gemäß § 19 Satz 1 der im maßgeblichen Zeitpunkt der Auswahlentscheidung geltenden Verordnung über die Laufbahn der Polizeivollzugsbeamtinnen und Polizeivollzugsbeamten des Landes Nordrhein-Westfalen vom 20. März 2018, GV.NRW. S. 179, (LVOPol) können Beamte zur Ausbildung für den Laufbahnabschnitt III des Polizeivollzugsdienstes zugelassen werden, die die Ausbildung an der Fachhochschule abgeleistet haben, wenn sie sich nach der II. Fachprüfung in dreijähriger Dienstzeit nach Eignung, Leistung und Befähigung besonders bewährt haben (Nr. 1), die Leiterin oder der Leiter der Behörde eine Teilnahme am Auswahlverfahren befürwortet, weil sie unter Berücksichtigung ihrer Persönlichkeit sowie ihrer Eignung, Leistung und Befähigung für den Laufbahnabschnitt III des Polizeivollzugsdienstes geeignet erscheinen (Nr. 2), die Voraussetzungen des § 109 Absatz 2a des Landesbeamtengesetzes erfüllen (Nr. 3) und am Auswahlverfahren (§ 20 LVOPol) erfolgreich teilgenommen haben (Nr. 4). Das Nähere regelt gemäß § 19 Satz 2 LVOPol das für Inneres zuständige Ministerium.
27Nach § 20 Abs. 3 LVOPol dient das mehrstufig durchzuführende Auswahlverfahren der Feststellung, inwieweit die Bewerber für eine Zulassung zur Ausbildung für den Laufbahnabschnitt III geeignet sind (Satz 1). Hierbei findet die aktuelle dienstliche Beurteilung Berücksichtigung (Satz 2). Das Nähere regelt das für Inneres zuständige Ministerium (Satz 3).
28Die unter Geltung dieser Vorgaben getroffene Auswahlentscheidung mit dem Ergebnis, den Kläger nicht zur Förderphase für die Ausbildung für den Laufbahnabschnitt III des Polizeivollzugsdienstes zuzulassen, ist rechtsfehlerhaft. Die Ausgestaltung des nach §§ 19 Satz 1 Nr. 4, 20 Abs. 3 LVOPol durchzuführenden Auswahlverfahrens genügt nicht den an eine Auswahlentscheidung unter Aufstiegsbewerbern zu stellenden rechtlichen Anforderungen.
29Für Auswahlentscheidungen unter Aufstiegsbewerbern gelten die folgenden Grundsätze:
30Dem Dienstherrn ist eine verwaltungsgerichtlich nur beschränkt nachprüfbare Beurteilungsermächtigung für die Frage eingeräumt, ob und gegebenenfalls in welchem Maße ein Beamter die über die Anforderungen der bisherigen Laufbahn wesentlich hinausgehende Eignung für den Aufstieg besitzt bzw. erwarten lässt, ferner eine Ermessensermächtigung hinsichtlich der Frage, wie viele und welche der als geeignet erscheinenden Beamten zum Aufstieg zugelassen werden. Die verwaltungsgerichtliche Nachprüfung beschränkt sich insoweit darauf, ob die Verwaltung den anzuwendenden Begriff oder den gesetzlichen Rahmen, in dem sie sich frei bewegen kann, verkannt hat oder ob sie von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen ist, allgemein gültige Wertmaßstäbe nicht beachtet, sachfremde Erwägungen angestellt oder gegen Verfahrensvorschriften verstoßen hat. Sind Richtlinien erlassen, so kontrolliert das Gericht auch, ob diese eingehalten worden sind, ob sie sich im Rahmen der gesetzlichen Ermächtigung halten und auch sonst mit den gesetzlichen Vorschriften in Einklang stehen.
31Vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Beschluss vom 23. Februar 2017 - 1 WB 2.16 -, juris, Rn. 45; Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), Beschluss vom 3. August 2017 – 6 B 828/17 –, juris, Rn. 20; Bayrischer Verwaltungsgerichtshof (Bay. VGH), Beschluss vom 16. April 2015 - 3 CE 15.815 -, juris, Rn. 41.
32Zu den rechtlichen Bindungen, denen der Dienstherr dabei unterworfen ist, gehört insbesondere diejenige gemäß Art. 33 Abs. 2 GG, wonach jeder Deutsche nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amte hat. Diese Vorschrift beansprucht Geltung bereits für den Zugang zu einer Ausbildung, deren erfolgreicher Abschluss erst die Voraussetzung für den Laufbahnaufstieg ist, auch wenn die Zulassung zur Ausbildung für den Laufbahnaufstieg kein öffentliches Amt verleiht und nicht über eine Beförderung entscheidet. In der Sache kommt sie aber einer vorweggenommenen Beförderungsentscheidung nahe, weil sie wie die Vergabe eines Beförderungsdienstpostens zur Erprobung eine notwendige Voraussetzung einer nachfolgenden Beförderung darstellt. Bereits das Auswahlverfahren für die Zulassung zur Ausbildungsqualifizierung muss daher als leistungsbezogene Vorentscheidung dem Leistungsgrundsatz genügen. Dies gilt sowohl für die individuelle Feststellung der Qualifikation der Bewerber als auch für die Festlegung einer Rangfolge unter mehreren geeigneten Beamten.
33Vgl. Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss vom 10. Dezember 2008 - 2 BvR 2571/07 -, juris, Rn. 10; BVerwG, Beschluss vom 23. Februar 2017 - 1 WB 2.16 -, juris, Rn. 26, und Urteil vom 26. September 2012 - 2 C 74.10 -, juris, Rn. 18; OVG NRW, Beschlüsse vom 5. November 2007 ‑ 6 A 1249/06 -, juris, Rn. 5 und vom 3. August 2017 – 6 B 829/17 –, juris, Rn. 25; Bay. VGH, Beschluss vom 16. April 2015 - 3 CE 15.815 -, juris, Rn. 50.
34Der Beamte hat einen Anspruch darauf, dass der Dienstherr das ihm bei der Entscheidung über die Bewerbung zu Gebote stehende Auswahlermessen fehlerfrei ausübt (Bewerbungsverfahrensanspruch). Er kann insbesondere verlangen, dass die Auswahl - auch für die Ausbildung zum Laufbahnaufstieg - nur nach den Kriterien der Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung getroffen wird. Das verlangt im Grundsatz die Berücksichtigung der dienstlichen Beurteilungen der Bewerber, die jedenfalls nicht vollständig außer Betracht gelassen werden dürfen. Dabei verschafft die gleiche Beurteilungsnote in einem höheren Statusamt im Allgemeinen einen Qualifikationsvorsprung, weil an den Inhaber eines höheren Statusamts höhere Leistungsanforderungen gestellt werden.
35Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 5. November 2007 - 6 A 1249/06 -, juris, Rn. 6 und vom 3. August 2017 – 6 B 829/17 –, juris, Rn. 27; Bay. VGH, Beschluss vom 16. April 2015 ‑ 3 CE 15.815 -, juris, Rn. 51 f.; Sächsisches Oberverwaltungsgericht (Sächs. OVG), Beschluss vom 25. September 2013 - 2 B 436/13 -, juris, Rn. 14.
36Obwohl sich ein Vergleich aussagekräftiger und hinreichend aktueller dienstlicher Beurteilungen als Grundlage einer Auswahlentscheidung eignet, ist der Dienstherr verfassungsrechtlich nicht gezwungen, die Auswahlentscheidung allein nach Aktenlage zu treffen. Anhand welcher Mittel die Behörden die Eignung, Befähigung und fachliche Leistung der Bewerber feststellen, ist durch Art. 33 Abs. 2 GG nicht im Einzelnen festgelegt; das Bestenausleseprinzip gibt also nicht vor, auf welche Weise die Qualifikationsfeststellung zu erfolgen hat. Hinsichtlich der Frage, inwieweit der Dienstherr mögliche weitere anerkannte Auswahlinstrumente wie strukturierte Auswahlgespräche, Assessment-Center-Verfahren und Intelligenz- sowie Persönlichkeitsstrukturtests ergänzend zur dienstlichen Beurteilung heranzieht und wie er diese gewichtet, kommt ihm vielmehr ein Beurteilungsspielraum zu.
37Vgl. BVerfG, Beschluss vom 11. Mai 2011 - 2 BvR 764/11 -, IÖD 2011, 218 = juris, Rn. 12; OVG NRW, Urteil vom 21. Juni 2012 - 6 A 1991/11 -, juris, Rn. 87 und Beschluss vom 3. August 2017 ‑ 6 B 829/17 –, juris, Rn. 29; Sächs. OVG, Beschluss vom 25. September 2013 - 2 B 436/13 -, juris, Rn. 15; zur Heranziehung solcher Instrumente nunmehr auch § 2 Sätze 2, 3 LVO NRW.
38Für die streitgegenständliche Zulassung zur Förderphase vor der Ausbildung für den Laufbahnabschnitt III hat der 6. Senat des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein‑Westfalen in seinem Beschluss gleichen Rubrums vom 3. August 2017
39– 6 B 829/17 –, juris, Rn. 31 – 35
40konkretisierend Folgendes ausgeführt:
41„Soweit die Rechtsprechung im Hinblick auf Auswahlentscheidungen, die Beförderungen oder an den Grundsätzen der Bestenauslese orientierte Dienstpostenübertragungen betreffen, postuliert, dienstlichen Beurteilungen komme insoweit das ausschlaggebende Gewicht zu,
42vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 19. Dezember 2014 - 2 VR 1.14 -, IÖD 2015, 38 = juris, Rn. 20 ff., und vom 20. Juni 2013 - 2 VR 1.13 -, BVerwGE 147, 20 = juris, Rn. 21 ff.,
43gilt das für die Zulassung zur Ausbildung für den Laufbahnabschnitt III, mithin für den Aufstieg vom Laufbahnabschnitt II in den Laufbahnabschnitt III, nicht. Denn während die durch dienstliche Beurteilungen getroffenen Bewertungen grundsätzlich aussagekräftig sind, wenn und weil ein Beamter nach seiner Beförderung in derselben Laufbahn bleibt, in der er die geforderten Fertigkeiten - wenn auch bezogen auf ein niedrigeres Statusamt - bereits unter Beweis gestellt hat, bringen der Aufstieg in die nächsthöhere Laufbahn bzw. den nächsthöheren Laufbahnabschnitt und nicht zuletzt auch die insoweit zu absolvierende Ausbildung regelmäßig grundlegend andere Anforderungen mit sich. In diesem Fall ist eine Einschätzung des Verordnungsgebers, die aus dienstlichen Beurteilungen zu gewinnende Eignungsaussage sei insoweit durch weitere gleichrangige Auswahlinstrumente zu ergänzen, die zum Vorliegen der erforderlichen Kompetenzen Aussagen zu treffen geeignet sind, aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.
44Vgl. OVG NRW, Urteil vom 21. Juni 2012 - 6 A 1991/11 - a. a. O., Rn. 92 ff. (für das Eignungsfeststellungsverfahren bei Schulleiterstellen); Sächs. OVG, Beschluss vom 25. September 2013 ‑ 2 B 436/13 -, juris, Rn. 15; OVG S.-A., Beschluss vom 2. April 2010 - 1 M 74/10 -, juris, Rn. 19.
45Diesen Auswahlinstrumenten kann bei entsprechender sachlicher Rechtfertigung im Einzelfall auch überwiegendes Gewicht zukommen.“ (Hervorhebung nur hier)
46Diesen Anforderungen wird das streitgegenständliche, in drei Verfahrensabschnitte untergliederte, Auswahlverfahren nicht gerecht.
47Die dienstliche Beurteilung wurde in dem ersten und zweiten Verfahrensteil zu 50 % und im dritten Verfahrensabschnitt zu 0 % berücksichtigt. Bei einer Gesamtbetrachtung aller drei Verfahrensabschnitte erlangte die dienstliche Beurteilung damit eine Gewichtung von 33,33 %.
48Diese gleichwertige bzw. bei einer Gesamtbetrachtung überwiegende Einbeziehung der zusätzlichen Auswahlinstrumente in die Auswahlentscheidung ist mit den oben dargestellten Maßstäben nicht in Einklang zu bringen. Denn die im streitgegenständlichen Auswahlverfahren neben der dienstlichen Beurteilung herangezogenen Auswahlinstrumente sind ganz überwiegend nicht geeignet, Aussagen zum Vorliegen von grundlegend anderen Anforderungen zu treffen, als jenen, die bereits in der dienstlichen Beurteilung bewertet worden sind.
49Dabei kann die in der obergerichtlichen Rechtsprechung unterschiedlich beantwortete Frage, ob – bei entsprechender sachlicher Rechtfertigung – eine vorrangige Einbeziehung zusätzlicher Auswahlinstrumente in das Aufstiegsauswahlverfahren überhaupt rechtlich zulässig ist, offen bleiben.
50So OVG NRW, Beschluss vom 3. August 2017 – 6 B 828/17 –, juris, Rn. 32; a.A. wohl OVG NRW, Beschluss vom 11. Dezember 2017 – 1 B 1395/17 –, juris, Rn. 19 (wohl nur gleichrangig); noch zurückhaltender Sächs. OVG, Beschluss vom 25. September 2013 - 2 B 436/13 -, juris, Rn. 15 (Ergebnisse von Prüfungen, Tests und Bewerbungsgesprächen dürfen nur ergänzend neben den dienstlichen Beurteilungen herangezogen werden), OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 26. April 2010 - 1 M 74/10 -, juris, Rn. 19 (das Ergebnis von Testverfahren darf nur neben etwaigen dienstlichen Beurteilungen, Berichten, Prüfungsergebnissen u. a. als Beitrag zu dem umfassenden Eignungsurteil verwertet werden), und Bay. VGH, Beschluss vom 16. April 2015 - 3 CE 15.815 -, juris, Rn. 51 f. (Maßgeblichkeit der dienstlichen Beurteilungen "in erster Linie").
51Denn bereits eine gleichrangige Berücksichtigung der im streitgegenständlichen Auswahlverfahren herangezogenen Auswahlinstrumente ist nicht sachlich zu rechtfertigen.
52Die sachliche Rechtfertigung für die gleichrangige Berücksichtigung zusätzlicher Auswahlinstrumente neben der dienstlichen Beurteilung ergibt sich – wie dargestellt – aus der – grundsätzlich anzunehmenden – begrenzten Aussagekraft Letzterer für die aufstiegsbezogene Eignungsprognose. Dienstliche Beurteilungen bewerten die im innegehabten Statusamt gezeigten Leistungen des Beamten und schätzen dessen Eignung und Befähigung für dieses und/oder das nächsthöhere Statusamt der Laufbahn ein. Sie treffen mithin regelmäßig keine (explizite) Aussage über die Eignung des Beamten, Aufgaben der nächsthöheren Laufbahn wahrzunehmen und damit grundsätzlich höheren, seiner bisherigen Laufbahn fremden Anforderungen gerecht zu werden. Vor diesem Hintergrund ist es nicht zu beanstanden, wenn der Dienstherr sein Ziel, in Bezug auf die Aufstiegsbewerber zu verlässlichen Eignungsaussagen zu kommen, dadurch verfolgt, dass er gleichrangig neben den dienstlichen Beurteilungen auf andere, insoweit (besonders) geeignete Auswahlinstrumente zurückgreift.
53OVG NRW, Beschluss vom 11. Dezember 2017 – 1 B 1395/17 –, juris, Rn. 15 ff.
54Hingegen fehlt es regelmäßig an einer sachlichen Rechtfertigung für die gleichrangige Berücksichtigung zusätzlicher Auswahlinstrumente, wenn diese überwiegend Erkenntnisse hinsichtlich solcher Kompetenzen abbilden, über die bereits die dienstliche Beurteilung aussagekräftig Auskunft gibt. Denn dienstliche Beurteilungen treffen regelmäßig eine validere Aussage über das tatsächliche berufliche Leistungsbild als Intelligenztests, strukturierte Auswahlgespräche, Assessment-Center-Verfahren und ähnliche Verfahren. Bei Letzteren entsteht in der Regel nur eine Momentaufnahme, die nur einen Teil der Anforderungen des neuen Amtes abdeckt und in ihrem Ergebnis auch von der Tagesform sowie der (Prüfungs-)Stressresistenz des Bewerbers abhängig ist. Bewerber, die Prüfungssituationen und Zeitdruck gut tolerieren, sind dabei bevorteilt. Aufgrund dieser Gegebenheiten kommt solchen Eignungsfeststellungsverfahren nur beschränkte Aussagekraft für die Frage zu, ob ein Kandidat den Anforderungen des angestrebten Amtes genügen wird.
55Vgl. zu Letzterem OVG NRW, Urteil vom 21. Juni 2012 - 6 A 1991/11 -, juris, Rn. 95; Beschlüsse vom 5. November 2007 - 6 A 1249/06 -, juris, Rn. 13 und vom 3. August 2017 – 6 B 829/17 –, juris, Rn. 45.
56Im vorliegenden Fall sind mit den Kompetenzen „Soziale Sensibilität“, „Auftreten“, „Strategisches Denken“, „Konfliktfähigkeit/Kontakt“, „Entscheidungs- und Umsetzungsfähigkeit“ im zweiten und auch im dritten Verfahrensteil überwiegend Kompetenzen überprüft worden, die bereits in der dienstlichen Beurteilung abgebildet werden. Insoweit hat bereits der 6. Senat des OVG NRW in seinem Beschluss gleichen Rubrums vom 3. August 2017,
57- 6 B 829/17 –, juris, Rn. 43 – 45,
58ausgeführt:
59„Dem Einwand, den dienstlichen Beurteilungen seien keine verlässlichen Aussagen für die Eignung der Bewerber für den Laufbahnaufstieg zu entnehmen, folgt der Senat nicht. Hierfür reicht das Vorbringen nicht aus, die Wahrnehmung der Aufgaben, die Angehörigen der 2. Laufbahngruppe, 2. Einstiegsamt, regelmäßig übertragen würden, setze in deutlich höherem Maß als in der 2. Laufbahngruppe, 1. Einstiegsamt, Mitarbeiterführungsfähigkeit und eigenständige analytische Fähigkeit voraus. Dienstliche Beurteilungen beruhen regelmäßig auf Beobachtungen während einer längeren persönlichen Zusammenarbeit. Regelbeurteilungen erfassen im Bereich der Polizei des Landes Nordrhein-Westfalen nach den einschlägigen Beurteilungsrichtlinien, Runderlass des Ministeriums für Inneres und Kommunales vom 29. Februar 2016 - 403.26.00.05 -, MBl. NRW. 2016 S. 226 - im Folgenden: BRL Pol -, einen Zeitraum von drei Jahren (vgl. Ziffer 3.1). Sie verhalten sich nach Ziffer 6.1 unter anderem zu den Aspekten Arbeitsorganisation (Planung und zielgerichtete Ausrichtung von Arbeitsabläufen, Prioritäten berücksichtigen, Effizienz), Arbeitseinsatz (Initiative und Selbständigkeit, Ausdauer und Belastbarkeit), Arbeitsweise (Analytische Fähigkeit, Entscheidungsfreude, Urteilsfähigkeit), Leistungsgüte, Veränderungskompetenz (Bereitschaft, sich neuen Anforderungen zu stellen, aktive und passive Kritikfähigkeit, Bereitschaft zum lebenslangen Lernen) sowie Soziale Kompetenz (Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen sowie Vorgesetzten, Wertschätzung und Teamfähigkeit, Verantwortungsbereitschaft und Zuverlässigkeit). Die Beurteilungen äußern sich nach Ziffer 7 BRL Pol ausdrücklich auch zu Gesichtspunkten, die für die berufliche Entwicklung von Bedeutung sind. Ihnen können demnach durchaus Aussagen etwa zu den Kriterien (in der Terminologie des Antragsgegners: "Dimensionen") soziale Sensibilität, Auftreten, strategisches Denken, Konfliktfähigkeit/Kontakt und Entscheidungs- /Um-setzungsfähigkeit zu entnehmen sein, Aspekten also, die für die streitgegenständliche Zulassungsentscheidung nach dem Vortrag des Antragsgegners bedeutsam sind.
60Zur Validität von Vorgesetztenbeurteilungen allgemein auch Günther DÖD 2016, 117 (120, 125).
61Intelligenztests, strukturierte Auswahlgespräche, Assessment-Center-Verfahren und ähnliche Verfahren stellen demgegenüber stets nur eine Momentaufnahme in einer Prüfungssituation dar und bevorzugen diejenigen, die mit solchen Situationen gut umgehen und die Erwartungen der Gutachter- bzw. Beobachterseite leicht erfassen können.“
62Vgl. dazu auch bereits den Beschluss der Kammer vom 12. Juli 2017 – 2 L 3078/17 –, juris, Rn. 24.
63Lediglich hinsichtlich des Merkmals „Mitarbeiter-/Teamführungsfähigkeit“ ließe sich anführen, dass die dienstlichen Beurteilungen der in Rede stehenden Statusämter des Laufbahnabschnitts II hierzu überwiegend keine Aussage treffen. Finden sich damit aber fünf der im zweiten Verfahrensabschnitt zu beurteilenden sechs Dimensionen bereits in der dienstlichen Beurteilung wieder, widerspricht es nach oben dargestellten Grundsätzen dem Leistungsgrundsatz, einer punktuellen Momentaufnahme in einer Prüfungssituation gleiches oder gar überwiegendes Gewicht für die Auswahlentscheidung beizumessen.
64Soweit der Beklagte dagegen einwendet, die dienstliche Beurteilung enthalte Aussagen zu den Kompetenzen lediglich bezogen auf den Aufgabenbereich der Laufbahngruppe 2, 1. Einstiegsamt und sei daher nicht aussagekräftig bezogen auf den weitaus komplexeren Aufgabenbereich der Laufbahngruppe 2, 2. Einstiegsamt, dringt er damit nicht durch.
65Vgl. hierzu bereits den Beschluss der Kammer vom 12. Juli 2017 – 2 L 3078/17 –, juris, Rn. 24.
66Es erschließt sich nicht, inwieweit ein unterschiedlicher Aufgabenbereich dazu führen soll, dass bspw. die Bewertung des Merkmals „Soziale Kompetenz“ (Zusammenarbeit mit Kollegen, Zusammenarbeit mit Vorgesetzten, Wertschätzung und Teamfähigkeit, Verantwortungsbereitschaft und Zuverlässigkeit, Umgang mit Bürgerinnen und Bürgern) an Aussagekraft verliert. Auch in einer höheren Laufbahn stellt sich die jeweilige Kompetenz als solche nicht grundlegend unterschiedlich dar. Zudem ist zu erwarten, dass ein Beamter, der sich in der Laufbahngruppe 2, erstes Einstiegsamt als überdurchschnittlich sozialkompetent bewiesen hat, auch in der Laufbahngruppe 2, zweites Einstiegsamt in diesem Merkmal eher hervortun wird, als ein Bewerber, der sich in der Laufbahngruppe 2, erstes Einstiegsamt in diesem Kompetenzbereich unterdurchschnittlich gezeigt hat. Dagegen kann der Beklagte auch nicht mit Erfolg einwenden, dass gemäß dem durch Erlass des IM vom 11. November 2004 – 45.2 – 341/0 vorgegebenen Kompetenzkatalog hinsichtlich der jeweiligen Kompetenzen bezogen auf die Laufbahngruppe 2, zweites Einstiegsamt erweiterte Fähigkeiten erwartet würden (4. Ebene), die bei der Beurteilung eines Beamten der Laufbahn 2, 1. Einstiegsamt nicht bewertet würden. Letzteres mag zwar zutreffen, führt jedoch nicht dazu, dass sich daraus keine Rückschlüsse auf die zu erwartende Aufgabenerfüllung im höheren Laufbahnabschnitt ableiten ließen. Denn die in dem Kompetenzkatalog auf der vierten Ebene beschriebenen Anforderungen stehen, wie das Beispiel „Analytische Fähigkeit“ zeigt, nicht etwa selbständig daneben, sondern bauen auf den ersten drei Ebenen auf:
67681. Ebene (Sachbearbeiter): kann Sachverhalte erfassen und wesentlicher von unwesentlichen Informationen unterscheiden
692. Ebene (Sachbearbeiter): kann Sachverhalte und deren Zusammenhänge zutreffend bewerten und die erforderlichen Schlüsse ziehen
703. Ebene (Führung geh. Dienst): erfasst schwierige Zusammenhänge und berücksichtigt dabei die Relevanz von Informationen aus anderen Gebieten
714. Ebene (Führung höherer Dienst): entwickelt Strukturen zur Bearbeitung komplexer Sachverhalte und sorgt für Transparenz
72Einem Beamten, der Sachverhalte und deren Zusammenhänge besser zutreffend bewerten und die erforderlichen Schlüsse ziehen kann (2. Ebene) wird es aller Voraussicht nach leichter fallen, schwierige Zusammenhänge zu erfassen und dabei die Relevanz von Informationen aus anderen Gebieten zu berücksichtigen (3. Ebene) als einem Beamten, der bereits bei der Erfassung leichterer Sachverhalte schlechter abgeschnitten hat. Das Entwickeln von Strukturen zur Bearbeitung komplexer Sachverhalte (4. Ebene) wird wiederum aller Voraussicht nach demjenigen Beamten leichter fallen, der besser schwierige Zusammenhänge erfassen und dabei die Relevanz von Informationen aus anderen Gebieten berücksichtigen kann (3. Ebene).
73Auch das Argument der Beklagtenseite, die dienstliche Beurteilung bilde die einzelnen, für den Laufbahnabschnitt III für erforderlich gehaltenen Kompetenzen nicht eindeutig ab, verfängt nicht. Zum einen erfolgte auch im Auswahlverfahren ausweislich der Bewertungsbögen eine Bündelung verschiedener Einzelkompetenzen in den jeweils nur mit einer einheitlichen Bewertungsnote zu versehenden „Dimensionen“. Das seitens des Beklagten benannte Beispiel der Kompetenz „Analytische Fähigkeit“ ist gemeinsam mit der Kompetenz „Fähigkeit zum strategischen Denken“ unter der Kompetenz „Strategisches Denken“ zusammengefasst. Es erschließt sich nicht, welche Konzeption der Beklagte bei der Ermittlung der Fähigkeiten der Bewerber verfolgt, wenn er in der Klageerwiderung die Wichtigkeit der expliziten Abbildung der Kompetenz „Analytische Fähigkeit“ herausstellt, dieser Maßgabe aber selbst nicht gerecht wird. Überdies lässt sich die Aussagekraft der dienstlichen Beurteilung nicht mit dem Argument der Bündelung einzelner Kompetenzen in Frage stellen, wenn nahezu sämtliche in den Einzelmerkmalen gebündelten „Einzelkompetenzen“ ihrem Sinngehalt nach im Auswahlverfahren überprüft und jeweils mit erheblichem Gewicht in die Bewertung eingestellt werden. Dies gilt insbesondere für das Einzelmerkmal 7, „Soziale Kompetenz“. Dieses setzt sich gemäß Ziffer 6.1.7 BRL Pol zusammen aus den Einzelkompetenzen „Zusammenarbeit mit Kollegen“, „Zusammenarbeit mit Vorgesetzten“, „Wertschätzung und Teamfähigkeit“, „Verantwortungsbereitschaft und Zuverlässigkeit“ und „Umgang mit Bürgerinnen und Bürgern“. Diese Einzelkompetenzen finden sich in den Dimensionen „Konfliktfähigkeit/Kontakt“ und „Soziale Sensibilität“ nahezu vollständig wieder, die mit einem Gewicht von jeweils 14 und 16 % (insgesamt 30 %) in die Bewertung eingestellt worden sind. Dabei lassen sich die Einzelkompetenzen „Zusammenarbeit mit Kollegen“ und „Zusammenarbeit mit Vorgesetzten“ der Dimension „Konfliktfähigkeit/Kontakt“ (untergliedert in Konfliktfähigkeit und Kooperationsfähigkeit) zuordnen. Die Einzelkompetenzen „Wertschätzung und Teamfähigkeit“ und „Umgang mit Bürgerinnen und Bürgern“ finden sich in der Dimension „Soziale Sensibilität“ (wertschätzende Kommunikation bzw. Einfühlungsvermögen) wieder. Gleichzeitig wird die Einzelkompetenz „Umgang mit Bürgerinnen und Bürgern“ in der Dimension „Auftreten“ (Auftreten/Repräsentation, Kommunikationsfähigkeit und Werteorientierung) abgebildet, die wiederum mit einem Gewicht von 15 % in die Gesamtbewertung eingeflossen ist. Das Beispiel zeigt, dass dem Einzelmerkmal „Soziale Kompetenz“ mit nahezu sämtlichen darin gebündelten Einzelkompetenzen im gegenständlichen Auswahlverfahren eine erhebliche Bedeutung beigemessen worden ist. Soweit der Beklagte darauf hinweist, die Dimensionen „Werteorientierung“, „Einfühlungsvermögen“ und „Konfliktfähigkeit“ gehörten nicht zu dem Einzelmerkmal „Soziale Kompetenz“ und die Dimension „Feedbackfähigkeit“ nicht zu dem Einzelmerkmal „Veränderungskompetenz“ erschließt sich dies in dieser Pauschalität nicht. Es entsteht vielmehr der Eindruck, der Beklagte hätte die Einzelkompetenzen des Einzelmerkmals „Soziale Kompetenz“ mit anderen Worten umschrieben und ohne erkennbare konzeptionelle Rechtfertigung in verschiedenen Dimensionen gebündelt. Dieser Eindruck wird bestätigt durch die Neuregelung im Erlass vom 11. April 2018 (vgl. dort auf Seite 2). Nach den dort für zukünftige Auswahlverfahren gewählten Bewertungsmaßstäben steht beispielsweise das Merkmal „Analytische Fähigkeit“ selbständig neben dem Merkmal „Fähigkeit zum strategischen Denken“, während im streitgegenständlichen Verfahren Ersteres in Letzterem aufgehen soll. Gleiches gilt für die Kompetenzen „Auftreten“ und „Kommunikationsfähigkeit“.
74Hinzu tritt, dass nicht nur die Gewichtung, sondern auch die Art und Weise der Einbeziehung der dienstlichen Beurteilung sachwidrig erfolgte. Die schematische Bildung eines Leistungswertes anhand einer Staffelung nach der Summe der Einzelmerkmale widerspricht den von dem Beklagten eigens festgelegten Bewertungsmaßstäben. Die unterschiedliche Gewichtung einzelner Kompetenzen bzw. Dimensionen im übrigen Auswahlverfahren zeigt, dass nach seiner Vorstellung bestimmten Einzelmerkmalen eine besondere Bedeutung für die Eignungsprognose für den angestrebten Laufbahnaufstieg zukommt. Beispielsweise findet sich das in der dienstlichen Beurteilung bewertete Einzelmerkmal 5, „Leistungsumfang“, in den im 2. Verfahrensteil überprüften Kompetenzen gar nicht wieder, während das Merkmal 7, „Soziale Kompetenz“ (Zusammenarbeit mit Kollegen, Zusammenarbeit mit Vorgesetzten, Wertschätzung und Teamfähigkeit, Verantwortungsbereitschaft und Zuverlässigkeit, Umgang mit Bürgerinnen und Bürgern) nahezu mit sämtlichen Unterpunkten in den Dimensionen „Soziale Sensibilität“, „Auftreten“ und „Konfliktfähigkeit/Kontakt“ vertreten ist und damit eine erhebliche Bedeutung gewinnt. Beamte, die in ihrer dienstlichen Beurteilung in dem Merkmal 7 besonders hervortreten, werden durch die schematische Gleichgewichtung jedoch mit jenen gleichgestellt, die bei gleicher Wertsumme in dem – gemäß der Bewertung durch den Beklagten – für den Laufbahnabschnitt III deutlich bedeutungsloseren Merkmal 5 hervortreten.
75Die demnach unzureichende Berücksichtigung der dienstlichen Beurteilung im Rahmen des Auswahlverfahrens ist auch nicht etwa deswegen unbeachtlich, weil eine Vorauswahl stattgefunden hätte, die zu einem homogenen Bewerberfeld im Wesentlichen gleich beurteilter Beamter geführt hätte.
76Vgl. zu diesem Gedanken OVG NRW, Beschluss vom 11. Dezember 2017 – 1 B 1395/17 –, juris, Rn. 25 ff. und Sächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 25. September 2013 ‑ 2 B 436/13 –, juris, Rn. 17.
77Eine derart gestaltete Vorauswahl hat im Vorfeld des Auswahlverfahrens 2017 nicht stattgefunden. Soweit der Beklagte diesbezüglich auf das rückwirkend erfolgte Behördenleitervotum unter Berücksichtigung der dienstlichen Beurteilung nach Maßgabe der Erlasse vom 20. Oktober 2017 und vom 11. April 2018 verweisen möchte, folgt die Kammer dem nicht. Die dort vorgesehene Begrenzung auf Bewerber, die in ihrer dienstlichen Beurteilung ein Gesamtergebnis von 3 Punkten erreicht haben, führt nicht zu einer relevanten Berücksichtigung der dienstlichen Beurteilung. Denn eine Einengung des Bewerberfeldes wird dadurch nicht erreicht. Es ist gerichtsbekannt, dass im Bereich der Polizei des Beklagten dienstliche Beurteilungen mit einer Gesamtnote unterhalb von 3 Punkten extrem selten sind. Vor diesem Hintergrund kommt der vorgenannten Vorgabe keine einschränkende oder gar homogenisierende Funktion zu.
78Vgl. VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 10. Oktober 2017 – 1 L 2965/17-, Seite 5 des amtlichen Entscheidungsabdrucks. n.v.
79Sind mithin einzelne Teile des als Gesamtheit konzipierten Auswahlverfahrens rechtswidrig, kommt es nicht darauf an, dass der Kläger jeden einzelnen Verfahrensteil nicht bestanden hat. Denn es ist nicht vorhersehbar, wie die Einbeziehung der dienstlichen Beurteilung in einem neu durchzuführenden Auswahlverfahren ausgestaltet sein wird. Es gibt eine Vielzahl von Möglichkeiten, in welcher Weise und auf welcher Stufe sowie mit welchem Gewicht die dienstlichen Beurteilungen berücksichtigt werden können; dem vorzugreifen ist dem Gericht verwehrt.
80Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 3. August 2017 – 6 B 829/17 –, juris, Rn. 41, 52.
81Ergänzend sei auf Folgendes hingewiesen:
82Ein Nichtbestehen des ersten Verfahrensteils kann dem Kläger bereits deshalb nicht entgegengehalten werden, weil der Beklagte die für eine Überprüfung der Bewertung erforderlichen Unterlagen nach wie vor nicht vorgelegt hat. Ein Geheimhaltungsinteresse ist nicht ersichtlich.
83Dazu eingehend OVG NRW, Beschluss vom 25. April 2017 – 6 B 480/17 –, juris, Rn. 8 ff.; Beschluss der Kammer vom 19. April 2017 – 2 L 1490/17 –, juris.
84Zudem begegnet auch die gänzliche Nichtberücksichtigung der dienstlichen Beurteilung im dritten Verfahrensteil rechtlichen Bedenken. Wird ein Auswahlverfahren – wie hier – stufenweise im K.o.-System durchgeführt, so stellt jeder einzelne Verfahrensteil eine Auswahlentscheidung dar, die sich an Art. 33 Abs. 2 GG messen lassen muss. Dies führt dazu, dass die dienstliche Beurteilung in jedem Verfahrensteil entsprechend den oben dargestellten Maßgaben berücksichtigt werden muss, sofern das Bewerberfeld nicht im Vorhinein anhand der dienstlichen Beurteilung auf eine homogene Vergleichsgruppe eingegrenzt worden ist.
85Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
86Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
87Rechtsmittelbelehrung:
88Gegen dieses Urteil kann innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) schriftlich die Zulassung der Berufung beantragt werden. Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen.
89Der Antrag kann auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) eingereicht werden.
90Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist.
91Die Berufung ist nur zuzulassen,
921. wenn ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,
932. wenn die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,
943. wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
954. wenn das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
965. wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.
97Die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster oder Postfach 6309, 48033 Münster) schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV einzureichen.
98Über den Antrag entscheidet das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen.
99Im Berufungs- und Berufungszulassungsverfahren müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die das Verfahren eingeleitet wird. Die Beteiligten können sich durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, der die Befähigung zum Richteramt besitzt, als Bevollmächtigten vertreten lassen. Auf die zusätzlichen Vertretungsmöglichkeiten für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse wird hingewiesen (vgl. § 67 Abs. 4 Satz 4 VwGO und § 5 Nr. 6 des Einführungsgesetzes zum Rechtsdienstleistungsgesetz – RDGEG –). Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 7 VwGO bezeichneten Personen und Organisationen unter den dort genannten Voraussetzungen als Bevollmächtigte zugelassen.
100Die Antragsschrift und die Zulassungsbegründungsschrift sollen möglichst zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.
101Beschluss:
102Der Streitwert wird nach § 52 Abs. 2 GKG auf 5.000,- Euro festgesetzt.
103Rechtsmittelbelehrung:
104Gegen den Streitwertbeschluss kann schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) Beschwerde eingelegt werden, über die das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster entscheidet, falls ihr nicht abgeholfen wird.
105Die Beschwerde kann auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) oder zu Protokoll der Geschäftsstelle eingelegt werden; § 129a der Zivilprozessordnung gilt entsprechend.
106Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn sie innerhalb von sechs Monaten eingelegt wird, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat; ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.
107Die Beschwerde ist nicht gegeben, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200,-- Euro nicht übersteigt.
108Die Beschwerdeschrift soll möglichst zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.
109War der Beschwerdeführer ohne sein Verschulden verhindert, die Frist einzuhalten, ist ihm auf Antrag von dem Gericht, das über die Beschwerde zu entscheiden hat, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn er die Beschwerde binnen zwei Wochen nach der Beseitigung des Hindernisses einlegt und die Tatsachen, welche die Wiedereinsetzung begründen, glaubhaft macht. Nach Ablauf eines Jahres, von dem Ende der versäumten Frist angerechnet, kann die Wiedereinsetzung nicht mehr beantragt werden.
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Tenor
Es wird im Wege einer einstweiligen Anordnung festgestellt, dass die Zwei-Haushalte-Regelung des § 1 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 der Elften Corona-Bekämpfungsverordnung Rheinland-Pfalz vom 11. September 2020 i.d.F. der Dritten Landesverordnung zur Änderung der Elften Corona-Bekämpfungsverordnung Rheinland-Pfalz vom 2. Oktober 2020 auf den Betrieb des Erlebniskinos „……“ in ….. Ludwigshafen, A-Straße .., anwendbar ist. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
Die Kosten des Verfahrens tragen der Antragsteller und die Antragsgegnerin jeweils zur Hälfte.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 5.000 € festgesetzt.
Gründe
1
Das vorläufige Rechtsschutzgesuch des Antragstellers ist mit den im Wege der objektiven Antragshäufung (§ 44 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – analog) verfolgten Anträgen in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Der Hauptantrag ist bereits unzulässig (1.). Der Hilfsantrag ist zulässig (2.) und auch in der Sache begründet (3.).
2
1. Der Antrag des Antragstellers ist unzulässig, soweit er die Feststellung begehrt, dass sein Widerspruch vom 21. September 2020 gegen den „mündlichen Verwaltungsakt“ des Antragsgegners vom 17. September 2020 aufschiebende Wirkung hat.
3
Ein Antrag auf Feststellung, dass ein Rechtsbehelf gegen einen belastenden Verwaltungsakt aufschiebende Wirkung hat, ist nach § 123 Abs. 5 i.V.m. § 80 Abs. 5 Satz 1 analog VwGO (s. z.B. BVerwG, Beschluss vom 30. August 2012 – 7 VR 6/12 –, NVwZ 2013, 85; Bay. VGH, Beschluss vom 18. November 2019 – 4 CS 19.1839 –, NVwZ-RR 2020, 619) nur statthaft, wenn der Antragsteller sich gegen einen Verwaltungsakt wendet, der weder kraft Gesetzes sofort vollziehbar ist noch von der Behörde für sofort vollziehbar erklärt worden ist, die Behörde aber gleichwohl von einer sofortigen Vollziehbarkeit ausgeht.
4
Hier fehlt es bereits am Vorliegen eines Verwaltungsakts im Sinne des § 1 Landesverwaltungsverfahrensgesetz – LVwVfG – i.V.m. § 35 Satz 1 Verwaltungsverfahrensgesetz – VwVfG –. Verwaltungsakt ist danach jede Verfügung, Entscheidung oder andere hoheitliche Maßnahme, die eine Behörde zur Regelung eines Einzelfalls auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts trifft und die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist. Ein Verwaltungsakt ist gemäß § 41 Abs. 1 Satz 1 VwVfG demjenigen Beteiligten bekannt zu geben, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird. Gemäß § 37 Abs. 2 Satz 1 VwVfG kann der Verwaltungsakt schriftlich, elektronisch, mündlich oder in anderer Weise erlassen werden.
5
Ob eine behördliche Maßnahme ein Verwaltungsakt ist, bestimmt sich in entsprechender Anwendung der zu §§ 133, 157 Bürgerliches Gesetzbuch – BGB –entwickelten Maßstäbe nach ihrem objektiven Erklärungswert. Maßgeblich ist insofern, wie der Empfänger die Erklärung unter Berücksichtigung der ihm erkennbaren Umstände bei objektiver Würdigung verstehen muss. Dabei ist vom Wortlaut der Erklärung auszugehen und deren objektiver Gehalt unter Berücksichtigung des Empfängerhorizonts zu ermitteln; Unklarheiten gehen zu Lasten der Verwaltung (BVerwG, Urteil vom 28. November 2019 – 5 A 4/18 –, NVwZ 2020, 968). Ein Verwaltungsakt hat die rechtsverbindliche hoheitliche Regelung eines Einzelfalles durch eine Verwaltungsbehörde zum Gegenstand. Eine solche Regelung eines Einzelfalles setzt eine unmittelbare rechtliche Außenwirkung voraus. Ob eine Verwaltungsmaßnahme ihrer Rechtsnatur nach Verwaltungsakt ist, hängt davon ab, ob sie ihrem objektiven Sinngehalt nach darauf gerichtet ist, Außenwirkung zu entfalten, nicht aber davon, wie sie sich im Einzelfall tatsächlich auswirkt (BVerwG, Urteil vom 26. April 2012 – 2 C 17/10 –, NVwZ 2012, 1483).
6
Hiervon ausgehend hat der Antragsteller nicht substantiiert dargetan, dass die Antragsgegnerin ihm gegenüber tatsächlich einen mündlichen Verwaltungsakt erlassen hat. Zwar hat der Antragsteller behauptet, es sei am 17. September 2020 zu einer Überprüfung durch das Ordnungsamt des Antragsgegners gekommen, bei der die Kontaktformulare geprüft und die Umsetzung der Einhaltung der allgemeinen Corona-Regeln, wie Abstandsregelungen erfragt worden seien. Die Beamten hätten mitgeteilt, dass nach den aktuellen Regeln pro 10 Quadratmeter nur eine Person zugelassen sei und sich somit nur ein Paar aus gleichem Haushalt oder eine einzelne Person in einem Zimmer aufhalten dürfe. Dies sei ständig zu kontrollieren. Weitere Kontakte sowie sexuelle Handlungen mit Personen aus verschiedenen Haushalten seien zu unterbinden und dies auch zu kontrollieren. Gestützt worden sei diese Rechtsauffassung damit, dass nach der aktuellen Corona-Verordnung Bordelle und bordellähnliche Betriebe untersagt seien.
7
Aus den vom Antragsgegner vorgelegten Unterlagen (Tagebuchausdruck des Kommunalen Vollzugsdienstes der Antragsgegnerin vom 20. September 2020, schriftliche Erklärung des Leiters der Abteilung Gaststätten, Lebensmittelüberwachung und Gesundheit des Bereichs Öffentliche Ordnung vom 22. September 2020, Stellungnahme des zuständigen Bereichs Öffentliche Ordnung vom 24. September 2020 und Ermittlungsbericht des Kommunalen Vollzugsdienstes vom 24. September 2020) ergeben sich jedoch keine Anhaltspunkte dafür, dass die Antragsgegnerin am 17. September 2020 gegenüber dem Antragsteller eine verbindliche Regelung mit Außenwirkung getroffen hat. Vielmehr heißt es in dem Tagebuchausdruck des Kommunalen Vollzugsdienstes der Antragsgegnerin vom 20. September 2020, es seien im Rahmen der Kontrolle keine Verstöße gegen das Infektionsschutzgesetz geahndet worden. Es erfolgten keine weiteren Maßnahmen durch den Kommunalen Vollzugsdienst.
8
2. Soweit der Antragsteller ferner im Wege eines Hilfsantrages den Erlass einer einstweiligen Anordnung begehrt, so ist dieser zulässig.
9
2.1. Allerdings bedarf der Hilfsantrag zunächst der Auslegung gemäß §§ 122, 88 VwGO. Ausdrücklich hat der Antragsteller den Antrag gestellt, vorläufig festzustellen, dass die am 18. Juni 2020 zwischen ihm und der Antragsgegnerin erfolgte Absprache – Eröffnung des …… unter Einhaltung der Abstandsregelung unter Einschluss der Ausnahme der Zwei-Personen-Haushalteregelung – nach Maßgabe der Regelungen der 10. und 11. Corona-Verordnung bestandskräftig sei sowie vorläufig festzustellen, dass die Zwei-Haushalte-Regelung durch Auslegung der 11. Corona-Verordnung auf ihn anwendbar sei. Hintergrund dieses Begehrens sind die unterschiedlichen Rechtsauffassungen des Antragstellers und der Antragsgegnerin darüber, ob in dem Erlebniskino „……“ des Antragstellers in Ludwigshafen, in welchem es während der Vorführung von Filmen in mehreren einzelnen Kinosälen zu sexuellen Kontakten/Handlungen kommt, Personen aus verschiedenen Haushalten oder nur Personen aus einem Haushalt gleichzeitig anwesend sein dürfen. Es geht folglich um die Rechtsfrage, ob die Zwei-Haushalte-Regelung des § 1 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 der Elften Corona-Bekämpfungsverordnung Rheinland-Pfalz vom 11. September 2020 – 11. CoBeLVO – i.d.F. der Dritten Landesverordnung zur Änderung der Elften Corona-Bekämpfungsverordnung Rheinland-Pfalz vom 2. Oktober 2020 auf den Betrieb des Antragstellers in Ludwigshafen anwendbar ist. Entsprechend ist das Begehren des Antragstellers auszulegen.
10
2.2. Der so zu verstehende Antrag ist als Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 Abs. 1 VwGO statthaft.
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Danach kann das Gericht auf Antrag nicht nur eine einstweilige Anordnung treffen, wenn in Bezug auf den Streitgegenstand die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (sog. Sicherungsanordnung, § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO), oder wenn in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis eine vorläufige Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus anderen Gründen nötig erscheint (sog. Regelungsanordnung, § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO). Nach inzwischen allgemeiner Auffassung kann zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes auch der Erlass einer einstweiligen Anordnung in Gestalt einer vorläufigen Feststellung des in der Hauptsache sachlich Begehrten geboten sein (sog. Feststellungsanordnung; s. z.B. BVerfG, Beschluss vom 7. April 2003 – 1 BvR 2129/02 –, GewArch 2003, 243; OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 29. August 2018 – 6 B 10774/18.OVG –, NVwZ-RR 2019, 103; VG Mainz, Beschluss vom 29. April 2020 – 1 L 273/20.MZ –, juris; Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Auflage 2017, Rn. 147). Dem steht auch nicht das im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes zu beachtende Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache entgegen, da das Gericht eine nur vorläufige Feststellung trifft (BVerfG, Beschluss vom 5. Mai 1987 – 2 BvR 104/87 –, NJW 1988, 249).
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2.3. Ein für die Anordnung erforderliches feststellungsfähiges Rechtsverhältnis i.S.v. § 43 Abs. 1 VwGO ist vorliegend gegeben. Hierunter sind die rechtlichen Beziehungen zu verstehen, die sich aus einem konkreten Sachverhalt aufgrund einer öffentlich-rechtlichen Norm für das Verhältnis von (natürlichen oder juristischen) Personen untereinander oder einer Person zu einer Sache ergeben. Zwischen den Beteiligten muss ein Meinungsstreit bestehen, aus dem heraus sich eine Seite berühmt, ein bestimmtes Tun oder Unterlassen der anderen Seite abverlangen zu können (vgl. z.B. BVerwG, Urteil vom 30. November 2011 – 6 C 20/10 –, NVwZ 2012, 162). Ein solches feststellungsfähiges Rechtsverhältnis ist hier in der zwischen den Beteiligten umstrittenen Frage zu sehen, ob in den einzelnen Räumen des Erlebniskinos „……..“ in Ludwigshafen des Antragstellers Personen aus verschiedenen Haushalten so die Ansicht des Antragstellers – oder nur Personen aus einem Haushalt – so die Auffassung der Antragsgegnerin – gleichzeitig anwesend sein dürfen und im Falle eines Verstoßes die Antragsgegnerin berechtigt ist, gegenüber dem Antragsteller Konsequenzen zu ziehen (s. etwa § 23 Nr. 78 der 11. CoBeLVO, wonach es eine bußgeldbewehrte Ordnungswidrigkeit darstellt, wenn entgegen § 15 Abs. 1 Satz 2 das Abstandsgebot nach § 1 Abs. 2 Satz 1 nicht eingehalten wird). Damit ist die rechtliche Einstellung der Beteiligten zu einem bestimmten tatsächlich bestehenden Sachverhalt so eindeutig artikuliert worden, dass ein konkretes Rechtsverhältnis zu bejahen ist.
13
2.4. Der Antragsteller kann sich auch auf ein Feststellungsinteresse berufen, wie es für eine feststellende einstweilige Anordnung erforderlich ist (Happ in: Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, § 123 Rn. 36). Er hat ein berechtigtes Interesse an der umgehenden Feststellung der Frage, ob in seinem genannten Erlebniskino Personen aus verschiedenen Haushalten gleichzeitig anwesend sein dürfen. Denn der Antragsteller würde eine Ordnungswidrigkeit begehen, wenn er Personen aus verschiedenen Haushalten gleichzeitig den Zutritt zu den Kinosälen gestatten würde, obwohl ihm dies entsprechend der Rechtsansicht der Antragsgegnerin nach der 11. CoBeLVO untersagt wäre. Ein von einem möglichen Bußgeldverfahren Betroffener hat ein schutzwürdiges Interesse daran, die Klärung einer verwaltungsrechtlichen Streitfrage „nicht auf der Anklagebank“ zu erleben, sondern in einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren herbeizuführen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 7. April 2003 – 1 BvR 2129/02 –, GewArch 2003, 243; BVerwG, Urteil vom 17. Januar 1972 – I C 33.68 –, NJW 1972, 784). Dabei spielt es keine Rolle, dass die Entscheidung des Verwaltungsgerichts für das ordentliche Gericht nicht bindend ist. Schon der Einfluss, den eine für den Betroffenen günstige Entscheidung auf die Beurteilung der ordnungswidrig begangenen Handlung ausüben kann, rechtfertigt das Feststellungsbegehren (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 26. Oktober 2010 - 13 A 929/10 -, juris).
14
3. Der Hilfsantrag ist auch in der Sache begründet.
15
Der Antragsteller hat sowohl die Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung (sog. Anordnungsgrund), als auch das Bestehen eines zu sichernden Rechts (sog. Anordnungsanspruch), glaubhaft gemacht (§ 123 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung – ZPO –) und damit einen Anspruch auf die Feststellung, dass die Zwei-Haushalte-Regelung des § 1 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 der 11. CoBeLVO auf den Betrieb des Erlebniskinos „…..“ in Ludwigshafen anwendbar ist. Dies ergibt sich aus Folgendem:
16
3.1. Gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 der 11. CoBeLVO sind öffentliche und gewerbliche Kultureinrichtungen wie Kinos, Theater, Konzerthäuser, Kleinkunstbühnen und ähnliche Einrichtungen unter Beachtung der allgemeinen Schutzmaßnahmen geöffnet. Es gilt nach § 15 Abs. 1 Satz 2 der 11. CoBeLVO u.a. das Abstandsgebot nach § 1 Abs. 2 Satz 1. Dieser bestimmt, dass der Aufenthalt im öffentlichen Raum, vorbehaltlich der Regelungen in Satz 3 und 4, nur unter Einhaltung eines Mindestabstands von 1,5 Metern zu anderen Personen erlaubt ist. Satz 1 gilt gemäß Satz 3 Nr. 1 jedoch nicht für Zusammenkünfte von bis zu zehn Personen oder einer Zusammenkunft der Angehörigen zweier Hausstände.
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Auf diese Vorschriften kann sich der Antragsteller berufen. Sein Erlebniskino „…“ ist keine Prostitutionsstätte im Sinne des § 6a Abs. 1 der 11. CoBeLVO i.V.m. § 2 Abs. 3 Nr. 1 und 4 Prostituiertenschutzgesetz – ProstSchG – noch werden darin sexuelle Dienstleistungen im Sinne des § 2 Abs. 1 ProstSchG außerhalb von Prostitutionsstätten im Sinne des § 2 Abs. 4 ProstSchG angeboten. Vielmehr handelt es sich bei dem Erlebniskino des Antragstellers um ein „Kino“ im Sinne von § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 der 11. CoBeLVO. Ein Kino – häufig auch Lichtspieltheater, Lichtspielhaus oder Filmtheater genannt – ist ein Aufführungsbetrieb für alle Arten von Filmen. Darunter fällt auch das Sexkino, also ein Kino, welches überwiegend oder ausschließlich Filme pornografischen Inhalts zeigt.
18
Da § 15 Abs. 1 Satz 2 der 11. CoBeLVO – ebenso wie übrigens z.B. § 7 Abs. 2 Satz 1 der 11. CoBeLVO für Einrichtungen der Gastronomie – auf § 1 Abs. 2 Satz 1 verweist, gilt für den Aufenthalt im Kino bzw. den einzelnen Kinosälen das dort für den Aufenthalt im öffentlichen Raum geregelte Abstandsgebot entsprechend. Dies bedeutet, dass im Kino grundsätzlich ein Mindestabstand von 1,5 Metern zwischen zwei Personen einzuhalten ist. Einzelheiten dazu sind in dem gemäß § 1 Abs. 9 der 11. CoBeLVO zu beachtenden Hygienekonzept für Theater, Kinos, Konzerthäuser und Kleinkunstbühnen mit Bestuhlung geregelt. Der Mindestabstand von 1,5 Metern gilt jedoch ausdrücklich nur vorbehaltlich der Regelungen in Satz 3 und 4, d.h. wenn die darin aufgestellten Anforderungen eingehalten werden, ist der Mindestabstand von 1,5 Metern gerade nicht einzuhalten. Dies ist u.a. nach § 1 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 der 11. CoBeLVO der Fall bei Zusammenkünften von bis zu zehn Personen oder einer Zusammenkunft der Angehörigen zweier Hausstände. Dies bedeutet, dass entweder zehn Personen aus bis zu zehn verschiedenen Hausständen oder eine unbegrenzte Anzahl von Personen aus zwei verschiedenen Hausständen zusammenkommen dürfen, ohne den Mindestabstand von 1,5 Metern einhalten zu müssen. Nur diese Auslegung lässt der Wortlaut zu. Sie entspricht auch dem Sinn und Zweck der schrittweisen Lockerung des Abstandsgebots. Noch in der Achten Corona-Bekämpfungsverordnung Rheinland-Pfalz – 8. CoBeLVO – vom 25. Mai 2020 war gemäß § 15 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 1 Abs. 1 Satz 3 der 8. CoBeLVO ein Mindestabstand von 1,5 Metern zwischen Personen, die nicht in einem gemeinsamen Hausstand leben, einzuhalten. Ab der Neunten Corona-Bekämpfungsverordnung Rheinland-Pfalz – 9. CoBeLVO – vom 4. Juni 2020 war gemäß § § 15 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 1 Abs. 2 Satz 3 erstmals ein Mindestabstand von 1,5 Metern nicht mehr einzuhalten bei Zusammenkünften von bis zu zehn Personen oder einer Zusammenkunft der Angehörigen zweier Hausstände. Mit der Lockerungsstufe, die der rheinland-pfälzische Verordnungsgeber ab dem 10. Juni 2020 (Inkrafttreten der 9. CoBeLVO u.a. mit der Erweiterung um einen „weiteren“ Hausstand) betreten hat, wollte er ersichtlich ein abstandsloses Treffen aller Personen zweier Haushalte ermöglichen (vgl. auch OVG Niedersachsen, Beschluss vom 24. August 2020 – 13 MN 297/20 –, juris zu einer ähnlichen Regelung in Niedersachsen).
19
Infolge dieser eindeutigen Regelungen teilt die Kammer nicht die Auffassung der Antragsgegnerin, nur Personen aus dem gleichen Haushalt oder Einzelpersonen dürften jeweils einen Raum in dem Erlebniskino des Antragstellers belegen. Vielmehr dürfen in einem Kinoraum bis zu zehn Personen aus bis zu zehn verschiedenen Hausständen zusammenkommen, sofern pro Person 5 Quadratmeter Besucherfläche vorhanden ist (s. § 1 Abs. 7 der 11. CoBeLVO). Soweit der Antragsgegner auf die Ziffer 1 e) des Hygienekonzepts für Theater, Kinos, Konzerthäuser und Kleinkunstbühnen mit Bestuhlung verweist, führt dies zu keiner anderen Betrachtungsweise. Danach ist in den genannten Einrichtungen ein Abstand von mindestens 1,5 Metern pro Person sicherzustellen, soweit die jeweils geltende Corona-Bekämpfungsverordnung keine andere Regelung trifft. Sofern wegen der Art der Betätigung mit einem verstärkten Aerosolausstoß zu rechnen ist, sollen diese Aktivitäten nach Möglichkeit im Freien stattfinden; das Abstandsgebot nach § 1 Abs. 2 gilt mit der Maßgabe, dass der Mindestabstand zwischen Personen zu verdoppeln ist. Vorliegend trifft, wie dargestellt, § 15 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § § 1 Abs. 2 Satz 1 der 11. CoBeLVO eine andere Regelung. Damit kommt es auch nicht darauf an, ob mit einem verstärkten Aerosolausstoß zu rechnen ist.
20
Soweit die Antragsgegnerin einwendet, Normen seien auch immer nach der teleologischen Interpretation auszulegen, d.h. der hinter dem Wortlaut stehende Sinn und Zweck sei zu hinterfragen, kann sie damit nicht gehört werden. Wie oben ausgeführt, wollte der rheinland-pfälzische Verordnungsgeber mit der Erweiterung um einen „weiteren“ Hausstand ein abstandsloses Treffen von Personen zweier Haushalte ermöglichen. Denselben Zweck dürfte nunmehr auch die seit dem 1. Oktober 2020 geltende Regelung des § 6a der 11. CoBeLVO haben, wonach der Betrieb von Prostitutionsstätten und von Prostitutionsvermittlungen im Sinne des § 2 Abs. 3 Nr. 1 und 4 ProstSchG unter Einhaltung der allgemeinen Schutzmaßnahmen zulässig ist, soweit an den angebotenen sexuellen Dienstleistungen nicht mehr als zwei Personen beteiligt sind. Die beiden Personen dürften bei lebensnaher Betrachtungsweise ebenfalls verschiedenen Hausständen angehören.
21
Dürfen daher in dem Erlebniskino des Antragstellers in den einzelnen Kinosälen auch Personen aus verschiedenen Haushalten nach Maßgabe des § 1 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 der 11. CoBeLVO gleichzeitig anwesend sein, darf der Antragsgegner weder verwaltungsrechtlich noch ordnungswidrigkeitenrechtlich gegen den Antragsteller vorgehen, wenn dieser gegen seine Gäste, die aus verschiedenen Haushalten kommen und sein Kino gemeinsam besuchen, nicht einschreitet.
22
3.2. Neben dem somit gegebenen Anordnungsanspruch besteht auch ein Anordnungsgrund.
23
Unter Anordnungsgrund ist die Dringlichkeit bzw. Eilbedürftigkeit der Rechtsschutzgewährung zu verstehen. Notwendig ist ein spezifisches Interesse an einer vorläufigen Regelung, das sich von dem allgemeinen Interesse an einem baldigen Verfahrensabschluss abhebt. Die Bejahung des Anordnungsgrundes verlangt ein Bedürfnis auf Gewährung gerade vorläufigen Rechtsschutzes (Schoch, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand Januar 2020, § 123, Rn. 81). Ein besonderes Dringlichkeitsinteresse besteht, wenn es dem Antragsteller unter Berücksichtigung seiner Interessen sowie der öffentlichen Interessen und der Interessen Dritter nicht zumutbar ist, den Abschluss des Hauptsacheverfahrens abzuwarten (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 26. Auflage 2020, § 123, Rn. 26).
24
Davon geht die Kammer hier aus, da ansonsten unter Berücksichtigung von Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz – GG – bei gleichzeitiger hoher Wahrscheinlichkeit des Obsiegens in der Hauptsache ein effektiver Rechtsschutz nicht gewährleistet werden könnte. Dabei indizieren die Erfolgsaussichten in der Hauptsache – auch bei deren Vorwegnahme – das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, wenn – wie hier – gleichsam Grundrechtspositionen von Gewicht vereitelt werden; erhebliche gegenteilige Anhaltspunkte sind hier nicht ersichtlich (vgl. allgemein BVerfG, Beschluss vom 28. September 2009 – 1 BvR 1702/09 –, juris).
25
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 VwGO.
26
Die Streitwertfestsetzung folgt aus den §§ 52 Abs. 1, 53 Abs. 3 Nr. 2, 63 Gerichtskostengesetz – GKG –.
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Tenor
Die Verwaltungsvorschrift des Umweltministeriums und des Wirtschaftsministeriums über Technische Baubestimmungen (Verwaltungsvorschrift Technische Baubestimmungen - VwV TB) vom 20. Dezember 2017 - Az.: 45-2601.1/51 (UM) und Az.: 5-2601.3 (WM) - wird, soweit sie für Span- und OSB-Platten Geltung beansprucht, hinsichtlich der in ihrem Anhang 8 (ABG) unter 2.2.1.1 enthaltenen Anforderungen an VOC-Emissionen betreffend die Summe der flüchtigen organischen Verbindungen (TVOCspez) und der Konzentrationen der schwerflüchtigen organischen Verbindungen (TSVOC), den nach einer Einzelstoffbewertung gebildeten (Summen)-R-Wert und die Mengenbegrenzung für nicht bewertbare VOC für unwirksam erklärt.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1 Die Antragstellerinnen wenden sich gegen die am 01.01.2018 in Kraft getretene Verwaltungsvorschrift des Umweltministeriums und des Wirtschaftsministeriums über Technische Baubestimmungen (Verwaltungsvorschrift Technische Baubestimmungen - VwV TB) vom 20.12.2017 - Az.: 452601.1/51 (UM) und Az.: 5-2601.3 (WM), soweit diese in dem unter A.3.2.1 in Bezug genommenen Anhang 8 - Anforderungen an bauliche Anlagen bezüglich des Gesundheitsschutzes (ABG) - unter 2.2.1.1 bestimmte, nach § 73a Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 LBVO auch von OSB- und Spanplatten („verklebte Hölzer“, Anlage 3) einzuhaltende Anforderungen an (anhand von Prüfkammertests nach der prEN16516:2015-05 zu bestimmende) VOC (volatile organic compounds)-Emissionen stellt.
2 Danach sind nach 3 bzw. 28 Tagen (nach Einlegen des Holzwerkstoffs in die Prüfkammer) für die Summe der flüchtigen organischen Verbindungen (TVOCspez) und der Summe der Konzentrationen der schwerflüchtigen organischen Verbindungen (TSVOC) bestimmte „Grenzwerte“ einzuhalten. Zusätzlich zu diesen Summenwerten muss nach einer Einzelstoffbewertung der sog. (Summen-)R-Wert ≤ 1 sein und dürfen nicht bewertbare VOC ab einer Konzentration von ≥ 5 µg in der Summe 0,1 mg/m3 nicht übersteigen.
3 Die in Deutschland ansässige Antragstellerin zu 1 stellt Spanplatten und die in Tschechien ansässige Antragstellerin zu 2 sog. OSB (oriented strand board) bzw. Grobspanplatten her, die sie auch in Baden-Württemberg vertreiben. Bei der Antragstellerin zu 2 entspricht dies einem Anteil von 11 % ihres Gesamtumsatzes. Der Schwerpunkt der Vermarktung liegt im Bauwesen, wo die Platten vor allem als Werk- bzw. Baustoffe in baulichen Anlagen verwendet werden (u.a. als Innenverkleidung von Wänden und Decken, als tragende Decken- und Bodenkonstruktionen, im Fertighausbau sowie als nichttragende Unterlagen, insbesondere Laminat- und Parkettböden).
4 Am 17.12.2018 haben die Antragstellerinnen beim erkennenden Gerichtshof Normenkontrollanträge gestellt. Diese begründen sie damit, dass sie jedenfalls Span- und OSB-Platten aus Kiefernholz nicht mehr in Deutschland auf den Markt bringen könnten. Denn der natürliche VOC-Gehalt des Kiefernholzes lasse sich auch durch eine Umstellung des Produktionsprozesses oder ähnliche Maßnahmen nicht auf die in der Verwaltungsvorschrift festgelegten Grenzwerte reduzieren. Bei Produkten aus Fichten-, Buchen- und Aspenholz erscheine dies zwar grundsätzlich möglich, die Anforderungen könnten jedoch keinesfalls schon jetzt erfüllt werden, da anerkannte Prüfungsmethoden erst seit kurzem feststünden. Hinzukomme, dass die Prüfergebnisse erfahrungsgemäß schwankten und eine gesicherte Feststellung einer Vielzahl von Prüfungen über lange Zeiträume hinweg bedürfe. Neben dem Ausschluss von Kiefernholz vom deutschen Markt bedingten die VOC-Grenzwerte auch eine massive Veränderung der Lagerlogistik an ihren Produktionsstandorten. Auch müssten für die in Deutschland zu vermarktenden Platten spezielle Lager geschaffen und die Rezepturen mit erheblichem wirtschaftlichem Aufwand verändert werden.
5 Bei der angegriffenen Verwaltungsvorschrift handle es sich um eine normkonkretisierende Verwaltungsvorschrift und damit um einen tauglichen Antragsgegenstand. Ihre Antragsbefugnis ergebe sich aus einer möglichen Verletzung von Art. 8 Abs. 4 der Bauproduktenverordnung (BauPVO) sowie Art. 12 Abs. 1 GG. Die einzuhaltenden Grenzwerte für VOC verstießen gegen Art. 8 Abs. 4 BauPVO. Die einschlägige harmonisierte Norm DIN EN 13986 „Holzwerkstoffe zur Verwendung im Bauwesen - Eigenschaften, Bewertung der Konformität und Kennzeichnung“ sei in ihrem Anwendungsbereich abschließend. Insofern handle es sich bei den angegriffenen Anforderungen in den ABG um unzulässige nationale Nachregulierungen. Schließlich fehle es derzeit an gesicherten Forschungsergebnissen hinsichtlich gesundheitsschädlicher Auswirkungen von VOC-Emissionen und erst recht an einer fachlichen Grundlage für die streitgegenständlichen Grenzwerte. Insofern würden sie in ihren Grundrechten nach Art. 12 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG verletzt. Ergänzend verweisen die Antragstellerinnen auf ein Urteil des Europäischen Gerichts - T-229/17 - vom 19.04.2019. Außerdem machen sie geltend, selbst nicht an den Anhörungsverfahren beteiligt worden zu sein.
6 Die Antragstellerin zu 1 beantragt,
7 die Verwaltungsvorschrift des Umweltministeriums und des Wirtschaftsministeriums über Technische Baubestimmungen (Verwaltungsvorschrift Technische Baubestimmungen - VwV TB) vom 20. Dezember 2017 - Az.: 45-2601.1/51 (UM) und Az.: 5-2601.3 (WM) -, soweit sie für Spanplatten Geltung beansprucht, hinsichtlich der in ihrem Anhang 8 (ABG) unter 2.2.1.1 enthaltenen Anforderungen an VOC-Emissionen betreffend die Summe der flüchtigen organischen Verbindungen (TVOCspez) und der Konzentrationen der schwerflüchtigen organischen Verbindungen (TSVOC), den nach einer Einzelstoffbewertung gebildeten (Summen)-R-Wert und die Mengenbegrenzung für nicht bewertbare VOC für unwirk-sam zu erklären.
8 Die Antragstellerin zu 2 beantragt,
9 die Verwaltungsvorschrift des Umweltministeriums und des Wirtschaftsministeriums über Technische Baubestimmungen (Verwaltungsvorschrift Technische Baubestimmungen - VwV TB) vom 20. Dezember 2017 - Az.: 45-2601.1/51 (UM) und Az.: 5-2601.3 (WM) -, soweit sie für OSB-Platten Geltung beansprucht, hinsichtlich der in ihrem Anhang 8 (ABG) unter 2.2.1.1 enthaltenen Anforderungen an VOC-Emissionen betreffend die Summe der flüchtigen organischen Verbindungen (TVOCspez) und der Konzentrationen der schwerflüchtigen organischen Verbindungen (TSVOC), den nach einer Einzelstoffbewertung gebildeten (Summen)-R-Wert und die Mengenbegrenzung für nicht bewertbare VOC für unwirk-sam zu erklären.
10 Der Antragsgegner beantragt,
11 die Anträge abzuweisen.
12 Hierzu lässt er im Wesentlichen ausführen: Der Antragstellerin fehle bereits die erforderliche Antragsbefugnis. Ein Verstoß gegen das Marktbehinderungsverbot aus Art. Abs. 4 der Bauprodukten-Verordnung scheide von vornherein aus, weil sich die Harmonisierungswirkung der EN 13986 nicht auf darin nicht genannte „sonstige gefährliche Stoffe“ erstrecke; dies sei gerade der Sinn der in Abschnitt 4.8 enthaltenen Öffnungsklausel. Aus dem Anhang I Ziff. 3 Buchst. b lasse sich nicht ableiten, dass VOC nicht zu den gefährlichen Stoffen gehörten. Die Änderung zum Normauftrag (sog. Mandat) M/113 lege vielmehr das Gegenteil nahe. Auch im Rahmen der übrigen EU-Normung würden mit dem „Oberbegriff“ gefährliche Stoffe“ auch VOC-Emissionen eingeschlossen.
13 Auch die geltend gemachten Grundrechtsverstöße lägen nicht vor. Darüber hinaus sei zu berücksichtigen, dass das DIBt inzwischen für die Produkte der Antragstellerinnen Gutachten erstellt habe, die ihr bescheinigten, dass die Anforderungen eingehalten würden. Insofern habe sie keinerlei Nachteile zu erwarten.
14 Die Verwaltungsvorschrift sei, soweit sie angegriffen werde, rechtmäßig. Sie entspreche der Musterverwaltungsvorschrift. Das entsprechende Anhörungsverfahren sei ordnungsgemäß durchgeführt worden. Die seinerzeit abgegebenen Stellungnahmen hätten sich nicht explizit auf die Anforderungen zu VOC-Emissionen bezogen. Es sei nicht ersichtlich, inwiefern eine vorliegend einschlägige Stellungnahme unberücksichtigt geblieben sein sollte. Der Antragsgegner habe unter Berücksichtigung einschlägiger wissenschaftlicher Erkenntnisse von seiner Einschätzungsprärogative Gebrauch gemacht und die streitgegenständliche normkonkretisierende Verwaltungsvorschrift erlassen. Die nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu stellenden Anforderungen seien dabei beachtet worden. Die angegriffenen Vorschriften bewegten sich auch in dem durch die Ermächtigungsgrundlage vorgezeichneten Rahmen. Nach § 3 Satz 1 Halbs. 2 LBO seien bei der Auslegung des bauordnungsrechtlichen Gefahrenbegriffs auch die Grundanforderungen an Bauwerke gemäß Anhang I der Bauproduktenverordnung zu berücksichtigen. Damit sollten die von VOC-Emissionen ausgehenden Gefahren als solche im baurechtlichen Sinne verstanden werden. Aufgrund des weiteren Sachvortrags komme es auch nicht auf die vom Senat vorgenommene Differenzierung zwischen Gefahrenabwehr und Gefahrenvorsorge an. Ein Nachweis jeder einzelnen Wirkbeziehung zwischen einer bestimmten Konzentration und Zusammensetzung in der Innenraumluft sei wissenschaftlich nicht leistbar. Es reiche aus, dass die Gefahren ausgehend von nahezu allen Einzelstoffen nachgewiesen seien; zugleich sei die zu erwartende additive Wirkung belegt. Schließlich sei zu erwarten, dass die bereits angewandte horizontale Prüfnorm EN 16516 auch in die harmonisierten Produktnormen überführt werde. Gefahren durch flüchtige organische Verbindungen seien allgemein wissenschaftlicher Konsens. Deren Wirkungen könnten von Geruchsempfindungen und Reizwirkungen auf die Schleimhäute von Augen und Nase und Rachen über Wirkungen auf das Nervensystem hin zu Langzeitwirkungen reichen. Zur toxikologischen Bewertung von aus Bauprodukten emittierenden Stoffen könnten die bereits verfügbaren Informationen herangezogen werden, die in vielen Fällen Kenntnisse über Dosis-Wirkung-Beziehungen enthielten. Daraus ließen sich wiederum Konzentrationsniveaus ermitteln, unterhalb derer keine nachhaltig nachteiligen Wirkungen (mehr) zu befürchten seien. Insoweit werde auf das AgBB-Bewertungsschema 2018 verwiesen. Eine Orientierung hinsichtlich der gesundheitlichen Relevanz der einzelnen Emissionen ließen die wissenschaftlich abgesicherten NIK- bzw. LCI-Werte erkennen, unterhalb derer von einem Einzelstoff keine nachteiligen Wirkungen anzunehmen seien. Auch die Antragstellerinnen behaupteten nicht, dass die Ungefährlichkeit von VOC-Emissionen aus OSB-Platten erwiesen sei. Besonders schutzbedürftige Gruppen seien besonders anfällig.
15 Entgegen der Auffassung des Senats im vorläufigen Rechtsschutzverfahren setzten die festgelegten Werte nicht weit im Vorfeld einer drohenden Schädigung an, sondern seien zur Abwehr der mit VOC-Emissionen verbundenen Gefahren erforderlich. Die Kriterien seien so gewählt, dass sie Gesundheitsgefahren in Aufenthaltsräumen abwehrten. Risiken für besonders vorbelastete Menschen seien nicht abgedeckt. Ein EU-LCI- bzw. NIK-Wert werde erst abgeleitet, wenn belastbare toxikologische Daten vorlägen sowie der Schadensverlauf und die Eintrittswahrscheinlichkeit sicher beurteilt werden könnten. Es habe sich in Tierversuchen mit Gemischen aus mehreren VOC gezeigt, dass die Wirkungen der einzelnen VOC additiv seien. Auch in Studien mit Menschen habe sich bestätigt, dass eine zu erwartende Wirkung von VOC-Mischungen die Summe der Wirkungen ihrer Komponenten sei. Der R-Wert basiere damit auf einer wissenschaftlich abgeleiteten und experimentell nachgewiesenen Schadensprognose und diene der Gefahrenabwehr. Bei einem TVOC-Summenwert jenseits der Grenze von 1 mg/m3 (in der Raumluft) seien gesundheitliche Beschwerden zu erwarten, die Gegenmaßnahmen erforderten. Die ABG beruhten auf einer rechnerischen Nachmodellierung eines Referenzraums anhand von Prüfkammertests. Verschiedene Studien zeigten, dass die TVOC-Konzentration auch ohne Kenntnis der genauen Zusammensetzung des jeweiligen Stoffgemisches ein guter Indikator für hierdurch verursachte Gesundheitsgefahren sei. Eine reine Einzelfallbetrachtung ließe demgegenüber wesentliche Gefahren außer Betracht. Bereits bei der niedrigsten in der Versuchskammer eingesetzten TVOC-Konzentration von 1 mg/m3 seien bei einer Expositionszeit von nur 50 Minuten erste Befindlichkeitsstörungen und Reizwirkungen genannt worden. Verschiedene Studien hätten Gesundheitsgefahren aufgrund des Summeneffekts von VOC bestätigt. Die TSVOC-Begrenzung stelle sicher, dass Menschen in neuen oder renovierten Gebäuden keinen Gesundheitsgefahren durch das Austreten diverser SVOC aus der Bausubstanz ausgesetzt seien. Die Exposition gegenüber diversen unbekannten oder nicht mit einem NIK-Wert versehenen Stoffen erhöhe die Wahrscheinlichkeit einer gesundheitlichen Gefährdung, was eine Gesamtbegrenzung auf 100 µg/m3 unabdingbar mache. Auch VOC-Emissionen aus OSB-Platten seien nach Umfang und Auswirkungen „breit nachgewiesen“. Die gesundheitliche Relevanz der einzelnen Emissionen folge aus den wissenschaftlich abgeleiteten NIK- bzw. LCI-Werten, unterhalb derer von einem Einzelstoff keine nachteiligen Wirkungen zu erwarten seien. Insoweit sei auch auf die sog. Fact-Sheets hinzuweisen, aus denen sich Gefahrenhinweise bzw. -kategorien ergäben, sowie auf die Einstufungen von auch aus OSB-Platten austretender Stoffe nach der CLP-Verordnung, insbesondere die sog. H-Sätze. Aus aktuellen Studien (Anlagen 28 ff.) zur Innenraumqualität bei Neubauten seien hohe Emissionen mit negativen Auswirkungen etwa auf die Lungenfunktion (Anlage 31) bekannt. Auch deutsche Fallbeispiele (Anlage 32 u. 33) belegten mögliche Auswirkungen der Verwendung von OSB-Platten. Die von der Antragstellerin vorgelegten Belege könnten den wissenschaftlichen Konsens der Gefährlichkeit von VOC-Emissionen im Allgemeinen oder in Bezug auf OSB-Platten nicht erschüttern. Bei dem HOMERA-Abschlussbericht handle es sich lediglich um eine Vorstudie, die zudem methodische Mängel aufweise. Der kritische gesundheitliche Wirkungsendpunkt der Holzemissionen werde nur in einer einzigen Studie (Gminski u. a., 2011) betrachtet, die durch den Holzabsatzfonds und die Arbeitsgruppe VOC der holzproduzierenden Hersteller finanziert worden sei. Auch die Studie von Ohlmeyer basiere lediglich auf Untersuchungen der akuten Toxizität von VOC. Relevant seien indessen primär die Wirkungen bei längerfristigen und wiederholten Expositionen. Die Studie „GesundHolz“ befinde sich schließlich noch im Entwurfsstudium. Inzwischen seien (am 28.08.2018) auch die entsprechenden Prüfprogramme und -bedingungen abgestimmt worden; danach müssten die Proben (erst) spätestens 16 Wochen nach Erreichen der Handelsfähigkeit gezogen und emissionsarm verpackt werden. Die Hersteller hätten schließlich zahlreiche Steuerungsmöglichkeiten hinsichtlich der VOC-Emissionen.
16 Die angegriffenen Vorschriften verstießen auch nicht gegen die Bauproduktenverordnung. Denn in ihrem Anwendungsbereich sei von einer sukzessiven Harmonisierung auszugehen, die nationale Regelungen nur dann ausschließe, wenn (bereits) harmonisierte technische Spezifikationen bestünden, die nationale Regelungen ausschließen sollten. Insoweit bestehe allenfalls eine Vollständigkeitsvermutung, aber keine Vollständigkeitsfiktion. Die Reichweite der Harmonisierungswirkung sei durch Auslegung zu ermitteln, wobei die harmonisierten Normen selbst Teil des Unionsrechts seien. Aus Abschnitt 4.8 der EN 13986 ergebe sich indes, dass für „sonstige gefährliche Stoffe“ tatsächlich keine Harmonisierungswirkung bestehe. Eine andere Auslegung stünde zudem in Widerspruch zu Art. 114 AEUV. Auch im Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 16.10.2014 - C-100/13 - finde sich kein Hinweis, dass stets von der Vollständigkeit harmonisierter Normen auszugehen sei. Erst recht könne davon nicht bei ausdrücklich lückenhaften Normen ausgegangen werden. Die angegriffenen Anforderungen stünden mit den materiellen Wertungen sowohl der Bauproduktenverordnung als auch der Landesbauordnung, insbesondere mit § 3 Abs. 1 Satz 1 LBO in Einklang, wonach auch die Grundanforderungen an Bauwerke zu berücksichtigen seien. In Anhang I zur Bauproduktenverordnung seien unter „3. Hygiene, Gesundheit und Umweltschutz“ in Buchstabe b ausdrücklich Emissionen von gefährlichen Stoffen, flüchtigen organischen Verbindungen, Treibhausgasen oder gefährlichen Partikeln in die Innen- und Außenluft aufgeführt. Bereits daraus ergebe sich, dass VOC-Emissionen zu regulieren seien. Grundrechte der Antragstellerinnen würden nicht verletzt. Die Hersteller könnten die entsprechenden Vorgaben mit relativ geringem Aufwand - etwa durch entsprechende Lagerung - einhalten und gegebenenfalls auch (teilweise) auf Kiefernholz verzichten.
17 Unter dem 10.07.2020 haben die Antragstellerinnen noch ausgeführt, dass die Antragserwiderung nicht nachzuweisen vermöge, dass die einzuhaltenden Grenzwerte für VOC-Emissionen i. S. des Gesundheitsschutzes und der Gefahrenabwehr erforderlich seien. Insofern fehle es bereits an einer Rechtsgrundlage. Auch aus den von ihnen eigens eingeholten Gutachten vom 10.06. bzw. 06.07.2020 ergebe sich, dass die Grenzwerte allenfalls im Bereich der Gefahrenvorsorge angesiedelt seien und es keine belastbaren Hinweise auf Gesundheitsgefahren gebe. Demgegenüber bezögen sich die vom Antragsgegner angeführten Studien, worauf der Senat bereits in seinen Eilbeschlüssen hingewiesen habe, fast ausschließlich auf VOC bzw. VOC-Gemische, die nicht aus Holz bzw. Holzwerkstoffen emittiert würden oder befassten sich gar nicht mit gesundheitlichen Auswirkungen. Auch weise das den ABG zugrundeliegende Bewertungskonzept grundsätzliche Mängel auf.
18 Zwar habe die Antragstellerin zu 2 inzwischen Gutachten des DIBt eingeholt, diese verursachten jedoch einen erheblichen Verwaltungs- und Kostenaufwand, der in regelmäßigen Abständen immer wieder anfalle. Außerdem beschränke sich deren Aussagkraft auf die konkret getesteten Platten. Aufgrund der natürlichen Schwankungsbreite könnten Platten derselben Produktart die Grenzwerte einmal unter- und ein andermal überschreiten. Dies liege an der jeweiligen Verfügbarkeit der verwendeten Holzarten. Auch die Vielfalt weiterer Einflussfaktoren (Alter, Herkunft, Abtrocknungsgrad) könne in den Gutachten nicht abgebildet werden. Insofern trügen sie als Herstellerinnen weiterhin das Verwendungsrisiko, was sich allenfalls durch äußerst umfangreiche und aufwändige eigene Prüfmaßnahmen vermeiden ließe. Aber auch dann könnten verschiedene Platten nicht in Deutschland vertrieben werden. Im Übrigen bestehe weiterhin - jedenfalls teilweise - ein faktisches Vermarktungsverbot. Der Vorsorgecharakter der ABG und der NIK-Werte ergebe sich bereits aus ihrer Zielsetzung, ein Konzentrationsniveau zu ermitteln, unterhalb dessen keine nachteiligen Wirkungen mehr zu befürchten seien. Der TVOC-Wert und der R-Wert könnten schließlich durchaus zu unterschiedlichen Bewertungen führen. Für Spanplatten lägen bislang praktisch keine Messwerte vor. Deren Substanzen entsprächen zwar grundsätzlich denen aus OSB-Platten, sie lägen jedoch in der Summe auf einem niedrigen Niveau. Eine Übertragung von Emissionswerten aus Prüfkammern sei nachweislich nicht möglich. Auch nähmen die Emissionen immer mehr ab und würden zudem gegen den Innenraum „abgeschirmt“. TVOC- und TSVOC-Werte seien, worauf bereits der Senat hingewiesen habe, toxikologisch nicht aussagekräftig. Fragwürdig seien auch die NIK-Werte und die unterstellte additive Wirkung verschiedener VOC. Die EU-Kommission stelle in einem „Delegated Act“ auch auf individuelle Werte ab. Besonders problematisch sei, dass Formaldehyd in die Bildung des R-Werts einbezogen werde, was sich bei Spanplatten gravierend auswirke. Damit werde letztlich die für diesen Stoff maßgebliche, auf der DIN EN 13986 beruhende Emissionsklasse E 1 unterlaufen. Insofern könnten Spanplatten letztlich nicht anders als OSB-Platten behandelt werden. Nach Aussage ihres Gutachters schlössen human-toxikologische Untersuchungen Hinweise auf gesundheitliche Gefährdungen sogar aus. Krebserregende Stoffe sowie schwerflüchtige VOC (SVOC) spielten bei den in Rede stehenden Platten ohnehin keine Rolle.
19 Auf eine Anhörung zur angegriffenen Verwaltungsvorschrift habe auch nicht verzichtet werden können, weil sie inhaltlich teilweise - etwa hinsichtlich des Brandschutzes - nicht der Musterverwaltungsvorschrift entspreche. Insofern hätte insgesamt eine neue Anhörung durchgeführt werden müssen. Im Übrigen sei die zur Musterverwaltungsvorschrift durchgeführte Anhörung im Hinblick auf die Stellungnahme des Deutschen Holzwirtschaftsrats vom 30.06.2017 fehlerhaft gewesen. Ohnehin sei nur die im August 2017 veröffentlichte Fassung Gegenstand der Anhörung gewesen. Bei der Fassung vom Dezember 2017 handle es sich nicht lediglich um eine „Druckfehlerkorrektur“.
20 Mit dem klarstellenden Hinweis in § 3 Abs. 1 LBO auf den Anhang 1 der Bauproduktenverordnung sei keine inhaltliche Erweiterung der Schutzziele der Generalklausel verbunden.
21 Nach wie vor sei von einem Verstoß gegen Art. 8 Abs. 4 BauPVO auszugehen. Die Bauproduktenverordnung toleriere es nicht, harmonisierte Normen von vornherein mit einem Vorbehalt oder einer Öffnungsklausel zu versehen. Insofern könne es sich allenfalls um einen unzutreffenden Hinweis handeln. Darauf, ob diese mit „gefährlichen Stoffen“ auch VOC erfasse, komme es nicht mehr an. Auch das vom Antragsgegner angeführte geänderte Mandat M/113 differenziere zwischen gefährlichen Stoffen und VOC. Was unter „gefährlichen Stoffen“ zu verstehe sei, werde in den verschiedenen EU-Rechtsakten durchaus unterschiedlich definiert.
22 Der Antragsgegner hat unter dem 29.09.2020 noch wie folgt vorgetragen: Darüber, ob überhaupt gesundheitliche Auswirkungen zu erwarten seien und VOC regelmäßig mindestens eine additive Wirkung entfalteten, sei ggf. Beweis zu erheben, sofern es nicht ohnehin nur um die Verhältnismäßigkeit der angegriffenen Vorschriften zur Abwehr von Gefahren gehen sollte. Es werde weiterhin davon ausgegangen, dass sie zum Gesundheitsschutz erforderlich seien.
23 Solange die Antragstellerinnen keine weiteren (freiwilligen) Angaben zu ihren Produkten machen wollten, müssten sie auch keine Gutachten des DIBt einholen. Ggf. könnten sie auch eine andere Art der Nachweisführung wählen oder diese den am Bau Beteiligten überlassen.
24 Die Gefahrenprognose werde auf die Ableitung von NIK/LCI-Werten zur Beurteilung der Schwellen gestützt, ab denen von Einzelstoffen Beeinträchtigungen für die menschliche Gesundheit ausgingen, sowie auf die Annahme einer (mindestens) additiven Wirkung von VOC, die insbesondere bei aldehydreichen Stoffgemischen typischerweise anzunehmen sei. Mit den Ergebnissen aus den Prüfkammerverfahren würden die tatsächlichen Immissionen in der Innenraumluft jedenfalls eher unter- als überschätzt, zumal die tatsächlichen Lüftungsraten deutlich geringer seien. Das Abklingverhalten im Realraum sei auch deutlich geringer ausgeprägt als in der Prüfkammer; es verlangsame sich nach dem 28.Tag deutlich; einzelne Emissionen würden nachträglich sogar noch ansteigen. Die Festlegung von Grenzwerten sei lediglich eine Frage der Verhältnismäßigkeit. Die Regulierung beruhe auch auf der Berücksichtigung weiterer Effekte. Hofmann/Maraun hätten in ihrem Abschlussbericht vom 17./18.2020 zu einem Forschungsvorhaben des DIBt herausgearbeitet (Anlage 44), dass die angegriffenen Vorschriften gerade einmal geeignet seien, im Realraum die Einhaltung des Richtwerts II einzuhalten, der die Grenze zur Erforderlichkeit von Gefahrenmaßnahmen markiere.
25 Aus Art. 8 Abs. 3 BauPVO ergebe sich im Umkehrschluss, dass die Mitgliedstaaten durchaus zu Bezugnahmen auf andere Kennzeichnungen befugt seien, sofern die Vorgabe „diesbezüglich“ nicht verletzt werde.
26 Dass der sog. R-Wert auch unter Einbeziehung von Formaldehyd gebildet werde, verstoße keineswegs gegen Unionsrecht. Solange es kein europäisches Klassifizierungssystem gebe, könnten die Mitgliedsstaaten, wie sich aus Art. 27 Abs. 6 BauPVO ergebe, ihr eigenes System anwenden. Der R-Wert stelle letztlich eine zulässige Leistungsvorgabe dar. An den Schwellenwert der Chemikalien-Verordnung von 0,124 mg/m3 sei er nicht gebunden. Die mit der Einbeziehung von Formaldehyd in den R-Wert verbundene Dynamisierung der baurechtlichen Vorgabe zur Formaldehydabgabe sei aufgrund der additiven Wirkung nicht zu beanstanden.
27 Zur Klärung der Fragen, ob Art. 8 Abs. 4 BauPVO einer Regelung entgegenstehe, die Leistungsanforderungen an ein von einer harmonisierten Norm nicht erfasstes wesentliches Merkmal aufstelle, und eine Öffnungsklausel wie in Abschnitt 4.8 der EN 13986 dahin zu verstehen sei, dass die betreffenden Merkmale nicht von der harmonisierten Norm erfasst seien und Abschnitt 4.8 dieser Norm sich auch auf VOC beziehe, liege es nahe, ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV einzuholen.
28 Auf den Antrag der Antragstellerin zu 2 hatte der Senat mit Beschluss vom 10.07.2019 - 8 S 3008/18 - die Verwaltungsvorschrift in dem von ihr angegriffenen Umfang bis zur Entscheidung in diesem Verfahren außer Vollzug gesetzt. Den Antrag der Antragstellerin zu 1 hatte er mangels erheblicher Nachteile abgelehnt.
29 Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen, die vom Antragsgegner vorgelegten Verwaltungsakten sowie die im vorläufigen Rechtsschutzverfahren - 8 S 3008/18 - sowie in den Parallelverfahren - 8 S 2962/18 und 8 S 2944/18 - angefallenen Senatsakten verwiesen.
Entscheidungsgründe
30 Die Anträge der Antragstellerinnen, die Verwaltungsvorschrift des Umweltministeriums und des Wirtschaftsministeriums über Technische Baubestimmungen vom 20.12.2017 hinsichtlich darin enthaltener, auch für OSB-Platten bzw. Spanplatten geltender Anforderungen an VOC-Emissionen für unwirksam zu erklären, haben in dem beantragten Umfang Erfolg.
31 1. Die Anträge sind nach § 47 Abs. 1 VwGO statthaft und auch sonst zulässig.
32 a) Die angegriffene Verwaltungsvorschrift ist zulässiger Gegenstand eines Antrags nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO. Zwar unterliegen Verwaltungsvorschriften in der Regel nicht der Normenkontrolle, da es sich bei ihnen um keine (Außen-)Rechtssätze handelt. Anders verhält es sich jedoch dann, wenn eine gesetzliche Regelung - wie hier § 73a Abs. 1 u. 5 LBO - zur Konkretisierung gesetzlicher Anforderungen (hier: aus § 3 Abs. 1 Satz 1 LBO) auf eine Verwaltungsvorschrift verweist, die kraft Gesetzes - vorbehaltlich der hier nicht einschlägigen sog. Innovationsklausel in § 73a Abs. 1 Satz 2 LBO - eine Beachtenspflicht in Bezug auf die als Technische Baubestimmungen eingeführten technischen Regeln auslösen soll und damit diesen (jedenfalls) gegenüber den für den Bau Verantwortlichen eine verordnungsgleiche Außenrechtswirkung in Bezug auf die Standardisierung technischer Anforderungen verleiht (vgl. § 73a Abs. 1 Satz 2 LBO; vgl. BVerwG, Beschl. v. 25.11.1993 - 5 N 1.92 -, BVerwGE 94, 335; Urt. v. 26.01.1996 - 8 C 19.94 -, BVerwGE 100, 262; Urt. v. 25.11.2004 - 5 CN 1.03 -, BVerwGE 122, 26; Panzer, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO <38. EL Jan. 2020>, § 47 Rn. 26, 30; Ziekow, in Sodan/Ziekow, VwGO 5. A. 2018 - § 47 Rn. 126; Winkelmüller/van Schewick/Müller, Bauproduktrecht und technische Normung, 2015, Rn. 476 ff.; a.A. OVG NW, Beschl. v. 20.07.2010 – 2 A 61/08 -, juris Rn. 17).
33 Ob die Technischen Baubestimmungen, soweit sie hier angegriffen sind, eine normkonkretisierende Verwaltungsvorschrift in dem Sinne darstellen sollen, dass ihnen gegebenenfalls auch eine die Gerichte bindende Wirkung zukäme (vgl. BVerwG, Urt. v. 28.10.1998 - 8 C 16.96 -, BVerwGE 107, 338), wovon der Antragsgegner im Hinblick auf § 73a Abs. 5 Satz 1 LBO auszugehen scheint, mag hier dahinstehen.
34 b) Die Antragstellerinnen sind auch antragsbefugt, da sie geltend machen können, durch die Anwendung der Verwaltungsvorschrift - faktisch - in ihrer Berufsfreiheit verletzt zu sein (vgl. Art. 12 Abs. 1 GG), auch wenn sich die Bauwerksanforderungen unmittelbar nur an den Bauherrn bzw. die sonstigen am Bau Beteiligten richten. Denn den - zur Erhaltung der weiteren Verkehrsfähigkeit ihrer Span- bzw. OSB-Platten - erforderlichen Nachweis zu deren Erfüllung können letztlich nur sie als Hersteller erbringen. Betroffen ist hier freilich nicht ihre Berufswahl, sondern (lediglich) ihre Berufsausübung (vgl. Jarass/Pieroth, GG 15. A. 2019, Art. 12 Rn. 10, 10a). Darauf können sich sowohl die Antragstellerin zu 1 als inländische (vgl. Art. 19 Abs. 3 GG) als auch die Antragstellerin zu 2 als ausländische juristische Person - freilich nur über Art. 2 Abs. 1 GG (vgl. BVerfG, Beschl. v. 04.11.2015 - 2 BvR 282/13, 2 BvQ 56/12 -, NJW 2016, 292) - berufen.
35 Beide Antragstellerinnen können sich auch auf einen möglichen Verstoß gegen das Marktbehinderungsverbot des Art. 8 Abs. 4 BauPVO berufen, auch wenn nur die Antragstellerin zu 2 von der in dieser Vorschrift konkretisierten Warenverkehrsfreiheit im Binnenmarkt (vgl. Artt. 28, 34 AEUV) Gebrauch macht. Denn die unmittelbar geltende Bauproduktenverordnung dient darüber hinaus der Schaffung einer in allen Mitgliedstaaten einheitlichen (harmonisierten) Regelung. Insofern haben die von ihr Betroffenen, zu denen auch die Hersteller gehören, unmittelbar die sich aus der Bauproduktenverordnung ergebenden Pflichten zu beachten, aber eben auch nur diese, sodass die darin liegende „Vereinfachung“ auch ihren Interessen zu dienen bestimmt ist (vgl. dazu etwa die Erwägungsgründe 34 ff.).
36 Der Umstand, dass für einzelne Produkte der Antragstellerin zu 2 mittlerweile Gutachten des DIBt vorliegen, mit denen der erforderliche Nachweis erbracht werden kann, ändert nichts. Denn in ihren Rechten wäre sie bereits dann verletzt, wenn die angegriffenen Anforderungen an ihre Produkte nicht gestellt werden durften.
37 Auch das erforderliche Rechtsschutzinteresse kann ihr deswegen - schon im Hinblick auf etwa weiter erforderlich werdende Nachweise - nicht abgesprochen werden.
38 2. Die Anträge sind auch im jeweils beantragten Umfang begründet.
39 Dass die Antragstellerin zu 1 Spanplatten und die Antragstellerin zu 2 OSB bzw. Grobspanplatten herstellt, rechtfertigt im Folgenden keine unterschiedliche rechtliche Beurteilung. Dass die Antragstellerin zu 1 aufgrund der von Spanplatten ausgehenden geringeren VOC-Emissionen weniger betroffen ist, was im vorläufigen Rechtsschutzverfahren dazu geführt hat, dass es an entsprechenden Nachteilen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung gefehlt hat, kommt im Hauptsacheverfahren nicht mehr zum Tragen. Vielmehr begründete dieser Umstand eher noch Zweifel, ob an Spanplatten dieselben Anforderungen gestellt werden durften.
40 Die Technischen Baubestimmungen entsprechen, soweit sie von den Antragstellerinnen angegriffen werden, schon nicht den gesetzlichen Anforderungen nach der Landesbauordnung. Darauf, ob sie den für normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften aufgestellten (weiteren) Anforderungen des Bundesverwaltungsgerichts entsprächen (vgl. BVerwG, Urt. v. 28.10.1998, a.a.O.), kommt es nicht an. Denn auch eine Verwaltungsvorschrift, der nur gegenüber den Normadressaten (Bauherrn oder sonstigen am Bau Beteiligten) - und nicht gegenüber den Gerichten - Außenwirkung zukommen soll (vgl. § 73a Abs. 1 Satz 2 LBO), muss formell und materiell rechtmäßig sein.
41 a) Ob alle in der Verwaltungsvorschrift enthaltenen Technischen Baubestimmungen von den obersten Baurechtsbehörden in dem dafür vorgesehenen Verfahren erlassen worden sind (vgl. § 73a Abs. 5 Sätze 1 und 2 LBO), mag dahinstehen. Denn selbst dann, wenn bei der Bekanntmachung der Verwaltungsvorschrift in einem Teilbereich (Brandschutz) (erheblich) von der Musterverwaltungsvorschrift abgewichen worden und insoweit ein weiteres Anhörungsverfahren erforderlich gewesen sein sollte, stellte dies die Wirksamkeit der offensichtlich davon abtrennbaren Anforderungen im angegriffenen Anhang 8 der Verwaltungsvorschrift nicht in Frage.
42 Inwiefern bereits das zur Musterverwaltungsvorschrift durchgeführte Anhörungsverfahren nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden sein sollte, wie die Antragstellerinnen mit dem Hinweis auf unberücksichtigt gebliebene Kreise meinen, vermag der Senat nicht erkennen. Die Antragstellerinnen als einzelne Unternehmen mussten nicht beteiligt zu werden (vgl. dazu Tophoven, in: BeckOK UmweltR, § 51 BImSchG, Rn 5; Hofmann/Koch, in: GK BImschG Rn.21). Es ist auch nicht ersichtlich, dass der Entwurf nach Durchführung der Anhörung in der Sache geändert worden wäre. Dass eine Stellungnahme beteiligter Kreise - etwa die der Deutschen Holzwirtschaft vom 30.06.2017 - nicht in deren Sinne Berücksichtigung gefunden haben mag, macht das Anhörungsverfahren noch nicht fehlerhaft. Insbesondere besteht keine Pflicht, eine solche durch eine eigene Stellungnahme zu erörtern oder gar formal zurückzuweisen (vgl. Thiel, in: Landmann/Rohmer UmweltR <92. EL Feb. 2020>, § 51 BImSchG Rn. 26 f.). Abgesehen davon führte eine etwa unzureichende Auseinandersetzung in der Sache mangels besonderer Schwere noch nicht zur Unwirksamkeit der Verwaltungsvorschrift aus formellen Gründen (vgl. Thiel, a.a.O., Rn. 30 f.; anders für den - hier freilich nicht vorliegenden - Fall einer gar nicht oder zu spät erfolgten Beteiligung Jarass, BImSchG 13. A. 2020, § 51 Rn. 4).
43 b) Die hier in Rede stehenden Technischen Baubestimmungen sind jedoch nicht von der Rechtsgrundlage in § 73a Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 LBO gedeckt, auf die sie allein gestützt sind, sodass es auf die von den Beteiligten - zunächst allein - in den Vordergrund gestellte und in ihren Schriftsätzen ausführlich behandelte Frage einer Vereinbarkeit mit Unionsrecht, nämlich mit Art. 8 Abs. 4 der Bauproduktenverordnung i. V. m. der auf sie gestützten harmonisierten Norm DIN EN 13986 „Holzwerkstoffe zur Verwendung im Bauwesen - Eigenschaften, Bewertung der Konformität und Kennzeichnung“ sowie die Vereinbarkeit mit Grundrechten, insbesondere Art. 12 Abs. 1 GG, nicht mehr ankommt.
44 (1) Mit den angegriffenen Anforderungen an VOC-Emissionen sollen die Anforderungen des § 3 Abs. 1 Satz 1 LBO in Bezug auf die Leistung von Bauprodukten in bestimmten baulichen Anlagen und ihrer Teile konkretisiert werden, nämlich in Bezug auf Merkmale von Bauprodukten, die sich für einen Verwendungszweck auf die Erfüllung der Anforderungen nach § 3 Abs. 1 Satz 1 LBO auswirken (§ 73a Abs. 2 Nr. 3b LBO), ferner in Bezug auf Verfahren für die Feststellung der Leistung eines Bauprodukts im Hinblick auf solche Merkmale (§ 73a Abs. 2 Nr. 3c LBO) sowie schließlich in Bezug auf die für einen bestimmten Verwendungszweck erforderliche Leistung in Bezug auf ein solches Merkmal (§ 73a Abs. 2 Nr. 3f LBO). Dagegen handelt es sich, wie bereits aus dem für die Feststellung der Leistung maßgeblichen Verfahren („Prüfkammertests nach der prEN 16516:2015-05“) erhellt (vgl. auch 1 des Anhangs 8), nicht um unmittelbare Konkretisierungen in Bezug auf bestimmte bauliche Anlagen oder ihre Teile (§ 73a Abs. 2 Nr. 1 LBO) oder die Planung, Bemessung und Ausführung baulicher Anlagen und ihrer Teile (§ 73a Abs. 2 Nr. 2 LBO), wie es die Gliederungsüberschrift 2.2 ABG „Besondere Anforderungen an Aufenthaltsräume und baulich nicht davon abgetrennte Räume“ erwarten lässt.
45 (2) Einer Konkretisierung zugänglich sind nach § 73a Abs. 1 Satz1 LBO nur Anforderungen nach § 3 Abs. 1 Satz 1 LBO, mithin solche, die gewährleisten sollen, dass insbesondere durch bauliche Anlagen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung, insbesondere Leben, Gesundheit oder die natürlichen Lebensgrundlagen, nicht bedroht werden und jene ihrem Zweck entsprechend ohne Missstände benutzbar sind. § 3 Abs. 1 Satz 1 LBO gibt als Grundnorm den gesetzlichen Rahmen für das Bauordnungsrecht vor. Alle aufgrund der Landesbauordnung erlassenen Rechtsverordnungen, örtlichen Bauvorschriften, Verwaltungsvorschriften und Einzelanordnungen müssen sich, soweit nichts anderes bestimmt ist, in diesem Rahmen halten (vgl. Sauter, LBO 3. A. < Nov. 2019> § 3 Rn. 2, § 73 Rn. 16; auch Nds. OVG, Urt. v. 04.12.2015 - 1 LC 178/14 -, BauR 2016, 985).
46 Mit der Anforderung, dass „die öffentliche Sicherheit oder Ordnung, insbesondere Leben, Gesundheit oder die natürlichen Lebensgrundlagen, nicht bedroht werden“, ist die (klassische) Gefahrenabwehr (vgl. § 1 Abs. 1 PolG) und nicht eine darüberhinausgehende "Vorsorge" oder "Vorbeugung" angesprochen.
47 Mit der Anforderung, dass die baulichen Anlagen zweckentsprechend ohne Missstände benutzbar sein müssen, wird entgegen der Auffassung des Antragsgegners lediglich verdeutlicht, dass die Baugenehmigung nicht nur die Errichtung des Baukörpers, sondern auch die bestimmungsgemäße Nutzung der Anlage zum Gegenstand hat. Insofern ist für die Beurteilung, ob eine bauliche Anlage die öffentliche Sicherheit und Ordnung bedroht, nicht nur auf den Baukörper als solchen, sondern auch auf die Bausubstanz in der ihr zugedachten Funktion abzustellen. Missstände sind dementsprechend anzunehmen, wenn bei der bestimmungsgemäßen Nutzung - während der üblichen Lebensdauer der jeweiligen baulichen Anlage - die öffentliche Sicherheit und Ordnung beeinträchtigt wird (vgl. zum Ganzen Sauter, a.a.O., § 3 Rn. 19). Ist die Gefahrenprognose damit auch regelmäßig für eine längere Nutzungsdauer zu stellen und reicht es aus, dass auch erst nach Jahren mit einem Schadenseintritt zu rechnen ist (vgl. Schlotterbeck, in: ders./Hager/Busch/Gammerl, LBO/LOAVO 7. A. 2016, § 3 Rn. 30), bedeutet dies nicht, dass die Baurechtsbehörden zu einer Gefahrenvorsorge berufen wären. Dies gilt auch dann, wenn mit der weiteren Anforderung auch das „Bausozialrecht“ angesprochen sein sollte (vgl. Schlotterbeck, a.a.O., Rn. 40).
48 Soweit § 3 Abs. 1 Satz 1 LBO die Berücksichtigung der Grundanforderungen an Bauwerke gemäß Anhang 1 der Verordnung (EU) Nr. 305/2011 (Bauproduktenverordnung) vorsieht, führt auch dies entgegen der Auffassung des Antragsgegners nicht zu einer Erweiterung der sich aus § 3 Abs. 1 Satz 1 LBO ergebenden Hauptaufgabe des Bauordnungsrechts, Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung abzuwehren (vgl. dazu LT-Drs. 16/2745, S. 19).
49 Dass § 3 Abs. 1 LBO jedenfalls in vorliegendem Zusammenhang auch zur Gefahrenvorsorge ermächtigte, folgt auch nicht etwa aus der die Generalklausel bereits konkretisierenden Vorschrift des § 14 Abs. 2 LBO, wonach bauliche Anlagen u. a. so angeordnet, beschaffen und gebrauchstauglich sein müssen, dass u. a. durch chemische, physikalische und biologische Einflüsse bei sachgerechtem Gebrauch nicht Gefahren oder unzumutbare Belästigungen entstehen. Unter letzteren sind zwar Störungen des körperlichen oder seelischen Wohlbefindens zu verstehen, die (noch) nicht mit einem Schaden für die Gesundheit verbunden sind, aber von den Betroffenen rechtlich nicht mehr hingenommen zu werden brauchen (vgl. Sauter, a.a.O., § 14 Rn. 9). Jedoch führten solche Belästigungen zu einer Störung der öffentlichen Ordnung, sodass es auch insoweit um Gefahrenabwehr geht (vgl. BeckOK BauordnungsR BW <2020> / Spannowsky BW BWLBO § 3 Rn. 30); es wird lediglich ein anderes Schutzgut angesprochen.
50 Umfassen die Befugnisse und Ermächtigungen der Baurechtsbehörden - von besonders geregelten Ausnahmen einmal abgesehen (vgl. etwa § 15 Abs. 1 LBO zum vorbeugenden Brandschutz) - Vorsorgemaßnahmen nicht ausdrücklich, kann die in § 73a Abs. 1 Satz 1 LBO in Bezug genommenen Generalklausel auch nicht erweiternd i. S. einer Gefahrenvorsorge ausgelegt werden, indem den obersten Baurechtsbehörden, wie der Antragsgegner meint, eine "Einschätzungsprärogative" in Bezug darauf zugebilligt wird, ob die ihnen vorliegenden Erkenntnisse die Annahme einer (abstrakten) Gefahr rechtfertigen. Denn eine solche Einschätzungsprärogative ist dem in Generalklauseln nach Art des § 3 Abs. 1 Satz 1 LBO gefassten allgemeinen Recht der Gefahrenabwehr fremd (vgl. BVerwG, Urt. v. 03.07.2002 - 6 CN 8.01 -, BVerwGE 116, 347; i. E. wohl anders BeckOK, a.a.O., BWLBO § 3 Überblick u. Rn. 19 ff.; NdsOVG, Urt. v. 04.12.2015, a.a.O.). Auch der Verweis auf die Technischen Baubestimmungen, in denen eine Gefahrenvorsorge i. S. eines dynamischen Grundrechtsschutzes zum Ausdruck komme (vgl. BeckOK, a.a.O., BWLBO § 3 Rn. 20), führt nicht weiter, weil es sich insoweit um einen Zirkelschluss handelt.
51 Der klassische Gefahrenbegriff, der danach - jedenfalls im Grundsatz - auch der Landesbauordnung zugrunde liegt, ist dadurch gekennzeichnet, dass "aus gewissen gegenwärtigen Zuständen nach dem Gesetz der Kausalität gewisse andere Schaden bringende Zustände und Ereignisse erwachsen werden" (vgl. bereits PrOVG, Urt. v. 15.10. 1894, PrVBl 16, 125, 126). Schadensmöglichkeiten, die sich lediglich nicht ausschließen lassen, weil nach dem derzeitigen Wissensstand bestimmte Ursachenzusammenhänge weder bejaht noch verneint werden können, begründen noch keine Gefahr, sondern lediglich einen Gefahrenverdacht oder ein "Besorgnispotential" (vgl. BVerwG, Urt. v. 03.07.2002, a.a.O.; Urt. v. 19.12.1985 - 7 C 65.82 -, BVerwGE 72, 300, 315).
52 Maßgebliches Kriterium zur Feststellung einer Gefahr ist damit die hinreichende Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts (vgl. BVerwG, Urt. v. 03.07.2002, a.a.O.; Urt. v. 26.02.1974 - 1 C 31.72 - BVerwGE 45, 51, 57). Das trifft nicht nur für die "konkrete" Gefahr zu, die zu Abwehrmaßnahmen im Einzelfall berechtigt, sondern grundsätzlich auch für die für Rechtsverordnungen nach § 73 Abs. 1 LBO - und auch für die auf § 73a Abs. 1 LBO gestützten Verwaltungsvorschriften - erforderliche "abstrakte" Gefahr (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 04.12.1975 - III 905/73 -; anders im Ergebnis Nds. OVG, Beschl. v. 04.12.2015, a.a.O.). Diese unterscheidet sich von der konkreten Gefahr nicht durch den Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts, sondern durch den Bezugspunkt der Gefahrenprognose bzw. die Betrachtungsweise: Eine konkrete Gefahr liegt vor, wenn in dem zu beurteilenden konkreten Einzelfall in überschaubarer Zukunft mit dem Schadenseintritt hinreichend wahrscheinlich gerechnet werden kann; eine abstrakte Gefahr ist gegeben, wenn eine generell-abstrakte Betrachtung für bestimmte Arten von Verhaltensweisen oder Zuständen zu dem Ergebnis führt, dass mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Schaden im Einzelfall einzutreten pflegt und daher Anlass besteht, diese Gefahr mit generell-abstrakten Mitteln, also einem Rechtssatz zu bekämpfen; das hat (lediglich) zur Folge, dass auf den Nachweis der Gefahr eines Schadenseintritts im Einzelfall verzichtet werden kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 03.07.2002, a.a.O.; Beschl. v. 24.10.1997 - 3 BN 1.97 -, Buchholz 418.9 TierSchG Nr. 10). Auch die Feststellung einer abstrakten Gefahr verlangt mithin eine in tatsächlicher Hinsicht genügend abgesicherte Prognose: Es müssen - bei abstrakt-genereller Betrachtung - hinreichende Anhaltspunkte vorhanden sein, die den Schluss auf den - hier innerhalb der üblichen Nutzungsdauer der entsprechenden baulichen Anlagen - drohenden Eintritt von Schäden rechtfertigen. Dabei liegt es im Wesen von Prognosen, dass die vorhergesagten Ereignisse wegen anderer als der erwarteten Geschehensabläufe ausbleiben können. Von dieser mit jeder Prognose verbundenen Unsicherheit ist jedoch die Ungewissheit zu unterscheiden, die bereits die tatsächlichen Grundlagen der Gefahrenprognose betrifft. Ist die Behörde mangels genügender Erkenntnisse über die Einzelheiten der zu regelnden Sachverhalte und/oder über die maßgeblichen Kausalverläufe zu der erforderlichen Gefahrenprognose nicht im Stande, so liegt keine Gefahr, sondern - allenfalls - eine mögliche Gefahr oder ein Gefahrenverdacht vor. Zwar kann auch in derartigen Situationen ein Bedürfnis bestehen, zum Schutz der etwa gefährdeten Rechtsgüter, namentlich höchstrangiger Rechtsgüter wie Leben und körperlicher Unversehrtheit von Menschen, Freiheitseinschränkungen anzuordnen. Doch beruht ein solches Einschreiten dann nicht auf der Feststellung einer Gefahr; vielmehr werden in einem solchen Falle Risiken bekämpft, die jenseits des Bereichs feststellbarer Gefahren verbleiben. Das setzt eine Risikobewertung voraus (vgl. dazu EuGH, Urt. v. 23.09.2003 - C-192/01 -, juris Rn. 49 ff.), die - im Gegensatz zur Feststellung einer Gefahr - über einen Rechtsanwendungsvorgang weit hinausgeht und mehr oder weniger zwangsläufig neben der Beurteilung der Intensität der bestehenden Verdachtsmomente eine Abschätzung der Hinnehmbarkeit der Risiken sowie der Akzeptanz oder Nichtakzeptanz der in Betracht kommenden Freiheitseinschränkungen in der Öffentlichkeit einschließt, mithin - in diesem Sinne - "politisch" geprägt oder mitgeprägt ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 03.07.2002, a.a.O.; BVerfG, Beschl. v. 28.02.2002 - 1 BvR 1676/01 -, DVBl 2002, 614).
53 Eine derart weitreichende Bewertungs- und Entscheidungskompetenz steht den obersten Baurechtsbehörden aufgrund der Ermächtigungen nach § 73a Abs. 1 i.V.m. § 3 Abs. 1 LBO nicht zu. Es wäre mit den Grundsätzen der Bestimmtheit gesetzlicher Ermächtigungen zum Erlass von Rechtsvorschriften oder Verwaltungsvorschriften der Exekutive und des Vorbehalts des Gesetzes nicht vereinbar, wenn die Exekutive ohne strikte Bindung an den überlieferten Gefahrenbegriff kraft eigener Bewertung über die Notwendigkeit oder Vertretbarkeit eines Erlasses von Rechts- oder Verwaltungsvorschriften entscheiden könnte. Die rechtsstaatliche und demokratische Garantiefunktion der sicherheitsrechtlichen Normermächtigungen wäre in Frage gestellt, könnte die Exekutive nach jenen Vorschriften bereits einen mehr oder minder begründeten Verdacht zum Anlass für generelle Freiheitseinschränkungen nehmen. Vielmehr ist es Sache des zuständigen Gesetzgebers, sachgebietsbezogen darüber zu entscheiden, ob, mit welchem Schutzniveau (vgl. BVerwG, Urt. v. 19.12.1985, a.a.O., S. 316) und auf welche Weise Schadensmöglichkeiten vorsorgend entgegengewirkt werden soll, die nicht durch ausreichende Kenntnisse belegt, aber auch nicht auszuschließen sind. Allein der Gesetzgeber ist befugt, unter Abwägung der widerstreitenden Interessen die Rechtsgrundlagen für Grundrechtseingriffe zu schaffen, mit denen Risiken vermindert werden sollen, für die - sei es aufgrund neuer Verdachtsmomente, sei es aufgrund eines gesellschaftlichen Wandels oder einer veränderten Wahrnehmung in der Bevölkerung - Regelungen gefordert werden. Das geschieht üblicherweise durch eine Absenkung der Gefahrenschwelle in dem ermächtigenden Gesetz von der "Gefahrenabwehr" zur "Vorsorge" gegen drohende Schäden (vgl. etwa § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtG, § 5 Abs. 1 Nr. 2 BImSchG, § 6 Abs. 2 GenTG, § 7 BBodSchG; zum Ganzen BVerwG, Urt. v. 03.07.2002, a.a.O.), wovon in § 3 Abs. 1 Satz 1 LBO gerade kein Gebrauch gemacht worden ist. Auch darin zeigt sich positivrechtlich, dass dem Gefahrenbegriff eben nicht aus sich heraus bereits eine Erstreckung auf die Aufgabe der Risiko- oder Gefahrenvorsorge innewohnt (zum Ganzen BVerwG, Urt. v. 03.07.2002, a.a.O.; auch Schlotterbeck, a.a.O., § 3 Rn. 22, 25; Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 3. A. 2001, Rn. 35; VGH BW, Urt. v. 28.07.2009 - 1 S 2200/08 -, VBlBW 2010, 29; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 16.10.2001 - 1 S 2346/00 -. VBlBW 2002, 292; di Fabio, JURA 1996, 566 <571>; anders wohl BeckOK, a.a.O., BWLBO § 3 Rn. 19 ff.; Nds. OVG, Urt. v. 04.12.2015, a.a.O.; BayVGH, Urt. v. 18.05.2017 - 2 B 17.543 -, NVwZ-RR 2017, 811; Sächs.OVG, Beschl. v. 11.02.2019 - 1 B 454.18 -, juris Rn. 17: „vorbeugender Gesundheitsschutz“).
54 Danach muss ausgehend von dem bereits erreichten Stand von Wissenschaft und Technik (vgl. BVerwG, Beschl. v. 16.02.1998 - 11 B 5.98 -, Buchholz 451.171 § 7 AtG Nr. 6 zu § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtG) aus Tatsachen entweder der allgemeine praktische Verstand oder der wissenschaftliche Sachverstand, gestützt auf entsprechende Lebenserfahrungen oder (gesicherte) wissenschaftliche Erfahrungssätze, eine abstrakte Schädigungsvermutung belegen und begründen können (vgl. Di Fabio, Risikoentscheidungen, S. 67; Pfaundler, UPR 1999, 336 <337>). Bei unterschiedlichen wissenschaftlichen Auffassungen müssen die, die entsprechende - hier gesundheitsschädliche - Auswirkungen erwarten, bei einer wertenden Betrachtung überwiegen (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 17.09.2020 - 9 S 2343/20 - zu Art. 14 Abs. 2 Buchst. a) der VO (EG) Nr. 178/2002).
55 (3) Ausgehend davon vermag der Senat jedoch nicht festzustellen (vgl. demgegenüber Senatsbeschl. v. 15.05.1991 - 8 S 1068/91 -, UPR 1992, 32 zur konkreten Gefahr bei Spritzasbestbeschichtung), dass der zum maßgeblichen Zeitpunkt (vgl. EuGH, Urt. v. 23.09.2003, a.a.O., juris Rn. 48) des Erlasses der Verwaltungsvorschrift - dem 20.12.2017 - vorhandene (gesicherte) Erkenntnisstand die Annahme einer abstrakten Gefahr für die menschliche Gesundheit gerechtfertigt hätte, sollten die angegriffenen Summengrenzwerte TVOCspez und TSVOC, der vorgegebene (Summen-)R-Wert oder die festgelegte Mengenbegrenzung (2.2.1.1 ABG) überschritten werden.
56 Obwohl dem Antragsgegner die vorläufige Einschätzung des Senats aus den in den vorläufigen Rechtsschutzverfahren ergangenen Beschlüssen bekannt war, hat dieser bis zuletzt nicht aufzuzeigen vermocht, dass mit der Überschreitung der von ihm festgelegten Summenwerte bereits die Gefahrenschwelle überschritten würde.
57 Dies geht weder aus den umfangreichen Schriftsätzen seines Prozessbevollmächtigten hervor, in denen solches zuletzt einfach behauptet wird, noch aus den vorgelegten zahlreichen Studien und sachverständigen Stellungnahmen. Auch den ergänzenden Erläuterungen der in der mündlichen Verhandlung informatorisch gehörten sachverständigen Personen bzw. Sachverständigen kann dies nicht entnommen werden. Soweit die Beteiligten bis kurz vor der mündlichen Verhandlung noch verschiedene, teilweise eigens für das Normenkontrollverfahren eingeholte gutachterliche Stellungnahmen und Studien vorgelegt haben, waren diese freilich nur insoweit zu berücksichtigen, als sie den seinerzeit vorhandenen Erkenntnisstand erläutern. Soweit sie dagegen aufgrund neuerer Untersuchungen gewonnene Erkenntnisse wiedergeben, waren sie aufgrund des für die rechtliche Beurteilung maßgeblichen Zeitpunkts des Erlasses der Verwaltungsvorschrift schon nicht entscheidungserheblich.
58 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass es - entgegen der Auffassung des Antragsgegners - nicht allgemein um von irgendwelchen VOC-Emissionen ausgehende, irgendwann festgestellte nachteilige Wirkungen geht, die in Abhängigkeit von ihrer jeweiligen Konzentration in der Innenraumluft geeignet sein können, nicht nur zu Gesundheitsrisiken, sondern zu einer Gesundheitsgefährdung zu führen (vgl. zu von aus Ottokraftstoff stammenden VOC-Emissionen etwa die zur Umsetzung der Richtlinie 94/63/EG erlassene 20. BImSchV und BVerwG, Beschl. v. 18.06.2012 - 7 B 62.11 -, Buchholz 406.25 § 7 BImSchG Nr. 2). Vielmehr kommt es darauf an, ob gerade die Einhaltung der im Anhang 8 - Anforderungen an bauliche Anlagen bezüglich des Gesundheitsschutzes (ABG) - unter 2.2.1.1 konkret an VOC-Emissionen gestellten Anforderungen, soweit sie angegriffen sind, erforderlich waren, um (auch) von Span- und OSB-Platten (als verklebte Hölzer) - im Hinblick auf die aus ihnen emittierenden spezifischen VOCs - abstrakte Gesundheitsgefahren abzuwehren, weil die entsprechenden VOC-Emissionen sonst während der üblichen (langen) Nutzungsdauer der (schutzbedürftige Räume umfassenden) baulichen Anlage zu einer Gesundheitsschädigung (oder zu einer - hier freilich nicht in Rede stehenden - unzumutbaren Belästigung) führten.
59 Eine solche Annahme setzt voraus, dass die konkret festgelegten Summenwerte nicht nur geeignet sind, eine gesundheitsgefährdende Exposition der Nutzer von vornherein auszuschließen, sondern gerade die Schwelle zu konkretisieren, die Gefahrenabwehrmaßnahmen erst zulässt. Insofern steht keineswegs nur die Verhältnismäßigkeit von jedenfalls zulässigen Gefahrenabwehrmaßnahmen in Rede, wie der Antragsgegner meint.
60 Danach führt es von vornherein nicht weiter, wenn der Antragsgegner immer wieder darauf verweist, dass Wirkungen von VOCs von Geruchsempfindungen und Reizwirkungen auf die Schleimhäute von Augen und Nase und Rachen über Wirkungen auf das Nervensystem hin zu Langzeitwirkungen reichten, denn damit wird noch nicht einmal ansatzweise aufgezeigt, dass es zu solchen Wirkungen bereits bei Nichteinhaltung der in der Verwaltungsvorschrift enthaltenen, streitgegenständlichen Anforderungen käme. Ebenso wenig lässt der weitere Hinweis, dass „zur Vermeidung einer unendlichen Gesamtkonzentration an Stoffemissionen und damit zur Abwehr gesundheitlich nachteiliger Wirkungen“ die „einschlägigen ECA-Berichte“ eine Obergrenze für TVOC als eine Mindestanforderung für einen hinreichenden Gesundheitsschutz vorsähen (vgl. AgBB Bewertungsschema für VOC aus Bauprodukten 2018), erkennen, dass gerade die hier in Rede stehenden, von den in Anlage 3 aufgeführten Bauprodukten in der Prüfkammer einzuhaltenden Summenwerte jeweils zur Gefahrenabwehr erforderlich wären.
61 Dass mit den angegriffenen Anforderungen an VOC-Emissionen unter 2.2.1.1. nicht abstrakte Gefahren, sondern i. S. einer Gefahrenvorsorge nur möglichen, nicht ausschließbaren Gefahren entgegengetreten werden sollte, lässt bereits der Anhang 8 - Anforderungen an bauliche Anlagen bezüglich des Gesundheitsschutzes (ABG) - selbst bzw. das ihm zugrundliegende AgBB-Bewertungsschema (nunmehr veröffentlicht als AgBB-Bewertungsschema 2018) erkennen. Die damit verfolgte Zielsetzung, die jeweiligen Definitionen der zu bestimmenden Parameter, das maßgebliche Prüfverfahren und die daraus letztlich abgeleiteten, „gegriffen“ erscheinenden, als Grenzwerte zu beachtenden Summenwerte lassen - zumal vor dem Hintergrund der für Einzelstoffe vorhandenen Innenraumwerte RW II - nur den Schluss zu, dass eine über die Gefahrenabwehr hinausgehende Schadens- bzw. Risikovorsorge getroffen wurde, auch wenn der Antragsgegner dies neuerdings anders darzustellen versucht, indem er etwas andere Formulierungen verwendet, die nahelegen sollen, dass mit jenen Anforderungen tatsächlich abstrakte Gefahren abgewehrt werden sollten.
62 Bereits aus den von ihm selbst vorgelegten Verlautbarungen des Ausschusses für gesundheitliche Bewertung (AgBB) „Anforderungen an die Innenraumluftqualität in Gebäuden: Gesundheitliche Bewertung der Emissionen von flüchtigen organischen Verbindungen (VVOC, VOC, und SVOC)“ geht hervor, dass es bei dem auch den angegriffenen AGB zugrundeliegenden AgBB-Bewertungsschema, um die „Sicherung einer gesundheitlich (bzw. hygienisch) unbedenklichen Innenraumqualität in baulichen Anlagen“ und damit nicht um die Abwehr abstrakter Gefahren geht. Auch an anderer Stelle hat der Ausschuss bei Aktualisierung seines Bewertungsschemas die Notwendigkeit betont, die Eignung von Bauprodukten zur Verwendung in Innenräumen zu prüfen und zu bewerten, um die Sicherstellung einer gesundheitlich unbedenklichen Innenraumluftqualität als baurechtliches Schutzziel zu gewährleisten(https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/355/dokumente/aenderungen_und ergaenzungen_im_agbb-schema_2018.pdf). Dem entspricht, dass die Anforderungen in den ABG auch mit Blick auf sich in Aufenthaltsräumen aufhaltende (chronisch) kranke Menschen aufgestellt wurden, auf die nach (bau)polizeirechtlichen Grundsätzen nicht abgehoben werden kann (vgl. Sauter, LBO 3. A. , § 3 Rn. 12); aus § 3 Abs. 2 LBO lässt sich für das Bauordnungsrecht nichts anderes herleiten (vgl. hierzu Sauter, a.a.O., § 3 Rn. 49 ff.). Schließlich wird nach dem Bewertungskonzept auch der konsequente Einsatz emissionsarmer Bauprodukte angestrebt.
63 Dass es nicht um die Einhaltung von Gefahrenschwellen geht, kommt insbesondere darin zum Ausdruck, dass die einzuhaltenden Werte - einmal abgesehen von den nicht angegriffenen, ebenfalls einzuhaltenden Emissionswerten von 0,01 bzw. 0.001 mg/m3 für einzelne kanzerogene Stoffe der EU-Kategorie 1A und 1B nach der CLP-Verordnung (EG) - allesamt Summenwerte sind (TVOCspez-Wert, TSVOC-Wert, R-Wert nach gewichteter Einzelstoffbewertung, Mengenbegrenzung von VOC ohne Bewertungsmaßstäbe nach NIK), die sich aus der Aufsummierung verschieden bewerteter Einzelstoffkonzentrationen ergeben, denen ganz unterschiedlich hohe Risiken eigen sind. Auch eine in dem Bewertungsschema ohne weiteres und ohne jede Differenzierung angenommene additive Wirkung von VOC stellt für sich genommen noch keinen plausiblen Grund dar, unabhängig davon, welche VOC aus der sehr umfangreichen Liste ganz unterschiedlicher Zielverbindungen in Anlage 2 letztlich für die Überschreitung der jeweiligen Summenwerte in der Prüfkammer ursächlich waren, allgemein deren Einhaltung von allen Bauprodukten der Anlage 3 zu fordern. Dies gilt unabhängig davon, ob eine additive Wirkung nur bei gleichen Wirkungsendpunkten (vgl. Prof. Dr. Mersch-Sundermann in der mündlichen Verhandlung), bei ähnlich wirkenden Einzelstoffen - etwa für Terpene einerseits und Aldehyde anderseits (vgl. die entsprechenden Innenraumwerte des AIR), oder bereits dann angenommen werden konnte, wenn die Einzelstoffe jeweils inhalativ aufgenommen werden (vgl. Dr. Witten, AgBB, ebenfalls in der mündlichen Verhandlung). Soweit der Antragsgegner im Schriftsatz vom 29.09.2020 nun gar - von Ausnahmen abgesehen - unabhängig von den jeweiligen Einzelstoffen und deren bekannten Wirkungen verallgemeinernd von einer (mindestens) additiven Wirkung ausgeht, lässt sich dies auch nicht der von ihm als „Beleg“ vorgelegten, eigens für das Normenkontrollverfahren eingeholten Stellungnahme des Umweltbundesamtes vom 20.09.2020 (S. 12) entnehmen.
64 Mit der zunächst bestimmten (absoluten) Obergrenze für VOC-Emissionen (TVOCspez) soll dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die Bewohner von Gebäuden immer einer Vielzahl von Substanzen ausgesetzt sind, weshalb eine unendliche Gesamtkonzentration an Stoffemissionen vermieden werden soll. Wissenschaftlich kontrollierte anerkannte Humanstudien und epidemiologische Untersuchungen sollen eine eindeutige konzentrationsabhängige Wirkungsbeziehung für gesundheitliche Effekte durch die Summe an definierten flüchtigen organischen Stoffen ergeben haben. Die in den ABG als TVOCspez bezeichnete Summe von VOC stellt freilich die Summe der Konzentrationen der substanzspezifisch quantifizierten Zielverbindungen (NIK-Stoffe) sowie der über das Toluoläquivalent quantifizierten, nicht identifizierten und Nichtzielverbindungen mit jeweils einer Konzentration ab 5 µg/m3 dar. Es liegt auf der Hand, dass sich allein mit der Überschreitung eines aus ganz unterschiedlich hohe Risiken aufweisenden Einzelstoffen gebildeten Summenwerts von 1 mg/m3 nicht ohne Weiteres eine (abstrakte) Gefahr begründen lässt. Dem entspricht auch der Hinweis in der von der Verwaltungsvorschrift für maßgeblich erklärten, inzwischen in Kraft getretenen, in der harmonisierten Produktnorm DIN EN 13986 freilich (noch) nicht in Bezug genommenen horizontalen Prüfnorm DIN EN 16516:2018-01, die der Antragsgegner als Beleg für eine Gefährlichkeit der hier in Rede stehenden VOC gewertet wissen will. So heißt es dort (a.a.O., S. 34):
65 „Die Emissionswerte für TVOC und TSVOC beinhalten eine undefinierte Mischung von Substanzen unterschiedlicher oder nicht genau definierter Toxizität. Sie sind keine zuverlässigen Indikatoren dafür, welche Wirkungen die Emissionen aus Produkten auf die menschliche Gesundheit haben.“
66 Dem entspricht auch, dass von dem beim Umweltbundesamt gebildeten Ausschuss für Innenraumwerte (AIR) bzw. seinem Vorgängergremium (Ad-hoc-Arbeitsgruppe Innenraumwerte der IRK/AOLG) einerseits - für einzelne Substanzen oder Substanzgruppen - bundeseinheitliche, gesundheitsbezogene Richtwerte (RW I und RW II) sowie anderseits (in TVOC-Summenwerten ausgedrückte) hygienische Leit- bzw. Referenzwerte andererseits festgelegt wurden (vgl. die vom Antragsgegner vorgelegte Bekanntmachung des Umweltbundesamts „Beurteilung von Innenraumluftkontaminationen mittels Referenz- und Richtwerten (BuGesBl. 2007, 990 ff.; phttps://www.umweltbundesamt.de/themen/gesundheit/kommissionen-arbeitsgruppen/ausschuss-fuer-innenraumrichtwerte-vormals-ad-hoc-ausschuss-fur-innenraumrichtwerte). Dabei wird lediglich der Richtwert RW II als wirkungsbezogener Wert bezeichnet, der sich auf die gegenwärtigen toxikologischen und epidemiologischen Kenntnisse zur Wirkungsschwelle eines Stoffes - allerdings auch unter Einführung von Unsicherheitsfaktoren - stütze und die Konzentration darstelle, bei deren Erreichen bzw. Überschreiten unverzüglich zu handeln sei, weil sie (besonders) für empfindliche Personen bei Daueraufenthalt in den Räumen eine gesundheitliche Gefährdung sein k ö n n e bzw. nicht mehr mit hinreichender Wahrscheinlichkeit a u s z u s c h l i e ß e n sei. Im Hinblick auf die - auch vom Antragsgegner immer wieder angeführten - systematischen praktischen Erfahrungen, dass mit steigender Konzentration die Wahrscheinlichkeit für Beschwerden oder nachteilige Auswirkungen zunimmt, der Kenntnisstand aber nicht ausreicht, um rein toxikologisch begründete Richtwerte abzuleiten, sowie die Erkenntnis, dass die Innenraumluft zahlreiche organische Verbindungen enthalten kann, wurden 2007 auch in TVOC-Summenwerte ausgedrückte, als Referenzwerte zu interpretierende „hygienische Leitwerte“ erarbeitet, wobei der hier interessierende Konzentrationsbereich von 1,0 - bis 3,0 mg/m3 lediglich als „hygienisch auffällig“ bewertet wurde, was bedeute, dass die gesundheitliche Relevanz geprüft werden sollte und eine toxikologische Einzelbewertung zumindest der Stoffe mit den höchsten Konzentrationen empfohlen werde; dabei hätten die toxikologisch begründeten Richtwerte allerdings stets Vorrang vor dem TVOC-Konzept.
67 Dazu wird in der Bekanntmachung (a.a.O., S. 995) im Einzelnen ausgeführt:
68 „Der Vorteil dieser (für die Innenraumluft aufgestellten) Richtwerte (der Ad-hoc-AG IRK/AOLG (Stand 2006) für Einzelstoffe) ist ihr einheitlicher, am Gefahrenbezug orientierter Ableitungsweg. ... Der Richtwert II ist dadurch charakterisiert, dass (erst) bei seiner Überschreitung im Sinne von § 3 Abs. 1 Satz 1 und § 16 der jeweiligen Landesbauordnung mit Gesundheitsgefahren besonders für empfindliche Personen wie z. B. Schwangere, Säuglinge und Kleinkinder zu rechnen ist.“
69 und (a.a.O., S. 996):
70 „Der TVOC-Wert hat aufgrund der unterschiedlichen Zusammensetzung des in der Innenraumluft auftretenden Substanzgemisches keine konkrete toxikologische Basis.“
71 sowie (a.a.O., S. 992, 997):
72 „Das TVOC-Konzept basiert prinzipiell auf der statistischen Auswertung der Daten des 1. Umweltsurveys von 1985/86, bei dem die Luft in Wohnräumen untersucht wurde. TVOC-Werte können damit im Sinne von Referenzwerten interpretiert werden.“
73 „Referenzwerte geben keinen Aufschluss über eine Gesundheitsgefährdung. Es wird lediglich ausgesagt, dass der überwiegende Teil der Bevölkerung in einer vergleichbaren Größenordnung exponiert ist.
74 Inwiefern der Antragsgegner 2017 von einem gegenteiligen Erkenntnisstand hätte ausgehen dürfen, lassen auch die von ihm darüber hinaus vorgelegten zahlreichen Anlagen nicht erkennen. Vielmehr bestätigen diese gerade, dass TVOC-Werte auch weiterhin nicht als zuverlässige Indikatoren dafür angesehen werden, welche Wirkungen die Emissionen aus Produkten auf die menschliche Gesundheit haben. Auch der Umstand, dass ein differenziertes Vorgehen nach Einzelstoffen bzw. Stoffgruppen aufwändiger sein mag, rechtfertigt es ungeachtet dessen, dass Hersteller auf nicht geregelte Einzelstoffe ausweichen könnten, nicht, Summenwerte festzulegen, die Gefahren jedenfalls auszuschließen geeignet sind.
75 Auch Hofmann/Maraun halten in ihrem vom Antragsgegner vorgelegten Abschlussbericht vom 17./18.09.2020 fest, dass die Emissionsbewertung von Bauprodukten (zwar) letztendlich den Ausschluss einer gesundheitlichen Gefährdung der Raumnutzer gewährleisten solle, die Vermeidung gesundheitlicher Beeinträchtigungen (jedoch) durch die Einhaltung von toxikologisch abgeleiteten Innenraumrichtwerten erreicht werde und Summenwerte aufgrund ihrer heterogenen Zusammensetzung keine zuverlässigen gesundheitsbezogenen Indikatoren darstellten (a.a.O. S. 15).
76 Soweit sie aufgrund eines Vergleichs mit den für einen Teil der Holzwerkstoff-typischen VOC-Emissionen zur Verfügung stehenden Innenraumrichtwerten auch das AgBB-Bewertungsschema - insoweit - als ein „auf Gefahrenabwehr abzielendes Instrument“ einstufen, vermag dies indes nicht zu überzeugen. Insbesondere wird nicht nachvollziehbar aufgezeigt, warum - bei OSB-Platten - bei Überschreitung des Summenwerts von 1 mg/m3 in der Prüfkammer jedenfalls auch eine Überschreitung der für die entsprechenden Einzelstoffe bzw. Stoffgruppen geltenden Innenraumrichtwerte RW II im Realraum zu erwarten wäre, weil etwa anderen Einzelstoffen keine maßgebliche Bedeutung zukäme. Auch lassen diese Überlegungen nicht erkennen, warum damit mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine gesundheitliche Gefährdung angenommen werden könnte. Denn dies setzte voraus, dass die Richtwerte RW II ungeachtet dessen die Gefahrenschwelle markieren, dass auch sie auf Unsicherheitsfaktoren gestützt sind und sie bei Konzentrationen oberhalb des Richtwerts RW II gesundheitliche Gefahren bei empfindlichen Raumnutzern lediglich nicht mehr mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausschließen (vgl. UBA, Bekanntmachung, a.a.O., S. 992). Im Übrigen erscheint zweifelhaft, ob sich der angegriffene TVOCspez-Wert hinsichtlich bestimmter Holzwerkstoffe als rechtmäßig erwiese, wenn er ungeachtet seines fehlerhaften Ansatzes die Gefahrenschwelle zufällig getroffen haben sollte.
77 Schließlich können die Prüfkammerergebnisse ohnehin nicht ohne weiteres auf den Realraum übertragen werden und sind die Emissionsraten bei gleichen Klimabedingungen lediglich sehr ähnlich (vgl. die vom Antragsgegner vorgelegte Stellungname der Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung v. 18.09.2020, S. 3; Hofmann/Maraun, a.a.O., S. 86).
78 Insofern ist nicht nachvollziehbar, warum der in der Prüfkammer ermittelte TVOCspez-Wert nun auf einmal geeignet sein sollte, die Gefahrenschwelle zu markieren, zumal nach gesichertem wissenschaftlichen Erkenntnisstand gerade einige holzwerkstoffspezifische VOCs - nämlich die Terpene -, wovon auch der Antragsgegner ausgeht, auch nach dem 28.Tag weiter abnehmen („abklingen“, vgl. die im Parallelverfahren vorgelegte Anlage ASt 17, Metastudie „GesundHOLZ“, S. 48, 63; BAM-Studie „Emissionsverhalten von Holz und Holzwerkstoffen“ v. März 2012, S. 90).
79 Bezugspunkt der Gefahrenprognose ist schließlich nicht der 3. oder 28. Tag in der Prüfkammer, sondern der deutlich spätere - frühestens nach Einbau der Bauprodukte beginnende - Zeitraum der Nutzung als Wohnraum (vgl. Bekanntmachung des UBA, a.a.O., S. 999). Auch Hofmann/Maraun messen in ihrem Abschlussbericht dem Zeitpunkt des Einbaus Bedeutung zu (a.a.O., S. 14 f.). Diese allgemein bekannten Alterungseffekte dürften letztlich auch für die in Abstimmung mit den Herstellern vorgenommene „Spezifizierung“ des Prüfverfahrens maßgeblich gewesen sein, wonach die Proben nicht genommen werden müssen, sobald die üblichen Herstellungsprozesse abgeschlossen und sie (tatsächlich) zur Verwendung bereit sind (vgl. der in Anhang 8 in Bezug genommene Entwurf der DIN EN 16516 bzw. die inzwischen vorliegende DIN EN 16516:2018-01, Nr. 5.3.6 u. 5.8), sondern erst spätestens 16 Wochen nach Erreichen der Handelsfähigkeit (!) gezogen und auch erst dann emissionsarm verpackt werden müssen. Dies könnte darauf hindeuten, dass der Antragsgegner inzwischen selbst Zweifel hat, dass die Prüfkammerergebnisse an den beiden Stichtagen auf den Realraum übertragen werden können.
80 Soweit der Prozessbevollmächtigte des Antragsgegners demgegenüber behauptet, die Emissionsbelastung im Realraum würde aufgrund der Prüfkammerergebnisse ohnehin „regelmäßig und meist sogar deutlich unterschätzt“, hat er hierfür keine verallgemeinerungsfähigen wissenschaftlichen Erkenntnisse angeführt, mag auch der Luftaustausch im Realraum häufig geringer als in der Prüfkammer sein. Auch der von ihm vorgelegten Anlage 32 lässt sich dies nicht entnehmen; der Antragsgegner selbst hat zu diesem Fallbeispiel angemerkt, dass die seinerzeit für die nachteiligen Auswirkungen als ursächlich angesehene, besondere Einbausituation in der Prüfkammer durchaus hätte nachgebildet werden können, wenn bei der Messung nur die richtigen Beladungsfaktoren angegeben worden wären.
81 Die vorstehenden Bedenken bestehen gleichermaßen gegen die Anforderung an die Summe der Konzentrationen der schwerflüchtigen organischen Verbindungen, die sich auf die Summe der identifizierten und nicht identifizierten und über das Toluoläquivalent quantifizierten SVOC mit jeweils einer Konzentration ab 5 µg/m3 bezieht und auf einen zusätzlichen Beitrag von 10% (= 0,1 mg/m3) der maximal zulässigen TVOCspez-Konzentration begrenzt wird. Auch wenn diese bei den in Rede stehenden Span- und OSB-Platten nicht von Bedeutung sein dürften, unterliegen sie doch auch insoweit einer Prüfung.
82 Auch die Anforderung nach gewichteter Einzelstoffbewertung, dass R als die Summe aller Ri den Wert 1 nicht übersteigen darf, markiert - entgegen der Auffassung des Antragsgegners - nicht die Schwelle zur Gefahr. Denn die Anforderung an den R-Wert beruht auf der Annahme, dass, wenn Ri (= C1/NIK) den Wert 1 unterschreitet, (überhaupt) k e i n e Wirkung auftritt. Damit bedeutet dieser Wert aber nur, dass Wirkungen nicht a u s z u s c h l i e ß e n sind. Denn dieser beruht letztlich auf sog. NIK-Werten (niedrigste interessierende Konzentration, engl. LCI - Lowest Concentration of Interest), die - teilweise unter Berücksichtigung verschiedener Faktoren aus vorhandenen Arbeitsplatzgrenzwerten (AGW) bzw. MAK-Werten - abgeleitet wurden, um VOC-Emissionen aus Bauprodukten soweit zu begrenzen, dass die in der Raumluft resultierenden Immissionen auch unter ungünstigen, aber noch realistischen Bedingungen die Gesundheit auch e m p f i n d l i c h e r Personen (Allergiker) bei Daueraufenthalt (jedenfalls) nicht gefährden. Diese stoffspezifischen Rechengrößen beschreiben damit nur die Schwelle, unterhalb derer für den Einzelstoff k e i n e nachteiligen Wirkungen (mehr) zu befürchten sind. Insoweit verhält es sich nicht anders als bei den aus dem Naturschutzrecht bekannten sog. Critical Loads (vgl. hierzu den Senatsbeschl. v. 15.01.2019 - 8 S 846/18 -; BVerwG, Urt. v. 28.09.2011 - 7 C 21.09 -, NVwZ 2012, 176). Auch die inzwischen maßgeblichen EU-LCI-Werte dienen der Vermeidung von Gesundheitsrisiken („EU-LCI values should be applied in product safety assessment with the ultimate goal to avoid health risks from long-term exposore of the general population.“, Ref. Ares(2018)3820029 - 18/07/2018).
83 Soweit der Antragsgegner die NIK-/LCI-Werte nun entgegen allen bisherigen Verlautbarungen des Umweltbundesamts und dem Sprachgebrauch der EU - unter Bezugnahme auf eine eigens eingeholte Stellungnahme des Umweltbundesamts vom 20.09.2020 (S. 4, anders freilich S. 5, wo auf den NOAEL als Ausgangspunkt hingewiesen wird) - nun dahin definiert, dass mit ihnen Schwellen gekennzeichnet würden, ab denen mit entsprechenden Wirkungen zu r e c h n e n bzw. nachteilige Wirkungen auf die Gesundheit zu b e f ü r c h - t e n seien, ist dies nicht nachvollziehbar, sollte damit zum Ausdruck gebracht werden, dass mit solchen Wirkungen dann bereits mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu rechnen wäre.
84 Auch bei einer additiven Wirkung in dem vom Antragsgegner angenommenen umfassenden Sinne, erschlösse sich noch immer nicht, warum bei der Addition sämtlicher Einzelkonzentrationen, die für sich genommen keinerlei Wirkungen haben, bereits die Gefahrenschwelle überschritten sein sollte.
85 Soweit Hofmann/Maraun in ihrem Abschlussbericht (S. 10, 79) darauf hinweisen, dass einzelne NIK-Werte „in guter Übereinstimmung mit den ebenfalls toxikologisch zur Abwehr von Gefahren abgeleiteten Innenraumrichtwerten RW II-Werte“ stünden, der NIK-Wert für die bicyklischen Terpene mit der Leitkomponente α-Pinen nur leicht über dem Richtwert RW II liege, aus der Gruppe der Aldehyde die Summe von lediglich drei Vertretern den Summenwert des Richtwerts RW II überschreiten würde und aus der Gruppe der Carbonsäuren jeder einzelne NIK-Wert leicht bis deutlich über dem Summenwert des Richtwerts II liege, wird damit nicht aufgezeigt, dass der nach dem Anhang 8 letztlich maßgebliche (Summen-)R-Wert - bei Span- oder OSB-Platten - nur dann überschritten wird, wenn es in der Folge auch zu entsprechenden Überschreitungen der für die jeweiligen Stoffgruppen geltenden Richtwerte RW II käme.
86 Selbst wenn die Annahme einer additiven Wirkung jeglicher Verbindungen ab Konzentrationen von 5 µg/m3 bei Span- und OSB-Platten aufgrund der zu erwartenden Zielverbindungen nicht zum Tragen käme, kommt auch hier dazu, dass der Summen-R-Wert lange vor dem Einbau in den Realraum in der Prüfkammer einzuhalten ist und Terpene auch nach dem 28. Tag weiter „abklingen“, sodass eben nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden kann, dass später auch die Innenraumrichtwerte RW II überschritten würden, was - aufgrund der auch bei diesen berücksichtigten Unsicherheitsfaktoren - dann immer noch nicht die hinreichende Wahrscheinlichkeit einer gesundheitlichen Gefährdung belegte. Dass der R-Wert bis 1,49 auf 1 abzurunden wäre, ändert schließlich nichts.
87 Soweit der Antragsgegner noch auf die sog. Fact Sheets verweist, in denen verschiedene Informationen auch zu holzwerkstoffspezifischen VOC zusammengetragen sind und auf bereits existierende Werte Bezug genommen wird, erschließt sich nicht, inwiefern diese auf eine andere Beurteilung führen sollten. Im Gegenteil rufen die jeweils beschriebenen Schlüsselstudien („Key Study“) - im Wesentlichen Labor- bzw. Tierversuche - erhebliche Zweifel hervor, ob sich die daraus im Wege der Extrapolation abgeleiteten Werte nicht nur zur Bewertung von Gesundheitsrisiken eignen, sondern darüber hinaus alleinige Grundlage von Maßnahmen zur Abwehr von abstrakten Gefahren für die menschliche Gesundheit sein können, zumal die NIK-/LCI-Werte - wie auch Frau Dr. Witten (AgBB) auf Nachfrage bestätigt hat - unter Berücksichtigung von verschiedenen Unsicherheitsfaktoren gebildet werden.
88 Nicht weiter führt auch der Hinweis des Antragsgegners auf die Einstufung von (auch aus Spanplatten und OSB emittierenden) VOC nach der CLP-Verordnung und die dortigen „H-Sätze“. Denn diese lassen nicht erkennen, ab welcher Konzentration bestimmter Einzelstoffe die beschriebenen möglichen Auswirkungen zu erwarten sind.
89 Auch der Umstand, dass die Emissionen von Carbonsäuren, insbesondere die der Essigsäure aufgrund des maßgeblichen Probenahme- und Analyseverfahrens noch gar nicht vollständig erfasst sein mögen (vgl. Hofmann/Maraun, a.a.O., S. 16), ist ersichtlich nicht geeignet, den maßgeblichen TVOCspez-Wert oder den Summen-R-Wert - unter dem Gesichtspunkt der Gefahrenabwehr - im Ergebnis zu rechtfertigen.
90 Inwiefern aufgrund der noch vorgelegten, zahlreichen, insbesondere epidemiologischen (Querschnitts-)Studien und Untersuchungen, soweit sie überhaupt den Erkenntnisstand zum Zeitpunkt des Erlasses der Verwaltungsvorschrift wiedergeben, eine andere Beurteilung gerechtfertigt sein könnte, ist ebenso wenig zu erkennen.
91 Die vom Antragsgegner beigebrachten Studien beziehen sich teilweise noch nicht einmal (ausdrücklich) auf flüchtige organische Verbindungen, die gerade aus verklebten Hölzern, insbesondere Span- und OSB-Platten emittiert werden (vgl. Anlage 13: „Thereby wall-to-wall-carpets, PVC material, and laminate were the flooring material, which showed the strongest adverse associations.“). Andere Studien berücksichtigten wiederum besonders empfindliche Risikogruppen (Anlage 14: „. . . households with apparently unhealthy children“,) bzw. zeigten lediglich weiteren Forschungsbedarf auf (Anlage 11: „Therefore more studies that explore the biological mechanism of VOC’s neurotoxicity are needed.“).
92 Eine weitere Studie von 2000 (Anlage 28) belegt zwar VOC-Emissionen in Neubauten, die auch aus Holzwerkstoffen emittieren, inwiefern diese hauptursächlich waren und welche Wirkungen damit verbunden sein könnten, ist der Studie jedoch nicht zu entnehmen. Den TVOC-Werten wird freilich auch dort kein wissenschaftlicher Wert beigemessen. Ähnlich verhält es sich mit einer Studie von 2012 (Anlage 29), in der „wood panels/vinyl floor coverings“ als hauptursächlich für festgestellte VOC-Emissionen bezeichnet wurden. Eine weitere Studie (Anlage 30) datiert von 2018 und ist schon deshalb unerheblich. Die ebenfalls erst am 20.03.2020 vorgelegte Studie von S. Cakmak et al. (2014, Anlage 31) belegt zwar, dass sich einige der gemessenen VOC-Emissionen negativ auf die Lungenfunktion insbesondere bei Kindern und Jugendlichen ausgewirkt hätten, jedoch standen, worauf auch Prof. Dr. Mersch-Sundermann in seiner von den Antragstellerinnen im Parallelverfahren eingeholten medizinisch-wissenschaftlichen Stellungnahme vom 06.07.2020 (Anlage Ast 5) hinweist, eher geringe Konzentrationen in Rede, die nach bisherigem Erkenntnisstand noch nicht einmal Gesundheitsrisiken begründeten, sodass Zweifel an der angenommenen Wirkungsbeziehung bestehen. Dem entsprechend hat auch Frau Dr. Witten in der mündlichen Verhandlung dieser Studie nur eine eingeschränkte Aussagekraft beigemessen. Im Übrigen ist auch diese Studie ungeeignet, gerade das streitgegenständliche TVOCspez-Konzept zu tragen, da sie allenfalls Anforderungen an bestimmte VOC-Emissionen rechtfertigen könnte.
93 Auch die bereits angesprochene Anlage 32 mit einem Fallbeispiel aus 2004, wo insbesondere in einer Fußbodenheizungskonstruktion aus OSB-Platten höhere Konzentrationen der höheren Aldehyde bei einer sehr hohen Raumbeladung festgestellt wurde, die beim Bauherrn ein freilich nicht näher spezifiziertes „Unwohlsein und gesundheitlichen Auffälligkeiten“ verursacht hätten, mag das Prüfverfahren im Hinblick auf hohe Raumbeladungen in Frage stellen, aber nicht das TVOCspez-Konzept zu tragen. Die weiteren Fallbeispiele (Anlage 33) zeigen schließlich nur, dass für Formaldehyd, Ameisen- und Essigsäure eine deutlich geringere Lüftungseffizienz im Vergleich zu anderen VOC besteht.
94 Der mehrfache Hinweis auf die Regulierungsbedürftigkeit von VOC-Emissionen aus Holzwerkstoffen, die breiter Konsens sei, die wiederholte Bezugnahme auf das AgBB-Bewertungsschema und der Verweis auf zu einzelnen VOC vorliegende NIK- bzw. LCI-Werte führen nach alldem nicht weiter. Schon gar nicht kommt es auf „Empfehlungen der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung“ an, die sich freilich - wie die o.a. Richtwerte - an die Qualität der Innenraumluft zu richten scheinen.
95 Soweit der Antragsgegner darauf verweist, die Festlegungen der angegriffenen ABG seien „wissenschaftlich solide und breit im europäischen und internationalen Kontext hinterlegt“, mag dies zutreffen, soweit mit ihnen ein Gesundheitsrisiko beschrieben wird, das zu minimieren jedoch nicht ohne weiteres Aufgabe des Bauordnungsrechts der Mitgliedstaten ist. Dass die Aussage gleichermaßen für das Vorliegen einer aufgrund von VOC-Emissionen aus Span- und OSB-Platten etwa hervorgerufenen abstrakten Gefahr gälte, die Voraussetzung für Gefahrabwehrmaßnahmen nach dem Bauordnungsrecht für Baden-Württemberg ist, lassen diese Ausführungen nicht erkennen.
96 Dahinstehen kann vor diesem Hintergrund, ob die von den Antragstellerinnen angeführten Studien und Untersuchungen darüber hinaus geeignet sein könnten, das Vorliegen einer abstrakten Gefahr - oder gar eines Gefahrenverdachts - positiv auszuschließen.
97 (4) Die angegriffenen Anforderungen an VOC erweisen sich schließlich auch nicht unter dem Gesichtspunkt eines Gefahrerforschungseingriffs als zulässig. Dieser Gesichtspunkt könnte, sollte bei bestimmten Holzwerkstoffen ein hinreichender Gefahrenverdacht bestehen, allenfalls bestimmte Prüfungen zur Feststellung einer (abstrakten) Gefahr rechtfertigen, von der allein bei einer Überschreitung der vorgegebenen Werte jedoch nicht ausgegangen werden kann.
98 (5) Finden die hier angegriffenen Anforderungen an VOC-Emissionen danach bereits keine Rechtsgrundlage in § 73a Abs. 1 LBO, kommt es nicht mehr auf deren Vereinbarkeit mit den Grundrechten und der Bauproduktenverordnung an. Für den noch geltend gemachten Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG ist freilich nichts ersichtlich, nachdem im Hinblick auf die mit dem Herstellungsprozess jedenfalls bei OSB verbundenen erhöhten Emissionsabgaben ein sachlicher Grund bestehen dürfte, nicht dieselben Anforderungen an unbehandeltes Holz zu stellen.
99 c) Viel spricht allerdings dafür, dass die angegriffenen Anforderungen an VOC-Emissionen auch gegen das Marktbehinderungsverbot des Art. 8 Abs. 4 der Bauproduktenverordnung verstoßen, weil mit ihnen in der DIN EN 13986 „Holzwerkstoffe zur Verwendung im Bauwesen - Eigenschaften, Bewertung der Konformität und Kennzeichnung“ harmonisierte Bauprodukte, nämlich Holzwerkstoffe, zu denen auch die hier in Rede stehenden OSB-Platten gehören (vgl. S. 5 „1 Anwendungsbereich“), unzulässig nachreguliert worden sein dürften.
100 (1) Mit den angegriffenen Summenwerten stehen - anders als die Überschrift 2.2. „Besondere Anforderungen an Aufenthaltsräume und baulich nicht davon abgetrennte Räume“ dies erwarten lässt und anders als dies etwa bei den o. a. Richtwerten I und II der Ad-hoc-AG IRK/AOLG der Fall ist - nicht Anforderungen an die Innenraumluftqualität von Teilen baulicher Anlagen hinsichtlich VOC-Emissionen in Rede, zu denen der Antragsgegner - entgegen seiner eigenen, auf eine nicht einschlägige Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (Urt. v. 11.07.1974 - 8/74 - Dassonville -) gestützten Einschätzung - jedenfalls im Grundsatz (zutreffend Fehse, Die Auswirkungen der EU-Bauproduktenverordnung auf das nationale Recht, 2017, S. 84) unionsrechtlich berechtigt sein dürfte (vgl. den Erwägungsgrund (3) zur BauPVO), freilich nur im Rahmen seiner ihm nach nationalem Recht zustehenden Regelungsbefugnisse. Vielmehr werden unmittelbar an die in der DIN EN 13986 harmonisierten Bauprodukte Anforderungen gestellt (vgl. auch 1 ABG), was nach Art. 8 Abs. 4 BauPVO auch unter der Geltung der Bauproduktenverordnung, weil den Binnenmarkt behindernd, grundsätzlich unzulässig ist.
101 (2) Solches wäre freilich dann nicht der Fall, wenn sich die Harmonisierungswirkung, wie der Antragsgegner meint, gar nicht auf die hier in Rede stehenden VOC-Emissionen erstreckte. Wie weit die jeweilige Harmonisierung reicht, ist auch hier zunächst - im Wege der Auslegung - zu ermitteln (zutreffend Hofer, in: Simon/Busse, BayBO <137. EL Juli 2020>, vor Art. 15 Rn. 50). Im Hinblick auf das Ziel, durch harmonisierte technische Spezifikationen zur Angabe der Leistung von Bauprodukten das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts zu erreichen (vgl. Erwägungsgrund (58) zur BauPVO v. 09.03.2011), ist im Zweifel von einer „Vollharmonisierung“ auszugehen (vgl. EuGH, Urt. v. 16.10.2014, a.a.O. zur BPR; EuG, Urt. v. 10.04.2019 - T-229/17 -, Rn. 101 zur BPR), bei der alle wesentlichen Merkmale von Bauprodukten in den harmonisierten Spezifikationen in Bezug auf die Grundanforderungen an Bauwerke festgelegt sind (vgl. auch Art. 3 und Art. 17 Abs. 3 BauPVO). Bei einem derart abschließend harmonisierten System, wie es vom Europäischen Gericht in seinem Urteil vom 10.04.2019 auch unter der Geltung der Bauproduktenverordnung unterstellt wird, versteht es sich von selbst, dass es den Mitgliedstaten grundsätzlich verwehrt sein muss, unter Hinweis auf einen vermeintlich aus technischer Sicht nur „lückenhaft“ geregelten Sachverhalt von einer bloßen Teilharmonisierung bzw. sukzessiven Harmonisierung mit der Folge auszugehen, dass sie insoweit vorläufig - wie bei nicht harmonisierten Bauprodukten - zur (Nach-)Regulierung berechtigt wären. Anderes kann ersichtlich auch nicht aus Art. 19 BauPVO hergeleitet werden. Denn die in dieser Vorschrift vorgesehene Erstellung eines europäischen Bewertungsdokuments setzt ein nicht oder nicht vollständig von einer harmonisierten Norm erfasstes Bauprodukt voraus, dessen Leistung deshalb nicht vollständig anhand einer bestehenden harmonisierten Norm bewertet werden kann. Art. 19 Abs. 1 BauPVO ist daher entgegen der Auffassung des Antragsgegners kein Ausdruck „lückenhafter“ Normen, sondern ersichtlich besonderen Produkten geschuldet (vgl. Held/Jaguttis/Rupp, BauPVO 2019, Art. 19 Rn. 8).
102 Allerdings kann ein derart abschließend harmonisiertes System nicht, wie die Antragstellerinnen unter Verweis auf das angeführte Urteil des Europäischen Gerichts meinen, bei allen harmonisierten Normen unterstellt werden, da sich der Bauproduktenverordnung, insbesondere den Artt. 3 und 17 Abs. 3 BauPVO, nicht entnehmen lässt, dass es nicht auch - wenn auch nur vorübergehend - noch nicht abschließend harmonisierte, gleichwohl wirksame Normen geben kann. Dies dürfte sich jedenfalls daraus herleiten lassen, dass das in Art. 18 BauPVO geregelte Verfahren die Kommission gegebenenfalls berechtigte, eine Norm unter Vorbehalt zu veröffentlichen oder sie nur unter Vorbehalt zu belassen (vgl. Art. 18 Abs. 2 BauPVO), was ggf. auch dazu führen kann, dass die Mitgliedsstaaten hinsichtlich eines bestimmten wesentlichen Produktmerkmals nationale Zusatzanforderungen stellen könnten (vgl. hierzu Held/Jaguttis/Rupp, BauPVO 2019, § 18 Rn. 12).
103 Im Übrigen besteht, worauf der Antragsgegner hingewiesen hat, für CE-gekennzeichnete Bauprodukte anders als nach Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 89/106/EWG des Rates vom 21.12.1988 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über Bauprodukte (Bauproduktenrichtlinie - BPR, ABl. (EG) Nr. L 040 v. 11.02.1989) keine Brauchbarkeitsvermutung in dem Sinne mehr, dass diese die Anforderungen aus der harmonisierten Norm vollständig erfüllten, sodass von deren uneingeschränkter Verwendbarkeit auszugehen wäre. Vielmehr ist an deren Stelle die Vermutung der Konformität eines Bauprodukts mit der vom Hersteller erklärten Leistung getreten (vgl. Art. 4 Abs. 3 BauPVO). Dies lässt durchaus den Schluss zu, dass es unter der Geltung der Bauproduktenverordnung von einer harmonisierten Norm noch nicht (vollständig) erfasste wesentliche Merkmale geben kann. Aus Art. 8 Abs. 3 BauPVO, der - anders als Art. 4 Abs. 6 BPR - bestimmt, dass die CE-Kennzeichnung die einzige Kennzeichnung ist, die die Konformität des Bauprodukts mit der erklärten Leistung „in Bezug auf die wesentlichen Merkmale, die von der harmonisierten Norm erfasst sind“ und weiter bestimmt, dass die Mitgliedsstaaten (nur) „diesbezüglich“ keine Bezugnahme auf einen andere Kennzeichnung als die CE-Kennzeichnung einführen, dürfte dagegen weder für noch gegen eine Vollharmonisierung sprechen. Denn ergibt die Auslegung, dass die wesentlichen Merkmale in der harmonisierten Norm abschließend geregelt sind, muss es einem Mitgliedsstaat verwehrt sein, eine anderweitige Bezugnahme unter Hinweis auf ein besonderes, von ihm darüber hinaus für wesentlich bzw. noch nicht abschließend harmonisiert gehaltenes Merkmal einzuführen (vgl. den Erwägungsgrund 33; zutr. Fehse, a.a.O., S. 84). Bei einem anderen Auslegungsergebnis steht freilich auch der Einführung einer anderen Kennzeichnung nichts entgegen. Im Übrigen wäre es ohne Weiteres zulässig, zur Verbesserung des Schutzes der Verwender von Bauprodukten eine freiwillige Kennzeichnung einzuführen, mit der jenseits der Konformität lediglich ein besonders emissionsarmes Bauprodukt versprochen wird (vgl. Held/Jaguttis/Rupp, a.a.O, Art. 8 Rn. 19 ff.: etwa der „Blaue Engel“).
104 Von einer nicht gegen Bestimmungen der übergeordneten Bauproduktenverordnung verstoßenden, nicht abschließend harmonisierten Norm, die jedenfalls zu bestimmten (vorläufigen) Nachregulierungen berechtigte, dürfte auszugehen sein, wenn diese selbst ihren Geltungsanspruch entsprechend beschränkt, indem sie zum Ausdruck bringt, dass hinsichtlich bestimmter, (noch) nicht abschließend harmonisierter Merkmale bzw. Verfahren (weiterhin noch) vorläufig nationale Vorschriften gelten sollen (weitergehend Hofer, in: Simon/Busse, BayBO vor Art.15 Rn. 51: wenn im Anhang ZA der im Amtsblatt bekannt gemachten Produktnorm ein mandatiertes wesentliches Merkmal nicht enthalten ist oder harmonisierte Verfahren und Kriterien zur Bewertung eines mandatierten und im Anhang ZA enthaltenen Wesentlichen Merkmals fehlen, aber von erheblicher Relevanz zur Erfüllung der Bauwerksanforderung in Deutschland sind). Da die harmonisierten Normen ihrerseits Teil des Unionsrechts sind (vgl. EuGH, Urt. v. 27.10.2016 - C-613/14 -, Rn. 40, 47; Urt. v. 14.12.2017 - C-630/16 -, Rn. 32 ff.) ist kein Grund ersichtlich, warum eine solche Selbstbeschränkung der Harmonisierung, wie sie auch bei einem Vorbehalt nach Art. 18 Abs. 2 BauPVO bewirkt werden kann, unzulässig sein sollte. Dann kann aber von einer in jeder Hinsicht abschließenden Harmonisierung nicht die Rede sein. Auch Maßnahmen nach den Art. 18, 56 ff. BauPVO, auf die die Antragstellerin im Anschluss an das zur Bauproduktenrichtlinie ergangene Urteil des Europäischen Gerichtshofs verweist, machten im Fall einer derart offenbaren Lückenhaftigkeit einer Norm ersichtlich keinen Sinn.
105 Entgegen der Auffassung der Antragstellerinnen sind die vorstehenden Fragen mit dem inzwischen ergangenen Urteil des Europäischen Gerichts vom 19.04.2019 - T-229/17 - keineswegs in ihrem - gegenteiligen - Sinne geklärt. Vielmehr wurde in dem dortigen Verfahren, soweit hier von Interesse, nur formal darüber entschieden, ob die seinerzeit in Rede stehenden harmonisierten Normen unter dem von der Kommission versehenen Vorbehalt belassen werden durften oder dieser gerade in dem von Deutschland gewünschten Sinne, dass den Mitgliedstaaten ausdrücklich das Recht zur Nachregulierung zustehe, zu fassen gewesen wäre. Dass solches nicht beansprucht werden konnte, dürfte auf der Hand gelegen haben. Denn auch ein nicht vollständig umgesetztes Mandat muss nicht dazu führen, dass Regelungsbefugnisse der Mitgliedsstaaten wiederauflebten, welche ihnen für nicht harmonisierte Bauprodukte zustanden. Vielmehr gilt es in einem solchen Fall grundsätzlich die Lücke auf europäischer Ebene durch eine nunmehr abschließende Harmonisierung zu schließen, indem zu diesem Zwecke etwa auch von den Maßnahmen Gebrauch gemacht wird, die die Bauproduktenverordnung in einem solchen Fall bereithält. Eine andere, vom Europäischen Gericht nicht entschiedene, freilich eher zu verneinende Frage ist, ob allein im Hinblick auf eine das Ziel der Bauproduktenverordnung vollständig erreichende Vollharmonisierung eine Vertragsverletzung bzw. ein Verstoß gegen Art. 8 Abs. 4 BauPVO auch dann vorläge, wenn ein Mitgliedsstaat von einer bereits in der harmonisierten Norm enthaltenen Öffnungsklausel Gebrauch macht und (lediglich) entsprechende (vorläufige) Maßnahmen trifft.
106 So könnte es sich hier verhalten, weil die hier einschlägige DIN EN 13986 unter Nr. 4.8 ausdrücklich eine sog. Öffnungsklausel, allerdings nur für „sonstige gefährliche Stoffe“ enthält (vgl. § 114 Abs. 10 AEUV, der in einer vergleichbaren Konstellation eine Schutzklausel zum Schutz der in Art. 36 AEUV genannten Rechtsgüter vorsieht). So heißt es dort, dass nationale Vorschriften „zu gefährlichen Stoffen“ die Vorlage eines Nachweises und einer Deklaration über die Freisetzung von anderen als die bereits in anderen Abschnitten der Norm erfassten Stoffe und teilweise über deren Gehalt erfordern könnten und insofern die nationalen Vorschriften gelten sollten.
107 (3) Ob diese Öffnungsklausel dem Antragsgegner weiterhelfen würde, hält der Senat zwar nicht für ausgeschlossen, jedoch für eher unwahrscheinlich, weil sie eben nur für „sonstige gefährliche Stoffe“ einen entsprechenden, möglichweise auch nur klarstellenden Hinweis enthält. Der Anhang 1 unter 3. b) zur Bauproduktenverordnung, der neben gefährlichen Stoffen auch flüchtige organische Verbindungen anführt (wie auch das geänderte Mandat M/113), spricht jedenfalls dagegen, dass mit dem Begriff „sonstige gefährliche Stoffen“ auch alle VOC gemeint wären. Anderes folgt auch nicht aus dem - nicht offensichtlichen - Umstand, dass die EN 13986 (auch) insoweit hinter dem Mandat Nr.113 zurückgeblieben sein mag. Dass VOC grundsätzlich als gefährliche Stoffe zu gelten hätten, dürfte auch dem Urteil des Europäischen Gerichts nicht zu entnehmen sein.
108 Viel spricht dafür, dass unter gefährlichen Stoffen nur solche Stoffe gemeint sind, bei denen in allen Mitgliedstaaten und der Union Konsens besteht, dass sie (ohne Weiteres) gefährlich sind. Denn dann müssen die Mitgliedsstaaten (jedenfalls) zu (vorläufigen) Maßnahmen - wie bei der Berufung auf die verschiedenen Schutzklauseln - berechtigt sein (vgl. dazu Hofer, a.a.O., Rn. 51, unter Hinweis auf EuGH, Urt. v. 20.02.1979 - Rs. C-120/78 -, NJW 1979, 1766 - nach dem ordre-public-Vorbehalt des Art. 36 Satz 1 AEUV bzw. der Notwendigkeit, „um zwingenden Erfordernissen gerecht zu werden“).
109 Mit der Warenverkehrsfreiheit und der mit einer Harmonisierung verfolgten Vereinheitlichung der Anforderungen an Bauprodukte schwerlich vereinbar dürfte jedenfalls eine Auslegung der Öffnungsklausel sein, die es den Mitgliedstaaten ermöglichte, hinsichtlich aller Einzelstoffe, die potentiell gefährlich sind, eigene Anforderungen zu stellen. Denn dies ließe sich letztlich für alle Stoffe anführen. So hat der Europäische Gerichtshof aufgrund der Schutzklausel des Art. 12 der Verordnung Nr. 258/97 - als besondere Ausprägung des Vorsorgeprinzips - getroffenen Schutzmaßnamen eine Absage erteilt, die mit einer rein hypothetischen Betrachtung des Risikos begründet werden, die auf bloße wissenschaftlich noch nicht verifizierte Vermutungen gestützt wird (Urt. v. 09.09.2003 - C-236/01 -, juris).
110 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
111 Die Revision ist ungeachtet vergleichbarer Regelungen in anderen Bundesländern nicht zuzulassen, da keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt. Insbesondere steht hinsichtlich der Würdigung des bei Erlass der Technischen Baubestimmungen vorhandenen Erkenntnisstandes keine Rechtsfrage in Rede, die auf eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache führen könnte.
112 Beschluss vom 7. Oktober 2020
113 Der Streitwert wird für das Normenkontrollverfahren im Hinblick auf den von den Antragstellerinnen angegebenen, angemessen erscheinenden Wert endgültig auf EUR 50.000,-- (2 x EUR 25.000,--) festgesetzt (vgl. §§ 63 Abs. 2 Satz 1, 52 Abs. 1, 39 Abs. 1 GKG i.V.m. Nrn. 9.8.1 u. 1.1.1 des Streitwertkatalogs 2013).
114 Der Beschluss ist unanfechtbar.
Gründe
30 Die Anträge der Antragstellerinnen, die Verwaltungsvorschrift des Umweltministeriums und des Wirtschaftsministeriums über Technische Baubestimmungen vom 20.12.2017 hinsichtlich darin enthaltener, auch für OSB-Platten bzw. Spanplatten geltender Anforderungen an VOC-Emissionen für unwirksam zu erklären, haben in dem beantragten Umfang Erfolg.
31 1. Die Anträge sind nach § 47 Abs. 1 VwGO statthaft und auch sonst zulässig.
32 a) Die angegriffene Verwaltungsvorschrift ist zulässiger Gegenstand eines Antrags nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO. Zwar unterliegen Verwaltungsvorschriften in der Regel nicht der Normenkontrolle, da es sich bei ihnen um keine (Außen-)Rechtssätze handelt. Anders verhält es sich jedoch dann, wenn eine gesetzliche Regelung - wie hier § 73a Abs. 1 u. 5 LBO - zur Konkretisierung gesetzlicher Anforderungen (hier: aus § 3 Abs. 1 Satz 1 LBO) auf eine Verwaltungsvorschrift verweist, die kraft Gesetzes - vorbehaltlich der hier nicht einschlägigen sog. Innovationsklausel in § 73a Abs. 1 Satz 2 LBO - eine Beachtenspflicht in Bezug auf die als Technische Baubestimmungen eingeführten technischen Regeln auslösen soll und damit diesen (jedenfalls) gegenüber den für den Bau Verantwortlichen eine verordnungsgleiche Außenrechtswirkung in Bezug auf die Standardisierung technischer Anforderungen verleiht (vgl. § 73a Abs. 1 Satz 2 LBO; vgl. BVerwG, Beschl. v. 25.11.1993 - 5 N 1.92 -, BVerwGE 94, 335; Urt. v. 26.01.1996 - 8 C 19.94 -, BVerwGE 100, 262; Urt. v. 25.11.2004 - 5 CN 1.03 -, BVerwGE 122, 26; Panzer, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO <38. EL Jan. 2020>, § 47 Rn. 26, 30; Ziekow, in Sodan/Ziekow, VwGO 5. A. 2018 - § 47 Rn. 126; Winkelmüller/van Schewick/Müller, Bauproduktrecht und technische Normung, 2015, Rn. 476 ff.; a.A. OVG NW, Beschl. v. 20.07.2010 – 2 A 61/08 -, juris Rn. 17).
33 Ob die Technischen Baubestimmungen, soweit sie hier angegriffen sind, eine normkonkretisierende Verwaltungsvorschrift in dem Sinne darstellen sollen, dass ihnen gegebenenfalls auch eine die Gerichte bindende Wirkung zukäme (vgl. BVerwG, Urt. v. 28.10.1998 - 8 C 16.96 -, BVerwGE 107, 338), wovon der Antragsgegner im Hinblick auf § 73a Abs. 5 Satz 1 LBO auszugehen scheint, mag hier dahinstehen.
34 b) Die Antragstellerinnen sind auch antragsbefugt, da sie geltend machen können, durch die Anwendung der Verwaltungsvorschrift - faktisch - in ihrer Berufsfreiheit verletzt zu sein (vgl. Art. 12 Abs. 1 GG), auch wenn sich die Bauwerksanforderungen unmittelbar nur an den Bauherrn bzw. die sonstigen am Bau Beteiligten richten. Denn den - zur Erhaltung der weiteren Verkehrsfähigkeit ihrer Span- bzw. OSB-Platten - erforderlichen Nachweis zu deren Erfüllung können letztlich nur sie als Hersteller erbringen. Betroffen ist hier freilich nicht ihre Berufswahl, sondern (lediglich) ihre Berufsausübung (vgl. Jarass/Pieroth, GG 15. A. 2019, Art. 12 Rn. 10, 10a). Darauf können sich sowohl die Antragstellerin zu 1 als inländische (vgl. Art. 19 Abs. 3 GG) als auch die Antragstellerin zu 2 als ausländische juristische Person - freilich nur über Art. 2 Abs. 1 GG (vgl. BVerfG, Beschl. v. 04.11.2015 - 2 BvR 282/13, 2 BvQ 56/12 -, NJW 2016, 292) - berufen.
35 Beide Antragstellerinnen können sich auch auf einen möglichen Verstoß gegen das Marktbehinderungsverbot des Art. 8 Abs. 4 BauPVO berufen, auch wenn nur die Antragstellerin zu 2 von der in dieser Vorschrift konkretisierten Warenverkehrsfreiheit im Binnenmarkt (vgl. Artt. 28, 34 AEUV) Gebrauch macht. Denn die unmittelbar geltende Bauproduktenverordnung dient darüber hinaus der Schaffung einer in allen Mitgliedstaaten einheitlichen (harmonisierten) Regelung. Insofern haben die von ihr Betroffenen, zu denen auch die Hersteller gehören, unmittelbar die sich aus der Bauproduktenverordnung ergebenden Pflichten zu beachten, aber eben auch nur diese, sodass die darin liegende „Vereinfachung“ auch ihren Interessen zu dienen bestimmt ist (vgl. dazu etwa die Erwägungsgründe 34 ff.).
36 Der Umstand, dass für einzelne Produkte der Antragstellerin zu 2 mittlerweile Gutachten des DIBt vorliegen, mit denen der erforderliche Nachweis erbracht werden kann, ändert nichts. Denn in ihren Rechten wäre sie bereits dann verletzt, wenn die angegriffenen Anforderungen an ihre Produkte nicht gestellt werden durften.
37 Auch das erforderliche Rechtsschutzinteresse kann ihr deswegen - schon im Hinblick auf etwa weiter erforderlich werdende Nachweise - nicht abgesprochen werden.
38 2. Die Anträge sind auch im jeweils beantragten Umfang begründet.
39 Dass die Antragstellerin zu 1 Spanplatten und die Antragstellerin zu 2 OSB bzw. Grobspanplatten herstellt, rechtfertigt im Folgenden keine unterschiedliche rechtliche Beurteilung. Dass die Antragstellerin zu 1 aufgrund der von Spanplatten ausgehenden geringeren VOC-Emissionen weniger betroffen ist, was im vorläufigen Rechtsschutzverfahren dazu geführt hat, dass es an entsprechenden Nachteilen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung gefehlt hat, kommt im Hauptsacheverfahren nicht mehr zum Tragen. Vielmehr begründete dieser Umstand eher noch Zweifel, ob an Spanplatten dieselben Anforderungen gestellt werden durften.
40 Die Technischen Baubestimmungen entsprechen, soweit sie von den Antragstellerinnen angegriffen werden, schon nicht den gesetzlichen Anforderungen nach der Landesbauordnung. Darauf, ob sie den für normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften aufgestellten (weiteren) Anforderungen des Bundesverwaltungsgerichts entsprächen (vgl. BVerwG, Urt. v. 28.10.1998, a.a.O.), kommt es nicht an. Denn auch eine Verwaltungsvorschrift, der nur gegenüber den Normadressaten (Bauherrn oder sonstigen am Bau Beteiligten) - und nicht gegenüber den Gerichten - Außenwirkung zukommen soll (vgl. § 73a Abs. 1 Satz 2 LBO), muss formell und materiell rechtmäßig sein.
41 a) Ob alle in der Verwaltungsvorschrift enthaltenen Technischen Baubestimmungen von den obersten Baurechtsbehörden in dem dafür vorgesehenen Verfahren erlassen worden sind (vgl. § 73a Abs. 5 Sätze 1 und 2 LBO), mag dahinstehen. Denn selbst dann, wenn bei der Bekanntmachung der Verwaltungsvorschrift in einem Teilbereich (Brandschutz) (erheblich) von der Musterverwaltungsvorschrift abgewichen worden und insoweit ein weiteres Anhörungsverfahren erforderlich gewesen sein sollte, stellte dies die Wirksamkeit der offensichtlich davon abtrennbaren Anforderungen im angegriffenen Anhang 8 der Verwaltungsvorschrift nicht in Frage.
42 Inwiefern bereits das zur Musterverwaltungsvorschrift durchgeführte Anhörungsverfahren nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden sein sollte, wie die Antragstellerinnen mit dem Hinweis auf unberücksichtigt gebliebene Kreise meinen, vermag der Senat nicht erkennen. Die Antragstellerinnen als einzelne Unternehmen mussten nicht beteiligt zu werden (vgl. dazu Tophoven, in: BeckOK UmweltR, § 51 BImSchG, Rn 5; Hofmann/Koch, in: GK BImschG Rn.21). Es ist auch nicht ersichtlich, dass der Entwurf nach Durchführung der Anhörung in der Sache geändert worden wäre. Dass eine Stellungnahme beteiligter Kreise - etwa die der Deutschen Holzwirtschaft vom 30.06.2017 - nicht in deren Sinne Berücksichtigung gefunden haben mag, macht das Anhörungsverfahren noch nicht fehlerhaft. Insbesondere besteht keine Pflicht, eine solche durch eine eigene Stellungnahme zu erörtern oder gar formal zurückzuweisen (vgl. Thiel, in: Landmann/Rohmer UmweltR <92. EL Feb. 2020>, § 51 BImSchG Rn. 26 f.). Abgesehen davon führte eine etwa unzureichende Auseinandersetzung in der Sache mangels besonderer Schwere noch nicht zur Unwirksamkeit der Verwaltungsvorschrift aus formellen Gründen (vgl. Thiel, a.a.O., Rn. 30 f.; anders für den - hier freilich nicht vorliegenden - Fall einer gar nicht oder zu spät erfolgten Beteiligung Jarass, BImSchG 13. A. 2020, § 51 Rn. 4).
43 b) Die hier in Rede stehenden Technischen Baubestimmungen sind jedoch nicht von der Rechtsgrundlage in § 73a Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 LBO gedeckt, auf die sie allein gestützt sind, sodass es auf die von den Beteiligten - zunächst allein - in den Vordergrund gestellte und in ihren Schriftsätzen ausführlich behandelte Frage einer Vereinbarkeit mit Unionsrecht, nämlich mit Art. 8 Abs. 4 der Bauproduktenverordnung i. V. m. der auf sie gestützten harmonisierten Norm DIN EN 13986 „Holzwerkstoffe zur Verwendung im Bauwesen - Eigenschaften, Bewertung der Konformität und Kennzeichnung“ sowie die Vereinbarkeit mit Grundrechten, insbesondere Art. 12 Abs. 1 GG, nicht mehr ankommt.
44 (1) Mit den angegriffenen Anforderungen an VOC-Emissionen sollen die Anforderungen des § 3 Abs. 1 Satz 1 LBO in Bezug auf die Leistung von Bauprodukten in bestimmten baulichen Anlagen und ihrer Teile konkretisiert werden, nämlich in Bezug auf Merkmale von Bauprodukten, die sich für einen Verwendungszweck auf die Erfüllung der Anforderungen nach § 3 Abs. 1 Satz 1 LBO auswirken (§ 73a Abs. 2 Nr. 3b LBO), ferner in Bezug auf Verfahren für die Feststellung der Leistung eines Bauprodukts im Hinblick auf solche Merkmale (§ 73a Abs. 2 Nr. 3c LBO) sowie schließlich in Bezug auf die für einen bestimmten Verwendungszweck erforderliche Leistung in Bezug auf ein solches Merkmal (§ 73a Abs. 2 Nr. 3f LBO). Dagegen handelt es sich, wie bereits aus dem für die Feststellung der Leistung maßgeblichen Verfahren („Prüfkammertests nach der prEN 16516:2015-05“) erhellt (vgl. auch 1 des Anhangs 8), nicht um unmittelbare Konkretisierungen in Bezug auf bestimmte bauliche Anlagen oder ihre Teile (§ 73a Abs. 2 Nr. 1 LBO) oder die Planung, Bemessung und Ausführung baulicher Anlagen und ihrer Teile (§ 73a Abs. 2 Nr. 2 LBO), wie es die Gliederungsüberschrift 2.2 ABG „Besondere Anforderungen an Aufenthaltsräume und baulich nicht davon abgetrennte Räume“ erwarten lässt.
45 (2) Einer Konkretisierung zugänglich sind nach § 73a Abs. 1 Satz1 LBO nur Anforderungen nach § 3 Abs. 1 Satz 1 LBO, mithin solche, die gewährleisten sollen, dass insbesondere durch bauliche Anlagen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung, insbesondere Leben, Gesundheit oder die natürlichen Lebensgrundlagen, nicht bedroht werden und jene ihrem Zweck entsprechend ohne Missstände benutzbar sind. § 3 Abs. 1 Satz 1 LBO gibt als Grundnorm den gesetzlichen Rahmen für das Bauordnungsrecht vor. Alle aufgrund der Landesbauordnung erlassenen Rechtsverordnungen, örtlichen Bauvorschriften, Verwaltungsvorschriften und Einzelanordnungen müssen sich, soweit nichts anderes bestimmt ist, in diesem Rahmen halten (vgl. Sauter, LBO 3. A. < Nov. 2019> § 3 Rn. 2, § 73 Rn. 16; auch Nds. OVG, Urt. v. 04.12.2015 - 1 LC 178/14 -, BauR 2016, 985).
46 Mit der Anforderung, dass „die öffentliche Sicherheit oder Ordnung, insbesondere Leben, Gesundheit oder die natürlichen Lebensgrundlagen, nicht bedroht werden“, ist die (klassische) Gefahrenabwehr (vgl. § 1 Abs. 1 PolG) und nicht eine darüberhinausgehende "Vorsorge" oder "Vorbeugung" angesprochen.
47 Mit der Anforderung, dass die baulichen Anlagen zweckentsprechend ohne Missstände benutzbar sein müssen, wird entgegen der Auffassung des Antragsgegners lediglich verdeutlicht, dass die Baugenehmigung nicht nur die Errichtung des Baukörpers, sondern auch die bestimmungsgemäße Nutzung der Anlage zum Gegenstand hat. Insofern ist für die Beurteilung, ob eine bauliche Anlage die öffentliche Sicherheit und Ordnung bedroht, nicht nur auf den Baukörper als solchen, sondern auch auf die Bausubstanz in der ihr zugedachten Funktion abzustellen. Missstände sind dementsprechend anzunehmen, wenn bei der bestimmungsgemäßen Nutzung - während der üblichen Lebensdauer der jeweiligen baulichen Anlage - die öffentliche Sicherheit und Ordnung beeinträchtigt wird (vgl. zum Ganzen Sauter, a.a.O., § 3 Rn. 19). Ist die Gefahrenprognose damit auch regelmäßig für eine längere Nutzungsdauer zu stellen und reicht es aus, dass auch erst nach Jahren mit einem Schadenseintritt zu rechnen ist (vgl. Schlotterbeck, in: ders./Hager/Busch/Gammerl, LBO/LOAVO 7. A. 2016, § 3 Rn. 30), bedeutet dies nicht, dass die Baurechtsbehörden zu einer Gefahrenvorsorge berufen wären. Dies gilt auch dann, wenn mit der weiteren Anforderung auch das „Bausozialrecht“ angesprochen sein sollte (vgl. Schlotterbeck, a.a.O., Rn. 40).
48 Soweit § 3 Abs. 1 Satz 1 LBO die Berücksichtigung der Grundanforderungen an Bauwerke gemäß Anhang 1 der Verordnung (EU) Nr. 305/2011 (Bauproduktenverordnung) vorsieht, führt auch dies entgegen der Auffassung des Antragsgegners nicht zu einer Erweiterung der sich aus § 3 Abs. 1 Satz 1 LBO ergebenden Hauptaufgabe des Bauordnungsrechts, Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung abzuwehren (vgl. dazu LT-Drs. 16/2745, S. 19).
49 Dass § 3 Abs. 1 LBO jedenfalls in vorliegendem Zusammenhang auch zur Gefahrenvorsorge ermächtigte, folgt auch nicht etwa aus der die Generalklausel bereits konkretisierenden Vorschrift des § 14 Abs. 2 LBO, wonach bauliche Anlagen u. a. so angeordnet, beschaffen und gebrauchstauglich sein müssen, dass u. a. durch chemische, physikalische und biologische Einflüsse bei sachgerechtem Gebrauch nicht Gefahren oder unzumutbare Belästigungen entstehen. Unter letzteren sind zwar Störungen des körperlichen oder seelischen Wohlbefindens zu verstehen, die (noch) nicht mit einem Schaden für die Gesundheit verbunden sind, aber von den Betroffenen rechtlich nicht mehr hingenommen zu werden brauchen (vgl. Sauter, a.a.O., § 14 Rn. 9). Jedoch führten solche Belästigungen zu einer Störung der öffentlichen Ordnung, sodass es auch insoweit um Gefahrenabwehr geht (vgl. BeckOK BauordnungsR BW <2020> / Spannowsky BW BWLBO § 3 Rn. 30); es wird lediglich ein anderes Schutzgut angesprochen.
50 Umfassen die Befugnisse und Ermächtigungen der Baurechtsbehörden - von besonders geregelten Ausnahmen einmal abgesehen (vgl. etwa § 15 Abs. 1 LBO zum vorbeugenden Brandschutz) - Vorsorgemaßnahmen nicht ausdrücklich, kann die in § 73a Abs. 1 Satz 1 LBO in Bezug genommenen Generalklausel auch nicht erweiternd i. S. einer Gefahrenvorsorge ausgelegt werden, indem den obersten Baurechtsbehörden, wie der Antragsgegner meint, eine "Einschätzungsprärogative" in Bezug darauf zugebilligt wird, ob die ihnen vorliegenden Erkenntnisse die Annahme einer (abstrakten) Gefahr rechtfertigen. Denn eine solche Einschätzungsprärogative ist dem in Generalklauseln nach Art des § 3 Abs. 1 Satz 1 LBO gefassten allgemeinen Recht der Gefahrenabwehr fremd (vgl. BVerwG, Urt. v. 03.07.2002 - 6 CN 8.01 -, BVerwGE 116, 347; i. E. wohl anders BeckOK, a.a.O., BWLBO § 3 Überblick u. Rn. 19 ff.; NdsOVG, Urt. v. 04.12.2015, a.a.O.). Auch der Verweis auf die Technischen Baubestimmungen, in denen eine Gefahrenvorsorge i. S. eines dynamischen Grundrechtsschutzes zum Ausdruck komme (vgl. BeckOK, a.a.O., BWLBO § 3 Rn. 20), führt nicht weiter, weil es sich insoweit um einen Zirkelschluss handelt.
51 Der klassische Gefahrenbegriff, der danach - jedenfalls im Grundsatz - auch der Landesbauordnung zugrunde liegt, ist dadurch gekennzeichnet, dass "aus gewissen gegenwärtigen Zuständen nach dem Gesetz der Kausalität gewisse andere Schaden bringende Zustände und Ereignisse erwachsen werden" (vgl. bereits PrOVG, Urt. v. 15.10. 1894, PrVBl 16, 125, 126). Schadensmöglichkeiten, die sich lediglich nicht ausschließen lassen, weil nach dem derzeitigen Wissensstand bestimmte Ursachenzusammenhänge weder bejaht noch verneint werden können, begründen noch keine Gefahr, sondern lediglich einen Gefahrenverdacht oder ein "Besorgnispotential" (vgl. BVerwG, Urt. v. 03.07.2002, a.a.O.; Urt. v. 19.12.1985 - 7 C 65.82 -, BVerwGE 72, 300, 315).
52 Maßgebliches Kriterium zur Feststellung einer Gefahr ist damit die hinreichende Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts (vgl. BVerwG, Urt. v. 03.07.2002, a.a.O.; Urt. v. 26.02.1974 - 1 C 31.72 - BVerwGE 45, 51, 57). Das trifft nicht nur für die "konkrete" Gefahr zu, die zu Abwehrmaßnahmen im Einzelfall berechtigt, sondern grundsätzlich auch für die für Rechtsverordnungen nach § 73 Abs. 1 LBO - und auch für die auf § 73a Abs. 1 LBO gestützten Verwaltungsvorschriften - erforderliche "abstrakte" Gefahr (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 04.12.1975 - III 905/73 -; anders im Ergebnis Nds. OVG, Beschl. v. 04.12.2015, a.a.O.). Diese unterscheidet sich von der konkreten Gefahr nicht durch den Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts, sondern durch den Bezugspunkt der Gefahrenprognose bzw. die Betrachtungsweise: Eine konkrete Gefahr liegt vor, wenn in dem zu beurteilenden konkreten Einzelfall in überschaubarer Zukunft mit dem Schadenseintritt hinreichend wahrscheinlich gerechnet werden kann; eine abstrakte Gefahr ist gegeben, wenn eine generell-abstrakte Betrachtung für bestimmte Arten von Verhaltensweisen oder Zuständen zu dem Ergebnis führt, dass mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Schaden im Einzelfall einzutreten pflegt und daher Anlass besteht, diese Gefahr mit generell-abstrakten Mitteln, also einem Rechtssatz zu bekämpfen; das hat (lediglich) zur Folge, dass auf den Nachweis der Gefahr eines Schadenseintritts im Einzelfall verzichtet werden kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 03.07.2002, a.a.O.; Beschl. v. 24.10.1997 - 3 BN 1.97 -, Buchholz 418.9 TierSchG Nr. 10). Auch die Feststellung einer abstrakten Gefahr verlangt mithin eine in tatsächlicher Hinsicht genügend abgesicherte Prognose: Es müssen - bei abstrakt-genereller Betrachtung - hinreichende Anhaltspunkte vorhanden sein, die den Schluss auf den - hier innerhalb der üblichen Nutzungsdauer der entsprechenden baulichen Anlagen - drohenden Eintritt von Schäden rechtfertigen. Dabei liegt es im Wesen von Prognosen, dass die vorhergesagten Ereignisse wegen anderer als der erwarteten Geschehensabläufe ausbleiben können. Von dieser mit jeder Prognose verbundenen Unsicherheit ist jedoch die Ungewissheit zu unterscheiden, die bereits die tatsächlichen Grundlagen der Gefahrenprognose betrifft. Ist die Behörde mangels genügender Erkenntnisse über die Einzelheiten der zu regelnden Sachverhalte und/oder über die maßgeblichen Kausalverläufe zu der erforderlichen Gefahrenprognose nicht im Stande, so liegt keine Gefahr, sondern - allenfalls - eine mögliche Gefahr oder ein Gefahrenverdacht vor. Zwar kann auch in derartigen Situationen ein Bedürfnis bestehen, zum Schutz der etwa gefährdeten Rechtsgüter, namentlich höchstrangiger Rechtsgüter wie Leben und körperlicher Unversehrtheit von Menschen, Freiheitseinschränkungen anzuordnen. Doch beruht ein solches Einschreiten dann nicht auf der Feststellung einer Gefahr; vielmehr werden in einem solchen Falle Risiken bekämpft, die jenseits des Bereichs feststellbarer Gefahren verbleiben. Das setzt eine Risikobewertung voraus (vgl. dazu EuGH, Urt. v. 23.09.2003 - C-192/01 -, juris Rn. 49 ff.), die - im Gegensatz zur Feststellung einer Gefahr - über einen Rechtsanwendungsvorgang weit hinausgeht und mehr oder weniger zwangsläufig neben der Beurteilung der Intensität der bestehenden Verdachtsmomente eine Abschätzung der Hinnehmbarkeit der Risiken sowie der Akzeptanz oder Nichtakzeptanz der in Betracht kommenden Freiheitseinschränkungen in der Öffentlichkeit einschließt, mithin - in diesem Sinne - "politisch" geprägt oder mitgeprägt ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 03.07.2002, a.a.O.; BVerfG, Beschl. v. 28.02.2002 - 1 BvR 1676/01 -, DVBl 2002, 614).
53 Eine derart weitreichende Bewertungs- und Entscheidungskompetenz steht den obersten Baurechtsbehörden aufgrund der Ermächtigungen nach § 73a Abs. 1 i.V.m. § 3 Abs. 1 LBO nicht zu. Es wäre mit den Grundsätzen der Bestimmtheit gesetzlicher Ermächtigungen zum Erlass von Rechtsvorschriften oder Verwaltungsvorschriften der Exekutive und des Vorbehalts des Gesetzes nicht vereinbar, wenn die Exekutive ohne strikte Bindung an den überlieferten Gefahrenbegriff kraft eigener Bewertung über die Notwendigkeit oder Vertretbarkeit eines Erlasses von Rechts- oder Verwaltungsvorschriften entscheiden könnte. Die rechtsstaatliche und demokratische Garantiefunktion der sicherheitsrechtlichen Normermächtigungen wäre in Frage gestellt, könnte die Exekutive nach jenen Vorschriften bereits einen mehr oder minder begründeten Verdacht zum Anlass für generelle Freiheitseinschränkungen nehmen. Vielmehr ist es Sache des zuständigen Gesetzgebers, sachgebietsbezogen darüber zu entscheiden, ob, mit welchem Schutzniveau (vgl. BVerwG, Urt. v. 19.12.1985, a.a.O., S. 316) und auf welche Weise Schadensmöglichkeiten vorsorgend entgegengewirkt werden soll, die nicht durch ausreichende Kenntnisse belegt, aber auch nicht auszuschließen sind. Allein der Gesetzgeber ist befugt, unter Abwägung der widerstreitenden Interessen die Rechtsgrundlagen für Grundrechtseingriffe zu schaffen, mit denen Risiken vermindert werden sollen, für die - sei es aufgrund neuer Verdachtsmomente, sei es aufgrund eines gesellschaftlichen Wandels oder einer veränderten Wahrnehmung in der Bevölkerung - Regelungen gefordert werden. Das geschieht üblicherweise durch eine Absenkung der Gefahrenschwelle in dem ermächtigenden Gesetz von der "Gefahrenabwehr" zur "Vorsorge" gegen drohende Schäden (vgl. etwa § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtG, § 5 Abs. 1 Nr. 2 BImSchG, § 6 Abs. 2 GenTG, § 7 BBodSchG; zum Ganzen BVerwG, Urt. v. 03.07.2002, a.a.O.), wovon in § 3 Abs. 1 Satz 1 LBO gerade kein Gebrauch gemacht worden ist. Auch darin zeigt sich positivrechtlich, dass dem Gefahrenbegriff eben nicht aus sich heraus bereits eine Erstreckung auf die Aufgabe der Risiko- oder Gefahrenvorsorge innewohnt (zum Ganzen BVerwG, Urt. v. 03.07.2002, a.a.O.; auch Schlotterbeck, a.a.O., § 3 Rn. 22, 25; Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 3. A. 2001, Rn. 35; VGH BW, Urt. v. 28.07.2009 - 1 S 2200/08 -, VBlBW 2010, 29; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 16.10.2001 - 1 S 2346/00 -. VBlBW 2002, 292; di Fabio, JURA 1996, 566 <571>; anders wohl BeckOK, a.a.O., BWLBO § 3 Rn. 19 ff.; Nds. OVG, Urt. v. 04.12.2015, a.a.O.; BayVGH, Urt. v. 18.05.2017 - 2 B 17.543 -, NVwZ-RR 2017, 811; Sächs.OVG, Beschl. v. 11.02.2019 - 1 B 454.18 -, juris Rn. 17: „vorbeugender Gesundheitsschutz“).
54 Danach muss ausgehend von dem bereits erreichten Stand von Wissenschaft und Technik (vgl. BVerwG, Beschl. v. 16.02.1998 - 11 B 5.98 -, Buchholz 451.171 § 7 AtG Nr. 6 zu § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtG) aus Tatsachen entweder der allgemeine praktische Verstand oder der wissenschaftliche Sachverstand, gestützt auf entsprechende Lebenserfahrungen oder (gesicherte) wissenschaftliche Erfahrungssätze, eine abstrakte Schädigungsvermutung belegen und begründen können (vgl. Di Fabio, Risikoentscheidungen, S. 67; Pfaundler, UPR 1999, 336 <337>). Bei unterschiedlichen wissenschaftlichen Auffassungen müssen die, die entsprechende - hier gesundheitsschädliche - Auswirkungen erwarten, bei einer wertenden Betrachtung überwiegen (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 17.09.2020 - 9 S 2343/20 - zu Art. 14 Abs. 2 Buchst. a) der VO (EG) Nr. 178/2002).
55 (3) Ausgehend davon vermag der Senat jedoch nicht festzustellen (vgl. demgegenüber Senatsbeschl. v. 15.05.1991 - 8 S 1068/91 -, UPR 1992, 32 zur konkreten Gefahr bei Spritzasbestbeschichtung), dass der zum maßgeblichen Zeitpunkt (vgl. EuGH, Urt. v. 23.09.2003, a.a.O., juris Rn. 48) des Erlasses der Verwaltungsvorschrift - dem 20.12.2017 - vorhandene (gesicherte) Erkenntnisstand die Annahme einer abstrakten Gefahr für die menschliche Gesundheit gerechtfertigt hätte, sollten die angegriffenen Summengrenzwerte TVOCspez und TSVOC, der vorgegebene (Summen-)R-Wert oder die festgelegte Mengenbegrenzung (2.2.1.1 ABG) überschritten werden.
56 Obwohl dem Antragsgegner die vorläufige Einschätzung des Senats aus den in den vorläufigen Rechtsschutzverfahren ergangenen Beschlüssen bekannt war, hat dieser bis zuletzt nicht aufzuzeigen vermocht, dass mit der Überschreitung der von ihm festgelegten Summenwerte bereits die Gefahrenschwelle überschritten würde.
57 Dies geht weder aus den umfangreichen Schriftsätzen seines Prozessbevollmächtigten hervor, in denen solches zuletzt einfach behauptet wird, noch aus den vorgelegten zahlreichen Studien und sachverständigen Stellungnahmen. Auch den ergänzenden Erläuterungen der in der mündlichen Verhandlung informatorisch gehörten sachverständigen Personen bzw. Sachverständigen kann dies nicht entnommen werden. Soweit die Beteiligten bis kurz vor der mündlichen Verhandlung noch verschiedene, teilweise eigens für das Normenkontrollverfahren eingeholte gutachterliche Stellungnahmen und Studien vorgelegt haben, waren diese freilich nur insoweit zu berücksichtigen, als sie den seinerzeit vorhandenen Erkenntnisstand erläutern. Soweit sie dagegen aufgrund neuerer Untersuchungen gewonnene Erkenntnisse wiedergeben, waren sie aufgrund des für die rechtliche Beurteilung maßgeblichen Zeitpunkts des Erlasses der Verwaltungsvorschrift schon nicht entscheidungserheblich.
58 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass es - entgegen der Auffassung des Antragsgegners - nicht allgemein um von irgendwelchen VOC-Emissionen ausgehende, irgendwann festgestellte nachteilige Wirkungen geht, die in Abhängigkeit von ihrer jeweiligen Konzentration in der Innenraumluft geeignet sein können, nicht nur zu Gesundheitsrisiken, sondern zu einer Gesundheitsgefährdung zu führen (vgl. zu von aus Ottokraftstoff stammenden VOC-Emissionen etwa die zur Umsetzung der Richtlinie 94/63/EG erlassene 20. BImSchV und BVerwG, Beschl. v. 18.06.2012 - 7 B 62.11 -, Buchholz 406.25 § 7 BImSchG Nr. 2). Vielmehr kommt es darauf an, ob gerade die Einhaltung der im Anhang 8 - Anforderungen an bauliche Anlagen bezüglich des Gesundheitsschutzes (ABG) - unter 2.2.1.1 konkret an VOC-Emissionen gestellten Anforderungen, soweit sie angegriffen sind, erforderlich waren, um (auch) von Span- und OSB-Platten (als verklebte Hölzer) - im Hinblick auf die aus ihnen emittierenden spezifischen VOCs - abstrakte Gesundheitsgefahren abzuwehren, weil die entsprechenden VOC-Emissionen sonst während der üblichen (langen) Nutzungsdauer der (schutzbedürftige Räume umfassenden) baulichen Anlage zu einer Gesundheitsschädigung (oder zu einer - hier freilich nicht in Rede stehenden - unzumutbaren Belästigung) führten.
59 Eine solche Annahme setzt voraus, dass die konkret festgelegten Summenwerte nicht nur geeignet sind, eine gesundheitsgefährdende Exposition der Nutzer von vornherein auszuschließen, sondern gerade die Schwelle zu konkretisieren, die Gefahrenabwehrmaßnahmen erst zulässt. Insofern steht keineswegs nur die Verhältnismäßigkeit von jedenfalls zulässigen Gefahrenabwehrmaßnahmen in Rede, wie der Antragsgegner meint.
60 Danach führt es von vornherein nicht weiter, wenn der Antragsgegner immer wieder darauf verweist, dass Wirkungen von VOCs von Geruchsempfindungen und Reizwirkungen auf die Schleimhäute von Augen und Nase und Rachen über Wirkungen auf das Nervensystem hin zu Langzeitwirkungen reichten, denn damit wird noch nicht einmal ansatzweise aufgezeigt, dass es zu solchen Wirkungen bereits bei Nichteinhaltung der in der Verwaltungsvorschrift enthaltenen, streitgegenständlichen Anforderungen käme. Ebenso wenig lässt der weitere Hinweis, dass „zur Vermeidung einer unendlichen Gesamtkonzentration an Stoffemissionen und damit zur Abwehr gesundheitlich nachteiliger Wirkungen“ die „einschlägigen ECA-Berichte“ eine Obergrenze für TVOC als eine Mindestanforderung für einen hinreichenden Gesundheitsschutz vorsähen (vgl. AgBB Bewertungsschema für VOC aus Bauprodukten 2018), erkennen, dass gerade die hier in Rede stehenden, von den in Anlage 3 aufgeführten Bauprodukten in der Prüfkammer einzuhaltenden Summenwerte jeweils zur Gefahrenabwehr erforderlich wären.
61 Dass mit den angegriffenen Anforderungen an VOC-Emissionen unter 2.2.1.1. nicht abstrakte Gefahren, sondern i. S. einer Gefahrenvorsorge nur möglichen, nicht ausschließbaren Gefahren entgegengetreten werden sollte, lässt bereits der Anhang 8 - Anforderungen an bauliche Anlagen bezüglich des Gesundheitsschutzes (ABG) - selbst bzw. das ihm zugrundliegende AgBB-Bewertungsschema (nunmehr veröffentlicht als AgBB-Bewertungsschema 2018) erkennen. Die damit verfolgte Zielsetzung, die jeweiligen Definitionen der zu bestimmenden Parameter, das maßgebliche Prüfverfahren und die daraus letztlich abgeleiteten, „gegriffen“ erscheinenden, als Grenzwerte zu beachtenden Summenwerte lassen - zumal vor dem Hintergrund der für Einzelstoffe vorhandenen Innenraumwerte RW II - nur den Schluss zu, dass eine über die Gefahrenabwehr hinausgehende Schadens- bzw. Risikovorsorge getroffen wurde, auch wenn der Antragsgegner dies neuerdings anders darzustellen versucht, indem er etwas andere Formulierungen verwendet, die nahelegen sollen, dass mit jenen Anforderungen tatsächlich abstrakte Gefahren abgewehrt werden sollten.
62 Bereits aus den von ihm selbst vorgelegten Verlautbarungen des Ausschusses für gesundheitliche Bewertung (AgBB) „Anforderungen an die Innenraumluftqualität in Gebäuden: Gesundheitliche Bewertung der Emissionen von flüchtigen organischen Verbindungen (VVOC, VOC, und SVOC)“ geht hervor, dass es bei dem auch den angegriffenen AGB zugrundeliegenden AgBB-Bewertungsschema, um die „Sicherung einer gesundheitlich (bzw. hygienisch) unbedenklichen Innenraumqualität in baulichen Anlagen“ und damit nicht um die Abwehr abstrakter Gefahren geht. Auch an anderer Stelle hat der Ausschuss bei Aktualisierung seines Bewertungsschemas die Notwendigkeit betont, die Eignung von Bauprodukten zur Verwendung in Innenräumen zu prüfen und zu bewerten, um die Sicherstellung einer gesundheitlich unbedenklichen Innenraumluftqualität als baurechtliches Schutzziel zu gewährleisten(https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/355/dokumente/aenderungen_und ergaenzungen_im_agbb-schema_2018.pdf). Dem entspricht, dass die Anforderungen in den ABG auch mit Blick auf sich in Aufenthaltsräumen aufhaltende (chronisch) kranke Menschen aufgestellt wurden, auf die nach (bau)polizeirechtlichen Grundsätzen nicht abgehoben werden kann (vgl. Sauter, LBO 3. A. , § 3 Rn. 12); aus § 3 Abs. 2 LBO lässt sich für das Bauordnungsrecht nichts anderes herleiten (vgl. hierzu Sauter, a.a.O., § 3 Rn. 49 ff.). Schließlich wird nach dem Bewertungskonzept auch der konsequente Einsatz emissionsarmer Bauprodukte angestrebt.
63 Dass es nicht um die Einhaltung von Gefahrenschwellen geht, kommt insbesondere darin zum Ausdruck, dass die einzuhaltenden Werte - einmal abgesehen von den nicht angegriffenen, ebenfalls einzuhaltenden Emissionswerten von 0,01 bzw. 0.001 mg/m3 für einzelne kanzerogene Stoffe der EU-Kategorie 1A und 1B nach der CLP-Verordnung (EG) - allesamt Summenwerte sind (TVOCspez-Wert, TSVOC-Wert, R-Wert nach gewichteter Einzelstoffbewertung, Mengenbegrenzung von VOC ohne Bewertungsmaßstäbe nach NIK), die sich aus der Aufsummierung verschieden bewerteter Einzelstoffkonzentrationen ergeben, denen ganz unterschiedlich hohe Risiken eigen sind. Auch eine in dem Bewertungsschema ohne weiteres und ohne jede Differenzierung angenommene additive Wirkung von VOC stellt für sich genommen noch keinen plausiblen Grund dar, unabhängig davon, welche VOC aus der sehr umfangreichen Liste ganz unterschiedlicher Zielverbindungen in Anlage 2 letztlich für die Überschreitung der jeweiligen Summenwerte in der Prüfkammer ursächlich waren, allgemein deren Einhaltung von allen Bauprodukten der Anlage 3 zu fordern. Dies gilt unabhängig davon, ob eine additive Wirkung nur bei gleichen Wirkungsendpunkten (vgl. Prof. Dr. Mersch-Sundermann in der mündlichen Verhandlung), bei ähnlich wirkenden Einzelstoffen - etwa für Terpene einerseits und Aldehyde anderseits (vgl. die entsprechenden Innenraumwerte des AIR), oder bereits dann angenommen werden konnte, wenn die Einzelstoffe jeweils inhalativ aufgenommen werden (vgl. Dr. Witten, AgBB, ebenfalls in der mündlichen Verhandlung). Soweit der Antragsgegner im Schriftsatz vom 29.09.2020 nun gar - von Ausnahmen abgesehen - unabhängig von den jeweiligen Einzelstoffen und deren bekannten Wirkungen verallgemeinernd von einer (mindestens) additiven Wirkung ausgeht, lässt sich dies auch nicht der von ihm als „Beleg“ vorgelegten, eigens für das Normenkontrollverfahren eingeholten Stellungnahme des Umweltbundesamtes vom 20.09.2020 (S. 12) entnehmen.
64 Mit der zunächst bestimmten (absoluten) Obergrenze für VOC-Emissionen (TVOCspez) soll dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die Bewohner von Gebäuden immer einer Vielzahl von Substanzen ausgesetzt sind, weshalb eine unendliche Gesamtkonzentration an Stoffemissionen vermieden werden soll. Wissenschaftlich kontrollierte anerkannte Humanstudien und epidemiologische Untersuchungen sollen eine eindeutige konzentrationsabhängige Wirkungsbeziehung für gesundheitliche Effekte durch die Summe an definierten flüchtigen organischen Stoffen ergeben haben. Die in den ABG als TVOCspez bezeichnete Summe von VOC stellt freilich die Summe der Konzentrationen der substanzspezifisch quantifizierten Zielverbindungen (NIK-Stoffe) sowie der über das Toluoläquivalent quantifizierten, nicht identifizierten und Nichtzielverbindungen mit jeweils einer Konzentration ab 5 µg/m3 dar. Es liegt auf der Hand, dass sich allein mit der Überschreitung eines aus ganz unterschiedlich hohe Risiken aufweisenden Einzelstoffen gebildeten Summenwerts von 1 mg/m3 nicht ohne Weiteres eine (abstrakte) Gefahr begründen lässt. Dem entspricht auch der Hinweis in der von der Verwaltungsvorschrift für maßgeblich erklärten, inzwischen in Kraft getretenen, in der harmonisierten Produktnorm DIN EN 13986 freilich (noch) nicht in Bezug genommenen horizontalen Prüfnorm DIN EN 16516:2018-01, die der Antragsgegner als Beleg für eine Gefährlichkeit der hier in Rede stehenden VOC gewertet wissen will. So heißt es dort (a.a.O., S. 34):
65 „Die Emissionswerte für TVOC und TSVOC beinhalten eine undefinierte Mischung von Substanzen unterschiedlicher oder nicht genau definierter Toxizität. Sie sind keine zuverlässigen Indikatoren dafür, welche Wirkungen die Emissionen aus Produkten auf die menschliche Gesundheit haben.“
66 Dem entspricht auch, dass von dem beim Umweltbundesamt gebildeten Ausschuss für Innenraumwerte (AIR) bzw. seinem Vorgängergremium (Ad-hoc-Arbeitsgruppe Innenraumwerte der IRK/AOLG) einerseits - für einzelne Substanzen oder Substanzgruppen - bundeseinheitliche, gesundheitsbezogene Richtwerte (RW I und RW II) sowie anderseits (in TVOC-Summenwerten ausgedrückte) hygienische Leit- bzw. Referenzwerte andererseits festgelegt wurden (vgl. die vom Antragsgegner vorgelegte Bekanntmachung des Umweltbundesamts „Beurteilung von Innenraumluftkontaminationen mittels Referenz- und Richtwerten (BuGesBl. 2007, 990 ff.; phttps://www.umweltbundesamt.de/themen/gesundheit/kommissionen-arbeitsgruppen/ausschuss-fuer-innenraumrichtwerte-vormals-ad-hoc-ausschuss-fur-innenraumrichtwerte). Dabei wird lediglich der Richtwert RW II als wirkungsbezogener Wert bezeichnet, der sich auf die gegenwärtigen toxikologischen und epidemiologischen Kenntnisse zur Wirkungsschwelle eines Stoffes - allerdings auch unter Einführung von Unsicherheitsfaktoren - stütze und die Konzentration darstelle, bei deren Erreichen bzw. Überschreiten unverzüglich zu handeln sei, weil sie (besonders) für empfindliche Personen bei Daueraufenthalt in den Räumen eine gesundheitliche Gefährdung sein k ö n n e bzw. nicht mehr mit hinreichender Wahrscheinlichkeit a u s z u s c h l i e ß e n sei. Im Hinblick auf die - auch vom Antragsgegner immer wieder angeführten - systematischen praktischen Erfahrungen, dass mit steigender Konzentration die Wahrscheinlichkeit für Beschwerden oder nachteilige Auswirkungen zunimmt, der Kenntnisstand aber nicht ausreicht, um rein toxikologisch begründete Richtwerte abzuleiten, sowie die Erkenntnis, dass die Innenraumluft zahlreiche organische Verbindungen enthalten kann, wurden 2007 auch in TVOC-Summenwerte ausgedrückte, als Referenzwerte zu interpretierende „hygienische Leitwerte“ erarbeitet, wobei der hier interessierende Konzentrationsbereich von 1,0 - bis 3,0 mg/m3 lediglich als „hygienisch auffällig“ bewertet wurde, was bedeute, dass die gesundheitliche Relevanz geprüft werden sollte und eine toxikologische Einzelbewertung zumindest der Stoffe mit den höchsten Konzentrationen empfohlen werde; dabei hätten die toxikologisch begründeten Richtwerte allerdings stets Vorrang vor dem TVOC-Konzept.
67 Dazu wird in der Bekanntmachung (a.a.O., S. 995) im Einzelnen ausgeführt:
68 „Der Vorteil dieser (für die Innenraumluft aufgestellten) Richtwerte (der Ad-hoc-AG IRK/AOLG (Stand 2006) für Einzelstoffe) ist ihr einheitlicher, am Gefahrenbezug orientierter Ableitungsweg. ... Der Richtwert II ist dadurch charakterisiert, dass (erst) bei seiner Überschreitung im Sinne von § 3 Abs. 1 Satz 1 und § 16 der jeweiligen Landesbauordnung mit Gesundheitsgefahren besonders für empfindliche Personen wie z. B. Schwangere, Säuglinge und Kleinkinder zu rechnen ist.“
69 und (a.a.O., S. 996):
70 „Der TVOC-Wert hat aufgrund der unterschiedlichen Zusammensetzung des in der Innenraumluft auftretenden Substanzgemisches keine konkrete toxikologische Basis.“
71 sowie (a.a.O., S. 992, 997):
72 „Das TVOC-Konzept basiert prinzipiell auf der statistischen Auswertung der Daten des 1. Umweltsurveys von 1985/86, bei dem die Luft in Wohnräumen untersucht wurde. TVOC-Werte können damit im Sinne von Referenzwerten interpretiert werden.“
73 „Referenzwerte geben keinen Aufschluss über eine Gesundheitsgefährdung. Es wird lediglich ausgesagt, dass der überwiegende Teil der Bevölkerung in einer vergleichbaren Größenordnung exponiert ist.
74 Inwiefern der Antragsgegner 2017 von einem gegenteiligen Erkenntnisstand hätte ausgehen dürfen, lassen auch die von ihm darüber hinaus vorgelegten zahlreichen Anlagen nicht erkennen. Vielmehr bestätigen diese gerade, dass TVOC-Werte auch weiterhin nicht als zuverlässige Indikatoren dafür angesehen werden, welche Wirkungen die Emissionen aus Produkten auf die menschliche Gesundheit haben. Auch der Umstand, dass ein differenziertes Vorgehen nach Einzelstoffen bzw. Stoffgruppen aufwändiger sein mag, rechtfertigt es ungeachtet dessen, dass Hersteller auf nicht geregelte Einzelstoffe ausweichen könnten, nicht, Summenwerte festzulegen, die Gefahren jedenfalls auszuschließen geeignet sind.
75 Auch Hofmann/Maraun halten in ihrem vom Antragsgegner vorgelegten Abschlussbericht vom 17./18.09.2020 fest, dass die Emissionsbewertung von Bauprodukten (zwar) letztendlich den Ausschluss einer gesundheitlichen Gefährdung der Raumnutzer gewährleisten solle, die Vermeidung gesundheitlicher Beeinträchtigungen (jedoch) durch die Einhaltung von toxikologisch abgeleiteten Innenraumrichtwerten erreicht werde und Summenwerte aufgrund ihrer heterogenen Zusammensetzung keine zuverlässigen gesundheitsbezogenen Indikatoren darstellten (a.a.O. S. 15).
76 Soweit sie aufgrund eines Vergleichs mit den für einen Teil der Holzwerkstoff-typischen VOC-Emissionen zur Verfügung stehenden Innenraumrichtwerten auch das AgBB-Bewertungsschema - insoweit - als ein „auf Gefahrenabwehr abzielendes Instrument“ einstufen, vermag dies indes nicht zu überzeugen. Insbesondere wird nicht nachvollziehbar aufgezeigt, warum - bei OSB-Platten - bei Überschreitung des Summenwerts von 1 mg/m3 in der Prüfkammer jedenfalls auch eine Überschreitung der für die entsprechenden Einzelstoffe bzw. Stoffgruppen geltenden Innenraumrichtwerte RW II im Realraum zu erwarten wäre, weil etwa anderen Einzelstoffen keine maßgebliche Bedeutung zukäme. Auch lassen diese Überlegungen nicht erkennen, warum damit mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine gesundheitliche Gefährdung angenommen werden könnte. Denn dies setzte voraus, dass die Richtwerte RW II ungeachtet dessen die Gefahrenschwelle markieren, dass auch sie auf Unsicherheitsfaktoren gestützt sind und sie bei Konzentrationen oberhalb des Richtwerts RW II gesundheitliche Gefahren bei empfindlichen Raumnutzern lediglich nicht mehr mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausschließen (vgl. UBA, Bekanntmachung, a.a.O., S. 992). Im Übrigen erscheint zweifelhaft, ob sich der angegriffene TVOCspez-Wert hinsichtlich bestimmter Holzwerkstoffe als rechtmäßig erwiese, wenn er ungeachtet seines fehlerhaften Ansatzes die Gefahrenschwelle zufällig getroffen haben sollte.
77 Schließlich können die Prüfkammerergebnisse ohnehin nicht ohne weiteres auf den Realraum übertragen werden und sind die Emissionsraten bei gleichen Klimabedingungen lediglich sehr ähnlich (vgl. die vom Antragsgegner vorgelegte Stellungname der Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung v. 18.09.2020, S. 3; Hofmann/Maraun, a.a.O., S. 86).
78 Insofern ist nicht nachvollziehbar, warum der in der Prüfkammer ermittelte TVOCspez-Wert nun auf einmal geeignet sein sollte, die Gefahrenschwelle zu markieren, zumal nach gesichertem wissenschaftlichen Erkenntnisstand gerade einige holzwerkstoffspezifische VOCs - nämlich die Terpene -, wovon auch der Antragsgegner ausgeht, auch nach dem 28.Tag weiter abnehmen („abklingen“, vgl. die im Parallelverfahren vorgelegte Anlage ASt 17, Metastudie „GesundHOLZ“, S. 48, 63; BAM-Studie „Emissionsverhalten von Holz und Holzwerkstoffen“ v. März 2012, S. 90).
79 Bezugspunkt der Gefahrenprognose ist schließlich nicht der 3. oder 28. Tag in der Prüfkammer, sondern der deutlich spätere - frühestens nach Einbau der Bauprodukte beginnende - Zeitraum der Nutzung als Wohnraum (vgl. Bekanntmachung des UBA, a.a.O., S. 999). Auch Hofmann/Maraun messen in ihrem Abschlussbericht dem Zeitpunkt des Einbaus Bedeutung zu (a.a.O., S. 14 f.). Diese allgemein bekannten Alterungseffekte dürften letztlich auch für die in Abstimmung mit den Herstellern vorgenommene „Spezifizierung“ des Prüfverfahrens maßgeblich gewesen sein, wonach die Proben nicht genommen werden müssen, sobald die üblichen Herstellungsprozesse abgeschlossen und sie (tatsächlich) zur Verwendung bereit sind (vgl. der in Anhang 8 in Bezug genommene Entwurf der DIN EN 16516 bzw. die inzwischen vorliegende DIN EN 16516:2018-01, Nr. 5.3.6 u. 5.8), sondern erst spätestens 16 Wochen nach Erreichen der Handelsfähigkeit (!) gezogen und auch erst dann emissionsarm verpackt werden müssen. Dies könnte darauf hindeuten, dass der Antragsgegner inzwischen selbst Zweifel hat, dass die Prüfkammerergebnisse an den beiden Stichtagen auf den Realraum übertragen werden können.
80 Soweit der Prozessbevollmächtigte des Antragsgegners demgegenüber behauptet, die Emissionsbelastung im Realraum würde aufgrund der Prüfkammerergebnisse ohnehin „regelmäßig und meist sogar deutlich unterschätzt“, hat er hierfür keine verallgemeinerungsfähigen wissenschaftlichen Erkenntnisse angeführt, mag auch der Luftaustausch im Realraum häufig geringer als in der Prüfkammer sein. Auch der von ihm vorgelegten Anlage 32 lässt sich dies nicht entnehmen; der Antragsgegner selbst hat zu diesem Fallbeispiel angemerkt, dass die seinerzeit für die nachteiligen Auswirkungen als ursächlich angesehene, besondere Einbausituation in der Prüfkammer durchaus hätte nachgebildet werden können, wenn bei der Messung nur die richtigen Beladungsfaktoren angegeben worden wären.
81 Die vorstehenden Bedenken bestehen gleichermaßen gegen die Anforderung an die Summe der Konzentrationen der schwerflüchtigen organischen Verbindungen, die sich auf die Summe der identifizierten und nicht identifizierten und über das Toluoläquivalent quantifizierten SVOC mit jeweils einer Konzentration ab 5 µg/m3 bezieht und auf einen zusätzlichen Beitrag von 10% (= 0,1 mg/m3) der maximal zulässigen TVOCspez-Konzentration begrenzt wird. Auch wenn diese bei den in Rede stehenden Span- und OSB-Platten nicht von Bedeutung sein dürften, unterliegen sie doch auch insoweit einer Prüfung.
82 Auch die Anforderung nach gewichteter Einzelstoffbewertung, dass R als die Summe aller Ri den Wert 1 nicht übersteigen darf, markiert - entgegen der Auffassung des Antragsgegners - nicht die Schwelle zur Gefahr. Denn die Anforderung an den R-Wert beruht auf der Annahme, dass, wenn Ri (= C1/NIK) den Wert 1 unterschreitet, (überhaupt) k e i n e Wirkung auftritt. Damit bedeutet dieser Wert aber nur, dass Wirkungen nicht a u s z u s c h l i e ß e n sind. Denn dieser beruht letztlich auf sog. NIK-Werten (niedrigste interessierende Konzentration, engl. LCI - Lowest Concentration of Interest), die - teilweise unter Berücksichtigung verschiedener Faktoren aus vorhandenen Arbeitsplatzgrenzwerten (AGW) bzw. MAK-Werten - abgeleitet wurden, um VOC-Emissionen aus Bauprodukten soweit zu begrenzen, dass die in der Raumluft resultierenden Immissionen auch unter ungünstigen, aber noch realistischen Bedingungen die Gesundheit auch e m p f i n d l i c h e r Personen (Allergiker) bei Daueraufenthalt (jedenfalls) nicht gefährden. Diese stoffspezifischen Rechengrößen beschreiben damit nur die Schwelle, unterhalb derer für den Einzelstoff k e i n e nachteiligen Wirkungen (mehr) zu befürchten sind. Insoweit verhält es sich nicht anders als bei den aus dem Naturschutzrecht bekannten sog. Critical Loads (vgl. hierzu den Senatsbeschl. v. 15.01.2019 - 8 S 846/18 -; BVerwG, Urt. v. 28.09.2011 - 7 C 21.09 -, NVwZ 2012, 176). Auch die inzwischen maßgeblichen EU-LCI-Werte dienen der Vermeidung von Gesundheitsrisiken („EU-LCI values should be applied in product safety assessment with the ultimate goal to avoid health risks from long-term exposore of the general population.“, Ref. Ares(2018)3820029 - 18/07/2018).
83 Soweit der Antragsgegner die NIK-/LCI-Werte nun entgegen allen bisherigen Verlautbarungen des Umweltbundesamts und dem Sprachgebrauch der EU - unter Bezugnahme auf eine eigens eingeholte Stellungnahme des Umweltbundesamts vom 20.09.2020 (S. 4, anders freilich S. 5, wo auf den NOAEL als Ausgangspunkt hingewiesen wird) - nun dahin definiert, dass mit ihnen Schwellen gekennzeichnet würden, ab denen mit entsprechenden Wirkungen zu r e c h n e n bzw. nachteilige Wirkungen auf die Gesundheit zu b e f ü r c h - t e n seien, ist dies nicht nachvollziehbar, sollte damit zum Ausdruck gebracht werden, dass mit solchen Wirkungen dann bereits mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu rechnen wäre.
84 Auch bei einer additiven Wirkung in dem vom Antragsgegner angenommenen umfassenden Sinne, erschlösse sich noch immer nicht, warum bei der Addition sämtlicher Einzelkonzentrationen, die für sich genommen keinerlei Wirkungen haben, bereits die Gefahrenschwelle überschritten sein sollte.
85 Soweit Hofmann/Maraun in ihrem Abschlussbericht (S. 10, 79) darauf hinweisen, dass einzelne NIK-Werte „in guter Übereinstimmung mit den ebenfalls toxikologisch zur Abwehr von Gefahren abgeleiteten Innenraumrichtwerten RW II-Werte“ stünden, der NIK-Wert für die bicyklischen Terpene mit der Leitkomponente α-Pinen nur leicht über dem Richtwert RW II liege, aus der Gruppe der Aldehyde die Summe von lediglich drei Vertretern den Summenwert des Richtwerts RW II überschreiten würde und aus der Gruppe der Carbonsäuren jeder einzelne NIK-Wert leicht bis deutlich über dem Summenwert des Richtwerts II liege, wird damit nicht aufgezeigt, dass der nach dem Anhang 8 letztlich maßgebliche (Summen-)R-Wert - bei Span- oder OSB-Platten - nur dann überschritten wird, wenn es in der Folge auch zu entsprechenden Überschreitungen der für die jeweiligen Stoffgruppen geltenden Richtwerte RW II käme.
86 Selbst wenn die Annahme einer additiven Wirkung jeglicher Verbindungen ab Konzentrationen von 5 µg/m3 bei Span- und OSB-Platten aufgrund der zu erwartenden Zielverbindungen nicht zum Tragen käme, kommt auch hier dazu, dass der Summen-R-Wert lange vor dem Einbau in den Realraum in der Prüfkammer einzuhalten ist und Terpene auch nach dem 28. Tag weiter „abklingen“, sodass eben nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden kann, dass später auch die Innenraumrichtwerte RW II überschritten würden, was - aufgrund der auch bei diesen berücksichtigten Unsicherheitsfaktoren - dann immer noch nicht die hinreichende Wahrscheinlichkeit einer gesundheitlichen Gefährdung belegte. Dass der R-Wert bis 1,49 auf 1 abzurunden wäre, ändert schließlich nichts.
87 Soweit der Antragsgegner noch auf die sog. Fact Sheets verweist, in denen verschiedene Informationen auch zu holzwerkstoffspezifischen VOC zusammengetragen sind und auf bereits existierende Werte Bezug genommen wird, erschließt sich nicht, inwiefern diese auf eine andere Beurteilung führen sollten. Im Gegenteil rufen die jeweils beschriebenen Schlüsselstudien („Key Study“) - im Wesentlichen Labor- bzw. Tierversuche - erhebliche Zweifel hervor, ob sich die daraus im Wege der Extrapolation abgeleiteten Werte nicht nur zur Bewertung von Gesundheitsrisiken eignen, sondern darüber hinaus alleinige Grundlage von Maßnahmen zur Abwehr von abstrakten Gefahren für die menschliche Gesundheit sein können, zumal die NIK-/LCI-Werte - wie auch Frau Dr. Witten (AgBB) auf Nachfrage bestätigt hat - unter Berücksichtigung von verschiedenen Unsicherheitsfaktoren gebildet werden.
88 Nicht weiter führt auch der Hinweis des Antragsgegners auf die Einstufung von (auch aus Spanplatten und OSB emittierenden) VOC nach der CLP-Verordnung und die dortigen „H-Sätze“. Denn diese lassen nicht erkennen, ab welcher Konzentration bestimmter Einzelstoffe die beschriebenen möglichen Auswirkungen zu erwarten sind.
89 Auch der Umstand, dass die Emissionen von Carbonsäuren, insbesondere die der Essigsäure aufgrund des maßgeblichen Probenahme- und Analyseverfahrens noch gar nicht vollständig erfasst sein mögen (vgl. Hofmann/Maraun, a.a.O., S. 16), ist ersichtlich nicht geeignet, den maßgeblichen TVOCspez-Wert oder den Summen-R-Wert - unter dem Gesichtspunkt der Gefahrenabwehr - im Ergebnis zu rechtfertigen.
90 Inwiefern aufgrund der noch vorgelegten, zahlreichen, insbesondere epidemiologischen (Querschnitts-)Studien und Untersuchungen, soweit sie überhaupt den Erkenntnisstand zum Zeitpunkt des Erlasses der Verwaltungsvorschrift wiedergeben, eine andere Beurteilung gerechtfertigt sein könnte, ist ebenso wenig zu erkennen.
91 Die vom Antragsgegner beigebrachten Studien beziehen sich teilweise noch nicht einmal (ausdrücklich) auf flüchtige organische Verbindungen, die gerade aus verklebten Hölzern, insbesondere Span- und OSB-Platten emittiert werden (vgl. Anlage 13: „Thereby wall-to-wall-carpets, PVC material, and laminate were the flooring material, which showed the strongest adverse associations.“). Andere Studien berücksichtigten wiederum besonders empfindliche Risikogruppen (Anlage 14: „. . . households with apparently unhealthy children“,) bzw. zeigten lediglich weiteren Forschungsbedarf auf (Anlage 11: „Therefore more studies that explore the biological mechanism of VOC’s neurotoxicity are needed.“).
92 Eine weitere Studie von 2000 (Anlage 28) belegt zwar VOC-Emissionen in Neubauten, die auch aus Holzwerkstoffen emittieren, inwiefern diese hauptursächlich waren und welche Wirkungen damit verbunden sein könnten, ist der Studie jedoch nicht zu entnehmen. Den TVOC-Werten wird freilich auch dort kein wissenschaftlicher Wert beigemessen. Ähnlich verhält es sich mit einer Studie von 2012 (Anlage 29), in der „wood panels/vinyl floor coverings“ als hauptursächlich für festgestellte VOC-Emissionen bezeichnet wurden. Eine weitere Studie (Anlage 30) datiert von 2018 und ist schon deshalb unerheblich. Die ebenfalls erst am 20.03.2020 vorgelegte Studie von S. Cakmak et al. (2014, Anlage 31) belegt zwar, dass sich einige der gemessenen VOC-Emissionen negativ auf die Lungenfunktion insbesondere bei Kindern und Jugendlichen ausgewirkt hätten, jedoch standen, worauf auch Prof. Dr. Mersch-Sundermann in seiner von den Antragstellerinnen im Parallelverfahren eingeholten medizinisch-wissenschaftlichen Stellungnahme vom 06.07.2020 (Anlage Ast 5) hinweist, eher geringe Konzentrationen in Rede, die nach bisherigem Erkenntnisstand noch nicht einmal Gesundheitsrisiken begründeten, sodass Zweifel an der angenommenen Wirkungsbeziehung bestehen. Dem entsprechend hat auch Frau Dr. Witten in der mündlichen Verhandlung dieser Studie nur eine eingeschränkte Aussagekraft beigemessen. Im Übrigen ist auch diese Studie ungeeignet, gerade das streitgegenständliche TVOCspez-Konzept zu tragen, da sie allenfalls Anforderungen an bestimmte VOC-Emissionen rechtfertigen könnte.
93 Auch die bereits angesprochene Anlage 32 mit einem Fallbeispiel aus 2004, wo insbesondere in einer Fußbodenheizungskonstruktion aus OSB-Platten höhere Konzentrationen der höheren Aldehyde bei einer sehr hohen Raumbeladung festgestellt wurde, die beim Bauherrn ein freilich nicht näher spezifiziertes „Unwohlsein und gesundheitlichen Auffälligkeiten“ verursacht hätten, mag das Prüfverfahren im Hinblick auf hohe Raumbeladungen in Frage stellen, aber nicht das TVOCspez-Konzept zu tragen. Die weiteren Fallbeispiele (Anlage 33) zeigen schließlich nur, dass für Formaldehyd, Ameisen- und Essigsäure eine deutlich geringere Lüftungseffizienz im Vergleich zu anderen VOC besteht.
94 Der mehrfache Hinweis auf die Regulierungsbedürftigkeit von VOC-Emissionen aus Holzwerkstoffen, die breiter Konsens sei, die wiederholte Bezugnahme auf das AgBB-Bewertungsschema und der Verweis auf zu einzelnen VOC vorliegende NIK- bzw. LCI-Werte führen nach alldem nicht weiter. Schon gar nicht kommt es auf „Empfehlungen der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung“ an, die sich freilich - wie die o.a. Richtwerte - an die Qualität der Innenraumluft zu richten scheinen.
95 Soweit der Antragsgegner darauf verweist, die Festlegungen der angegriffenen ABG seien „wissenschaftlich solide und breit im europäischen und internationalen Kontext hinterlegt“, mag dies zutreffen, soweit mit ihnen ein Gesundheitsrisiko beschrieben wird, das zu minimieren jedoch nicht ohne weiteres Aufgabe des Bauordnungsrechts der Mitgliedstaten ist. Dass die Aussage gleichermaßen für das Vorliegen einer aufgrund von VOC-Emissionen aus Span- und OSB-Platten etwa hervorgerufenen abstrakten Gefahr gälte, die Voraussetzung für Gefahrabwehrmaßnahmen nach dem Bauordnungsrecht für Baden-Württemberg ist, lassen diese Ausführungen nicht erkennen.
96 Dahinstehen kann vor diesem Hintergrund, ob die von den Antragstellerinnen angeführten Studien und Untersuchungen darüber hinaus geeignet sein könnten, das Vorliegen einer abstrakten Gefahr - oder gar eines Gefahrenverdachts - positiv auszuschließen.
97 (4) Die angegriffenen Anforderungen an VOC erweisen sich schließlich auch nicht unter dem Gesichtspunkt eines Gefahrerforschungseingriffs als zulässig. Dieser Gesichtspunkt könnte, sollte bei bestimmten Holzwerkstoffen ein hinreichender Gefahrenverdacht bestehen, allenfalls bestimmte Prüfungen zur Feststellung einer (abstrakten) Gefahr rechtfertigen, von der allein bei einer Überschreitung der vorgegebenen Werte jedoch nicht ausgegangen werden kann.
98 (5) Finden die hier angegriffenen Anforderungen an VOC-Emissionen danach bereits keine Rechtsgrundlage in § 73a Abs. 1 LBO, kommt es nicht mehr auf deren Vereinbarkeit mit den Grundrechten und der Bauproduktenverordnung an. Für den noch geltend gemachten Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG ist freilich nichts ersichtlich, nachdem im Hinblick auf die mit dem Herstellungsprozess jedenfalls bei OSB verbundenen erhöhten Emissionsabgaben ein sachlicher Grund bestehen dürfte, nicht dieselben Anforderungen an unbehandeltes Holz zu stellen.
99 c) Viel spricht allerdings dafür, dass die angegriffenen Anforderungen an VOC-Emissionen auch gegen das Marktbehinderungsverbot des Art. 8 Abs. 4 der Bauproduktenverordnung verstoßen, weil mit ihnen in der DIN EN 13986 „Holzwerkstoffe zur Verwendung im Bauwesen - Eigenschaften, Bewertung der Konformität und Kennzeichnung“ harmonisierte Bauprodukte, nämlich Holzwerkstoffe, zu denen auch die hier in Rede stehenden OSB-Platten gehören (vgl. S. 5 „1 Anwendungsbereich“), unzulässig nachreguliert worden sein dürften.
100 (1) Mit den angegriffenen Summenwerten stehen - anders als die Überschrift 2.2. „Besondere Anforderungen an Aufenthaltsräume und baulich nicht davon abgetrennte Räume“ dies erwarten lässt und anders als dies etwa bei den o. a. Richtwerten I und II der Ad-hoc-AG IRK/AOLG der Fall ist - nicht Anforderungen an die Innenraumluftqualität von Teilen baulicher Anlagen hinsichtlich VOC-Emissionen in Rede, zu denen der Antragsgegner - entgegen seiner eigenen, auf eine nicht einschlägige Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (Urt. v. 11.07.1974 - 8/74 - Dassonville -) gestützten Einschätzung - jedenfalls im Grundsatz (zutreffend Fehse, Die Auswirkungen der EU-Bauproduktenverordnung auf das nationale Recht, 2017, S. 84) unionsrechtlich berechtigt sein dürfte (vgl. den Erwägungsgrund (3) zur BauPVO), freilich nur im Rahmen seiner ihm nach nationalem Recht zustehenden Regelungsbefugnisse. Vielmehr werden unmittelbar an die in der DIN EN 13986 harmonisierten Bauprodukte Anforderungen gestellt (vgl. auch 1 ABG), was nach Art. 8 Abs. 4 BauPVO auch unter der Geltung der Bauproduktenverordnung, weil den Binnenmarkt behindernd, grundsätzlich unzulässig ist.
101 (2) Solches wäre freilich dann nicht der Fall, wenn sich die Harmonisierungswirkung, wie der Antragsgegner meint, gar nicht auf die hier in Rede stehenden VOC-Emissionen erstreckte. Wie weit die jeweilige Harmonisierung reicht, ist auch hier zunächst - im Wege der Auslegung - zu ermitteln (zutreffend Hofer, in: Simon/Busse, BayBO <137. EL Juli 2020>, vor Art. 15 Rn. 50). Im Hinblick auf das Ziel, durch harmonisierte technische Spezifikationen zur Angabe der Leistung von Bauprodukten das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts zu erreichen (vgl. Erwägungsgrund (58) zur BauPVO v. 09.03.2011), ist im Zweifel von einer „Vollharmonisierung“ auszugehen (vgl. EuGH, Urt. v. 16.10.2014, a.a.O. zur BPR; EuG, Urt. v. 10.04.2019 - T-229/17 -, Rn. 101 zur BPR), bei der alle wesentlichen Merkmale von Bauprodukten in den harmonisierten Spezifikationen in Bezug auf die Grundanforderungen an Bauwerke festgelegt sind (vgl. auch Art. 3 und Art. 17 Abs. 3 BauPVO). Bei einem derart abschließend harmonisierten System, wie es vom Europäischen Gericht in seinem Urteil vom 10.04.2019 auch unter der Geltung der Bauproduktenverordnung unterstellt wird, versteht es sich von selbst, dass es den Mitgliedstaten grundsätzlich verwehrt sein muss, unter Hinweis auf einen vermeintlich aus technischer Sicht nur „lückenhaft“ geregelten Sachverhalt von einer bloßen Teilharmonisierung bzw. sukzessiven Harmonisierung mit der Folge auszugehen, dass sie insoweit vorläufig - wie bei nicht harmonisierten Bauprodukten - zur (Nach-)Regulierung berechtigt wären. Anderes kann ersichtlich auch nicht aus Art. 19 BauPVO hergeleitet werden. Denn die in dieser Vorschrift vorgesehene Erstellung eines europäischen Bewertungsdokuments setzt ein nicht oder nicht vollständig von einer harmonisierten Norm erfasstes Bauprodukt voraus, dessen Leistung deshalb nicht vollständig anhand einer bestehenden harmonisierten Norm bewertet werden kann. Art. 19 Abs. 1 BauPVO ist daher entgegen der Auffassung des Antragsgegners kein Ausdruck „lückenhafter“ Normen, sondern ersichtlich besonderen Produkten geschuldet (vgl. Held/Jaguttis/Rupp, BauPVO 2019, Art. 19 Rn. 8).
102 Allerdings kann ein derart abschließend harmonisiertes System nicht, wie die Antragstellerinnen unter Verweis auf das angeführte Urteil des Europäischen Gerichts meinen, bei allen harmonisierten Normen unterstellt werden, da sich der Bauproduktenverordnung, insbesondere den Artt. 3 und 17 Abs. 3 BauPVO, nicht entnehmen lässt, dass es nicht auch - wenn auch nur vorübergehend - noch nicht abschließend harmonisierte, gleichwohl wirksame Normen geben kann. Dies dürfte sich jedenfalls daraus herleiten lassen, dass das in Art. 18 BauPVO geregelte Verfahren die Kommission gegebenenfalls berechtigte, eine Norm unter Vorbehalt zu veröffentlichen oder sie nur unter Vorbehalt zu belassen (vgl. Art. 18 Abs. 2 BauPVO), was ggf. auch dazu führen kann, dass die Mitgliedsstaaten hinsichtlich eines bestimmten wesentlichen Produktmerkmals nationale Zusatzanforderungen stellen könnten (vgl. hierzu Held/Jaguttis/Rupp, BauPVO 2019, § 18 Rn. 12).
103 Im Übrigen besteht, worauf der Antragsgegner hingewiesen hat, für CE-gekennzeichnete Bauprodukte anders als nach Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 89/106/EWG des Rates vom 21.12.1988 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über Bauprodukte (Bauproduktenrichtlinie - BPR, ABl. (EG) Nr. L 040 v. 11.02.1989) keine Brauchbarkeitsvermutung in dem Sinne mehr, dass diese die Anforderungen aus der harmonisierten Norm vollständig erfüllten, sodass von deren uneingeschränkter Verwendbarkeit auszugehen wäre. Vielmehr ist an deren Stelle die Vermutung der Konformität eines Bauprodukts mit der vom Hersteller erklärten Leistung getreten (vgl. Art. 4 Abs. 3 BauPVO). Dies lässt durchaus den Schluss zu, dass es unter der Geltung der Bauproduktenverordnung von einer harmonisierten Norm noch nicht (vollständig) erfasste wesentliche Merkmale geben kann. Aus Art. 8 Abs. 3 BauPVO, der - anders als Art. 4 Abs. 6 BPR - bestimmt, dass die CE-Kennzeichnung die einzige Kennzeichnung ist, die die Konformität des Bauprodukts mit der erklärten Leistung „in Bezug auf die wesentlichen Merkmale, die von der harmonisierten Norm erfasst sind“ und weiter bestimmt, dass die Mitgliedsstaaten (nur) „diesbezüglich“ keine Bezugnahme auf einen andere Kennzeichnung als die CE-Kennzeichnung einführen, dürfte dagegen weder für noch gegen eine Vollharmonisierung sprechen. Denn ergibt die Auslegung, dass die wesentlichen Merkmale in der harmonisierten Norm abschließend geregelt sind, muss es einem Mitgliedsstaat verwehrt sein, eine anderweitige Bezugnahme unter Hinweis auf ein besonderes, von ihm darüber hinaus für wesentlich bzw. noch nicht abschließend harmonisiert gehaltenes Merkmal einzuführen (vgl. den Erwägungsgrund 33; zutr. Fehse, a.a.O., S. 84). Bei einem anderen Auslegungsergebnis steht freilich auch der Einführung einer anderen Kennzeichnung nichts entgegen. Im Übrigen wäre es ohne Weiteres zulässig, zur Verbesserung des Schutzes der Verwender von Bauprodukten eine freiwillige Kennzeichnung einzuführen, mit der jenseits der Konformität lediglich ein besonders emissionsarmes Bauprodukt versprochen wird (vgl. Held/Jaguttis/Rupp, a.a.O, Art. 8 Rn. 19 ff.: etwa der „Blaue Engel“).
104 Von einer nicht gegen Bestimmungen der übergeordneten Bauproduktenverordnung verstoßenden, nicht abschließend harmonisierten Norm, die jedenfalls zu bestimmten (vorläufigen) Nachregulierungen berechtigte, dürfte auszugehen sein, wenn diese selbst ihren Geltungsanspruch entsprechend beschränkt, indem sie zum Ausdruck bringt, dass hinsichtlich bestimmter, (noch) nicht abschließend harmonisierter Merkmale bzw. Verfahren (weiterhin noch) vorläufig nationale Vorschriften gelten sollen (weitergehend Hofer, in: Simon/Busse, BayBO vor Art.15 Rn. 51: wenn im Anhang ZA der im Amtsblatt bekannt gemachten Produktnorm ein mandatiertes wesentliches Merkmal nicht enthalten ist oder harmonisierte Verfahren und Kriterien zur Bewertung eines mandatierten und im Anhang ZA enthaltenen Wesentlichen Merkmals fehlen, aber von erheblicher Relevanz zur Erfüllung der Bauwerksanforderung in Deutschland sind). Da die harmonisierten Normen ihrerseits Teil des Unionsrechts sind (vgl. EuGH, Urt. v. 27.10.2016 - C-613/14 -, Rn. 40, 47; Urt. v. 14.12.2017 - C-630/16 -, Rn. 32 ff.) ist kein Grund ersichtlich, warum eine solche Selbstbeschränkung der Harmonisierung, wie sie auch bei einem Vorbehalt nach Art. 18 Abs. 2 BauPVO bewirkt werden kann, unzulässig sein sollte. Dann kann aber von einer in jeder Hinsicht abschließenden Harmonisierung nicht die Rede sein. Auch Maßnahmen nach den Art. 18, 56 ff. BauPVO, auf die die Antragstellerin im Anschluss an das zur Bauproduktenrichtlinie ergangene Urteil des Europäischen Gerichtshofs verweist, machten im Fall einer derart offenbaren Lückenhaftigkeit einer Norm ersichtlich keinen Sinn.
105 Entgegen der Auffassung der Antragstellerinnen sind die vorstehenden Fragen mit dem inzwischen ergangenen Urteil des Europäischen Gerichts vom 19.04.2019 - T-229/17 - keineswegs in ihrem - gegenteiligen - Sinne geklärt. Vielmehr wurde in dem dortigen Verfahren, soweit hier von Interesse, nur formal darüber entschieden, ob die seinerzeit in Rede stehenden harmonisierten Normen unter dem von der Kommission versehenen Vorbehalt belassen werden durften oder dieser gerade in dem von Deutschland gewünschten Sinne, dass den Mitgliedstaaten ausdrücklich das Recht zur Nachregulierung zustehe, zu fassen gewesen wäre. Dass solches nicht beansprucht werden konnte, dürfte auf der Hand gelegen haben. Denn auch ein nicht vollständig umgesetztes Mandat muss nicht dazu führen, dass Regelungsbefugnisse der Mitgliedsstaaten wiederauflebten, welche ihnen für nicht harmonisierte Bauprodukte zustanden. Vielmehr gilt es in einem solchen Fall grundsätzlich die Lücke auf europäischer Ebene durch eine nunmehr abschließende Harmonisierung zu schließen, indem zu diesem Zwecke etwa auch von den Maßnahmen Gebrauch gemacht wird, die die Bauproduktenverordnung in einem solchen Fall bereithält. Eine andere, vom Europäischen Gericht nicht entschiedene, freilich eher zu verneinende Frage ist, ob allein im Hinblick auf eine das Ziel der Bauproduktenverordnung vollständig erreichende Vollharmonisierung eine Vertragsverletzung bzw. ein Verstoß gegen Art. 8 Abs. 4 BauPVO auch dann vorläge, wenn ein Mitgliedsstaat von einer bereits in der harmonisierten Norm enthaltenen Öffnungsklausel Gebrauch macht und (lediglich) entsprechende (vorläufige) Maßnahmen trifft.
106 So könnte es sich hier verhalten, weil die hier einschlägige DIN EN 13986 unter Nr. 4.8 ausdrücklich eine sog. Öffnungsklausel, allerdings nur für „sonstige gefährliche Stoffe“ enthält (vgl. § 114 Abs. 10 AEUV, der in einer vergleichbaren Konstellation eine Schutzklausel zum Schutz der in Art. 36 AEUV genannten Rechtsgüter vorsieht). So heißt es dort, dass nationale Vorschriften „zu gefährlichen Stoffen“ die Vorlage eines Nachweises und einer Deklaration über die Freisetzung von anderen als die bereits in anderen Abschnitten der Norm erfassten Stoffe und teilweise über deren Gehalt erfordern könnten und insofern die nationalen Vorschriften gelten sollten.
107 (3) Ob diese Öffnungsklausel dem Antragsgegner weiterhelfen würde, hält der Senat zwar nicht für ausgeschlossen, jedoch für eher unwahrscheinlich, weil sie eben nur für „sonstige gefährliche Stoffe“ einen entsprechenden, möglichweise auch nur klarstellenden Hinweis enthält. Der Anhang 1 unter 3. b) zur Bauproduktenverordnung, der neben gefährlichen Stoffen auch flüchtige organische Verbindungen anführt (wie auch das geänderte Mandat M/113), spricht jedenfalls dagegen, dass mit dem Begriff „sonstige gefährliche Stoffen“ auch alle VOC gemeint wären. Anderes folgt auch nicht aus dem - nicht offensichtlichen - Umstand, dass die EN 13986 (auch) insoweit hinter dem Mandat Nr.113 zurückgeblieben sein mag. Dass VOC grundsätzlich als gefährliche Stoffe zu gelten hätten, dürfte auch dem Urteil des Europäischen Gerichts nicht zu entnehmen sein.
108 Viel spricht dafür, dass unter gefährlichen Stoffen nur solche Stoffe gemeint sind, bei denen in allen Mitgliedstaaten und der Union Konsens besteht, dass sie (ohne Weiteres) gefährlich sind. Denn dann müssen die Mitgliedsstaaten (jedenfalls) zu (vorläufigen) Maßnahmen - wie bei der Berufung auf die verschiedenen Schutzklauseln - berechtigt sein (vgl. dazu Hofer, a.a.O., Rn. 51, unter Hinweis auf EuGH, Urt. v. 20.02.1979 - Rs. C-120/78 -, NJW 1979, 1766 - nach dem ordre-public-Vorbehalt des Art. 36 Satz 1 AEUV bzw. der Notwendigkeit, „um zwingenden Erfordernissen gerecht zu werden“).
109 Mit der Warenverkehrsfreiheit und der mit einer Harmonisierung verfolgten Vereinheitlichung der Anforderungen an Bauprodukte schwerlich vereinbar dürfte jedenfalls eine Auslegung der Öffnungsklausel sein, die es den Mitgliedstaaten ermöglichte, hinsichtlich aller Einzelstoffe, die potentiell gefährlich sind, eigene Anforderungen zu stellen. Denn dies ließe sich letztlich für alle Stoffe anführen. So hat der Europäische Gerichtshof aufgrund der Schutzklausel des Art. 12 der Verordnung Nr. 258/97 - als besondere Ausprägung des Vorsorgeprinzips - getroffenen Schutzmaßnamen eine Absage erteilt, die mit einer rein hypothetischen Betrachtung des Risikos begründet werden, die auf bloße wissenschaftlich noch nicht verifizierte Vermutungen gestützt wird (Urt. v. 09.09.2003 - C-236/01 -, juris).
110 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
111 Die Revision ist ungeachtet vergleichbarer Regelungen in anderen Bundesländern nicht zuzulassen, da keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt. Insbesondere steht hinsichtlich der Würdigung des bei Erlass der Technischen Baubestimmungen vorhandenen Erkenntnisstandes keine Rechtsfrage in Rede, die auf eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache führen könnte.
112 Beschluss vom 7. Oktober 2020
113 Der Streitwert wird für das Normenkontrollverfahren im Hinblick auf den von den Antragstellerinnen angegebenen, angemessen erscheinenden Wert endgültig auf EUR 50.000,-- (2 x EUR 25.000,--) festgesetzt (vgl. §§ 63 Abs. 2 Satz 1, 52 Abs. 1, 39 Abs. 1 GKG i.V.m. Nrn. 9.8.1 u. 1.1.1 des Streitwertkatalogs 2013).
114 Der Beschluss ist unanfechtbar.
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Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 1. August 2019 - 10 K 15427/17 - wird zurückgewiesen.Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1 Der Kläger begehrt die Feststellung, dass eine ihm gegenüber ergangene jagdrechtliche Anordnung rechtswidrig gewesen ist und wendet sich gegen in Zusammenhang mit dieser Anordnung festgesetzte Verwaltungsgebühren.
2 Der Kläger ist Jagdausübungsberechtigter im Jagdrevier …, wo er mehrere Kirrstellen betreibt. Nach § 33 Abs. 5 Satz 1 des Jagd- und Wildtiermanagementgesetzes vom 25. November 2014 (im Folgenden: JWMG) ist unter „Kirrung“ das Anlocken von Wildtieren mit geringen Futtermitteln zur Erleichterung der Bejagung zu verstehen, die während der Jagdzeit erlaubt ist. Am 27. Februar 2017 erhielt die untere Jagdbehörde beim Landratsamt Rastatt über die Umweltmeldestelle der Landesregierung Kenntnis von einer Umweltmeldung des NABU Rastatt, wonach im Jagdrevier des Klägers u.a. ein Jagdvergehen vorliege. Daraufhin führten zwei Bedienstete des Landratsamts am 24. März 2017 eine Fütterungskontrolle durch und stellten fest, dass an zwei Stellen im Jagdrevier Mais teilweise offen und großflächig auf dem Boden ausgestreut, an einer weiteren Stelle Apfeltrester ausgebracht und an zwei weiteren Stellen Mais mit Holzscheiben abgedeckt ausgebracht worden sei. Zudem seien an zwei verschiedenen Stellen ein mit Mais gefülltes Rollfass und ein Rollfass mit geringer Maismenge vorhanden gewesen. Der Kläger, der auf dem Rückweg von der Kontrolle persönlich angetroffen wurde, sagte ausweislich eines Aktenvermerks des Landratsamtes zu, die festgestellten Kirrverstöße unverzüglich zu beseitigen.
3 Am 4. April 2017 führte das Landratsamt eine Nachkontrolle durch und stellte erneut jagdrechtliche Verstöße gegen Kirrbestimmungen fest (konzentriertes Auslegen von Mais in einem hohlen Baumstamm, Auslegen einzelner Maiskörner auf einer größeren Fläche, Auslegen von Apfeltrester). Daraufhin erging der Bescheid des Landratsamtes Rastatt vom 4. April 2017. Unter 1. dieses Bescheides wurde dem Kläger aufgegeben, die am 4. April 2017 an der von ihm betriebenen und in der Begründung des Bescheides näher beschriebenen Kirrstelle festgestellten Missstände unverzüglich, jedoch bis spätestens Sonntag, den 9. April 2017, 12:00 h zu beseitigen und einen rechtskonformen Zustand herzustellen. Für den Fall der nicht fristgerechten Umsetzung von Nr. 1 wurde dem Kläger unter Nr. 2 des Bescheides die Festsetzung eines Zwangsgeldes i. H. v. 500 Euro angedroht. Mit Nr. 3 des Bescheides wurde die sofortige Vollziehbarkeit von Nr. 1 angeordnet, unter Nr. 4 für die Entscheidung, die Kontrolle vom 24. März 2017 und die Nachkontrolle vom 4. April 2017 eine Verwaltungsgebühr von insgesamt 487,90 Euro festgesetzt.
4 Gegen den ihm am 6. April 2017 zugestellten Bescheid erhob der Kläger am 11. April 2017 Widerspruch, den er im Wesentlichen damit begründete, dass die Ermächtigungsgrundlage des § 6 Satz 1 DVO JWMG verfassungswidrig sei; auch lägen deren Voraussetzungen nicht vor, da er selbst keine unzulässige Kirrung angelegt habe. Es liege der Verdacht nahe, dass der Mais und der Apfeltrester von einem unbekannten Dritten ausgelegt worden seien, um ihn anzuschwärzen. Hierfür spreche auch, dass die Jagdbehörde - was sie ihm gegenüber bestätigt habe - am 4. April 2017 aufgrund eines an diesem Tage eingegangenen anonymen Hinweises tätig geworden sei.
5 Mit Widerspruchsbescheid vom 12. Oktober 2017 wies das Regierungspräsidium den Widerspruch zurück und führte u.a. aus, dass es nicht darauf ankomme, ob der Kläger die unzulässige Kirrung angelegt habe, denn er sei nach § 6 Satz 2 DVO JWMG als jagdausübungsberechtigte Person aufgrund seiner verschuldensunabhängigen Beseitigungsverpflichtung in Anspruch genommen worden. Die Verwaltung habe von der Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung auszugehen. Auf die Art und Weise, wie die Behörde von dem Sachverhalt Kenntnis bekommen habe, komme es nicht an. Entscheidend sei, dass die Kirrung unzulässig gewesen sei.
6 Am 14. November 2017 hat der Kläger beim Verwaltungsgericht zunächst Anfechtungsklage gegen die ergangenen Bescheide erhoben, zu deren Begründung er seinen Widerspruchsvortrag wiederholt und ergänzend ausgeführt hat: § 6 Satz 2 DVO JWMG, der eine jagdausübungsberechtigte Person generell und unabhängig von einer eigenen Veranlassung für die Beseitigung einer unzulässigen Kirrung in Anspruch nehme, sei ebenfalls verfassungswidrig. Denn wenn ein Dritter eine unzulässige Kirrung anlege, liege ein abfallrechtlicher Sachverhalt vor, für dessen Regelung dem Gesetzgeber bereits die Gesetzgebungskompetenz fehle. Auch könne in einer Durchführungsverordnung zum JWMG keine ordnungsrechtliche Regelung zur Gefahrenabwehr getroffen werden.
7 Mit Schriftsatz vom 19. Januar 2018 hat der Kläger mit Blick darauf, dass er der Anordnung in Nr. 1 des Bescheides vom 4. April 2017 nachgekommen ist, seine Anfechtungsklage in Bezug auf Nr. 1 und Nr. 2 der Ausgangsverfügung auf eine Fortsetzungsfeststellungsklage umgestellt. Zu deren Begründung hat er ergänzend ausgeführt: Ihm stehe ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse unter dem Gesichtspunkt der Wiederholungsgefahr zu, denn er müsse damit rechnen, dass er wiederum beim Landratsamt angeschwärzt werde und dieses in gleicher Weise hierauf reagiere. Außerdem besitze er ein Rehabilitationsinteresse. In den Fällen, in denen ein unbekannter Dritter widerrechtlich Kirrungen angelegt habe, sei keine verschuldensunabhängige Beseitigungspflicht zulasten der jagdausübungsberechtigten Person gerechtfertigt. Denn dann handele es sich um eine Störung der öffentlichen Ordnung und damit um eine öffentliche Aufgabe der Behörde (§ 5 Abs. 1 Satz 2 JWMG). Die in Rede stehende Kirrung sei von Dritten gezielt manipuliert worden, denn er - der Kläger - habe die beanstandeten Futtermittelreste am 9. April 2017 um 12.00 Uhr beseitigt, bereits am nächsten Tag habe er jedoch erneut breitwürfig gestreuten Mais vorgefunden, der weder von ihm noch von seinen Jagdgästen ausgebracht worden sei. Bestehe in dieser Situation eine verschuldensunabhängige Beseitigungspflicht, so befinde sich der jagsauübungsberechtigte Pächter in der Hand einer dritten, ihn diskreditierenden Person. Werde die Behörde - wie hier - aufgrund eines anonymen Hinweises unverzüglich tätig, habe der Jagdausübungsberechtigte keine Möglichkeit, die Manipulation seiner Kirrung festzustellen und diese ggf. selbst zu melden. Faktisch müsse er die Kirrung - ein unentbehrliches Hilfsmittel zur Jagd - deshalb einstellen.
8 Die Beklagte hat ihre Verfügung verteidigt und u.a. ausgeführt: Die Behauptung, ein mit dem Kläger zerstrittener Dritter habe die unzulässigen Kirrungen angelegt, sei als Schutzbehauptung zu werten. Jedenfalls sei hier eine verschuldensunabhängige Verpflichtung des revierverantwortlichen Jagdausübungsberechtigten aus § 6 Satz 2 DVO JWMG gegeben. In Ermangelung eines greifbaren Verhaltensstörers sei die Anwendung dieser Vorschrift in der Praxis die meist einzige Möglichkeit, zeitnahe und geeignete Maßnahmen zur Beseitigung der bereits eingetretenen Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu treffen. Eine wie im vorliegenden Fall aussichtslose und zeitlich aufwändige Untersuchung zur Identifizierung des Anlegers würde dem Zweck der Regelung zuwiderlaufen. Entgegen dem Klägervortrag sei eine unzulässige Kirrung dem Jagdrecht und nicht dem Abfallrecht zuzuordnen.
9 In der mündlichen Verhandlung am 1. August 2019 hat der Beklagte den Bescheid des Landratsamtes vom 4. April 2017 und den Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums vom 12. Oktober 2017 dahin abgeändert, dass statt der Gebühr i.H. v. 487,90 Euro nur noch eine Gebühr i.H.v. 484,40 Euro festgesetzt wird. Der Widerspruchsbescheid wurde insoweit aufgehoben als darin der Widerspruch des Klägers gegen Nr. 1 und 2 des Ausgangsbescheides zurückgewiesen wird und insoweit geändert als statt der festgesetzten Widerspruchsgebühr von 200 Euro nur noch eine Widerspruchsgebühr von 50 Euro festgesetzt wird. Im Umfang der Aufhebung bzw. Änderung der genannten Bescheide haben die Beteiligten den Rechtsstreit übereinstimmend für erledigt erklärt.
10 Mit Urteil vom 1. August 2019 hat das Verwaltungsgericht das Verfahren eingestellt, soweit die Beteiligten den Rechtsstreit in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt haben. Im Übrigen hat es sowohl die Fortsetzungsfeststellungsklage als auch die in Bezug auf den nicht erledigten Teil der Gebührenentscheidung weiter verfolgte Anfechtungsklage abgewiesen. Zur Abweisung der Fortsetzungsfeststellungsklage ist in dem Urteil im Wesentlichen ausgeführt, Rechtsgrundlage für Nr. 1 der Anordnung sei § 6 Satz 2 DVO JWMG i. V. m. § 62 Abs. 2 JWMG. § 6 Satz 2 DVO JWMG verstoße nicht gegen höherrangiges Recht, da die oberste Jagdbehörde gem. Art. 61 Abs. 1 LV i. V. m. § 33 Abs. 7 Satz 2 JWMG zum Erlass einer Regelung zur Verhinderung einer missbräuchlichen Wildfütterung, Ablenkungsfütterung oder Kirrung ermächtigt sei. Der Landesgesetzgeber habe hierfür auch die Gesetzgebungskompetenz, denn nach dem primären Zweck der Regelung gehe es um einen Gegenstand des Jagdrechts und nicht des Abfallrechts. Auch ein Verstoß gegen die allgemeine Handlungsfreiheit des Jagdausübungsberechtigten (Art. 2 Abs. 1 GG) sei nicht festzustellen, da die Regelung des § 6 Satz 2 DVO JWMG von der Schranke der „verfassungsmäßigen Ordnung“ gedeckt sei und nicht unverhältnismäßig in dieses Grundrecht eingreife. Denn der Jagdausübungsberechtigte sei Inhaber der tatsächlichen Gewalt über sein Jagdrevier; daher obliege es ihm, dafür Sorge zu tragen, dass die gesetzlich festgelegten Grenzen des Kirrungsrechts in seinem Jagdrevier gewahrt und unzulässige Kirrungen verhindert würden. In verfassungsrechtlich zulässiger Weise dürfe er deshalb auch als Zustandsstörer dann in Anspruch genommen werden, wenn die Gefahr nicht durch ihn verursacht worden sei. Der Umstand, dass die Steuerung des Wildtiermanagements nach § 5 Abs. 1 Satz 2 JWMG eine öffentliche Aufgabe darstelle, stehe dem nicht entgegen. Entgegen der Rechtsauffassung des Klägers könnten Normen des Gefahrenabwehrrechts einschließlich einer Inanspruchnahme des Zustandsstörers nicht nur im Polizeigesetz, sondern als ordnungsrechtliche Nebenregelung auch in einem Spezialgesetz geregelt werden. Unschädlich sei ferner, dass die Inanspruchnahme des Jagdausübungsberechtigten als Zustandsverantwortlichen im Rahmen der Durchführungsverordnung geschaffen worden sei. Denn zum einen ergebe sich die eigentliche Eingriffsermächtigung aus der Generalklausel des 62 Abs. 2 JWMG, und damit aus einem formellen Parlamentsgesetz, zum anderen sei ein Eingriff in Art. 2 Abs. 1 GG auch aufgrund eines Gesetzes möglich. Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 6 Satz 2 DVO JWMG hätten im Zeitpunkt des Erlasses des streitgegenständlichen Bescheides vorgelegen, denn der Kläger sei Jagdausübungsberechtigter gewesen; auch habe es sich bei dem vom Landratsamt festgestellten Sachverhalt um eine Kirrung i.S.v. § 33 Abs. 5 Satz 1 JWMG gehandelt. Entgegen der Rechtsauffassung des Klägers liege eine Kirrung nicht nur dann vor, wenn sie von dem Jagdausübungsberechtigten oder einer von diesem beauftragten Person angelegt worden sei. Aus § 33 Abs. 5 Satz 1 JWMG sei lediglich zu entnehmen, dass der Tatbestand der Kirrung einen objektiv jagdlichen Zweck erfüllen müsse. Dies sei hier der Fall, weil die beanstandeten Futtermittel an den Kirrstellen des Klägers gezielt ausgelegt worden seien. Darauf, ob die handelnde Person den Kläger habe anschwärzen wollen, komme es nicht an. Die streitgegenständlichen Kirrungen seien auch unzulässig gewesen, denn sie seien entgegen § 33 Abs. 5 Satz 2 JWMG in der allgemeinen Schonzeit angelegt worden und hätten die nach § 5 Abs. 2 Satz 2 DVO JWMG zulässige Menge überschritten. Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger bei der von der Kammer befürworteten Auslegung des § 6 Satz 2 DVO JWMG faktisch auf die Kirrung verzichten müsste, bestünden nicht. Es sei auch nicht zu erkennen, dass eine Inanspruchnahme als Zustandsstörer hier im Einzelfall unzumutbar sei.
11 Das Urteil wurde dem Prozessbevollmächtigten des Klägers am 9. September 2019 zugestellt.
12 Am 30. September 2019 hat der Kläger die vom Verwaltungsgericht wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassene Berufung eingelegt. Zu deren Begründung führt er zusammengefasst aus: Nach der Legaldefinition in § 33 Abs. 5 JWMG verlange der Begriff der Kirrung den objektiven Tatbestand des Ausbringens von geringen Futtermengen. Subjektiv trete das Anlocken von Wildtieren und zur Erleichterung der Bejagung hinzu. Daraus folge, dass eine Kirrung nicht vorliege, wenn z.B. Futter lediglich ausgebracht werde, um sich dieses Stoffes zu entledigen. Das Verwaltungsgericht habe dies übersehen und einfach das Vorliegen einer Kirrung unterstellt, obwohl unwidersprochener Vortrag dazu vorgelegen habe, dass die vorgeworfene Ausbringung von Mais und Apfeltrester im April während der allgemeinen Schonzeit ausgebracht worden sei, in der nicht gejagt werde. Selbst wenn man aber eine Kirrung annehme, könne die Beseitigungsanordnung nicht auf § 6 Satz 2 DVO JWMG gestützt werden, denn der Vorschrift fehle die gesetzliche Grundlage. § 33 Abs. 7 Nr. 2 JWMG ermächtigte die oberste Jagdbehörde lediglich dazu „durch Rechtsverordnung nähere Bestimmungen zu treffen (...) zur Verhinderung einer missbräuchlichen Wildfütterung, Ablenkungsfütterung und Kirrung“. Die Ermächtigung betreffe damit nur Regelungen, die präventiv einem Missbrauch von Fütterungen oder Kirrungen entgegenwirkten, umfasse aber keine repressive Inpflichtnahme zur Beseitigung einer vorhandenen unzulässigen Kirrung oder Fütterung i. S. v. § 6 DVO JWMG. Die Vorschrift verstoße daher gegen Art. 61 Abs. 1 der Landesverfassung. Gehe man davon aus, dass § 6 DVO JWMG den verfassungsrechtlichen Vorgaben und der gesetzlichen Grundlage entspreche, könne er - der Kläger - dennoch nicht nach dieser Vorschrift zur Beseitigung herangezogen werden. Denn das Verwaltungsgericht habe zwar die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 16. Februar 2000 - 1 BvR 242/91 und 315/99 -) zu den Kriterien für eine Inanspruchnahme des nicht verhaltensstörenden Eigentümers als Zustandsstörer herangezogen, aber verkannt, dass diese Kriterien hier nicht erfüllt seien. Das Bundesverfassungsgericht habe in dem genannten Beschluss ausdrücklich auf die „mit dem Eigentum verbundene Sachherrschaft“ und auf die „Verbindung von Vorteilen und Lasten der Sache“ abgestellt. Ein Jagdpächter sei einem Eigentümer aber nicht gleichzustellen, denn die Jagdpacht sei keine Sachenpacht, sondern lediglich Rechtspacht. Dem Jagdpächter stehe weder das Jagdrecht zu noch habe er Sachherrschaft über sein Revier. Außerhalb des Wildtierschutzes stünden ihm auch keine Befugnisse gegenüber Dritten zu. Insbesondere habe er keine aus dem Pachtverhältnis herrührende Befugnis, gegenüber Personen einzuschreiten, die illegal Stoffe in der Landschaft entsorgten. Es treffe ihn daher auch keine Pflicht, für eine Störungsfreiheit zu sorgen. Dies sei aber Voraussetzung für eine Inanspruchnahme als Zustandsstörer. Einziges ihm verbleibendes Mittel gegenüber Dritten sei eine Anzeige bei der Jagdbehörde oder bei der Polizei. Er - der Kläger - habe der Beklagten frühzeitig Hinweise auf einen möglichen Täter gegeben, der Beklagte sei dem aber nicht nachgegangen. Anders als in den vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Fällen liege die Beseitigung der Störung hier auch nicht im Interesse des herangezogenen Jagdausübungsberechtigten. Denn der Jagdwert seines Reviers werde nicht dadurch verändert, dass ein Dritter illegal Mais oder Apfeltrester dort ausbringe. Der Hinweis der Beklagten und des Verwaltungsgerichts auf die Schwierigkeiten, einen Verantwortlichen für ungenehmigte Ablagerungen im Revier zu finden, könne nicht dazu führen, diese Schwierigkeiten auf den Inhaber einer reinen Rechtspacht abzuwälzen. Er - der Kläger - habe seine Vermutung dargelegt, dass Mais und Apfeltrester durch einen Dritten ausgebracht worden seien. Dem hätten Beklagte und Verwaltungsgericht - letzteres im Rahmen des Amtsermittlungsgrundsatzes - nachgehen müssen. Dies gelte umso mehr als er - der Kläger - keine Möglichkeit habe, gegen den Dritten vorzugehen, vor allem, wenn dieser anonym handele und anschließend den Beklagten informiere. Die Verfügung könne auch nicht auf die Generalklausel des § 62 Abs. 3 JWMG gestützt werden, denn die Vorschrift räume Ermessen ein. Der Beklagte habe jedoch kein Ermessen ausgeübt. Zudem dürfe der Beklagte nach dieser Vorschrift nur gegenüber einem Pflichtigen handeln. Er - der Kläger - sei aber Nichtstörer. Schließlich verstoße die ergangene Anordnung gegen das Rechtsstaatsprinzip, weil der Beklagte es unterlassen habe, den Sachverhalt aufzuklären (§ 24 Abs. 1 Satz 1 VwVfG) und den Verursacher ausfindig zu machen.
13 Der Kläger beantragt,
14 das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 1. August 2019 - 10 K 15427/17 - zu ändern und festzustellen, dass Nr. 1 und Nr. 2 des Bescheides des Landratsamts Rastatt vom 4. April 2017 rechtswidrig gewesen sind.
15 Die Beklagte beantragt,
16 die Berufung zurückzuweisen.
17 Sie hält die Voraussetzungen des § 6 Satz 2 DVO JWMG für erfüllt, da die Futtermittel für Schwarzwild und Rehwild im Jagdrevier des Klägers unzulässigerweise sowohl während der allgemeinen Schonzeit als auch in einer nicht mehr zulässigen Menge - bei Schwarzwild höchstens 1 Liter Futtermittel je Kirrung - ausgebracht worden seien. Es überzeuge nicht, dass eine Kirrung nicht vorliege, weil sie im April unzulässig sei. Auch die subjektive Zweckbindung im Tatbestand „zur Erleichterung der Bejagung“ könne nicht Voraussetzung der Kirrung sein, da § 33 Abs. 5 Satz 2 JWMG davon ausgehe, dass die Kirrung in der allgemeinen Schonzeit unzulässig sei. Die Vorschrift verdeutliche, dass auch die objektiven Voraussetzungen der Kirrung den Tatbestand erfüllten. Es bestünden keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit des § 6 Satz 2 DVO JWMG. Schon die Vorgängerregelung des § 3a LJagdG DVO habe den identischen Regelungsgehalt gehabt. Die allgemeine Eingriffsermächtigung ergebe sich aus § 62 Abs. 2 JWMG, einem formellen Parlamentsgesetz. Speziell für unzulässige Kirrungen sehe § 6 Satz 2 DVO JWMG eine Beseitigungspflicht des Zustandsstörers vor. Die Ausführungen des Verwaltungsgerichts zur Rechtmäßigkeit dieser Rechtsgrundlage seien überzeugend. Der Kläger sei als jagdausübungsberechtigte Person zur Beseitigung der Kirrung verpflichtet, sobald er von der unteren Jagdbehörde hierzu aufgefordert werde. Dies sei vorliegend geschehen. Nach § 3 Abs. 5 JWMG umfasse die Jagdausübung das Aufsuchen, Erlegen und Fangen von Wildtieren. Dem Jagdpächter komme zur Ausübung dieser Rechte die tatsächliche Sachherrschaft über sein Jagdrevier in Bezug auf die jagdrechtlichen Befugnisse zu. Zivilrechtlich stünden ihm bei Eingriffen Dritter in seine Rechtsstellung Unterlassungs- und Schadensersatzansprüche zu. Im Ordnungsrecht gelte der Grundsatz der Effektivität der Gefahrenabwehr. Die Eigenschaft des Zustandsstörers knüpfe grundsätzlich an die rechtliche Beziehung einer Person zu einer Sache an. Der verfassungsrechtlich legitimierende Grund der Zustandsverantwortlichkeit sei die durch die Sachherrschaft vermittelte Einwirkungsmöglichkeit dessen, der aus der Sache Nutzen ziehen dürfe. Inhaber der tatsächlichen Gewalt bei Grundstücken seien regelmäßig Eigentümer, Mieter und Pächter. Auf die zivilrechtliche Sachherrschaft des Besitzes (§ 854 ff BGB) dürfe nicht abgestellt werden. Auch auf die Art des Pachtvertrages komme es nicht an. Da es hier um Gefahrenabwehr gehe, sei maßgeblich, dass der Jagdausübungsberechtigte das Recht habe, zur Erleichterung der Bejagung Kirrungen anzulegen. Damit obliege es ihm auch - ähnlich einer Garantenpflicht - dafür zu sorgen, dass Kirrungen in seinem Jagdrevier waidgerecht vorgenommen würden. Das Recht zur Anlage von Kirrungen gehe mit einer Sachherrschaft über das Grundstück einher. Ein atyisches Risiko, das die Zustandsstörereigenschaft einschränken könnte, liege hier nicht vor. Das Bundesverfassungsgericht nehme ein solches etwa dann an, wenn es nicht der Risikosphäre des Verantwortlichen zugerechnet werden könne. Kirrungen im Revier des Jagdpächters zählten nicht zu einem atypischen Risiko.
18 Die Behördenakten des Beklagten, die Widerspruchsakte des Regierungspräsidiums Karlsruhe und die Gerichtsakte 10 K 15427/17 des Verwaltungsgerichts Karlsruhe waren Gegenstand des Verfahrens. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird hierauf sowie auf die gewechselten Schriftsätze verwiesen.
Entscheidungsgründe
19 Gegenstand der vorliegenden Berufung ist nur die Fortsetzungsfeststellungsklage in Bezug auf Nr. 1 und Nr. 2 des Bescheides des Landratsamts Rastatt vom 4. April 2017. Dagegen hat der Kläger, der die am 1. August 2019 geänderten Gebührenentscheidungen schon in seiner Berufungsbegründung nicht angegriffen hatte, in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat am 7. Oktober 2020 eindeutig klargestellt, dass er sein Anfechtungsbegehren im Hinblick auf die ergangenen Gebühren nicht weiterverfolgt.
I.
20 Mit diesem Inhalt ist die Berufung des Klägers zulässig. Er hat die vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung gegen das dem Kläger am 9. September 2019 zugestellte Urteil innerhalb der Monatsfrist des § 124a Abs. 2 VwGO Satz 1 VwGO am 30. September 2019 beim Verwaltungsgericht eingelegt und auch innerhalb der gem. § 124a Abs. 3 Satz 3 VwGO verlängerten Berufungsbegründungsfrist mit dem beim Verwaltungsgerichtshof am 20. Dezember 2019 eingegangenen Schriftsatz des Prozessbevollmächtigten des Klägers vom selben Tage begründet. Die Begründung enthält auch (noch) einen bestimmten Antrag i.S.v. § 124a Abs. 3 Satz 4 VwGO. Hierzu gehören der Rechtsmittelantrag - also der Antrag auf Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Urteils - sowie der Sachantrag zu der Frage, inwieweit das ursprüngliche materielle Klagebegehren in der Berufungsinstanz weiterverfolgt wird. Hier ist jedenfalls dem letzten Satz des Begründungsschriftsatzes in Verbindung mit dem Berufungsvortrag zu entnehmen, dass das Urteil des Verwaltungsgerichts in Bezug auf die Fortsetzungsfeststellungsklage abgeändert werden und dieser Klage stattgegeben werden soll.
II.
21 Die zulässige Berufung ist jedoch unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat die Fortsetzungsfeststellungsklage des Klägers im Ergebnis zu Recht abgewiesen.
22 1. Das Verwaltungsgericht ist zunächst zu Recht davon ausgegangen, dass der Kläger in Bezug auf Nr. 1 und Nr. 2 des Ausgangsbescheides seinen Sachantrag in zulässiger Weise von dem zunächst gestellten Anfechtungsantrag auf einen Fortsetzungsfeststellungsantrag umstellten durfte und die Fortsetzungsfeststellungsklage zulässig ist. Der Senat folgt insoweit der Begründung des Verwaltungsgerichts und sieht von einer Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 130b Satz 2 VwGO).
23 2. Der Kläger kann aber nicht die Feststellung beanspruchen, dass Nr. 1 und Nr. 2 des Bescheides des Landratsamts Rastatt vom 4. April 2017 rechtswidrig gewesen sind (§ 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO). Bezogen auf die Sach- und Rechtslage im maßgeblichen Zeitpunkt des Eintritts des erledigenden Ereignisses (Kopp/Schenke, VwGO, 25. Aufl. § 113 Rn. 147 i. V. m. Rn. 124) - hier am 9. April 2017 - erweisen sich die beiden Verfügungen vielmehr als rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten.
24 a) Dies gilt zunächst in Bezug auf die Anordnung, die am 4. April 2017 bei der in der Verfügung näher bezeichneten Kirrstelle festgestellten jagdlichen Missstände unverzüglich, spätestens bis Sonntag, den 9. April 2017, 12:00 Uhr zu beseitigen und einen rechtskonformen Zustand herzustellen.
25 aa) Die Beseitigungsanordnung unterliegt keinen formellen Bedenken. Zwar hat die Beklagte dem Kläger vor Erlass der Verfügung keine Gelegenheit gegeben, sich zu äußern (§ 28 Abs. 1 LVwVfG). Die Anhörung wurde aber jedenfalls im Rahmen des durchgeführten Widerspruchsverfahrens nachgeholt (§ 45 Abs. 1 Nr. 3 LVwVfG).
26 Die unter Nr. 1 getroffene Anordnung ist auch nicht in rechtsstaatlich bedenklicher Weise unbestimmt (vgl. § 37 Abs. 1 LVwVfG). Denn die betroffene Kirrstelle ist durch die dem Bescheid beigefügten Anlagen (Luftbild vom 4. April 2017 und insgesamt 8 Lichtbilder) eindeutig identifizierbar. Was unter „jagdlichen Missständen“ zu verstehen und welcher „rechtskonforme Zustand“ wiederherzustellen ist, ergibt sich aus der Begründung des Bescheides, in der die Beanstandungen erläutert werden und aufgezeigt wird, inwiefern der vorgefundene Zustand gegen geltendes Recht verstößt (unzulässige Kirrung während der Schonzeit, Überschreitung der höchstzulässigen Futtermenge von einem Liter für Schwarzwildkirrungen). Damit konnten jedenfalls ein Inhaber des Eigenjagdbezirks und ein Jagdausübungsberechtigter - nur dieser Personenkreis kommt nach Lage der Dinge als potentieller Adressat des Bescheides in Betracht - unschwer erkennen, was konkret beanstandet wird und welcher Zustand wiederherzustellen ist.
27 bb) Die ergangene Verfügung ist auch in materiell-rechtlicher Hinsicht nicht zu beanstanden.
28 (1) Rechtsgrundlage ist § 62 Abs. 2 JWMG i.V.m. § 6 DVO JWMG. Nach § 62 Abs. 2 JWMG können die unteren Jagdbehörden, soweit nichts anderes bestimmt ist, im Einzelfall die Anordnungen treffen, die zur Beseitigung festgestellter oder zur Verhinderung künftiger Verstöße gegen dieses Gesetz oder die aufgrund dieses Gesetzes erlassenen Rechtsverordnungen erforderlich sind. Der aufgrund der Verordnungsermächtigung des § 33 Abs. 7 Nr. 2 JWMG erlassene § 6 DVO zum JWMG bestimmt:
29 „Wer eine unzulässige Kirrung, unzulässige Fütterung oder unzulässige Ablenkungsfütterung angelegt hat oder betreibt, ist zu deren umgehender Beseitigung verpflichtet. Beseitigungspflichtig ist auch die jagdausübungsberechtigte Person, spätestens drei Tage nach Aufforderung durch die untere Jagdbehörde.“.
30 (2) Die Voraussetzungen dieser Rechtsgrundlage sind hier erfüllt. Denn es liegen Verstöße sowohl gegen das JWMG als auch gegen die DVO vor (dazu (a)), deren Beseitigung erforderlich ist (dazu (b)). Die Verfügung ist auch zu Recht gegenüber dem beseitigungsverantwortlichen Kläger ergangen (dazu (c)).
31 (a) Die bei der Vorortkontrolle am 4. April 2017 vorgefundene Situation im Jagdrevier des Klägers ist als (unzulässige) Kirrung zu qualifizieren. § 33 Abs. 5 Satz 1 JWMG definiert den Begriff der Kirrung als „Anlocken von Wildtieren mit geringen Futtermengen zur Erleichterung der Bejagung“. Die Kirrung ist - ebenso wie die Fütterung - Teil der Rechtsverpflichtungen im Rahmen der Hege (§ 3 Abs. 1 und § 5 Abs. 4 JWMG). Während die Fütterung die Existenz des Wildes sichern und stärken soll, dient die Kirrung nur dem Anlocken des Wildes. Sie soll einen Gewöhnungseffekt des Wildes herbeiführen, der es dazu bringt, an einer bestimmten Stelle nach Futter zu suchen. Hierzu darf nur eine geringe Menge an Futter ausgebracht werden, um keinen Fütterungseffekt zu erzielen. In Zeiten, in denen ein Abschuss möglich ist, ist auf diese Weise eine effektive Bejagung möglich, weil insbesondere scheuem Wild einfacher nachgestellt werden kann (Kümmerle/Nagel, Jagdrecht in Baden-Württemberg, 11. Aufl. S. 165; Schuck, Bundesjagdgesetz, 2. Aufl. § 28 Rn. 11). Allerdings ist die Begriffsdefinition in § 33 Abs. 5 Satz 1 JWMG nicht so zu verstehen, dass eine Kirrung - wie der Kläger meint - tatbestandlich von vorneherein nur dann vorliegen kann, wenn ausschließlich der Jagdausübungsberechtigte außerhalb der Schonzeit an einer Kirrstelle eine geringe Menge an Futter ausbringt, mit welcher er subjektiv das Ziel verfolgt, die Jagd zu erleichtern. Denn aus § 33 Abs. 7 Nr. 2 JWMG (i.V.m.§ 6 DVO JWMG) ergibt sich, dass es aus Sicht des Gesetzgebers auch eine „missbräuchliche Kirrung“ geben kann, die zwar begrifflich noch als Kirrung anzusehen ist, dem damit verfolgten Zweck aber nicht mehr gerecht wird. Der Begriff des „Missbrauchs“ deutet darauf hin, dass damit Fälle gemeint sind, in denen der Jagdausübungsberechtigte an einer Kirrstelle eine zwar noch geringe Futtermenge auslegt, damit aber objektiv eine nicht mehr am Ziel der Erleichterung der Jagd ausgerichtete Wildfütterung betreibt, etwa weil an der Kirrstelle kein Auflauern möglich oder kein Abschuss zu erwarten ist oder sich aus anderen Gründen ergibt, dass ein Abschuss gar nicht erfolgen soll. Aber auch der umgekehrte Fall, dass ein nicht zur Jagdausübung berechtigter Dritter objektiv geringe - und damit zulässige - Futtermengen an einer Kirrstelle des Jagdausübungsberechtigten auslegt um damit Wild anzulocken, ist als missbräuchliche Kirrung zu qualifizieren.
32 Bei der Frage, ob eine Kirrung i.S.v. § 33 Abs. 5 Satz 1 JWMG begrifflich vorliegt oder nicht, kann es daher nicht darauf ankommen, ob diese in jeder Hinsicht zulässig ist. Demnach ist auch unmaßgeblich, ob gerade der Jagdausübungsberechtigte Futter in geringen Mengen in der subjektiven Absicht ausgelegt hat, Wildtiere anzulocken und damit einen jagdlichen Zweck verfolgt. Eine Kirrung i.S.v. § 33 Abs. 5 Satz 1 JWMG liegt vielmehr schon dann vor, wenn die Auslegung von Futtermitteln sich in der konkret gegebenen Situation vor Ort objektiv als auf das Anlocken von Wildtieren und damit auf die Verfolgung eines Jagdzweckes gerichtet darstellt.
33 Demgemäß ist die am 4. April 2017 vorgefundene Situation als Kirrung anzusehen. Denn ausweislich der vorliegenden Lichtbilder war an einer Stelle, die objektiv nach waidmännischen Prinzipien als Kirrstelle in Betracht kommt, Futter ausgelegt. So befand sich Mais in einem - teilweise mit einem Brett abgedeckten - hohlen Baumstamm in unmittelbarer Nähe zu einem Hochsitz (Schießstand). Ausweislich der vorliegenden Lichtbilder wurde der betreffende Bereich zudem per Wildkamera überwacht. Schon dies lässt dem äußeren Anschein nach auf das Vorliegen einer professionellen Kirrstelle schließen. Zudem war Mais teilweise konzentriert ausgelegt, teilweise großflächig auf dem Waldboden auf eine Weise ausgebracht, wie es ein Jäger beim Anlegen einer Kirrstelle üblicherweise tun würde. Dasselbe gilt in Bezug auf den ausgebrachten Apfeltrester. Bei den angelegten Materialien handelt es sich um Futtermittel, die typischerweise zum Anlocken von Wild verwendet werden. Es ist offensichtlich, dass diese Futtermittel - von wem auch immer - zielgerichtet zu diesem Zweck ausgebracht und nicht als Abfall im Wald entsorgt wurden. Es kommt hinzu, dass das Futter zu einer Zeit ausgelegt wurde, in der die Jagd auf Schwarzwild zulässig ist, und an einer Stelle, die sich weniger als 200 m vom Waldaußenrand befindet (vgl. § 41 Abs. 2 Satz 2 JWMG).
34 Die Kirrung verstieß auch gegen Vorschriften des JWMG, denn sie wurde am 4. April 2017 vorgefunden und damit während der noch bis 30. April 2017 dauernden allgemeinen Schonzeit (§ 41 Abs. 2 Satz 1 JWMG in der am 4. April 2019 geltenden Fassung), in der sie unzulässig war (§ 33 Abs. 5 Satz 2 JWMG). Zudem überstieg die ausgelegte Futtermenge die höchstzulässige Menge von 1 Liter für die Kirrung von Schwarzwild (§ 5 Abs. 2 Nr. 2 DVO JWMG) erheblich. Der Kläger hat die Annahme des Beklagten nicht bestritten, dass es sich um eine (unzulässige) Schwarzwildkirrung handelt.
35 (b) Die Beseitigung des festgestellten Verstoßes erweist sich als erforderlich i.S.v. § 62 Abs. 2 JWMG. Denn ein rechtmäßiger Zustand musste zeitnah wiederhergestellt werden. Ein milderes Mittel als die Anordnung, das ausgelegte Futter zu beseitigen, ist nicht zu erkennen.
36 (c) Die Verfügung ist zu Recht gegenüber dem beseitigungsverantwortlichen Kläger ergangen.
37 (aa) Der Kläger war hier nach § 6 DVO JWMG beseitigungspflichtig. Da ihm sein Vortrag nicht widerlegt werden kann, er selbst habe die unzulässige Kirrung nicht angelegt und die Kirrstelle in der zu beanstandenden Form auch nicht betrieben, kann er nicht als Handlungsstörer gemäß § 6 Satz 1 DVO JWMG in Anspruch genommen werden.
38 Der Kläger wurde aber zu Recht als jagdausübungsberechtigte Person i.S.v. § 6 Satz 2 DVO JWMG herangezogen. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind erfüllt, denn der Kläger war (und ist) als Jagdpächter zur Jagdausübung berechtigt (§ 17 Abs. 1 Satz 2 JWMG). Ein Jagdausübungsberechtigter ist nach § 6 Satz 2 DVO JWMG spätestens drei Tage nach Aufforderung durch die untere Jagdbehörde beseitigungspflichtig. Eine solche Frist wurde dem Kläger gewährt, denn in der am 6. April 2017 zugestellten Verfügung vom 4. April 2017 wurde dem Kläger eine Frist zur Beseitigung bis zum 9. April 2017 eingeräumt. Schon zuvor wurde er ausweislich der vorliegenden Akten am 27. März 2017 von der unteren Jagdbehörde zur Beseitigung festgestellter Kirrverstöße in seinem Revier aufgefordert.
39 Entgegen der Rechtsauffassung des Klägers war der Beklagte hier nicht gehalten, vor der Inanspruchnahme des Klägers als jagdausübungsberechtigte Person „den Verursacher der Ablagerungen“ zu finden und der von diesem geäußerten Vermutung nachzugehen, unbekannte Dritte hätten die am 4. April 2017 festgestellten Futtermengen ausgebracht, um den Kläger anzuschwärzen. Denn für eine Ermittlung des Dritten fehlte im Zeitpunkt des Ergehens der Verfügung jeder greifbare Ermittlungsansatz. Der Kläger hat zu keiner Zeit - auch nicht im Klage- und Berufungsverfahren - einen konkreten Verdacht geäußert, wer der „mit ihm zerstrittene Dritte“ sein könnte und damit keinen Ansatzpunkt dafür aufgezeigt, in welche Richtung das Landratsamt hätte ermitteln können. Im Widerspruchsschreiben vom 5. September 2017 und in der Klagebegründung vom 19. Januar 2018 wird zwar ein „Herr ... vom NABU“ erwähnt; dem Vortrag ist aber nicht zu entnehmen, dass der Kläger Herrn ... für denjenigen hält, der die unzulässige Kirrstelle angelegt hatte. Soweit in den genannten Schriftsätzen davon die Rede ist, „zumindest eine der Kirrungen sei einem breiteren Kreis an Interessierten bekannt“ gewesen, weil der Kläger selbst „ihm bekannte Dritte“ dort angetroffen habe, wäre es an ihm gewesen, an der Ermittlung des Sachverhalts mitzuwirken und ihm bekannte Tatsachen anzugeben (§ 26 Abs. 2 Satz 1 und 2 LVwVfG). Da dies im Verwaltungsverfahren nicht geschehen ist, vermag der Senat entgegen dem Berufungsvortrag nicht festzustellen, dass die handelnden Verwaltungsbehörden gegen ihre Verpflichtung verstoßen hätten, den Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären (§ 24 Abs. 1 LVwVfG). Aus demselben Grund ist auch nicht erkennbar, dass das Verwaltungsgericht seiner Aufklärungspflicht nicht gerecht geworden wäre (vgl. § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
40 (bb) § 6 Satz 2 DVO JWMG ist von der Ermächtigungsgrundlage des § 33 Abs. 7 Nr. 2 JWMG gedeckt. In dieser Vorschrift wird die oberste Jagdbehörde ermächtigt, durch Rechtsverordnung nähere Bestimmungen zu treffen (...) „2. Zur Verhinderung einer missbräuchlichen Wildfütterung, Ablenkungsfütterung und Kirrung“. Entgegen der Rechtsauffassung des Klägers bezieht sich diese Ermächtigung nicht auf den Erlass rein präventiver Regelungen zur Verhinderung zukünftiger Missbräuche. Zwar könnte der Wortlaut der Regelung mit dem Begriff „Verhinderung“ auf den ersten Blick für die Annahme sprechen, dass damit nur zukünftige, noch nicht eingetretene Verstöße abgewehrt werden sollen. Bei näherer Betrachtung überzeugt dies allerdings nicht. Denn auch bei einer Beseitigung bereits eingetretener Verstöße wird verhindert - dies zeigt der vorliegende Kirrverstoß exemplarisch -, dass sie fortwirken und die eingetretene Rechtsverletzung damit in die Zukunft hinein andauert. Hätte der Gesetzgeber nur zur Regelung „zukünftiger“ Verstöße ermächtigen wollen, hätte es nahegelegen, sich der in § 62 Abs. 2 JWMG gewählten Formulierung zu bedienen, wonach Anordnungen ergehen können u.a. „zur Verhinderung zukünftiger Verstöße“. Diese Einschränkung findet sich bei § 33 Abs. 7 Nr. 2 JWMG aber nicht. Gegen das vom Kläger für richtig gehaltene enge Begriffsverständnis spricht ferner die Intention des Gesetzgebers, der in § 20 Abs. 5 Nr. 1 LJagdG i.d.F. vom 1. Juni 1996 erstmals die Ermächtigung des Ministeriums geschaffen hat, „durch Rechtsverordnung Vorschriften zur Verhinderung von Missbräuchen bei Ablenkungsfütterungen und Kirrungen zu erlassen“. In der Gesetzesbegründung heißt es hierzu, mit der Ermächtigung solle verhindert werden, dass „in der jagdlichen Praxis (...) die Kirrung zu rechtswidrigen Fütterungen missbraucht werden“. Mit der neuen Verordnungsermächtigung könnten „Missbräuche genereller Art über eine Rechtsverordnung (...) untersagt werden“ (LT-Drs. 11/5803, S. 34). Aus dieser Formulierung ergibt sich, dass mithilfe der zu erlassenden Rechtsverordnung auch bereits vorhandene Verstöße abgestellt werden sollen, zumal die Verordnungsermächtigung den ihr vom Gesetzgeber zugedachten Zweck nur höchst eingeschränkt erfüllen würde, wenn nur zukünftige Verstöße erfasst wären. Bei der Neufassung des Jagd- und Wildtiermanagementgesetzes vom 25. November 2014 (GBl. 2014, S. 550) hat der Gesetzgeber den Regelungsgehalt des LJagdG a.F. unverändert - unter Hinweis auf den bewährten Regelungsinhalt des § 20 Abs. 5 Nr. 1 LJagdG a.F. - als § 33 Abs. 7 Nr. 2 JWMG übernommen (LT-Drs. 15/5789 S. 117).
41 (cc) § 6 DVO JWMG ist nicht deswegen verfassungswidrig, weil dem Landesgesetzgeber - bzw. hier dem Verordnungsgeber - für den Erlass dieser Norm die Gesetzgebungskompetenz fehlte. Das Verwaltungsgericht hat auf S. 10 f des angegriffenen Urteils im Einzelnen zutreffend ausgeführt, dass es sich hier nicht um eine abfallwirtschaftliche Regelung i.S.v. Art. 74 Abs. 1 Nr. 24 GG, sondern um einen Gegenstand des Jagdwesens i.S.v. Art. 74 Abs. 1 Nr. 28 GG handelt, der in die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Landesgesetzgebers fällt. Der Kläger ist diesen zutreffenden Ausführungen im Berufungsverfahren nicht entgegengetreten, weshalb der Senat insoweit von einer weiteren Darstellung der Urteilsgründe absieht und auf das angegriffene Urteil verweist (§ 130b VwGO).
42 (dd) Die Verordnungsermächtigung des § 33 Abs. 7 Nr. 2 JWMG verstößt ihrerseits nicht gegen Art. 61 Abs. 1 LV. Das Zitiergebot des § 61 Abs. 1 Satz 3 LV ist eingehalten. Die DVO JWMG vom 2. April 2015 (GBl. 2015, S. 202) benennt § 33 Abs. 7 Nr. 1 bis 4 JWMG als Rechtsgrundlage ausdrücklich.
43 Auch Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung werden in § 33 Abs. 7 Nr. 2 JWMG in hinreichendem Maße angegeben. Als Ausdruck des Demokratieprinzips verpflichtet Art. 61 Abs. 1 Satz 2 LV den parlamentarischen Gesetzgeber, die Breite und Zielrichtung der Rechtsetzungsdelegation selbst zu bestimmen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu dem gleichlautenden Art. 80 Abs. 1 GG darf die Ermächtigung nicht so unbestimmt sein, dass nicht mehr vorausgesehen werden kann, in welchen Fällen und mit welcher Tendenz von ihr Gebrauch gemacht werden wird und welchen Inhalt die aufgrund der Ermächtigung erlassenen Verordnungen haben können (BVerfG, Beschluss vom 11.3.2020 - 2 BvL 5/17 - juris Rn. 100 m.w.N.). Dabei genügt es jedoch, wenn sich diese Konkretisierungen aus dem Gesamtgesetz und nicht nur aus der Ermächtigungsklausel ergeben (StGH Bad.-Württ., Urteil vom 7.3.1980 - 1/1979 - VBlBW 1980, 18; Winkler in: Haug (Hrsg.), Verfassung des Landes Baden-Württemberg, Art. 61 Rn. 12 m.w.N.).
44 (aaa) Unter Zugrundelegung dessen ist der Inhalt der Ermächtigung in § 33 Abs. 7 Nr. 2 JWMG hinreichend genau umschrieben, denn diese ist thematisch eingegrenzt auf Regelungen zur Wildfütterung, Ablenkungsfütterung und Kirrung. Was unter diesen Begriffen zu verstehen ist und unter welchen Voraussetzungen Wildfütterung, Ablenkungsfütterung und Kirrung jeweils erlaubt oder nicht erlaubt sind, ist nicht dem Verordnungsgeber zur Regelung überlassen, sondern ergibt sich aus § 33 Abs. 2 bis 4 JWMG (Fütterung und Ablenkungsfütterung) sowie aus § 33 Abs. 5 JWMG (Kirrung). Da der Begriff der „Verhinderung“ nicht auf „Verhinderung künftiger Verstöße“ beschränkt ist (s.o.), kann der Ermächtigung auch hinreichend entnommen werden, welche Verstöße mit der zu schaffenden Rechtsverordnung bekämpft werden sollen.
45 (bbb) Der Zweck der Ermächtigung - als das rechtspolitische Ziel, das der Verordnungsgeber erreichen soll (Winkler a.a.O.) - ist vor dem Hintergrund offensichtlich, dass die Voraussetzungen, unter denen die Einzelmaßnahmen „Fütterung“, „Ablenkungsfütterung“ und „Kirrung“ zulässig sind, im JWMG selbst im Einzelnen bestimmt werden und mithilfe des zu schaffenden Verordnungsrechts ein Missbrauch dieser Maßnahmen verhindert werden soll.
46 (ccc) Der Gesetzgeber hat auch das Ausmaß der erteilten Ermächtigung, nämlich die Grenzen, innerhalb derer sich die Regelung des Verordnungsgebers halten muss (Feuchte in Spreng/Dirn/Feuchte, Verfassung des Landes Baden-Württemberg, Art. 61 Anm. 4; Winkler a.a.O), hinreichend deutlich abgesteckt. Denn wenn der Verordnungsgeber ermächtigt ist, nähere Bestimmungen zur Verhinderung missbräuchlicher Wildfütterung, Ablenkungsfütterung und Kirrung zu treffen, müssen die Regelungsadressaten - Jäger und Jagdausübungsberechtigte - ohne weiteres damit rechnen, für selbst verursachte Missstände verantwortlich gemacht und beseitigungspflichtig zu werden (§ 6 Satz 1 DVO JWMG). Nichts anderes gilt für ihre in § 6 Satz 2 DVO JWMG bestimmte Zustandshaftung.
47 Hier kann auf die Wesentlichkeitsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zurückgegriffen werden, denn auch im Rahmen des § 61 Abs. 1 LV geht es darum, dass der Gesetzgeber wesentliche Fragen selbst entscheiden muss und nicht dem exekutiven Verordnungsgeber übertragen darf (Feuchte a.a.O. Anm. 6; Winkler a.a.O. Rn. 12). „Wesentlich“ in diesem Sinne - und damit vom Gesetzgeber selbst zu beantworten - sind zum einen Fragen von erheblicher Bedeutung für Staat und Gesellschaft, zum anderen Entscheidungen mit wesentlicher, d.h. erheblicher Grundrechtsrelevanz (BVerfG, Urteil vom 19.3.2018 - 2 BvF 1/15, 2 BvF 2/15 - juris Rn. 194; Dreier, GG, Art 20 (Rechtsstaat) Rn. 113 ff). Die Heranziehung einer jagdausübungsberechtigten Person als Zustandsverantwortliche für die Beseitigung jagdrechtlicher Missstände ist keine Frage von erheblicher Bedeutung für Staat und Gesellschaft. Sie hat aber jedenfalls Grundrechtsrelevanz. Denn der Inhaber des Jagdrechts, welches nach § 3 Abs. 3 JWMG untrennbar mit dem Eigentum an dem Grundstück verbunden ist und deshalb den Schutz des Art. 14 Abs. 1 GG genießt (Deuschle/Friedmann, Jagdrecht für Baden-Württemberg, § 3 Rn. 5 f) ist zumindest als Eigentümer in Eigenjagdbezirken auch selbst jagdausübungsbefugt (§ 3 Abs. 4 Satz 3 JWMG). In diesem Fall ist der selbst die Jagd ausübende Jagdrechtsinhaber durch die in § 6 Satz 2 DVO JWMG statuierte Zustandshaftung unmittelbar in seinem Eigentumsrecht betroffen. In allen anderen Fällen - insbesondere auch dann, wenn die Wahrnehmung des Jagdrechts der Jagdgenossenschaft zusteht (§ 3 Abs. 4 Satz 4 JWMG, § 16 Abs. 1 JWMG) - fallen das von Art. 14 Abs. 1 GG geschützte Jagdrecht und das Jagdausübungsrecht auseinander und leitet der Jagdausübungsberechtigte seine Rechtsstellung entweder aus einer Jagdpacht (§ 17 Abs. 1 JWMG) oder aus einer Beauftragung (§ 16 Abs. 1 Satz 3 JWMG) ab. Er verfügt damit möglicherweise zwar nicht über eine von Art. 14 Abs. 1 GG geschützte Rechtsstellung. Der jagdausübungsberechtigte Jagdpächter wird durch die in § 6 Satz 2 DVO JWMG statuierte Zustandshaftung aber jedenfalls in seiner allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), der von der Jagdgenossenschaft mit der Jagdausübung Beauftragte möglicherweise auch in dem Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG betroffen.
48 Die hierdurch bewirkten Eingriffe in die genannten Grundrechte beschränken sich aber von vornherein nur auf Fälle missbräuchlicher Wildfütterung, Ablenkungsfütterung und Kirrung und damit auf einen sehr begrenzten Teilausschnitt der Jagdausübung. Denn der Kernbereich des Jagdausübungsrechts - das Aufsuchen, Nachstellen, Erlegen und Fangen von Wildtieren gem. § 3 Abs. 5 JWMG und die vielfältigen Befugnisse im Rahmen der Hege (§ 5 Abs. 4 JWMG) - bleibt ungeschmälert erhalten. Zu sehen ist, dass die punktuelle Heranziehung des Jagdausübungsberechtigten als Zustandsverantwortlichen in den Fällen missbräuchlicher Wildfütterung, Ablenkungsfütterung und Kirrung nicht auf eine dauerhafte Grundrechtsbeeinträchtigung angelegt ist. Zudem dient sie gerade der Umsetzung der (auch) dem Jagdausübungsberechtigten obliegenden (vgl. § 45 JWMG) Verpflichtung zur Hege. Denn die Verhinderung von Fütterungs- und Kirrverstößen trägt dazu bei, gesunde und stabile Populationen heimischer Wildtierarten zu erhalten und zu entwickeln (§ 5 Abs. 4 JWMG). Die inhaltlichen Anforderungen der Hege werden u.a. in den Bestimmungen des JWMG zu Fütterung und Kirrung konkretisiert (Deuschle/Friedmann, Jagdrecht für Baden-Württemberg, § 5 Rn. 20). Insofern soll mit der Heranziehung als Zustandsverantwortlicher ein erheblicher jagdrechtlicher Missstand beseitigt werden, der aus Gründen des Wildtierschutzes (vgl. § 2 JWMG) und damit mit Blick auf ein Schutzgut von hoher Bedeutung nicht - auch nicht für kurze Zeit - hingenommen werden kann.
49 In der Gesamtschau erscheint die Intensität und Reichweite der beschriebenen denkbaren Grundrechtseingriffe jedenfalls so weit herabgemindert (vgl. Dreier a.a.O. Rn. 113), dass der Gesetzgeber die Heranziehung des Jagdausübungsberechtigten als Zustandsverantwortlichen nicht selbst regeln musste. Dies gilt vor allem auch deshalb, weil die hier betroffenen Grundrechte nach dem Wortlaut der Verfassung nicht vorbehaltlos gewährleistet sind. Einschränkende Regelungen müssen daher nicht erst durch verfassungsimmanente Schranken und damit vom Gesetzgeber bestimmt oder konkretisiert werden (hierzu BVerfG, Urteil vom 19.3.2018, a.a.O. Rn. 194).
50 (ee) Der Verordnungsgeber hat die ihm eingeräumte Gestaltungsbefugnis nicht dadurch überschritten, dass er bei der Schaffung der Beseitigungspflicht des Zustandsverantwortlichen an die Jagdausübungsberechtigung angeknüpft hat. Zwar greift diese Regelung ggf. in die o.g. Grundrechte aus Art. 14 Abs. 1 GG, Art. 12 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG ein. Das Eigentumsgrundrecht und das Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG unterliegen jedoch jeweils einem gesetzlichen Regelungsvorbehalt; die in Art. 2 Abs. 1 GG geregelte allgemeine Handlungsfreiheit ist aufgrund jeder formell und materiell mit der Verfassung in Einklang stehenden Norm beschränkbar (BVerfG, Beschluss vom 6.6.1989 - 1 BvR 921/95 -, juris Rn. 62). Die in § 33 Abs. 7 Nr. 2 JWMG i.V.m. § 6 Satz 1 DVO JWMG statuierte Zustandsverantwortlichkeit des Jagdausübungsberechtigten stellt sich sowohl als verhältnismäßige Regelung des Eigentumsrechts und der Berufsausübungsfreiheit als auch als verfassungskonforme und verhältnismäßige Beschränkung der allgemeinen Handlungsfreiheit dar. Entgegen der Rechtsauffassung des Klägers liegt ein verfassungsrechtlich tragfähiger Rechtfertigungsgrund dafür vor, den Jagdausübungsberechtigten als Zustandsverantwortlichen für eine Beseitigung missbräuchlicher Wildfütterungen, Ablenkungsfütterungen und Kirrungen in seinem Jagdrevier in Anspruch zu nehmen.
51 Legitimierender Grund für die Inanspruchnahme als Zustandsverantwortlicher ist dessen durch die - zumindest normative - Sachherrschaft vermittelte Einwirkungsmöglichkeit auf die gefährliche Sache und damit auf die Gefahrenquelle (BVerfG, Beschluss vom 16.2.2000 - 1 BvR 242/91, 1 BvR 315/99 -, juris Rn. 46 und 51; BVerwG, Beschluss vom 7.8.2013 - 7 B 9.13 - juris Rn. 9; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 25.10.2012 - 1 S 1401/11 - juris Rn. 48; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27.3.2020 - 11 N 118/16 - juris Rn. 3). Der Jagdausübungsberechtigte verfügt über die notwendige Sachherrschaft in seinem Jagdrevier und kann deshalb auch auf die von seinem Revier ausgehenden Gefahrenquellen einwirken. In dem Fall, dass der Eigentümer in einem Eigenjagdrevier selbst jagdausübungsbefugt ist (§ 3 Abs. 4 Satz 3 JWMG), liegt dies auf der Hand. Aber auch den von einer Jagdgenossenschaft beauftragten jagdausübungsberechtigten Personen (§ 16 Abs. 1 JWMG) und den - wie der Kläger -aufgrund Jagdpacht jagdausübungsberechtigten Personen (§ 17 Abs. 1 JWMG) kommt die erforderliche Sachherrschaft zu. Denn ihnen ist nach § 3 Abs. 5 JWMG das Aufsuchen, Nachstellen, Erlegen und Fangen von Wildtieren gestattet, andererseits obliegt ihnen nicht nur eine Pflicht zur waidgerechten Jagdausübung (§ 3 Abs. 5 i. V. m. § 8 Abs. 1 JWMG), sondern auch die Hege (§ 5 Abs. 4 JWMG). Zwar ist die Hegepflicht als Bestandteil des Jagdrechts an sich konstruktiv mit dem Recht am Eigentum verknüpft (§ 3 Abs. 1 Satz 2 JWMG); da die Hege aber wesentlicher Teil der Jagdausübung ist, trifft sie dann, wenn der Eigentümer die Jagd nicht selbst ausübt (s.o.), den Jagdausübungsberechtigten (Schuck, Bundesjagdgesetz, § 1 Rn. 16). Dies wird auch in § 6 JWMG deutlich, der dem aufgrund Pachtvertrages Jagdausübungsberechtigten einen Anspruch auf Duldung von Hegemaßnahmen gegen den sein Jagdrecht verpachtenden Jagdrechtsinhaber verschafft. Dies alles lässt erkennen, dass dem Jagdausübungsberechtigten in seinem Jagdrevier und damit auf den betroffenen Grundstücken in jedem Fall eine zwar auf die Erfordernisse der Jagdausübung - einschließlich der Hege - beschränkte, insoweit aber umfassende Sachherrschaft zukommt, welche ihm in Bezug auf die Ausübung von Jagd und Hege in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht die erforderlichen Einwirkungsmöglichkeiten im Jagdrevier und damit auch eine besondere Sachnähe zur Beseitigung jagdlicher Missstände verschafft.
52 Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, ob und in welchem Umfang dem Jagdausübungsberechtigten jenseits der Erfordernisse der Jagdausübung - vergleichbar einem Eigentümer - Einwirkungsmöglichkeiten in seinem Revier zustehen. Denn er wird in § 6 Satz 2 DVO JMWG nur für jagdliche Missstände in Anspruch genommen. Als legitimierender Grund hierfür genügt es, dass diese Missstände in seine Revierverantwortlichkeit als Jagdausübungsberechtigter fallen und ihm insoweit eine entsprechende jagdliche Sachherrschaft mit Einwirkungsbefugnis zusteht. Daher kommt es auch nicht darauf an, dass die Jagdpacht als reine Rechtspacht das mit dem Eigentum verknüpfte Jagdrecht unberührt lässt und dem Rechtspächter die mit dem Jagdrecht einhergehenden eigentumsbezogenen Sachherrschaftsbefugnisse sowie zivilrechtlich gegenüber dem Jagdrechtsinhaber ein Recht zum Besitz fehlen (Schuck, Bundesjagdgesetz, 2. Aufl., § 11 Rn. 3; BVerfG, Kammerbeschluss vom 17.12.1986 - 1 BvR 697/86 - juris [nur Ls.]). Der Vortrag des Klägers, als Pächter habe er keine aus dem Pachtvertrag herrührende Befugnis gegenüber Personen, die illegal Stoffe in der Landschaft entsorgten, lässt den o.g. legitimierenden Grund der Revierverantwortlichkeit des Jagdausübungsberechtigten für jagdliche Missstände ebenfalls nicht entfallen, zumal es im vorliegenden Fall - wie oben bereits aufgezeigt - ohnehin nicht um eine illegale Entsorgung von Stoffen geht.
53 Ein weiterer legitimierender Grund für die Heranziehung des Jagdausübungsberechtigten als Zustandsverantwortlichen liegt darin, dass diesem die bereits oben geschilderten Vorteile des Jagdausübungsrechts zukommen und er hieraus Nutzen zieht. Zudem kann der Jagdausübungsberechtigte dritten Personen (Jagdgästen) ggf. gegen Entgelt eine Jagderlaubnis erteilen (§ 25 Abs. 1 JWMG). In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist in Bezug auf den Grundstückseigentümer anerkannt, dass mit der Möglichkeit zur wirtschaftlichen Nutzung und Verwertung des Sacheigentums die öffentlich-rechtliche Pflicht korrespondiert, die sich aus der Sache ergebenden Lasten und die mit der Nutzungsmöglichkeit verbundenen Risiken zu tragen (vgl. BVerfG, Urteil vom 16.2.2000 - 1 BvR 242/91, 1 BvR 315/99 - juris Rn. 46 und 51). Dieser Gedanke kann auf die Rechtsstellung des Jagdausübungsberechtigten übertragen werden. Da ihm - anders als dem Grundeigentümer - aber nicht die vollen wirtschaftlichen Vorteile aus einer Grundstücksnutzung, sondern nur die Vorteile des Jagdausübungsrechts zustehen, kann er - gleichsam spiegelbildlich zur Vorteilslage - aber lediglich zur Beseitigung spezifischer jagdlicher Missstände in seinem Jagdrevier und hieraus resultierender Gefahren verpflichtet werden. § 6 Satz 2 DVO JMWG hält sich innerhalb dieses Rahmens.
54 Aus alldem ergibt sich zunächst, dass die Zustandsverantwortlichkeit des Jagdausübungsberechtigten als solche keinen verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt ist. Angesichts seiner gegenständlich nur beschränkten Heranziehung ist auch das Ausmaß dessen, was dem Jagdausübungsberechtigten zur Gefahrenabwehr abverlangt wird, nicht unverhältnismäßig (vgl. BVerfG, Beschluss vom 16.2.2000 - 1 BvR 242/91, 1 BvR 315/99 - juris Rn 54).
55 (ff) Der von dem Kläger angeführte Umstand, dass § 5 Abs. 1 Satz 2 JWMG die Steuerung des Wildtiermanagements als öffentliche Aufgabe ansieht, steht dem Erlass des § 6 DVO JWMG schon deshalb nicht entgegen, weil der Gesetzgeber seiner Steuerungsaufgabe hier durch die Schaffung der Verordnungsermächtigung des § 33 Abs. 7 Nr. 2 JWMG nachgekommen ist, welche mit Erlass des § 6 DVO JWMG umgesetzt wurde.
56 (3) Die ergangene Verfügung leidet an keinem Ermessensfehler. Zwar steht die Anordnungsbefugnis der unteren Jagdbehörde aus § 62 Abs. 1 JWMG in deren Entschließungsermessen und lässt die Anordnung vom 4. April 2017 nicht erkennen, dass das Landratsamt dieses Ermessen erkannt und ausgeübt hat. Eine Fehlerheilung im gerichtlichen Verfahren ist hier nicht mehr möglich, weil es bei der Fortsetzungsfeststellungsklage maßgeblich auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt des Eintritts des erledigenden Ereignisses - hier im April 2017 - ankommt (Kopp/Schenke, VwGO, 25. Aufl., § 113 Rn. 147). Jedoch liegt hier angesichts der strikten Regelung des § 6 DVO JWMG („ist zu deren Beseitigung verpflichtet“) und des Umstandes, dass die jagdrechtswidrige Kirrung zur Vermeidung einer weiten Gewöhnung des Wildes unverzüglich beseitigt werden musste, ohnehin ein Fall der Ermessensreduktion auf null vor. Dies hat zur Konsequenz, dass es auf einen etwaigen Ermessensfehler nicht entscheidungserheblich ankommt (VGH Bad.-Württ., Urteil vom 18.10.2006 - 13 S 192/06 - juris Rn. 45; HessVGH, Urteil vom 8.9.1992 - 11 UE 611/91 - juris Rn. 39).
57 Auch ein Auswahlfehler ist nicht festzustellen. § 6 DVO JWMG begründet kein Rangverhältnis hinsichtlich der als Adressaten einer Beseitigungsanordnung in Betracht kommenden Verantwortlichen. Insbesondere daraus, dass die jagd-ausübungsberechtigte Person spätestens drei Tage nach vorheriger Aufforderung der Behörde beseitigungspflichtig wird, ist nicht abzuleiten, dass die untere Jagdbehörde zunächst gehalten wäre, den Anleger oder Betreiber einer unzulässigen Kirrung nach § 6 Satz 1 DVO JWMG zu ermitteln, bevor sie - im Falle der Erfolglosigkeit ihrer Ermittlungen - auf den Jagdausübungsberechtigten als Zustandsverantwortlichen nach Satz 2 der Vorschrift zugreift. Denn die Aufforderungspflicht bezweckt erkennbar nur, dem Zustandsverantwortlichen, der möglicherweise von dem jagdlichen Missstand in seinem Revier noch gar nichts weiß, zunächst entsprechende Kenntnis zu verschaffen und ihm Gelegenheit zu geben, für Abhilfe zu sorgen. Die Störerauswahl darf sich maßgeblich daran bemessen, dass der fortbestehende jagdliche Missstand schnell und effektiv beseitigt wird, ohne dass ein Rangverhältnis zwischen der Inanspruchnahme des Verhaltensstörers und des Zustandsstörers existiert (VGH Bad.-Württ., Urteil vom 27.3.1995 - 8 S 525/95 - juris Rn. 5). Dies gilt insbesondere im vorliegenden Fall, weil im Zeitpunkt des Ergehens der der Anordnung vom 4. April 2017 völlig offen war, wer neben dem Kläger selbst als Verhaltensstörer überhaupt in Betracht kommen könnte (dazu s.o. S. 16/17). Im Hinblick auf den Grundsatz der effektiven Gefahrenabwehr war die Behörde entgegen dem Klägervortrag auch nicht verpflichtet, vor seiner Inanspruchnahme gegen einen „unbekannten Dritten“ als Handlungsstörer zu ermitteln.
58 b) Die Zwangsgeldandrohung (Nr. 2 der Anordnung vom 4. April 2017) ist ebenfalls rechtmäßig gewesen. Sie findet ihre Rechtsgrundlage in § 19 Abs. 1 Nr. 1, § 20 und § 23 LVwVG. Die allgemeinen Voraussetzungen der Vollstreckung liegen vor, denn der Beklagte hat die sofortige Vollziehung der Beseitigungsverfügung angeordnet (§ 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO) mit der Konsequenz, dass die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs entfällt (§ 2 Nr. 2 LVwVG). Entsprechend § 20 Abs. 1 Satz 2 LVwVG wurde dem Kläger gegenüber eine - gerechnet ab Zustellung der Entscheidung - dreitägige Beseitigungsfrist bestimmt. Diese war angemessen. Anhaltspunkte dafür, dass die Höhe des angedrohten Zwangsgeldes (§ 20 Abs. 4, § 23 LVwVG) fehlerhaft sein könnte, bestehen nicht. Auch der Kläger hat hierzu nichts vorgetragen.
59 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
60 Die in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.
61 Beschluss vom 7. Oktober 2020
62 Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird auf 5.000 Euro festgesetzt (§§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 1 GKG).
63 Der Beschluss ist unanfechtbar.
Gründe
19 Gegenstand der vorliegenden Berufung ist nur die Fortsetzungsfeststellungsklage in Bezug auf Nr. 1 und Nr. 2 des Bescheides des Landratsamts Rastatt vom 4. April 2017. Dagegen hat der Kläger, der die am 1. August 2019 geänderten Gebührenentscheidungen schon in seiner Berufungsbegründung nicht angegriffen hatte, in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat am 7. Oktober 2020 eindeutig klargestellt, dass er sein Anfechtungsbegehren im Hinblick auf die ergangenen Gebühren nicht weiterverfolgt.
I.
20 Mit diesem Inhalt ist die Berufung des Klägers zulässig. Er hat die vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung gegen das dem Kläger am 9. September 2019 zugestellte Urteil innerhalb der Monatsfrist des § 124a Abs. 2 VwGO Satz 1 VwGO am 30. September 2019 beim Verwaltungsgericht eingelegt und auch innerhalb der gem. § 124a Abs. 3 Satz 3 VwGO verlängerten Berufungsbegründungsfrist mit dem beim Verwaltungsgerichtshof am 20. Dezember 2019 eingegangenen Schriftsatz des Prozessbevollmächtigten des Klägers vom selben Tage begründet. Die Begründung enthält auch (noch) einen bestimmten Antrag i.S.v. § 124a Abs. 3 Satz 4 VwGO. Hierzu gehören der Rechtsmittelantrag - also der Antrag auf Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Urteils - sowie der Sachantrag zu der Frage, inwieweit das ursprüngliche materielle Klagebegehren in der Berufungsinstanz weiterverfolgt wird. Hier ist jedenfalls dem letzten Satz des Begründungsschriftsatzes in Verbindung mit dem Berufungsvortrag zu entnehmen, dass das Urteil des Verwaltungsgerichts in Bezug auf die Fortsetzungsfeststellungsklage abgeändert werden und dieser Klage stattgegeben werden soll.
II.
21 Die zulässige Berufung ist jedoch unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat die Fortsetzungsfeststellungsklage des Klägers im Ergebnis zu Recht abgewiesen.
22 1. Das Verwaltungsgericht ist zunächst zu Recht davon ausgegangen, dass der Kläger in Bezug auf Nr. 1 und Nr. 2 des Ausgangsbescheides seinen Sachantrag in zulässiger Weise von dem zunächst gestellten Anfechtungsantrag auf einen Fortsetzungsfeststellungsantrag umstellten durfte und die Fortsetzungsfeststellungsklage zulässig ist. Der Senat folgt insoweit der Begründung des Verwaltungsgerichts und sieht von einer Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 130b Satz 2 VwGO).
23 2. Der Kläger kann aber nicht die Feststellung beanspruchen, dass Nr. 1 und Nr. 2 des Bescheides des Landratsamts Rastatt vom 4. April 2017 rechtswidrig gewesen sind (§ 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO). Bezogen auf die Sach- und Rechtslage im maßgeblichen Zeitpunkt des Eintritts des erledigenden Ereignisses (Kopp/Schenke, VwGO, 25. Aufl. § 113 Rn. 147 i. V. m. Rn. 124) - hier am 9. April 2017 - erweisen sich die beiden Verfügungen vielmehr als rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten.
24 a) Dies gilt zunächst in Bezug auf die Anordnung, die am 4. April 2017 bei der in der Verfügung näher bezeichneten Kirrstelle festgestellten jagdlichen Missstände unverzüglich, spätestens bis Sonntag, den 9. April 2017, 12:00 Uhr zu beseitigen und einen rechtskonformen Zustand herzustellen.
25 aa) Die Beseitigungsanordnung unterliegt keinen formellen Bedenken. Zwar hat die Beklagte dem Kläger vor Erlass der Verfügung keine Gelegenheit gegeben, sich zu äußern (§ 28 Abs. 1 LVwVfG). Die Anhörung wurde aber jedenfalls im Rahmen des durchgeführten Widerspruchsverfahrens nachgeholt (§ 45 Abs. 1 Nr. 3 LVwVfG).
26 Die unter Nr. 1 getroffene Anordnung ist auch nicht in rechtsstaatlich bedenklicher Weise unbestimmt (vgl. § 37 Abs. 1 LVwVfG). Denn die betroffene Kirrstelle ist durch die dem Bescheid beigefügten Anlagen (Luftbild vom 4. April 2017 und insgesamt 8 Lichtbilder) eindeutig identifizierbar. Was unter „jagdlichen Missständen“ zu verstehen und welcher „rechtskonforme Zustand“ wiederherzustellen ist, ergibt sich aus der Begründung des Bescheides, in der die Beanstandungen erläutert werden und aufgezeigt wird, inwiefern der vorgefundene Zustand gegen geltendes Recht verstößt (unzulässige Kirrung während der Schonzeit, Überschreitung der höchstzulässigen Futtermenge von einem Liter für Schwarzwildkirrungen). Damit konnten jedenfalls ein Inhaber des Eigenjagdbezirks und ein Jagdausübungsberechtigter - nur dieser Personenkreis kommt nach Lage der Dinge als potentieller Adressat des Bescheides in Betracht - unschwer erkennen, was konkret beanstandet wird und welcher Zustand wiederherzustellen ist.
27 bb) Die ergangene Verfügung ist auch in materiell-rechtlicher Hinsicht nicht zu beanstanden.
28 (1) Rechtsgrundlage ist § 62 Abs. 2 JWMG i.V.m. § 6 DVO JWMG. Nach § 62 Abs. 2 JWMG können die unteren Jagdbehörden, soweit nichts anderes bestimmt ist, im Einzelfall die Anordnungen treffen, die zur Beseitigung festgestellter oder zur Verhinderung künftiger Verstöße gegen dieses Gesetz oder die aufgrund dieses Gesetzes erlassenen Rechtsverordnungen erforderlich sind. Der aufgrund der Verordnungsermächtigung des § 33 Abs. 7 Nr. 2 JWMG erlassene § 6 DVO zum JWMG bestimmt:
29 „Wer eine unzulässige Kirrung, unzulässige Fütterung oder unzulässige Ablenkungsfütterung angelegt hat oder betreibt, ist zu deren umgehender Beseitigung verpflichtet. Beseitigungspflichtig ist auch die jagdausübungsberechtigte Person, spätestens drei Tage nach Aufforderung durch die untere Jagdbehörde.“.
30 (2) Die Voraussetzungen dieser Rechtsgrundlage sind hier erfüllt. Denn es liegen Verstöße sowohl gegen das JWMG als auch gegen die DVO vor (dazu (a)), deren Beseitigung erforderlich ist (dazu (b)). Die Verfügung ist auch zu Recht gegenüber dem beseitigungsverantwortlichen Kläger ergangen (dazu (c)).
31 (a) Die bei der Vorortkontrolle am 4. April 2017 vorgefundene Situation im Jagdrevier des Klägers ist als (unzulässige) Kirrung zu qualifizieren. § 33 Abs. 5 Satz 1 JWMG definiert den Begriff der Kirrung als „Anlocken von Wildtieren mit geringen Futtermengen zur Erleichterung der Bejagung“. Die Kirrung ist - ebenso wie die Fütterung - Teil der Rechtsverpflichtungen im Rahmen der Hege (§ 3 Abs. 1 und § 5 Abs. 4 JWMG). Während die Fütterung die Existenz des Wildes sichern und stärken soll, dient die Kirrung nur dem Anlocken des Wildes. Sie soll einen Gewöhnungseffekt des Wildes herbeiführen, der es dazu bringt, an einer bestimmten Stelle nach Futter zu suchen. Hierzu darf nur eine geringe Menge an Futter ausgebracht werden, um keinen Fütterungseffekt zu erzielen. In Zeiten, in denen ein Abschuss möglich ist, ist auf diese Weise eine effektive Bejagung möglich, weil insbesondere scheuem Wild einfacher nachgestellt werden kann (Kümmerle/Nagel, Jagdrecht in Baden-Württemberg, 11. Aufl. S. 165; Schuck, Bundesjagdgesetz, 2. Aufl. § 28 Rn. 11). Allerdings ist die Begriffsdefinition in § 33 Abs. 5 Satz 1 JWMG nicht so zu verstehen, dass eine Kirrung - wie der Kläger meint - tatbestandlich von vorneherein nur dann vorliegen kann, wenn ausschließlich der Jagdausübungsberechtigte außerhalb der Schonzeit an einer Kirrstelle eine geringe Menge an Futter ausbringt, mit welcher er subjektiv das Ziel verfolgt, die Jagd zu erleichtern. Denn aus § 33 Abs. 7 Nr. 2 JWMG (i.V.m.§ 6 DVO JWMG) ergibt sich, dass es aus Sicht des Gesetzgebers auch eine „missbräuchliche Kirrung“ geben kann, die zwar begrifflich noch als Kirrung anzusehen ist, dem damit verfolgten Zweck aber nicht mehr gerecht wird. Der Begriff des „Missbrauchs“ deutet darauf hin, dass damit Fälle gemeint sind, in denen der Jagdausübungsberechtigte an einer Kirrstelle eine zwar noch geringe Futtermenge auslegt, damit aber objektiv eine nicht mehr am Ziel der Erleichterung der Jagd ausgerichtete Wildfütterung betreibt, etwa weil an der Kirrstelle kein Auflauern möglich oder kein Abschuss zu erwarten ist oder sich aus anderen Gründen ergibt, dass ein Abschuss gar nicht erfolgen soll. Aber auch der umgekehrte Fall, dass ein nicht zur Jagdausübung berechtigter Dritter objektiv geringe - und damit zulässige - Futtermengen an einer Kirrstelle des Jagdausübungsberechtigten auslegt um damit Wild anzulocken, ist als missbräuchliche Kirrung zu qualifizieren.
32 Bei der Frage, ob eine Kirrung i.S.v. § 33 Abs. 5 Satz 1 JWMG begrifflich vorliegt oder nicht, kann es daher nicht darauf ankommen, ob diese in jeder Hinsicht zulässig ist. Demnach ist auch unmaßgeblich, ob gerade der Jagdausübungsberechtigte Futter in geringen Mengen in der subjektiven Absicht ausgelegt hat, Wildtiere anzulocken und damit einen jagdlichen Zweck verfolgt. Eine Kirrung i.S.v. § 33 Abs. 5 Satz 1 JWMG liegt vielmehr schon dann vor, wenn die Auslegung von Futtermitteln sich in der konkret gegebenen Situation vor Ort objektiv als auf das Anlocken von Wildtieren und damit auf die Verfolgung eines Jagdzweckes gerichtet darstellt.
33 Demgemäß ist die am 4. April 2017 vorgefundene Situation als Kirrung anzusehen. Denn ausweislich der vorliegenden Lichtbilder war an einer Stelle, die objektiv nach waidmännischen Prinzipien als Kirrstelle in Betracht kommt, Futter ausgelegt. So befand sich Mais in einem - teilweise mit einem Brett abgedeckten - hohlen Baumstamm in unmittelbarer Nähe zu einem Hochsitz (Schießstand). Ausweislich der vorliegenden Lichtbilder wurde der betreffende Bereich zudem per Wildkamera überwacht. Schon dies lässt dem äußeren Anschein nach auf das Vorliegen einer professionellen Kirrstelle schließen. Zudem war Mais teilweise konzentriert ausgelegt, teilweise großflächig auf dem Waldboden auf eine Weise ausgebracht, wie es ein Jäger beim Anlegen einer Kirrstelle üblicherweise tun würde. Dasselbe gilt in Bezug auf den ausgebrachten Apfeltrester. Bei den angelegten Materialien handelt es sich um Futtermittel, die typischerweise zum Anlocken von Wild verwendet werden. Es ist offensichtlich, dass diese Futtermittel - von wem auch immer - zielgerichtet zu diesem Zweck ausgebracht und nicht als Abfall im Wald entsorgt wurden. Es kommt hinzu, dass das Futter zu einer Zeit ausgelegt wurde, in der die Jagd auf Schwarzwild zulässig ist, und an einer Stelle, die sich weniger als 200 m vom Waldaußenrand befindet (vgl. § 41 Abs. 2 Satz 2 JWMG).
34 Die Kirrung verstieß auch gegen Vorschriften des JWMG, denn sie wurde am 4. April 2017 vorgefunden und damit während der noch bis 30. April 2017 dauernden allgemeinen Schonzeit (§ 41 Abs. 2 Satz 1 JWMG in der am 4. April 2019 geltenden Fassung), in der sie unzulässig war (§ 33 Abs. 5 Satz 2 JWMG). Zudem überstieg die ausgelegte Futtermenge die höchstzulässige Menge von 1 Liter für die Kirrung von Schwarzwild (§ 5 Abs. 2 Nr. 2 DVO JWMG) erheblich. Der Kläger hat die Annahme des Beklagten nicht bestritten, dass es sich um eine (unzulässige) Schwarzwildkirrung handelt.
35 (b) Die Beseitigung des festgestellten Verstoßes erweist sich als erforderlich i.S.v. § 62 Abs. 2 JWMG. Denn ein rechtmäßiger Zustand musste zeitnah wiederhergestellt werden. Ein milderes Mittel als die Anordnung, das ausgelegte Futter zu beseitigen, ist nicht zu erkennen.
36 (c) Die Verfügung ist zu Recht gegenüber dem beseitigungsverantwortlichen Kläger ergangen.
37 (aa) Der Kläger war hier nach § 6 DVO JWMG beseitigungspflichtig. Da ihm sein Vortrag nicht widerlegt werden kann, er selbst habe die unzulässige Kirrung nicht angelegt und die Kirrstelle in der zu beanstandenden Form auch nicht betrieben, kann er nicht als Handlungsstörer gemäß § 6 Satz 1 DVO JWMG in Anspruch genommen werden.
38 Der Kläger wurde aber zu Recht als jagdausübungsberechtigte Person i.S.v. § 6 Satz 2 DVO JWMG herangezogen. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind erfüllt, denn der Kläger war (und ist) als Jagdpächter zur Jagdausübung berechtigt (§ 17 Abs. 1 Satz 2 JWMG). Ein Jagdausübungsberechtigter ist nach § 6 Satz 2 DVO JWMG spätestens drei Tage nach Aufforderung durch die untere Jagdbehörde beseitigungspflichtig. Eine solche Frist wurde dem Kläger gewährt, denn in der am 6. April 2017 zugestellten Verfügung vom 4. April 2017 wurde dem Kläger eine Frist zur Beseitigung bis zum 9. April 2017 eingeräumt. Schon zuvor wurde er ausweislich der vorliegenden Akten am 27. März 2017 von der unteren Jagdbehörde zur Beseitigung festgestellter Kirrverstöße in seinem Revier aufgefordert.
39 Entgegen der Rechtsauffassung des Klägers war der Beklagte hier nicht gehalten, vor der Inanspruchnahme des Klägers als jagdausübungsberechtigte Person „den Verursacher der Ablagerungen“ zu finden und der von diesem geäußerten Vermutung nachzugehen, unbekannte Dritte hätten die am 4. April 2017 festgestellten Futtermengen ausgebracht, um den Kläger anzuschwärzen. Denn für eine Ermittlung des Dritten fehlte im Zeitpunkt des Ergehens der Verfügung jeder greifbare Ermittlungsansatz. Der Kläger hat zu keiner Zeit - auch nicht im Klage- und Berufungsverfahren - einen konkreten Verdacht geäußert, wer der „mit ihm zerstrittene Dritte“ sein könnte und damit keinen Ansatzpunkt dafür aufgezeigt, in welche Richtung das Landratsamt hätte ermitteln können. Im Widerspruchsschreiben vom 5. September 2017 und in der Klagebegründung vom 19. Januar 2018 wird zwar ein „Herr ... vom NABU“ erwähnt; dem Vortrag ist aber nicht zu entnehmen, dass der Kläger Herrn ... für denjenigen hält, der die unzulässige Kirrstelle angelegt hatte. Soweit in den genannten Schriftsätzen davon die Rede ist, „zumindest eine der Kirrungen sei einem breiteren Kreis an Interessierten bekannt“ gewesen, weil der Kläger selbst „ihm bekannte Dritte“ dort angetroffen habe, wäre es an ihm gewesen, an der Ermittlung des Sachverhalts mitzuwirken und ihm bekannte Tatsachen anzugeben (§ 26 Abs. 2 Satz 1 und 2 LVwVfG). Da dies im Verwaltungsverfahren nicht geschehen ist, vermag der Senat entgegen dem Berufungsvortrag nicht festzustellen, dass die handelnden Verwaltungsbehörden gegen ihre Verpflichtung verstoßen hätten, den Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären (§ 24 Abs. 1 LVwVfG). Aus demselben Grund ist auch nicht erkennbar, dass das Verwaltungsgericht seiner Aufklärungspflicht nicht gerecht geworden wäre (vgl. § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
40 (bb) § 6 Satz 2 DVO JWMG ist von der Ermächtigungsgrundlage des § 33 Abs. 7 Nr. 2 JWMG gedeckt. In dieser Vorschrift wird die oberste Jagdbehörde ermächtigt, durch Rechtsverordnung nähere Bestimmungen zu treffen (...) „2. Zur Verhinderung einer missbräuchlichen Wildfütterung, Ablenkungsfütterung und Kirrung“. Entgegen der Rechtsauffassung des Klägers bezieht sich diese Ermächtigung nicht auf den Erlass rein präventiver Regelungen zur Verhinderung zukünftiger Missbräuche. Zwar könnte der Wortlaut der Regelung mit dem Begriff „Verhinderung“ auf den ersten Blick für die Annahme sprechen, dass damit nur zukünftige, noch nicht eingetretene Verstöße abgewehrt werden sollen. Bei näherer Betrachtung überzeugt dies allerdings nicht. Denn auch bei einer Beseitigung bereits eingetretener Verstöße wird verhindert - dies zeigt der vorliegende Kirrverstoß exemplarisch -, dass sie fortwirken und die eingetretene Rechtsverletzung damit in die Zukunft hinein andauert. Hätte der Gesetzgeber nur zur Regelung „zukünftiger“ Verstöße ermächtigen wollen, hätte es nahegelegen, sich der in § 62 Abs. 2 JWMG gewählten Formulierung zu bedienen, wonach Anordnungen ergehen können u.a. „zur Verhinderung zukünftiger Verstöße“. Diese Einschränkung findet sich bei § 33 Abs. 7 Nr. 2 JWMG aber nicht. Gegen das vom Kläger für richtig gehaltene enge Begriffsverständnis spricht ferner die Intention des Gesetzgebers, der in § 20 Abs. 5 Nr. 1 LJagdG i.d.F. vom 1. Juni 1996 erstmals die Ermächtigung des Ministeriums geschaffen hat, „durch Rechtsverordnung Vorschriften zur Verhinderung von Missbräuchen bei Ablenkungsfütterungen und Kirrungen zu erlassen“. In der Gesetzesbegründung heißt es hierzu, mit der Ermächtigung solle verhindert werden, dass „in der jagdlichen Praxis (...) die Kirrung zu rechtswidrigen Fütterungen missbraucht werden“. Mit der neuen Verordnungsermächtigung könnten „Missbräuche genereller Art über eine Rechtsverordnung (...) untersagt werden“ (LT-Drs. 11/5803, S. 34). Aus dieser Formulierung ergibt sich, dass mithilfe der zu erlassenden Rechtsverordnung auch bereits vorhandene Verstöße abgestellt werden sollen, zumal die Verordnungsermächtigung den ihr vom Gesetzgeber zugedachten Zweck nur höchst eingeschränkt erfüllen würde, wenn nur zukünftige Verstöße erfasst wären. Bei der Neufassung des Jagd- und Wildtiermanagementgesetzes vom 25. November 2014 (GBl. 2014, S. 550) hat der Gesetzgeber den Regelungsgehalt des LJagdG a.F. unverändert - unter Hinweis auf den bewährten Regelungsinhalt des § 20 Abs. 5 Nr. 1 LJagdG a.F. - als § 33 Abs. 7 Nr. 2 JWMG übernommen (LT-Drs. 15/5789 S. 117).
41 (cc) § 6 DVO JWMG ist nicht deswegen verfassungswidrig, weil dem Landesgesetzgeber - bzw. hier dem Verordnungsgeber - für den Erlass dieser Norm die Gesetzgebungskompetenz fehlte. Das Verwaltungsgericht hat auf S. 10 f des angegriffenen Urteils im Einzelnen zutreffend ausgeführt, dass es sich hier nicht um eine abfallwirtschaftliche Regelung i.S.v. Art. 74 Abs. 1 Nr. 24 GG, sondern um einen Gegenstand des Jagdwesens i.S.v. Art. 74 Abs. 1 Nr. 28 GG handelt, der in die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Landesgesetzgebers fällt. Der Kläger ist diesen zutreffenden Ausführungen im Berufungsverfahren nicht entgegengetreten, weshalb der Senat insoweit von einer weiteren Darstellung der Urteilsgründe absieht und auf das angegriffene Urteil verweist (§ 130b VwGO).
42 (dd) Die Verordnungsermächtigung des § 33 Abs. 7 Nr. 2 JWMG verstößt ihrerseits nicht gegen Art. 61 Abs. 1 LV. Das Zitiergebot des § 61 Abs. 1 Satz 3 LV ist eingehalten. Die DVO JWMG vom 2. April 2015 (GBl. 2015, S. 202) benennt § 33 Abs. 7 Nr. 1 bis 4 JWMG als Rechtsgrundlage ausdrücklich.
43 Auch Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung werden in § 33 Abs. 7 Nr. 2 JWMG in hinreichendem Maße angegeben. Als Ausdruck des Demokratieprinzips verpflichtet Art. 61 Abs. 1 Satz 2 LV den parlamentarischen Gesetzgeber, die Breite und Zielrichtung der Rechtsetzungsdelegation selbst zu bestimmen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu dem gleichlautenden Art. 80 Abs. 1 GG darf die Ermächtigung nicht so unbestimmt sein, dass nicht mehr vorausgesehen werden kann, in welchen Fällen und mit welcher Tendenz von ihr Gebrauch gemacht werden wird und welchen Inhalt die aufgrund der Ermächtigung erlassenen Verordnungen haben können (BVerfG, Beschluss vom 11.3.2020 - 2 BvL 5/17 - juris Rn. 100 m.w.N.). Dabei genügt es jedoch, wenn sich diese Konkretisierungen aus dem Gesamtgesetz und nicht nur aus der Ermächtigungsklausel ergeben (StGH Bad.-Württ., Urteil vom 7.3.1980 - 1/1979 - VBlBW 1980, 18; Winkler in: Haug (Hrsg.), Verfassung des Landes Baden-Württemberg, Art. 61 Rn. 12 m.w.N.).
44 (aaa) Unter Zugrundelegung dessen ist der Inhalt der Ermächtigung in § 33 Abs. 7 Nr. 2 JWMG hinreichend genau umschrieben, denn diese ist thematisch eingegrenzt auf Regelungen zur Wildfütterung, Ablenkungsfütterung und Kirrung. Was unter diesen Begriffen zu verstehen ist und unter welchen Voraussetzungen Wildfütterung, Ablenkungsfütterung und Kirrung jeweils erlaubt oder nicht erlaubt sind, ist nicht dem Verordnungsgeber zur Regelung überlassen, sondern ergibt sich aus § 33 Abs. 2 bis 4 JWMG (Fütterung und Ablenkungsfütterung) sowie aus § 33 Abs. 5 JWMG (Kirrung). Da der Begriff der „Verhinderung“ nicht auf „Verhinderung künftiger Verstöße“ beschränkt ist (s.o.), kann der Ermächtigung auch hinreichend entnommen werden, welche Verstöße mit der zu schaffenden Rechtsverordnung bekämpft werden sollen.
45 (bbb) Der Zweck der Ermächtigung - als das rechtspolitische Ziel, das der Verordnungsgeber erreichen soll (Winkler a.a.O.) - ist vor dem Hintergrund offensichtlich, dass die Voraussetzungen, unter denen die Einzelmaßnahmen „Fütterung“, „Ablenkungsfütterung“ und „Kirrung“ zulässig sind, im JWMG selbst im Einzelnen bestimmt werden und mithilfe des zu schaffenden Verordnungsrechts ein Missbrauch dieser Maßnahmen verhindert werden soll.
46 (ccc) Der Gesetzgeber hat auch das Ausmaß der erteilten Ermächtigung, nämlich die Grenzen, innerhalb derer sich die Regelung des Verordnungsgebers halten muss (Feuchte in Spreng/Dirn/Feuchte, Verfassung des Landes Baden-Württemberg, Art. 61 Anm. 4; Winkler a.a.O), hinreichend deutlich abgesteckt. Denn wenn der Verordnungsgeber ermächtigt ist, nähere Bestimmungen zur Verhinderung missbräuchlicher Wildfütterung, Ablenkungsfütterung und Kirrung zu treffen, müssen die Regelungsadressaten - Jäger und Jagdausübungsberechtigte - ohne weiteres damit rechnen, für selbst verursachte Missstände verantwortlich gemacht und beseitigungspflichtig zu werden (§ 6 Satz 1 DVO JWMG). Nichts anderes gilt für ihre in § 6 Satz 2 DVO JWMG bestimmte Zustandshaftung.
47 Hier kann auf die Wesentlichkeitsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zurückgegriffen werden, denn auch im Rahmen des § 61 Abs. 1 LV geht es darum, dass der Gesetzgeber wesentliche Fragen selbst entscheiden muss und nicht dem exekutiven Verordnungsgeber übertragen darf (Feuchte a.a.O. Anm. 6; Winkler a.a.O. Rn. 12). „Wesentlich“ in diesem Sinne - und damit vom Gesetzgeber selbst zu beantworten - sind zum einen Fragen von erheblicher Bedeutung für Staat und Gesellschaft, zum anderen Entscheidungen mit wesentlicher, d.h. erheblicher Grundrechtsrelevanz (BVerfG, Urteil vom 19.3.2018 - 2 BvF 1/15, 2 BvF 2/15 - juris Rn. 194; Dreier, GG, Art 20 (Rechtsstaat) Rn. 113 ff). Die Heranziehung einer jagdausübungsberechtigten Person als Zustandsverantwortliche für die Beseitigung jagdrechtlicher Missstände ist keine Frage von erheblicher Bedeutung für Staat und Gesellschaft. Sie hat aber jedenfalls Grundrechtsrelevanz. Denn der Inhaber des Jagdrechts, welches nach § 3 Abs. 3 JWMG untrennbar mit dem Eigentum an dem Grundstück verbunden ist und deshalb den Schutz des Art. 14 Abs. 1 GG genießt (Deuschle/Friedmann, Jagdrecht für Baden-Württemberg, § 3 Rn. 5 f) ist zumindest als Eigentümer in Eigenjagdbezirken auch selbst jagdausübungsbefugt (§ 3 Abs. 4 Satz 3 JWMG). In diesem Fall ist der selbst die Jagd ausübende Jagdrechtsinhaber durch die in § 6 Satz 2 DVO JWMG statuierte Zustandshaftung unmittelbar in seinem Eigentumsrecht betroffen. In allen anderen Fällen - insbesondere auch dann, wenn die Wahrnehmung des Jagdrechts der Jagdgenossenschaft zusteht (§ 3 Abs. 4 Satz 4 JWMG, § 16 Abs. 1 JWMG) - fallen das von Art. 14 Abs. 1 GG geschützte Jagdrecht und das Jagdausübungsrecht auseinander und leitet der Jagdausübungsberechtigte seine Rechtsstellung entweder aus einer Jagdpacht (§ 17 Abs. 1 JWMG) oder aus einer Beauftragung (§ 16 Abs. 1 Satz 3 JWMG) ab. Er verfügt damit möglicherweise zwar nicht über eine von Art. 14 Abs. 1 GG geschützte Rechtsstellung. Der jagdausübungsberechtigte Jagdpächter wird durch die in § 6 Satz 2 DVO JWMG statuierte Zustandshaftung aber jedenfalls in seiner allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), der von der Jagdgenossenschaft mit der Jagdausübung Beauftragte möglicherweise auch in dem Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG betroffen.
48 Die hierdurch bewirkten Eingriffe in die genannten Grundrechte beschränken sich aber von vornherein nur auf Fälle missbräuchlicher Wildfütterung, Ablenkungsfütterung und Kirrung und damit auf einen sehr begrenzten Teilausschnitt der Jagdausübung. Denn der Kernbereich des Jagdausübungsrechts - das Aufsuchen, Nachstellen, Erlegen und Fangen von Wildtieren gem. § 3 Abs. 5 JWMG und die vielfältigen Befugnisse im Rahmen der Hege (§ 5 Abs. 4 JWMG) - bleibt ungeschmälert erhalten. Zu sehen ist, dass die punktuelle Heranziehung des Jagdausübungsberechtigten als Zustandsverantwortlichen in den Fällen missbräuchlicher Wildfütterung, Ablenkungsfütterung und Kirrung nicht auf eine dauerhafte Grundrechtsbeeinträchtigung angelegt ist. Zudem dient sie gerade der Umsetzung der (auch) dem Jagdausübungsberechtigten obliegenden (vgl. § 45 JWMG) Verpflichtung zur Hege. Denn die Verhinderung von Fütterungs- und Kirrverstößen trägt dazu bei, gesunde und stabile Populationen heimischer Wildtierarten zu erhalten und zu entwickeln (§ 5 Abs. 4 JWMG). Die inhaltlichen Anforderungen der Hege werden u.a. in den Bestimmungen des JWMG zu Fütterung und Kirrung konkretisiert (Deuschle/Friedmann, Jagdrecht für Baden-Württemberg, § 5 Rn. 20). Insofern soll mit der Heranziehung als Zustandsverantwortlicher ein erheblicher jagdrechtlicher Missstand beseitigt werden, der aus Gründen des Wildtierschutzes (vgl. § 2 JWMG) und damit mit Blick auf ein Schutzgut von hoher Bedeutung nicht - auch nicht für kurze Zeit - hingenommen werden kann.
49 In der Gesamtschau erscheint die Intensität und Reichweite der beschriebenen denkbaren Grundrechtseingriffe jedenfalls so weit herabgemindert (vgl. Dreier a.a.O. Rn. 113), dass der Gesetzgeber die Heranziehung des Jagdausübungsberechtigten als Zustandsverantwortlichen nicht selbst regeln musste. Dies gilt vor allem auch deshalb, weil die hier betroffenen Grundrechte nach dem Wortlaut der Verfassung nicht vorbehaltlos gewährleistet sind. Einschränkende Regelungen müssen daher nicht erst durch verfassungsimmanente Schranken und damit vom Gesetzgeber bestimmt oder konkretisiert werden (hierzu BVerfG, Urteil vom 19.3.2018, a.a.O. Rn. 194).
50 (ee) Der Verordnungsgeber hat die ihm eingeräumte Gestaltungsbefugnis nicht dadurch überschritten, dass er bei der Schaffung der Beseitigungspflicht des Zustandsverantwortlichen an die Jagdausübungsberechtigung angeknüpft hat. Zwar greift diese Regelung ggf. in die o.g. Grundrechte aus Art. 14 Abs. 1 GG, Art. 12 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG ein. Das Eigentumsgrundrecht und das Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG unterliegen jedoch jeweils einem gesetzlichen Regelungsvorbehalt; die in Art. 2 Abs. 1 GG geregelte allgemeine Handlungsfreiheit ist aufgrund jeder formell und materiell mit der Verfassung in Einklang stehenden Norm beschränkbar (BVerfG, Beschluss vom 6.6.1989 - 1 BvR 921/95 -, juris Rn. 62). Die in § 33 Abs. 7 Nr. 2 JWMG i.V.m. § 6 Satz 1 DVO JWMG statuierte Zustandsverantwortlichkeit des Jagdausübungsberechtigten stellt sich sowohl als verhältnismäßige Regelung des Eigentumsrechts und der Berufsausübungsfreiheit als auch als verfassungskonforme und verhältnismäßige Beschränkung der allgemeinen Handlungsfreiheit dar. Entgegen der Rechtsauffassung des Klägers liegt ein verfassungsrechtlich tragfähiger Rechtfertigungsgrund dafür vor, den Jagdausübungsberechtigten als Zustandsverantwortlichen für eine Beseitigung missbräuchlicher Wildfütterungen, Ablenkungsfütterungen und Kirrungen in seinem Jagdrevier in Anspruch zu nehmen.
51 Legitimierender Grund für die Inanspruchnahme als Zustandsverantwortlicher ist dessen durch die - zumindest normative - Sachherrschaft vermittelte Einwirkungsmöglichkeit auf die gefährliche Sache und damit auf die Gefahrenquelle (BVerfG, Beschluss vom 16.2.2000 - 1 BvR 242/91, 1 BvR 315/99 -, juris Rn. 46 und 51; BVerwG, Beschluss vom 7.8.2013 - 7 B 9.13 - juris Rn. 9; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 25.10.2012 - 1 S 1401/11 - juris Rn. 48; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27.3.2020 - 11 N 118/16 - juris Rn. 3). Der Jagdausübungsberechtigte verfügt über die notwendige Sachherrschaft in seinem Jagdrevier und kann deshalb auch auf die von seinem Revier ausgehenden Gefahrenquellen einwirken. In dem Fall, dass der Eigentümer in einem Eigenjagdrevier selbst jagdausübungsbefugt ist (§ 3 Abs. 4 Satz 3 JWMG), liegt dies auf der Hand. Aber auch den von einer Jagdgenossenschaft beauftragten jagdausübungsberechtigten Personen (§ 16 Abs. 1 JWMG) und den - wie der Kläger -aufgrund Jagdpacht jagdausübungsberechtigten Personen (§ 17 Abs. 1 JWMG) kommt die erforderliche Sachherrschaft zu. Denn ihnen ist nach § 3 Abs. 5 JWMG das Aufsuchen, Nachstellen, Erlegen und Fangen von Wildtieren gestattet, andererseits obliegt ihnen nicht nur eine Pflicht zur waidgerechten Jagdausübung (§ 3 Abs. 5 i. V. m. § 8 Abs. 1 JWMG), sondern auch die Hege (§ 5 Abs. 4 JWMG). Zwar ist die Hegepflicht als Bestandteil des Jagdrechts an sich konstruktiv mit dem Recht am Eigentum verknüpft (§ 3 Abs. 1 Satz 2 JWMG); da die Hege aber wesentlicher Teil der Jagdausübung ist, trifft sie dann, wenn der Eigentümer die Jagd nicht selbst ausübt (s.o.), den Jagdausübungsberechtigten (Schuck, Bundesjagdgesetz, § 1 Rn. 16). Dies wird auch in § 6 JWMG deutlich, der dem aufgrund Pachtvertrages Jagdausübungsberechtigten einen Anspruch auf Duldung von Hegemaßnahmen gegen den sein Jagdrecht verpachtenden Jagdrechtsinhaber verschafft. Dies alles lässt erkennen, dass dem Jagdausübungsberechtigten in seinem Jagdrevier und damit auf den betroffenen Grundstücken in jedem Fall eine zwar auf die Erfordernisse der Jagdausübung - einschließlich der Hege - beschränkte, insoweit aber umfassende Sachherrschaft zukommt, welche ihm in Bezug auf die Ausübung von Jagd und Hege in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht die erforderlichen Einwirkungsmöglichkeiten im Jagdrevier und damit auch eine besondere Sachnähe zur Beseitigung jagdlicher Missstände verschafft.
52 Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, ob und in welchem Umfang dem Jagdausübungsberechtigten jenseits der Erfordernisse der Jagdausübung - vergleichbar einem Eigentümer - Einwirkungsmöglichkeiten in seinem Revier zustehen. Denn er wird in § 6 Satz 2 DVO JMWG nur für jagdliche Missstände in Anspruch genommen. Als legitimierender Grund hierfür genügt es, dass diese Missstände in seine Revierverantwortlichkeit als Jagdausübungsberechtigter fallen und ihm insoweit eine entsprechende jagdliche Sachherrschaft mit Einwirkungsbefugnis zusteht. Daher kommt es auch nicht darauf an, dass die Jagdpacht als reine Rechtspacht das mit dem Eigentum verknüpfte Jagdrecht unberührt lässt und dem Rechtspächter die mit dem Jagdrecht einhergehenden eigentumsbezogenen Sachherrschaftsbefugnisse sowie zivilrechtlich gegenüber dem Jagdrechtsinhaber ein Recht zum Besitz fehlen (Schuck, Bundesjagdgesetz, 2. Aufl., § 11 Rn. 3; BVerfG, Kammerbeschluss vom 17.12.1986 - 1 BvR 697/86 - juris [nur Ls.]). Der Vortrag des Klägers, als Pächter habe er keine aus dem Pachtvertrag herrührende Befugnis gegenüber Personen, die illegal Stoffe in der Landschaft entsorgten, lässt den o.g. legitimierenden Grund der Revierverantwortlichkeit des Jagdausübungsberechtigten für jagdliche Missstände ebenfalls nicht entfallen, zumal es im vorliegenden Fall - wie oben bereits aufgezeigt - ohnehin nicht um eine illegale Entsorgung von Stoffen geht.
53 Ein weiterer legitimierender Grund für die Heranziehung des Jagdausübungsberechtigten als Zustandsverantwortlichen liegt darin, dass diesem die bereits oben geschilderten Vorteile des Jagdausübungsrechts zukommen und er hieraus Nutzen zieht. Zudem kann der Jagdausübungsberechtigte dritten Personen (Jagdgästen) ggf. gegen Entgelt eine Jagderlaubnis erteilen (§ 25 Abs. 1 JWMG). In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist in Bezug auf den Grundstückseigentümer anerkannt, dass mit der Möglichkeit zur wirtschaftlichen Nutzung und Verwertung des Sacheigentums die öffentlich-rechtliche Pflicht korrespondiert, die sich aus der Sache ergebenden Lasten und die mit der Nutzungsmöglichkeit verbundenen Risiken zu tragen (vgl. BVerfG, Urteil vom 16.2.2000 - 1 BvR 242/91, 1 BvR 315/99 - juris Rn. 46 und 51). Dieser Gedanke kann auf die Rechtsstellung des Jagdausübungsberechtigten übertragen werden. Da ihm - anders als dem Grundeigentümer - aber nicht die vollen wirtschaftlichen Vorteile aus einer Grundstücksnutzung, sondern nur die Vorteile des Jagdausübungsrechts zustehen, kann er - gleichsam spiegelbildlich zur Vorteilslage - aber lediglich zur Beseitigung spezifischer jagdlicher Missstände in seinem Jagdrevier und hieraus resultierender Gefahren verpflichtet werden. § 6 Satz 2 DVO JMWG hält sich innerhalb dieses Rahmens.
54 Aus alldem ergibt sich zunächst, dass die Zustandsverantwortlichkeit des Jagdausübungsberechtigten als solche keinen verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt ist. Angesichts seiner gegenständlich nur beschränkten Heranziehung ist auch das Ausmaß dessen, was dem Jagdausübungsberechtigten zur Gefahrenabwehr abverlangt wird, nicht unverhältnismäßig (vgl. BVerfG, Beschluss vom 16.2.2000 - 1 BvR 242/91, 1 BvR 315/99 - juris Rn 54).
55 (ff) Der von dem Kläger angeführte Umstand, dass § 5 Abs. 1 Satz 2 JWMG die Steuerung des Wildtiermanagements als öffentliche Aufgabe ansieht, steht dem Erlass des § 6 DVO JWMG schon deshalb nicht entgegen, weil der Gesetzgeber seiner Steuerungsaufgabe hier durch die Schaffung der Verordnungsermächtigung des § 33 Abs. 7 Nr. 2 JWMG nachgekommen ist, welche mit Erlass des § 6 DVO JWMG umgesetzt wurde.
56 (3) Die ergangene Verfügung leidet an keinem Ermessensfehler. Zwar steht die Anordnungsbefugnis der unteren Jagdbehörde aus § 62 Abs. 1 JWMG in deren Entschließungsermessen und lässt die Anordnung vom 4. April 2017 nicht erkennen, dass das Landratsamt dieses Ermessen erkannt und ausgeübt hat. Eine Fehlerheilung im gerichtlichen Verfahren ist hier nicht mehr möglich, weil es bei der Fortsetzungsfeststellungsklage maßgeblich auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt des Eintritts des erledigenden Ereignisses - hier im April 2017 - ankommt (Kopp/Schenke, VwGO, 25. Aufl., § 113 Rn. 147). Jedoch liegt hier angesichts der strikten Regelung des § 6 DVO JWMG („ist zu deren Beseitigung verpflichtet“) und des Umstandes, dass die jagdrechtswidrige Kirrung zur Vermeidung einer weiten Gewöhnung des Wildes unverzüglich beseitigt werden musste, ohnehin ein Fall der Ermessensreduktion auf null vor. Dies hat zur Konsequenz, dass es auf einen etwaigen Ermessensfehler nicht entscheidungserheblich ankommt (VGH Bad.-Württ., Urteil vom 18.10.2006 - 13 S 192/06 - juris Rn. 45; HessVGH, Urteil vom 8.9.1992 - 11 UE 611/91 - juris Rn. 39).
57 Auch ein Auswahlfehler ist nicht festzustellen. § 6 DVO JWMG begründet kein Rangverhältnis hinsichtlich der als Adressaten einer Beseitigungsanordnung in Betracht kommenden Verantwortlichen. Insbesondere daraus, dass die jagd-ausübungsberechtigte Person spätestens drei Tage nach vorheriger Aufforderung der Behörde beseitigungspflichtig wird, ist nicht abzuleiten, dass die untere Jagdbehörde zunächst gehalten wäre, den Anleger oder Betreiber einer unzulässigen Kirrung nach § 6 Satz 1 DVO JWMG zu ermitteln, bevor sie - im Falle der Erfolglosigkeit ihrer Ermittlungen - auf den Jagdausübungsberechtigten als Zustandsverantwortlichen nach Satz 2 der Vorschrift zugreift. Denn die Aufforderungspflicht bezweckt erkennbar nur, dem Zustandsverantwortlichen, der möglicherweise von dem jagdlichen Missstand in seinem Revier noch gar nichts weiß, zunächst entsprechende Kenntnis zu verschaffen und ihm Gelegenheit zu geben, für Abhilfe zu sorgen. Die Störerauswahl darf sich maßgeblich daran bemessen, dass der fortbestehende jagdliche Missstand schnell und effektiv beseitigt wird, ohne dass ein Rangverhältnis zwischen der Inanspruchnahme des Verhaltensstörers und des Zustandsstörers existiert (VGH Bad.-Württ., Urteil vom 27.3.1995 - 8 S 525/95 - juris Rn. 5). Dies gilt insbesondere im vorliegenden Fall, weil im Zeitpunkt des Ergehens der der Anordnung vom 4. April 2017 völlig offen war, wer neben dem Kläger selbst als Verhaltensstörer überhaupt in Betracht kommen könnte (dazu s.o. S. 16/17). Im Hinblick auf den Grundsatz der effektiven Gefahrenabwehr war die Behörde entgegen dem Klägervortrag auch nicht verpflichtet, vor seiner Inanspruchnahme gegen einen „unbekannten Dritten“ als Handlungsstörer zu ermitteln.
58 b) Die Zwangsgeldandrohung (Nr. 2 der Anordnung vom 4. April 2017) ist ebenfalls rechtmäßig gewesen. Sie findet ihre Rechtsgrundlage in § 19 Abs. 1 Nr. 1, § 20 und § 23 LVwVG. Die allgemeinen Voraussetzungen der Vollstreckung liegen vor, denn der Beklagte hat die sofortige Vollziehung der Beseitigungsverfügung angeordnet (§ 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO) mit der Konsequenz, dass die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs entfällt (§ 2 Nr. 2 LVwVG). Entsprechend § 20 Abs. 1 Satz 2 LVwVG wurde dem Kläger gegenüber eine - gerechnet ab Zustellung der Entscheidung - dreitägige Beseitigungsfrist bestimmt. Diese war angemessen. Anhaltspunkte dafür, dass die Höhe des angedrohten Zwangsgeldes (§ 20 Abs. 4, § 23 LVwVG) fehlerhaft sein könnte, bestehen nicht. Auch der Kläger hat hierzu nichts vorgetragen.
59 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
60 Die in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.
61 Beschluss vom 7. Oktober 2020
62 Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird auf 5.000 Euro festgesetzt (§§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 1 GKG).
63 Der Beschluss ist unanfechtbar.
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Tenor
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Berufungsver-fahrens als Gesamtschuldner.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig voll-streckbar. Die Kläger dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils jeweils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in jeweils entsprechender Höhe leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
1Tatbestand:
2Die Beteiligten streiten über die Zulässigkeit des von den Klägern vertretenen Bürgerbegehrens.
3Die in F. bis zur Bundesautobahn (BAB) 40 führende BAB 52 soll nach Planungen des Landesbetriebs Straßenbau Nordrhein-Westfalen (Straßen.NRW) in Richtung Norden weitergeführt werden. Dazu soll - vorbehaltlich eines anderen Ergebnisses der Alternativenprüfung für das Planfeststellungsverfahren - die Bundesstraße 224 (B 224) auf dem Stadtgebiet der Beklagten ausgebaut werden. Im Bereich der Anschlussstelle B 224/BAB 2 soll ein Autobahnkreuz mit sog. Überflieger entstehen. Im danach anschließenden nördlichen Verlauf zwischen der einmündenden Q.-----straße bis zur Kreuzung der B 224 mit der H. - und der M.---straße soll nach Vorstellungen des Planungsträgers ein Tunnel entstehen (im Folgenden: Ausbauprojekt).
4Am 25. März 2012 führte die Beklagte einen Ratsbürgerentscheid über die Frage durch, ob sie sich an der Finanzierung eines ca. 1,5 km langen Tunnels zwischen Q.-----straße und H. -/M.---straße im Zuge des geplanten Ausbaus der A 52 mit rund 52 Millionen Euro beteiligen solle, wenn die planungsrechtlichen Voraussetzungen geschaffen würden. Ein derartiger Ausbau war der Beklagten durch Bundesverkehrsministerium und das Verkehrsministerium NRW in Aussicht gestellt worden. Die Mehrheit der abstimmenden Bürger und Bürgerinnen sprach sich gegen die geplante Beteiligung der Beklagten am Tunnelbau aus.
5Im August 2014 wurde das Planfeststellungsverfahren für den Ausbau der B 224 zur BAB 52 zwischen der Stadtgrenze C. und der BAB 2 einschließlich des vorerwähnten Autobahnkreuzes auf dem Gebiet der Beklagten eingeleitet. Im Rahmen dieses Planfeststellungsverfahrens gab die Beklagte einerseits in ihrer Eigenschaft als Trägerin öffentlicher Belange und andererseits als Einwenderin eine kritische Stellungnahme ab.
6Am 6. März und 3. November 2015 fanden Gespräche zwischen dem Bundesverkehrsministerium, dem Verkehrsministerium NRW und der Beklagten statt. Gegenstand dieser Gespräche war erneut eine Beteiligung der Beklagten an dem Ausbauprojekt bei bzw. gegen die Zusage anwohner- und umweltfreundlicher Ausbauvarianten und entsprechender Kostenübernahmezusagen des Landes Nordrhein-Westfalen und der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere im Bereich des Tunnels. Im Rahmen dieser Gespräche wurde ein sogenanntes Eckpunktepapier erstellt und die Absicht bekundet, darüber eine „Vereinbarung zum geplanten Neubau der A 52 im Zuge der B 224 auf H1. Stadtgebiet“ (im Folgenden: Vereinbarung) zu unterzeichnen. Nach § 1 der Vereinbarung verpflichten sich Bund und Land gegenüber der Beklagten, im Falle des Neubaus der BAB 52 auf H1. Stadtgebiet die Autobahn im Streckenabschnitt zwischen Q1. - und H. -/M.---straße in einem geschlossenen Tunnel mit einer Länge von mindestens 1.490 m zu führen. Nach § 2 wird hinsichtlich der Errichtungskosten für diesen Tunnel auf das Eckpunktepapier verwiesen. Im Eckpunktepapier heißt es dazu:
7„3. Tunnel im Stadtgebiet
83.1 Es wird ein geschlossener Tunnel von der Q1. - bis zur H. -/M.---straße (ca. 1.490 m) vorgesehen.
93.2 Finanzierung der Autobahnmaßnahmen durch Bund (Baulastträger) und Land (Förderung der städtebaulichen Integration). Finanzielle Beteiligung der Stadt H2. im Rahmen der förderrechtlichen Vorgaben.
103.3 Unterhaltungs-, Betriebs- und Erhaltungskosten des Gesamttunnels werden in Gänze vom Bund getragen. Auf eine Ablösung wird seitens des Bundes in diesem Zusammenhang verzichtet.“
11Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten der Vereinbarung und des Eckpunktepapiers wird auf Bl. 2 bis 7 der Beiakte Heft 3 verwiesen.
12Am 26. November 2015 fand eine Sitzung des Rates der Beklagten statt. In dieser Sitzung fasste der Rat auf Grundlage der Beschlussvorlage Nr. 15/0447 vom 16. November 2015 folgenden Beschluss:
13„Der Rat der Stadt H2. begrüßt das Ergebnis der Gespräche zwischen Bund, Land und Stadt zum geplanten Ausbau der B224 zur A52.
14Bürgermeister S. wird beauftragt, die inhaltlich endabgestimmte „Vereinbarung zum geplanten Neubau der A52 im Zuge der B224 auf H1. Stadtgebiet“ abzuschließen.“
15Mit Schreiben vom 18. Dezember 2015, bei der Beklagten nach ihren Angaben am 23. Dezember 2015 um 14:10 Uhr eingegangen, zeigten die Kläger die Durchführung eines Bürgerbegehrens gegen diesen Beschluss mit der voraussichtlichen, unter dem Vorbehalt redaktioneller Änderungen stehen Frage an: „Soll dieser Beschluss des Rates vom 26.11.2015 aufgehoben werden?“.
16Ebenfalls am 23. Dezember 2015 unterzeichnete der Bürgermeister der Beklagten die Vereinbarung zum geplanten Neubau der BAB 52 und leitete sie an das Verkehrsministerium NRW weiter. Dies teilte der Bürgermeister den Klägern und den Mitgliedern des Rates mit Schreiben vom 4. Januar 2016 mit. In dem an die Kläger gerichteten Schreiben unterrichtete der Bürgermeister diese außerdem über den Zeitpunkt des Fristablaufs für die Einreichung des Bürgerbegehrens am 10. März 2016 und die Kostenschätzung. Letztere lautete:
17„Die Aufhebung des Ratsbeschlusses vom 26. November 2015 zum Thema „Bau der A52 auf H1. Stadtgebiet“ führt für die Stadt H2. weder zu Kosten noch zu Einsparungen.“
18Am 8. Januar 2016 fand ein Beratungsgespräch hinsichtlich des angezeigten Bürgerbegehrens zwischen den Klägern und der Verwaltung statt. Dabei teilte der Leiter des Rechtsamtes der Beklagten den Klägern unter anderem mit, die vom Bürgermeister unterzeichnete Fassung der Vereinbarung sei wortlautidentisch mit der dem Rat der Beklagten zur Beschlussfassung am 26. November 2015 vorgelegten Fassung und die Beklagte gehe davon aus, dass auch „Land und Bund die vorgelegte Fassung unterzeichnen werden bzw. ggf. bereits unterzeichnet haben“. Der Bürgermeister habe „vor Einreichung der Anzeige des Bürgerbegehrens“ unterzeichnet. Nach Unterzeichnung der Vereinbarung durch Stadt, Land und Bund sei der Vertrag zustande gekommen. Auch im Fall der mit dem Bürgerbegehren angestrebten Aufhebung des Ratsbeschlusses vom 26. November 2015 bliebe der unterzeichnete Vertrag im Außenverhältnis wirksam.
19Der Leiter des Rechtsamtes bestätigte den Klägern auf Nachfrage die Kostenschätzung. Die Vereinbarung sichere der Beklagten ausschließlich Rechte zu. Sie enthalte auch keine Wohlverhaltensklausel mit Blick auf Einwendungen der Beklagten im Planfeststellungsverfahren. Pflichten würden ausschließlich für Land und Bund vereinbart. Eine finanzielle Beteiligung der Beklagten an dem Tunnelbau setze ein Planfeststellungsverfahren voraus und einen erst in späteren Jahren zu fassenden Beschluss des Rates der Beklagten über die Beantragung von Städtebaufördermitteln. Die Beklagte sei gegenüber Bund und Land nicht verpflichtet, einen solchen Antrag zu stellen.
20Nach mehrfachem Schriftwechsel im Anschluss an das Beratungsgespräch teilten die Kläger der Beklagten mit Schreiben vom 19. Januar 2016 mit, an dem Bürgerbegehren mit geänderter Fragestellung festzuhalten. Diese laute nunmehr voraussichtlich wie folgt: „Soll der Bürgermeister der Stadt H2. beauftragt werden, die zur A52 getroffene 'Vereinbarung' zwischen Bund, Land und Stadt rückgängig zu machen?".
21Sie baten dazu um erneute Einschätzung der Kostenfolgen und führten aus: Mit dem Bürgerbegehren werde das im Ratsbeschluss beschlossene Regelungsprogramm und dessen Umsetzung angegriffen. Durch die Unterzeichnung und Weiterleitung der Vereinbarung habe sich die Kostensituation dieses Programms, insbesondere hinsichtlich der im Erfolgsfall des Bürgerbegehrens erzielten Ersparnisse, deutlich konkretisiert. Die hierzu in der Ratsvorlage ausgewiesenen, bei baulicher Umsetzung der vereinbarten Maßnahmen durch die Unterzeichnung ausdrücklich zugestandenen Kosten würden sich nach den konkreten Angaben in der Ratsvorlage, der Vereinbarung und der Eckpunkte auf zwei Millionen Euro und nach dem Inhalt der Beratungen in der Ratssitzung am 26. November 2015 auf (mindestens) 2,4 Millionen Euro belaufen. Diese Kosten würden entfallen, wenn der Bürgerentscheid Erfolg habe und umgesetzt werde. Diese Kostenfolge gehöre nach den gesetzlichen Regeln auf das Unterschriftsformular. Entgegen der durch die Beklagte im Beratungsgespräch geäußerten Auffassung sei diese Kostenschätzung nicht erst nach späterer Entscheidung über die Kosten erforderlich. Sie müsse nicht zuletzt auch den Äußerungen der Stadtverwaltung gegenüber der Öffentlichkeit, „z.B. in der Rede des Bürgermeisters beim Neujahrsempfang der Stadt am 15.01.2016: 2 Mio. Euro", entsprechen.
22Am selben Tag teilte die Beklagte den Klägern mit, die Zulässigkeit der geänderten Fragestellung sei noch zu prüfen. Die Kostenschätzung werde geändert und laute für die neue Fragestellung: „Die Rückgängigmachung der zur A52 getroffenen 'Vereinbarung' zwischen Bund, Land und Stadt führt für die Stadt H2. weder zu Kosten, noch zu Einsparungen.“
23In der Folge standen Unterschriftenlisten für das Bürgerbegehren zur geänderten Fragestellung im Internet zum Download bereit. Die eingefügte Kostenschätzung lautete: „Kosten der Rückgängigmachung (nach Mitteilung der Stadtverwaltung): keine.“
24Den Unterschriftenlisten war - soweit hier von Interesse - der nachstehende Text vorangestellt (mit entsprechendem Schriftformat):
25„Bürgerbegehren „Keine A52 auf H1. Stadtgebiet"gemäß § 26 der Gemeindeordnung NRW gegen den folgenden Ratsbeschluss vom 26.11.2015:
26„Der Rat der Stadt H2. begrüßt das Ergebnis der Gespräche zwischen Bund, Land und Stadt zum geplanten Ausbau der B224 zur A52. Bürgermeister S. wird beauftragt, die inhaltlich endabgestimmte Vereinbarung zum geplanten Neubau der A52 im Zuge der B224 auf H1. Stadtgebiet abzuschließen."
27Die Unterzeichner setzen sich dafür ein, dass die H1. Bürger selbst anstelle des Rates der Stadt, der am 26.11.2015 die weitere Zusammenarbeit mit Bund und Land mit einer pauschalen Begrüßung und einer Vereinbarung initiiert hat, über die Mitwirkung der Stadt am Bau der A52 auf H1. Gebiet entscheiden. Sie wenden sich gegen den Beschluss des Rates, der den Ratsbürgerentscheid von 2012 einseitig aufhebt, und in dessen Umsetzung der Bürgermeister die genannte „Vereinbarung" mit Bund und Land bereits unterschrieben hat. Sie wollen deshalb einen Bürgerentscheid mit folgender Fragestellung:
28„Soll der Bürgermeister der Stadt H2. beauftragt werden, die zur A52 mit Bund und Land getroffene Vereinbarung rückgängig zu machen?"
29Begründung: Der Ratsbeschluss missachtet die im Ratsbürgerentscheid von 2012 erklärte Mehrheitsmeinung der H1. Bürger. Für H2. besteht keine Veranlassung, den Ratsbürgerentscheid aufzuheben und den politischen Widerstand gegen die A52 aufzugeben, ohne dass dies die Mehrheit der Bürger ausdrücklich billigt. Die Stadt sollte insbesondere nicht in Aussicht stellen, für den Bau erhebliche Summen aus ihrem ohnehin hoch defizitären Haushalt zu zahlen. Kosten der Rückgängigmachung (nach Mitteilung der Stadtverwaltung): keine.“
30Nach weiterer Korrespondenz zwischen den Beteiligten über die Zulässigkeit der Fragestellung teilte die Beklagte den Klägern mit Schreiben vom 3. März 2016 mit, es bestünden erhebliche rechtliche Zweifel an der Zulässigkeit des Bürgerbegehrens. Die Kostenschätzung der Verwaltung sei nicht im Wortlaut übernommen, sondern verändert und verkürzt wiedergegeben worden. Die Begründung sei unzureichend. Die Kongruenz zwischen Fragestellung und Begründung sei nicht gegeben. Die Entscheidung über die Zulässigkeit habe der Rat zu treffen.
31Die Kläger reichten die Unterschriftenlisten bis zum 10. März 2016 ein. Von den 5.468 Unterschriften wurden durch die Beklagte 4.848 Unterschriften als gültig angesehen.
32Der Rat der Beklagten fasste in seiner Sitzung am 4. Mai 2016 entsprechend der Vorlage Nr. 16/0145 mit 35 Stimmen dafür und drei Enthaltungen den Ratsbeschluss: „Das Bürgerbegehren ist rechtlich unzulässig“. Ausweislich der wesentlichen Erwägungen in der vorerwähnten Beschlussvorlage sei die Vereinbarung durch den Bürgermeister der Beklagten und den Landesverkehrsminister für das in alleiniger Zuständigkeit handelnde Land Nordrhein-Westfalen rechtsverbindlich unterschrieben, die Kostenschätzung der Verwaltung nicht unverändert übernommen worden, die Begründung des Bürgerbegehrens unzureichend und es fehle eine Übereinstimmung von Fragestellung und Begründung. Für die weiteren Einzelheiten der Beschlussvorlage wird auf Bl. 279 bis 292 der Beiakte Heft 1 verwiesen.
33Mit Bescheid vom 13. Mai 2016 gab die Beklagte den Klägern den Ratsbeschluss vom 4. Mai 2016 bekannt. Zur Begründung wiederholte sie in Stichpunkten die Rechtsansichten aus der Beschlussvorlage Nr. 16/0145.
34Am 9. Juni 2016 haben die Kläger Klage erhoben, zu deren Begründung sie geltend gemacht haben, der Rat der Beklagten sei verpflichtet, die Zulässigkeit des Bürgerbegehrens festzustellen. Hinsichtlich der Rechtskonformität der Fragestellung mit Blick auf § 26 Abs. 2 Satz 1, Abs. 6 und 7 GO NRW könne kein durchgreifender Zweifel bestehen. Die Rückgängigmachung der Vereinbarung könne durch den Bürgermeister - ob durch einseitige Rechtsgestaltung oder im Wege einer Aufhebungsvereinbarung - erreicht werden.
35Das Bürgerbegehren sei auch ausreichend begründet worden. Die Hintergründe und Motive zum Ratsbeschluss vom 26. November 2015 seien dargestellt. Der wesentliche Inhalt des Ratsbürgerentscheids vom 25. März 2012 sei durch den Begründungsteil erfasst, die Beklagte solle nicht in Aussicht stellen, erhebliche Summen aus ihrem ohnehin hochdefizitären Haushalt zu zahlen. Dies sei Kern des Ratsbürgerentscheids gewesen. Fehlvorstellungen bei den Bürgern über die Reichweite ihrer Beteiligungsmöglichkeiten würden nicht erzeugt. Die Bürgerinnen und Bürger könnten als Einwender im Planfeststellungsverfahren durchaus Widerstand gegen die Planungen des Ausbaus ausüben.
36Die Angaben zur Kostenschätzung der Verwaltung führten ebenfalls nicht zur Unzulässigkeit des Bürgerbegehrens. Die Kostenschätzung sei nicht geändert, sondern verkürzt wiedergegeben worden. Diese Verkürzung sei mit den Maßstäben des § 26 Abs. 2 Satz 6 GO NRW vereinbar. Der Gesetzgeber habe keine Mitteilung von Ersparnissen vorgesehen.
37Im Übrigen sei nicht auszuschließen, dass der Bürgermeister der Beklagten durch seine Unterschrift am Tag der Anzeige des Bürgerbegehrens den Grundsatz der Organtreue verletzt habe.
38Die Kläger haben beantragt,
39den Rat der Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 13. Mai 2016 zu verpflichten, die Zulässigkeit des Bürgerbegehrens „Keine A 52 auf H1. Stadtgebiet“ festzustellen.
40Die Beklagte hat beantragt,
41die Klage abzuweisen.
42Sie hat zur Begründung vorgetragen, der Bescheid vom 13. Mai 2016 sei rechtmäßig. Das Bürgerbegehren sei unzulässig, weil es die Kostenschätzung der Verwaltung nicht dem Wortlaut nach, sondern verkürzt wiedergebe, die Begründung unzureichend und die notwendige Kongruenz zwischen Fragestellung und Begründung nicht gegeben sei. Zur weiteren Begründung hat sie sich im Wesentlichen auf ein im Rahmen der Überprüfung des Bürgerbegehrens in Auftrag gegebenes Rechtsgutachten bezogen.
43Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit Urteil vom 27. Juni 2018 abgewiesen. Der Rat der Beklagten habe das Bürgerbegehren zu Recht für unzulässig erklärt. Die Kläger hätten gegen § 26 Abs. 2 Satz 6 GO NRW verstoßen, weil die Kostenschätzung der Verwaltung bei der Sammlung der Unterschriften nicht unverändert übernommen worden sei. Die Kostenschätzung sei der Bürgerschaft so zur Kenntnis zu geben, wie die Verwaltung sie abgegeben habe, weil es sich dabei um eine wesentliche Information handele. Die Verantwortung für die Kostenschätzung liege nach der Novellierung der Gemeindeordnung bei der Verwaltung. Dieser Verantwortungsübergang solle die Bürger nach der Vorstellung des Gesetzgebers von der Anforderung eines Kostendeckungsvorschlags entlasten und die Information der Bürger über die Kosten der Maßnahme als wesentliches Entscheidungskriterium sicherstellen. Andere Auffassungen und finanzielle Abschätzungen, die von der Kostenschätzung der Gemeinde abwichen, könnten in die Begründung des Bürgerbegehrens als Gegendarstellung aufgenommen werden. Gemessen daran sei die Kostenschätzung durch Verkürzung inhaltlich verändert worden, weil nicht mitgeteilt worden sei, dass - nach Angabe der Verwaltung - die vom Bürgerbegehren verfolgte Rückgängigmachung der Vereinbarung auch nicht zu Einsparungen führe. Einsparungen, die durch ein Bürgerbegehren oder durch dessen Ablehnung erzielt werden könnten, seien zulässiger und jedenfalls nach ihrer Aufnahme durch die Verwaltung wesentlicher Teil der Kostenabschätzung. Ein enger, lediglich negative Zahlungspositionen erfassender Kostenbegriff werde weder der Selbstverantwortung der Bürgerinnen und Bürger für die geplante Maßnahme noch den Haushaltsgrundsätzen der Wirtschaftlichkeit und Effizienz gerecht. Ob die Beklagte zu Recht davon ausgegangen sei, es fielen keine Einsparungen an, sei unbeachtlich.
44Angesichts der aus der fehlerhaften Übernahme der Kostenschätzung resultierenden Unzulässigkeit des Bürgerbegehrens könnten weitere Umstände, die ggf. zur Unzulässigkeit führten, dahinstehen.
45Mit Beschluss vom 11. Februar 2020 hat der Senat auf den Antrag der Kläger die Berufung zugelassen.
46Zur Begründung ihrer Berufung tragen die Kläger vor: Das Bürgerbegehren sei zulässig. Ein Verstoß gegen § 26 Abs. 2 Satz 6 GO NRW liege nicht vor. Die Kläger hätten die Kostenschätzung der Verwaltung inhaltlich zutreffend wiedergegeben. Der Gesetzgeber verlange nur die Mitteilung der „Kosten“, eine Information über etwaige Einsparungen habe er demgegenüber nicht vorgesehen. Der Begriff der Kosten erfasse in seinem Begriffskern Aufwendungen aus Ressourcen, also negative Zahlungspositionen. Dies entspreche dem Begriffsverständnis der Betriebs- und Volkswirtschaftslehre. Auch das Gemeindehaushaltsrecht folge diesem Kostenbegriff. Es erfasse die Kosten begrifflich als Aufwendungen. Dies müsse zugrunde gelegt werden, wenn es ausweislich der Gesetzesbegründung Ziel der Neuregelung in § 26 Abs. 2 GO NRW gewesen sei, die Information der Bürgerinnen und Bürger über die Kosten der Maßnahme sicherzustellen. Zu den vom Wortlaut der Norm nicht erfassten Ersparnissen als denkbaren kostenmäßigen Auswirkungen äußere sich der Gesetzgeber nach dem Gesetzentwurf der Landesregierung bloß in der Weise, dass die kostenmäßigen Auswirkungen und der Aspekt der haushaltsrechtlich zulässigen Finanzierung einer durch ein Bürgerbegehren verlangten Maßnahme auch ohne einen obligatorischen Kostendeckungsvorschlag bei der Zulässigkeitsprüfung durch den Rat zu berücksichtigen seien. Ein Bürgerbegehren könne von der Gemeinde nicht verlangen, sich haushaltswidrig zu verhalten. Die Frage etwaiger kompensierender Ersparnisse sei also nicht bei den Anforderungen an den Text der Sammlungsliste, sondern im Rahmen der übrigen materiellen Zulässigkeitsmaßstäbe zu prüfen.
47Auch wenn man der Auffassung des Verwaltungsgerichts folgen und die Verpflichtung zur Übernahme der Kostenschätzung auf die Angabe zu den Ersparnissen erstrecken wollte, stehe der Verpflichtung zur Übernahme dieses Bestandteils der Kostenschätzung die fehlende Plausibilität der Angabe entgegen. Die Kläger hätten einen Anspruch auf Mitteilung einer plausiblen und hinsichtlich der tatsächlichen Grundlagen zutreffenden und vollständigen Kostenschätzung. Der Bestandteil der Kostenschätzung der Verwaltung, der sich auf die haushaltsrechtliche Neutralität der Einsparungen beziehe, sei aber nicht plausibel. Mit dem ermächtigendem Teil des Ratsbeschlusses vom 26. November 2015 sei der Bürgermeister beauftragt worden, die inhaltlich endabgestimmte „Vereinbarung zum geplanten Neubau der A 52 im Zuge der B 224 auf H1. Stadtgebiet“ abzuschließen. Nach § 1 des der Beschlussvorlage beigefügten Entwurfs der Vereinbarung werde das Eckpunktepapier vom 11. November 2015 von den Unterzeichnern anerkannt mit der ausdrücklichen Maßgabe, dass sich Bund und Land gegenüber der Stadt verpflichten, im Falle des Neubaus der BAB 52 auf H1. Stadtgebiet die Autobahn im Streckenabschnitt zwischen Q1. - und H. -/M.---straße in einem geschlossenen Tunnel mit einer Länge von mindestens 1.490 m zu führen. Nach Ziffer 3.2 des Eckpunktepapiers erfolge die Finanzierung der Autobahnmaßnahmen durch Bund und Land unter Beteiligung der Stadt H2. im Rahmen der förderrechtlichen Vorgaben. Die beteiligten Gebietskörperschaften hätten folglich für den Fall der Feststellung des Plans den Abruf von Städtebaufördermitteln - und nicht lediglich eine Option hierzu - verbindlich verabredet. Die Zuwendung von Städtebaufördermitteln für ein Infrastrukturvorhaben setze aber die Übernahme eines kommunalen Eigenanteils voraus. Es sei wirklichkeitsfremd anzunehmen, dass das Land NRW im Falle des Vollzugs der Vereinbarung auf die Übernahme eines kommunalen Eigenanteils durch die Beklagte verzichten werde. Daraus folge, dass die mit dem Bürgerbegehren angestrebte Rückgängigmachung der Vereinbarung die Beklagte von der vertraglichen Verpflichtung zur Aufbringung kommunaler Eigenanteile im Zuge der Finanzierung des Vorhabens entbinde. Daher könnten die Vertretungsberechtigten des Bürgerbegehrens auch nicht auf eine Gegendarstellung in der Begründung des Bürgerbegehrens verwiesen werden. Die Darlegung einer abweichenden Auffassung zu den voraussichtlichen Kosten in einer Art Gegendarstellung setze gerade voraus, dass die von der Verwaltung mitgeteilte Kostenschätzung die wesentlichen Punkte vollständig und plausibel wiedergebe.
48Im Übrigen werde der tragende Entscheidungssatz des Verwaltungsgerichts, dass die Vertreter des Bürgerbegehrens die Kostenschätzung der Verwaltung unverändert, gleichsam 1:1 zu übernehmen hätten, durch die konkrete Wiedergabe der Kläger nicht verletzt. Die Schätzung der Kosten sei nicht geändert, sondern zutreffend wiedergegeben worden. Hieraus ergebe sich für den Abstimmungsberechtigten zweifelsfrei die in der Kostenschätzung vermittelte Betrachtung, dass die verlangte Maßnahme per Saldo haushaltsrechtlich neutral sei. Selbst die vollständige wörtliche Wiedergabe der Kostenschätzung der Verwaltung hätte bei verständiger Betrachtung zu keinem anderen Ergebnis als zum Eindruck der haushaltsrechtlichen Neutralität geführt.
49Es lägen auch sonst keine Gründe für eine Unzulässigkeit des Bürgerbegehrens vor. Die Fragestellung, nach der eine öffentlich-rechtliche Vereinbarung rückgängig gemacht werden solle, sei hinreichend bestimmt und könne objektiv herbeigeführt werden. Ob dem Bürgermeister im Zuge der Erledigung des in der Fragestellung enthaltenen Auftrags noch eine einseitige Gestaltungserklärung durch Widerruf oder Kündigung der Vereinbarung möglich oder ob allein die einvernehmliche Aufhebung des Vertrages zwischen den Vertragsunterzeichnern realisierbar sei, könne dahinstehen. Beide Varianten seien mit Recht und Gesetz vereinbar und für die Verwaltung bindend.
50Es bestünden auch keine Zweifel an der Kongruenz zwischen Fragestellung und Begründung. Bei vernünftiger und unbefangener Betrachtung vermittele weder die Überschrift „Keine A 52 auf H1. Stadtgebiet“ noch der Satz „Für H2. besteht keine Veranlassung, den Ratsbürgerentscheid aufzuheben und den politischen Widerstand gegen die A 52 aufzugeben, ohne dass dies die Mehrheit der Bürger ausdrücklich billigt“ den Eindruck, dass das Bürgerbegehren (auch) darauf gerichtet sei, den Ausbau der BAB 52 zu verhindern.
51Die Kläger beantragen,
52das Urteil des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen vom 27. Juni 2018 - 15 K 3716/16 - aufzuheben und den Rat der Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 13. Mai 2016 zu verpflichten, die Zulässigkeit des Bürgerbegehrens „Keine A 52 auf H1. Stadtgebiet“ festzustellen.
53Die Beklagte beantragt,
54die Berufung zurückzuweisen.
55Zur Begründung führt sie aus: Das Verwaltungsgericht habe zutreffend entschieden, dass ein Verstoß gegen § 26 Abs. 2 Satz 6 GO NRW vorliege, weil die Kostenschätzung nicht vollständig und unverändert übernommen worden sei. Die diesbezügliche Abweichung sei offensichtlich. Es handele sich nicht um eine rein sprachliche Verkürzung, sondern um eine inhaltliche Veränderung. Die Aussage, dass die Rückgängigmachung der Vereinbarung nicht zu Einsparungen führe, sei ersatzlos weggefallen.
56Der Begriff der „Kosten“ in § 26 Abs. 2 Satz 5 und 6 GO NRW sei weit zu verstehen. Gemeint seien die finanziellen Auswirkungen der vom Bürgerbegehren begehrten Maßnahme für die finanzielle Situation der Gemeinde und ihren Haushalt. Sinn und Zweck der Regelungen zur Kostenschätzung bestünden darin, die Bürgerinnen und Bürger sachgerecht über Tragweite und Konsequenzen der vorgeschlagenen Entscheidung in finanzieller Hinsicht zu informieren. Entscheidungsrelevant seien neben Auszahlungen und Mittelabflüssen auch Informationen über Einsparungen, die mit einem erfolgreichen Bürgerentscheid verbunden seien. Dies gelte jedenfalls in Fällen wie dem vorliegenden, in denen das Bürgerbegehren damit werbe, dass ein Erfolg zu maßgeblichen Einsparungen für den Gemeindehaushalt führen werde. Ein betriebs- oder volkswirtschaftlicher Kostenbegriff sei für das Verständnis der Gemeindeordnung irrelevant. Auch der Umstand, dass im Haushaltsplan der Gemeinde nur Aufwendungen und Auszahlungen sowie Erträge und Einzahlungen, aber keine Ersparnisse darzustellen seien, sei nicht aussagekräftig. Der Umstand, dass unter „Aufwendungen“ im Haushaltsplan/Ergebnisplanung bzw. den hierauf bezogenen Vorschriften nur tatsächliche Ausgaben, aber keine potentiellen Einsparungen zu verstehen seien, resultiere aus dem Charakter und der Funktion dieser Pläne. Daraus könne indes nichts für die Auslegung des § 26 Abs. 2 GO NRW abgeleitet werden.
57Mit Beschluss vom 14. März 2016 - 15 B 242/16 - habe der erkennende Senat bereits entschieden, dass die Kostenschätzung ggf. auch einen Hinweis auf die Vereinbarung eines Haftungsausschlusses enthalten müsse. Dies verdeutliche, dass die Informationen der Kostenschätzung über die von den Klägern für ausschließlich zulässig erachtete Benennung von Kosten im Sinne von Ausgaben/Mittelabflüssen hinausgehe.
58Der Gesetzgeber weise die Entscheidungsbefugnis über die Kostenschätzung und ihren Inhalt ausdrücklich und ausschließlich der Verwaltung und nicht den Initiatorinnen und Initiatoren des Bürgerbegehrens zu. Mit dieser - im Verhältnis zum früheren Erfordernis eines Kostendeckungsvorschlags erfolgten - Verschiebung der Verantwortung korrespondiere die Verpflichtung der Bürgerinnen und Bürger, die Kostenschätzung unverändert zu übernehmen. Selbst wenn die Verwaltung in die Kostenschätzung Angaben aufnehme, die überflüssig oder sogar falsch seien, seien die Initiatoren des Bürgerbegehrens nicht berechtigt, eigenmächtig eine Korrektur vorzunehmen. Sie könnten lediglich eine abweichende Auffassung in der Begründung des Bürgerbegehrens darstellen und außerdem im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens um Rechtsschutz ersuchen und - etwa im Wege von § 123 VwGO - beantragen, der betreffenden Gemeinde aufzugeben, eine neue Kostenschätzung mitzuteilen.
59Im Übrigen sei die von den Klägern nicht übernommene Passage der Kostenschätzung auch nicht fehlerhaft bzw. unvollständig oder unplausibel. Die Annahme der Kläger, bei einem Erfolg des Bürgerentscheids und Rückgängigmachung der Vereinbarung mit Bund und Land sei die Beklagte von der vertraglichen Verpflichtung zur Aufbringung kommunaler Eigenanteile im Zuge der Finanzierung des Tunnelvorhabens entbunden, sei unzutreffend. Eine derartige Verpflichtung ergebe sich aus der getroffenen Vereinbarung nicht. Die Vereinbarung und das dort in Bezug genommene Eckpunktepapier begründeten für die Beklagte lediglich die Option, eine Kostenbeteiligung zu beschließen und damit die Errichtung des Tunnels zu ermöglichen. Hierzu bedürfe es in jedem Fall einer weiteren Beschlussfassung; eine Pflicht zur Kostenbeteiligung bestehe keinesfalls allein aufgrund der Unterzeichnung der Vereinbarung. Zwar sei eine finanzielle Beteiligung der Stadt im Rahmen der förderrechtlichen Vorgaben vorgesehen. Es liege aber in der Verantwortung der Beklagten, ob sie beschließe, einen Förderantrag zu stellen und damit die vorgesehene Finanzierung durch das Land auszulösen. Dies entspreche dem Vertragsverständnis aller Beteiligten.
60Die eigenmächtig gekürzte Variante führe zudem in Verbindung mit der Begründung des Bürgerbegehrens zu dem falschen Eindruck, dass ein erfolgreicher Bürgerentscheid eine Einsparung erheblicher Mittel für den städtischen Haushalt zur Folge hätte.
61Das Bürgerbegehren sei auch deshalb unzulässig, weil die Fragestellung nicht hinreichend bestimmt sei. So bleibe unklar, in welcher Form die Rückgängigmachung erreicht werden solle, etwa durch Kündigung, Rücktritt oder einvernehmliche Vertragsaufhebung, und ob eine solche Rückgängigmachung überhaupt möglich sei. Da der Bürgerentscheid an die Stelle eines Ratsbeschlusses treten solle und aus sich heraus vollziehbar sein müsse, sei zweifelhaft, ob es ausreiche, wenn lediglich das möglicherweise zu erreichende Ergebnis hinreichend benannt sei, nicht jedoch die zu dessen Erreichung vorzunehmenden Maßnahmen bezeichnet würden.
62Schließlich scheitere die Zulässigkeit des Bürgerbegehrens auch daran, dass es an der Kongruenz von Fragestellung und Begründung fehle. Die Fragestellung beziehe sich darauf, ob der Bürgermeister beauftragt werden solle, die mit Bund und Land getroffene Vereinbarung rückgängig zu machen. Demgegenüber nehme die Begründung des Bürgerbegehrens auf die Beteiligung der Bürger und Bürgerinnen am Entscheidungsprozess über die BAB 52 und auf die Aufrechterhaltung des Widerstands gegen die BAB 52 Bezug und verlange ein Festhalten an der Entscheidung aus dem Ratsbürgerentscheid von 2012. Beides seien Aspekte, die mit der Vereinbarung bzw. dessen Rückgängigmachung nichts zu tun hätten. Den Unterzeichnenden werde durch die Begründung aber die Vorstellung vermittelt, mit der Unterschrift auch zu diesen Themenbereichen eine Sachentscheidung herbeizuführen. Schon die Überschrift „Keine A 52 auf H1. Stadtgebiet“ vermittle den Eindruck, es gehe darum, den Bau der Autobahn auf H1. Stadtgebiet zu verhindern. Es werde in der Begründung weiter darauf abgestellt, dass die Bürgerinnen und Bürger anstelle des Rates über die Mitwirkung der Stadt am Bau der BAB 52 entscheiden wollten. Während demnach die Fragestellung ausschließlich auf die Rückgängigmachung der Vereinbarung abziele und damit allenfalls ein Zustand herbeigeführt werden könne, wie er vor Abschluss der Vereinbarung bestanden habe, gehe die Begründung weit darüber hinaus. Ein Widerstand oder gar eine Verhinderung der BAB 52 auf H1. Stadtgebiet könne in keinem Fall Folge eines erfolgreichen Bürgerbegehrens sein. Dies werde aber suggeriert. Bei objektiven, mit dem Bürgerbegehren nicht näher vertrauten, billig und gerecht denkenden Gemeindebürgern und-bürgerinnen würden erhebliche Fehlvorstellungen über die Wirkung ihrer potentiellen Unterschrift erweckt.
63Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
64E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
65Die Berufung der Kläger hat keinen Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen; sie ist zwar zulässig (dazu 1.), aber unbegründet (dazu 2.).
661. Die Klage ist als Verpflichtungsklage zulässig. Der Senat nimmt in ständiger Rechtsprechung an, dass die Feststellung über die (Un-)Zulässigkeit des Bürgerbegehrens nach § 26 Abs. 6 Satz 1 GO NRW ein Verwaltungsakt ist.
67Vgl. dazu grundlegend OVG NRW, Urteil vom 5. Februar 2002 - 15 A 1965/99 -, juris Rn. 8 m. w. N.; vgl. ferner OVG NRW, Beschluss vom 20. August 2020 - 15 B 760/20 -, juris Rn. 12 ff.
68Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur hessischen Gemeindeordnung,
69vgl. BVerfG, Beschluss vom 22. Februar 2019- 2 BvR 2203/18 -, juris,
70gibt keinen Anlass, diese Rechtsprechung in Frage zu stellen. Unbeschadet der Frage, ob das Bundesverfassungsgericht in dem genannten Beschluss ausdrücklich (nur) davon ausgeht, dass ein bereits zugelassenes Bürgerbegehren Teil des institutionellen Gefüges der Gemeinde ist und seine Vertrauensleute bzw. Vertretungsberechtigten insoweit eine organschaftliche Funktion wahrnehmen,
71vgl. in diesem Zusammenhang VG Düsseldorf, Urteil vom 14. August 2020 - 1 K 3411/19 -, juris Rn. 40 ff.,
72überzeugt die dort getroffene Einordnung mit Blick auf das nordrhein-westfälische Kommunalrecht auch in der Sache nicht. Der Gesetzeswortlaut bietet für eine solche Sichtweise weder vor noch nach der Zulässigkeitsentscheidung des Rates einen Anhalt. In § 26 Abs. 6 Satz 7 GO NRW heißt es: „Ist die Zulässigkeit des Bürgerbegehrens nach Satz 1 oder Satz 2 abschließend festgestellt, darf bis zur Feststellung des Ergebnisses des Bürgerentscheids eine dem Begehren entgegenstehende Entscheidung der Gemeindeorgane nicht mehr getroffen oder mit dem Vollzug einer derartigen Entscheidung nicht mehr begonnen werden, [...].“ Dem kann entnommen werden, dass weder das Bürgerbegehren als solches, noch seine Unterzeichnenden in Gesamtheit oder die Vertreter und Vertreterinnen des Bürgerbegehrens Organe der Gemeinde sind, sondern diesen vielmehr die Gemeindeorgane gegenüberstehen.
73Vgl. VG Düsseldorf, Urteil vom 14. August 2020- 1 K 3411/19 -, juris Rn. 48; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 13. November 2019 - 15 K 2349/19 -, juris Rn. 107; kritisch zur Einordnung des Bürgerbegehrens als „Quasi-Organ“ auch Dietlein/Peters, in: Dietlein/Heusch, BeckOK Kommunalrecht Nordrhein-Westfalen, 12. Edition, Stand: 1. September 2020, § 26 GO NRW Rn. 65b; Heusch/Dickten, NVwZ 2019, 1238, 1244; Muckel, JA 2019, 633, 635.
74Dementsprechend geht der nordrhein-westfälische Gesetzgeber davon aus, dass es sich bei der Zulässigkeitsentscheidung des Rates nach § 26 Abs. 6 Satz 1 GO NRW um einen Verwaltungsakt handelt und die Entscheidung im Außenverhältnis ergeht. Dies ergab sich in der bis zum 20. Dezember 2011 geltenden Fassung des § 26 Abs. 6 Satz 2 GO NRW daraus, dass die Vertreter und Vertreterinnen des Bürgerbegehrens gegen die Entscheidung des Rates „Widerspruch“ erheben konnten. Auf die weitgehende Abschaffung des Widerspruchsverfahrens in Nordrhein-Westfalen hat der Landesgesetzgeber dadurch reagiert, dass der „Widerspruch“ durch die allgemeinere Formulierung des „Rechtsbehelfs“ ersetzt wurde (vgl. Art. 1 Nr. 4 des Gesetzes zur Stärkung der Bürgerbeteiligung vom 13. Dezember 2011, GV. NRW S. 685). In der Gesetzesbegründung heißt es dazu, dass nach § 110 JustG für Verwaltungsakte ein Widerspruchsverfahren entbehrlich sei. Gegen die Entscheidung des Rates könne daher abweichend von der Regelung in der Gemeindeordnung unmittelbar Klage erhoben werden. Soweit es weiter heißt, der Wortlaut stelle nunmehr klar, dass „die Vertreter des Bürgerbegehrens auf den nach geltendem Recht jeweils vorgegebenen Rechtsbehelf verwiesen“ seien, bezieht sich dies daher ausschließlich auf die Frage der Statthaftigkeit eines Widerspruchsverfahrens, nicht aber die statthafte Klageart.
75Vgl. LT-Drs. 15/2151, S. 16.
76Darüber hinaus hat der Landesgesetzgeber seine Annahme, bei der Zulässigkeitsentscheidung handele es sich um einen Verwaltungsakt, auch anlässlich der letzten Gesetzesänderung nochmals zum Ausdruck gebracht. In der Begründung des Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Gesetzes zur Stärkung des Kreistags und zur Änderung kommunalrechtlicher, haushaltsrechtlicher und steuerrechtlicher Vorschriften heißt es, eine negative Entscheidung des Rates über die Zulässigkeit des Bürgerbegehrens im sog. Vorprüfungsverfahren (nach § 26 Abs. 2 Satz 9 GO NRW) stelle einen belastenden Verwaltungsakt dar.
77Siehe LT-Drs. 17/2994, S. 83.
78Dann muss dies aber erst recht für die Zulässigkeitsentscheidung nach § 26 Abs. 6 Satz 1 GO NRW gelten.
792. Der Bescheid der Beklagten vom 13. Mai 2016 und der zugrunde liegende Beschluss des Rates vom 4. Mai 2016 sind rechtmäßig und verletzen die Kläger nicht in ihren Rechten. Die Kläger haben keinen Anspruch auf die Verpflichtung der Beklagten, das Bürgerbegehren „Keine A 52 auf H1. Stadtgebiet“ für zulässig zu erklären (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
80Der Zulässigkeit des Bürgerbegehrens steht zwar nicht entgegen, dass die Kostenschätzung der Verwaltung bei der Sammlung der Unterschriften nicht oder nur unzureichend angegeben worden ist [dazu a)]. Allerdings folgt die Unzulässigkeit des Bürgerbegehrens daraus, dass seine Begründung defizitär ist [dazu b)] und es an der notwendigen Deckungsgleichheit zwischen Fragestellung und Begründung des Bürgerbegehrens fehlt [dazu c)]. Angesichts dessen kann offen bleiben, ob dem Bürgerbegehren außerdem der Ausschlusstatbestand des § 26 Abs. 5 Satz1 Nr. 4 GO NRW entgegensteht [dazu d)].
81a) Bürgerinnen und Bürger, die beabsichtigen, ein Bürgerbegehren durchzuführen, teilen dies nach § 26 Abs. 2 Satz 3 GO NRW der Verwaltung schriftlich mit; die Verwaltung übermittelt den Vertretungsberechtigten eine Einschätzung der mit der Durchführung der verlangten Maßnahme verbundenen Kosten (Kostenschätzung, § 26 Abs. 2 Satz 5 GO). Die Vertretungsberechtigten des Bürgerbegehrens haben die Pflicht, die Kostenschätzung der Verwaltung zu übernehmen und der Bürgerschaft gemäß § 26 Abs. 2 Satz 6 GO NRW bei der Sammlung der Unterschriften nach § 26 Abs. 4 GO NRW so zur Kenntnis zu geben, wie die Verwaltung sie abgegeben hat. Teilen sie die Einschätzung der Verwaltung zu den Kosten nicht, haben die Vertretungsberechtigten die Möglichkeit, in der Begründung des Bürgerbegehrens eine abweichende Auffassung darzustellen. Darüber hinaus haben sie ein rechtlich geschütztes Interesse daran, dass die von der Verwaltung mitgeteilte Kostenschätzung die wesentlichen Punkte vollständig wiedergibt, was auch - etwa im Wege des § 123 VwGO - gerichtlich überprüfbar ist.
82Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 14. März 2016- 15 B 242/16 -, juris Rn. 6 ff. m. w. N.
83Wird die Kostenschätzung der Verwaltung demgegenüber bei der Sammlung der Unterschriften nicht oder nicht in unveränderter Form angegeben, ist das Bürgerbegehren unzulässig, und zwar unabhängig davon, ob die abgegebene Kostenschätzung rechtmäßig, d. h. insbesondere plausibel ist.
84Vgl. zum Kriterium der Plausibilität OVG NRW, Beschluss vom 14. März 2016 - 15 B 242/16 -, juris Rn. 16.
85Dies folgt daraus, dass es sich bei der Kostenschätzung um eine Prognoseentscheidung handelt, in Bezug auf die der Verwaltung ein Beurteilungsspielraum zukommt.
86Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 14. März 2016- 15 B 242/16 -, juris Rn. 16; Pottmeyer/Lenz, Die Neuregelung der Kostenschätzung beim Bürgerbegehren in Nordrhein-Westfalen, in: Feld/Huber/ Jung/Lauth/Wittreck, Jahrbuch für direkte Demokratie 2013, 263, 274; Kleerbaum/Palmen, GO NRW, 3. Aufl. 2018, § 26, Anm. III.7.d).
87Damit ist zugleich ausgeschlossen, dass die Initiatoren und Initiatorinnen eines Bürgerbegehrens eine - wenn auch rechtswidrige - Kostenschätzung der Verwaltung durch ihre eigene - wenn auch Rechtmäßigkeitsanforderungen entsprechende - Kostenschätzung ersetzen. Ihnen bleiben insofern allein die oben aufgezeigten Varianten der Gegendarstellung in der Begründung oder der Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ziel, die Gemeinde zur Abgabe einer korrigierten Kostenschätzung zu verpflichten.
88Ungeachtet dessen ist Voraussetzung für die Zulässigkeit des Bürgerbegehrens nur, dass die Schätzung der Verwaltung der mit der begehrten Maßnahme verbundenen Kosten bei der Sammlung der Unterschriften angegeben wird. Die Einschätzung, ob und inwieweit mit der begehrten Maßnahme Einsparungen erzielt werden können, gehört demgegenüber jedenfalls dann nicht zur Kostenschätzung nach § 26 Abs. 2 Satz 5 GO NRW, wenn die Maßnahme - wie hier - unstreitig keine Kosten, d. h. keine Ausgaben oder andere haushaltsrelevante Aufwendungen verursacht.
89Vgl. auch Kleerbaum/Palmen, GO NRW, 3. Aufl. 2018, § 26, Anm. III.7.c) am Ende.
90Mit der Maßnahme verbundene Einsparungen sind für die Kostenschätzung nur relevant, wenn sie einer ebenfalls mit der Maßnahme verbundenen Vermögensminderung gegenüberstehen.
91Dieses Verständnis des Kostenbegriffs folgt aus Sinn und Zweck sowie der Historie der Vorschrift. Bürgerinnen und Bürgern sollen über die finanziellen Auswirkungen des Bürgerbegehrens informiert werden, um eine tragfähige Entscheidungsgrundlage zu schaffen.
92Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 14. März 2016- 15 B 242/16 -, juris Rn. 10; vgl. ferner die Begründung der Landesregierung für ein Gesetz zur Stärkung der Bürgerbeteiligung, LT-Drs. 15/2151, S. 14.
93Die Information über die finanziellen Auswirkungen hat der Gesetzgeber dabei nur insoweit für erforderlich gehalten, wie mit der vom Bürgerbegehren gewünschten Maßnahme überhaupt Ausgaben verbunden sind. Insbesondere die Gesetzesgeschichte zeigt, dass der Gesetzgeber die Information der Bürgerinnen und Bürger über die Höhe von ausschließlichen Einsparungen, die durch ein Bürgerbegehren zu erzielen sind, nicht als erforderlich ansieht.
94Das Erfordernis der Angabe der Kostenschätzung der Verwaltung bei Sammlung der Unterschriften gilt seit dem 21. Dezember 2011. Zuvor musste das Bürgerbegehren einen von den Initiatoren und Initiatorinnen selbst zu erarbeitenden ausreichenden Vorschlag für die Deckung der Kosten der verlangten Maßnahme enthalten. Mit diesem Kostendeckungsvorschlag sollte - ebenso wie mit der aktuellen Kostenschätzung - sichergestellt werden, dass die Bürger und Bürgerinnen über Tragweite und Konsequenzen der vorgeschlagenen Entscheidung in finanzieller Hinsicht unterrichtet werden.
95Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 21. Januar 2008 - 15 A 2697/07 -, juris Rn. 8, und Urteil vom 28. Januar 2003 - 15A 203/02 -, juris Rn. 39.
96Ausgehend davon nahm der Senat zur alten Rechtslage an, dass ein ausreichender Kostendeckungsvorschlag neben einer überschlägigen, nachvollziehbaren Kostenschätzung auch einen konkreten, nach den gesetzlichen Bestimmungen durchführbaren Vorschlag enthalten musste, wie die Kosten gedeckt werden können.
97Vgl. OVG NRW, Urteil vom 28. Januar 2003- 15 A 203/02 -, juris Rn. 41, und Beschluss vom 21. Januar 2008 - 15 A 2697/07 -, juris Rn. 10.
98Dies verdeutlicht, dass eine Kostenschätzung nur dann erforderlich war, wenn sich die Frage des Bürgerbegehrens auf eine kostenauslösende Maßnahme bezog, also mit ihr Aufwendungen aus Ressourcen und sonstige Einbußen (etwa durch das Unterlassen kostenmindernder Maßnahmen oder der Verzicht auf vermögensmehrende Maßnahmen) im Sinne einer Verminderung des Vermögens verbunden waren,
99vgl. OVG NRW, Beschluss vom 19. März 2004- 15 B 522/04 -, juris Rn. 16 ff.
100Die mit dem Kostendeckungsvorschlag verfolgte Zielsetzung - die Bürger und Bürgerinnen über Tragweite und Konsequenzen der vorgeschlagenen Entscheidung in finanzieller Hinsicht zu unterrichten - bezog sich demnach nur auf vermögensmindernde Maßnahmen. Ein die Verantwortung für die Gemeinde ernst nehmendes Bürgerbegehren sollte im Interesse der Schonung des Gemeindevermögens keine Maßnahmen ohne Rücksicht auf die Vermögensfolgen beschließen.
101Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 19. März 2004- 15 B 522/04 -, juris Rn. 22.
102Der von den Initiatoren und Initiatorinnen des Bürgerbegehrens zu erbringende Kostendeckungsvorschlag wurde mit Inkrafttreten des Gesetzes zur Stärkung der Bürgerbeteiligung vom 13. Dezember 2011 durch die von der Verwaltung vorzunehmende (bloße) Kostenschätzung ersetzt. Ausweislich der Gesetzesbegründung hatte sich das gesetzliche Erfordernis, einen Vorschlag zur Deckung der Kosten der verlangten Maßnahme unterbreiten zu müssen, in der Praxis als wesentliche Ursache für die Unzulässigkeit zahlreicher Bürgerbegehren erwiesen. Dennoch sei die Frage der Kostenrelevanz einer mit einem Bürgerbegehren verfolgten Maßnahme von großer Bedeutung. Zur Stärkung der bürgerschaftlichen Mitwirkung sei deshalb nunmehr vorgesehen, dass die Kommunalverwaltung eine Schätzung der Kosten der verlangten Maßnahme vornehme.
103Siehe LT-Drs. 15/2151, S. 13.
104Der mit der Gesetzesänderung verfolgte Zweck der Entlastung der Initiatoren und Initiatorinnen des Bürgerbegehrens bei gleichzeitiger Beibehaltung der Information der Bürgerinnen und Bürger über die mit der verlangten Maßnahme verbundenen Kosten verdeutlicht, dass der Begriff der „Kostenschätzung“ nach § 26 Abs. 2 Satz 5 und 6 GO NRW gleichbedeutend mit der im Rahmen des Kostendeckungsvorschlags verlangten Kostenschätzung ist. Es bestehen demgegenüber keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass entgegen der früheren Rechtslage nunmehr unter „Kosten“ sämtliche finanziellen Auswirkungen zu verstehen sein sollten, auch wenn es sich ausschließlich um Einsparungen bzw. Vermögensmehrungen handelt.
105Vgl. dazu auch Kleerbaum/Palmen, GO NRW, 3. Aufl. 2018, § 26, Anm. III.7.c).
106Gemessen daran war es im Hinblick auf § 26 Abs. 2 Satz 6 GO NRW nicht zu beanstanden, dass bei der Sammlung der Unterschriften für das Bürgerbegehren „Keine A 52 auf H1. Stadtgebiet“ als Kostenschätzung der Verwaltung angegeben war „Kosten der Rückgängigmachung (nach Mitteilung der Stadtverwaltung): keine“, obwohl die wörtliche Mitteilung der Stadtverwaltung gelautet hatte „Die Rückgängigmachung der zur A52 getroffenen ‚Vereinbarung‘ zwischen Bund, Land und Stadt führt für die Stadt H2. weder zu Kosten, noch zu Einsparungen.“ Die Einschätzung der Verwaltung, dass mit der Maßnahme „keine Kosten“ einhergehen, ist inhalts-, wenn auch nicht wortgleich, wiedergegeben worden. Die weitergehende Einschätzung, dass mit der Maßnahme auch keine Einsparungen erzielt werden, ist nach dem Gesagten nicht Bestandteil der gesetzlich vorgesehenen Kostenschätzung.
107Die grundsätzlich bestehende Pflicht der Vertreterinnen und Vertreter, die Kostenschätzung der Verwaltung so zu übernehmen, wie diese sie abgegeben hat, führt vorliegend ebenfalls ausnahmsweise nicht zu einem Verstoß gegen § 26 Abs. 2 Satz 6 GO NRW. Denn unabhängig davon, inwieweit § 26 Abs. 2 Satz 6 GO NRW eine Pflicht zur wortgetreuen Übernahme begründet, kann sich diese Pflicht jedenfalls nur auf Inhalte beziehen, die mit der Kostenfrage im Zusammenhang stehen. Bei ausschließlichen Einsparungen - wie hier - ist dies nicht der Fall; die Einschätzung der Ersparnisse lässt sich ohne weiteres von der Schätzung der Kosten trennen, ohne dass dies Einfluss auf den verbleibenden Aussagegehalt hat. Ferner besteht dann, wenn unstreitig keine (d. h. auch keine durch dieselbe Maßnahme kompensierten) Ausgaben durch das Bürgerbegehren ausgelöst werden, auch kein Konflikt mit dem bestehenden Beurteilungsspielraum der Verwaltung.
108b) Das Bürgerbegehren ist aber deshalb unzulässig, weil seine Begründung unzureichend ist.
109Gemäß § 26 Abs. 2 Satz 1 GO NRW zählt eine Begründung zum zwingenden Inhalt eines Bürgerbegehrens. Die Begründung dient dazu, die Unterzeichnenden über den Sachverhalt und die Argumente der Initiatoren und Initiatorinnen aufzuklären. Diese Funktion erfüllt die Begründung nur, wenn die dargestellten Tatsachen, soweit sie für die Entscheidung wesentlich sind, zutreffen. Dies gilt ungeachtet zulässiger Überzeichnungen und Unrichtigkeiten im Detail. Die Grenzen sind jedoch überschritten, wenn Tatsachen unrichtig wiedergegeben werden, die für die Begründung tragend sind. Hierbei kommt es nicht darauf an, ob dem eine Täuschungsabsicht der Initiatoren und Initiatorinnen des Bürgerbegehrens zu Grunde lag. Denn maßgebend für eine inhaltliche Kontrolle der Begründung ist allein das Ziel, Verfälschungen des Bürgerwillens vorzubeugen.
110Vgl. OVG NRW, Urteil vom 23. April 2002 - 15 A 5594/00 -, juris Rn. 34 ff. m. w. N.
111Entsprechendes gilt daher auch dann, wenn in der Begründung des Bürgerbegehrens für die Entscheidung wesentliche Tatsachen unerwähnt bleiben. Das Gebot der richtigen Tatsachendarstellung wird insoweit ergänzt durch das Gebot der vollständigen Darstellung der wesentlichen Entscheidungsgrundlagen.
112Vgl. VG Köln, Urteil vom 25. Mai 2011 - 4 K 6904/10 -, juris Rn. 28; vgl. ferner Bay. VGH, Beschluss vom 25. Juni 2012 - 4 CE 12.1224 -, juris Rn. 31; Hess. VGH, Beschluss vom 21. Januar 2020 - 8 B 2370/19 -, juris Rn. 41; vgl. ferner dazu, dass das Gebot der Plausibilität der Kostenschätzung der Verwaltung, das ebenfalls darauf zielt, den Informationswert der Schätzung für die Bürgerschaft - und damit letztlich eine unverfälschte Entscheidungsgrundlage - zu erhalten, die Vollständigkeit der Beurteilungsgrundlagen umfasst, OVG NRW, Beschluss vom 14. März 2016 - 15 B 242/16 -, juris Rn. 14 ff., insbes. Rn. 16.
113Gemessen daran genügt die Begründung des streitgegenständlichen Bürgerbegehrens nicht den Anforderungen des § 26 Abs. 2 Satz 1 GO NRW, da sie in wesentlichen Punkten unvollständig ist. Zunächst ist zu berücksichtigen, dass die Fragestellung des Bürgerbegehrens nicht aus sich heraus verständlich ist. Sie nimmt Bezug auf die vom Bürgermeister der Beklagten mit Bund und Land „zur A 52“ getroffene Vereinbarung. Für das Verständnis der zur Abstimmung gestellten Frage ist es daher unabdingbar, den Inhalt der in Bezug genommenen Vereinbarung zumindest in groben Zügen darzustellen. Daran fehlt es. Der Begründung des Bürgerbegehrens lässt sich lediglich entnehmen, dass es sich um eine Vereinbarung zum geplanten Neubau der BAB 52 im Zuge der B 224 auf H1. Stadtgebiet handele, dass die Beteiligten der Vereinbarung insoweit zusammenarbeiteten und dass die Beklagte in Aussicht gestellt habe, für den Bau erhebliche Summen aus ihrem ohnehin hochdefizitären Haushalt zu zahlen. Damit fehlt es an der Wiedergabe eines wesentlichen Teils des Vereinbarungsinhalts, nämlich der Art des beabsichtigten Ausbaus. Insbesondere wären als wesentliche Vereinbarungsinhalte die Verpflichtung von Bund und Land gegenüber der Beklagten zum Ausbau in Form eines geschlossenen Tunnels zwischen Q1. - und H. -/M.---straße (§ 1 der Vereinbarung) sowie die Verpflichtung des Bundes zur besonderen landschaftlichen Gestaltung im Übergang zum Schlosspark (Aufschüttung von Erde und Ergänzung durch Gabionen als Lärm- und Sichtschutz auf Kosten des Bundes, § 5 der Vereinbarung) zu nennen gewesen. Ohne Kenntnis dieser Zusagen von Bund und Land gegenüber der Stadt war eine informierte Entscheidung über die Frage des Bürgerbegehrens nicht möglich. Insbesondere bestand die Gefahr, dass die Begründung bei den Unterzeichnenden den Eindruck erweckt, die Vereinbarung erschöpfe sich in der bloßen Unterstützung und Inaussichtstellung einer finanziellen Beteiligung am Ausbau der B 224 zur BAB 52 durch die Beklagte ungeachtet der konkreten Ausbauvariante. Schon hierdurch bestand die Gefahr der Verfälschung des Bürgerwillens. Es kann deshalb dahinstehen, ob es vorliegend außerdem geboten gewesen wäre, auch die Hintergründe und wesentlichen Motive der Beklagten für den Abschluss der Vereinbarung darzustellen.
114c) Das Bürgerbegehren ist ferner deshalb unzulässig, weil es an der Kongruenz zwischen Fragestellung und Begründung fehlt. Diese nach § 26 Abs. 2 Satz 1 GO NRW erforderlichen Elemente eines Bürgerbegehrens stehen in einem inneren Zusammenhang: Die Begründung soll der Sache nach über die zu entscheidende Frage aufklären. Daraus ergibt sich, dass die zur Entscheidung zu bringende Frage und die Begründung thematisch deckungsgleich sein, sich also auf denselben Gegenstand beziehen müssen. Bezieht sich die Begründung hingegen nicht nur auf den Gegenstand der zur Entscheidung zu bringenden Frage, wird für den Bürger unklar, worüber er abstimmen soll sowie ggf. worauf sich die von der Verwaltung abgegebene Kostenschätzung bezieht.
115Vgl. (noch zur alten Rechtslage mit dem Erfordernis eines Kostendeckungsvorschlags) OVG NRW, Beschlüsse vom 8. November 2011 - 15 A 1668/11 -, juris Rn. 17, vom 24. Februar 2010- 15 B 1680/09 -, juris Rn. 5, und vom 1. April 2009 - 15 B 429/09 -, juris Rn. 16.
116So liegt es hier. Die Begründung des Bürgerbegehrens hat nicht allein die in der zu entscheidenden Fragestellung konkretisierte Vereinbarung der Stadt mit Land und Bund zum Ausbau der B 224 (bzw. deren Rückabwicklung) zum Gegenstand. Sie bezieht sich vielmehr darüber hinausgehend auf die Beteiligung der Stadt am Ausbau der B 224 zur BAB 52 insgesamt, wenn es in der - zumal im Schriftbild hervorgehobenen - Überschrift „Keine A 52 auf H1. Stadtgebiet“ und weiter heißt, die H1. Bürger sollten selbst, anstelle des Rates über die Mitwirkung der Stadt am Ausbau entscheiden. Dies erweckt den Eindruck, als solle durch den Bürgerentscheid die Kompetenz zur Entscheidung, ob und wie sich die Stadt an den Ausbauplänen von Bund und Land beteiligt, grundsätzlich vom Rat auf die Bürgerschaft übertragen und im Anschluss eine solche Beteiligung der Ausbau insgesamt verhindert werden. Diese Folgen hätte ein erfolgreicher Bürgerentscheid indes nicht. Ein solcher würde (aus Sicht der Kläger) bestenfalls bewirken, dass die Vereinbarung der Beklagten mit Bund und Land über den Ausbau einer Teilstrecke auf H1. Stadtgebiet in Form eines Volltunnels und die dafür notwendige Finanzierung rückabgewickelt würde und damit ihre Gültigkeit verlöre. Die Kompetenz zu Entscheidungen über ein weiteres Vorgehen der Stadt in Bezug auf den Straßenausbau bliebe davon unberührt und läge weiter nach den allgemeinen gesetzlichen Vorgaben beim Rat bzw. dem Bürgermeister.
117Der aufgezeigte missverständliche Eindruck wird noch dadurch verstärkt, dass der wesentliche Inhalt und der Hintergrund der Vereinbarung zwischen Beklagter, Land und Bund, deren Rückgängigmachung das Bürgerbegehren verfolgt, in der Begründung - wie bereits oben ausgeführt - nicht wiedergegeben werden. Es wird insoweit lediglich deutlich, dass die Vereinbarung den Ausbau der B 224 zur BAB 52 betrifft, die Beklagte an diesem Ausbau in irgendeiner Form mitwirke und in Aussicht stelle, für den Bau erhebliche Summen aus ihrem „ohnehin hoch defizitären Haushalt“ zu zahlen. Auch der Inhalt des in der Begründung in Bezug genommenen „Ratsbürgerentscheid[s] von 2012“ bleibt unklar. In der Gesamtbilanz entsteht damit der Eindruck, bei einem Erfolg des Bürgerbegehrens liege die Entscheidung über den Ausbau der B 224 - oder jedenfalls die Beteiligung der Beklagten hieran - in der Hand der Bürgerschaft.
118d) Ob das Bürgerbegehren ferner deshalb unzulässig ist, weil ihm der Ausschlussgrund des § 26 Abs. 5 Satz 1 Nr. 4 GO NRW entgegensteht, bedarf vorliegend keiner Entscheidung. Nach diesem Ausschlussgrund ist ein Bürgerbegehren unzulässig über Angelegenheiten, die im Rahmen (u. a.) eines Planfeststellungsverfahrens zu entscheiden sind. Der Begriff „Angelegenheiten“ ist dabei nicht einengend dahin zu verstehen, dass diese nur den jeweiligen Entscheidungsinhalt des Planfeststellungsbeschlusses umfassen, also etwa die Feststellung des Plans oder den Erlass von Auflagen. Vielmehr ist der Begriff „Angelegenheiten“ weit zu verstehen und zielt der Ausschlusstatbestand in einem umfassenden Sinne auf Sachentscheidungen, die auf ein planungs- oder zulassungsbedürftiges Vorhaben gerichtet sind. Dass es - im Gegensatz zu § 26 Abs. 5 Satz 1 Nr. 5 GO NRW, der konkrete bauplanungsrechtliche Entscheidungen aufzählt - nicht um Entscheidungen geht, die in den dort genannten Verfahren ergehen (Planfeststellungsverfahren, förmliche Verwaltungsverfahren mit Öffentlichkeitsbeteiligung, näher bezeichnete Zulassungsverfahren), folgt daraus, dass nicht nur Angelegenheiten ausgeschlossen sind, die „in“ den genannten Verfahren zu entscheiden sind, sondern die „im Rahmen“ der genannten Verfahren zu entscheiden sind. Es ist also lediglich ein Rahmenbezug zwischen der Bürgerbegehrensentscheidung und der (potentiellen) Planfeststellungsentscheidung erforderlich. Sinn und Zweck der Vorschrift legen eine solche weite Auslegung nahe: Die in diesem Ausschlussgrund genannten Verfahren behandeln regelmäßig die verwaltungsrechtliche Zulässigkeit komplexer Vorhaben mit bedeutsamen Auswirkungen auf die Allgemeinheit und Einzelne, aber auch mit erheblicher Bedeutung für den Vorhabenträger. Die solche Vorhaben betreffenden Angelegenheiten eignen sich nicht für ein notwendigerweise auf eine Ja- oder Nein-Entscheidung angelegtes Bürgerbegehren, in dem systembedingt eine sorgfältige Abwägung unter Einbeziehung aller relevanten Gesichtspunkte nicht stattfinden kann, sondern nur plakativ einige vorhabenbezogene Gesichtspunkte herausgegriffen werden können.
119Vgl. zuletzt OVG NRW, Beschluss vom 16. Juni 2020 - 15 A 4343/19 -, juris Rn. 8 ff. m. w. N.
120Vorliegend ist über die vom Bürgerbegehren geforderte Maßnahme - die Rückgängigmachung der vom Bürgermeister abgeschlossenen Vereinbarung - zwar keine Angelegenheit, über die im Rahmen eines Planfeststellungsverfahrens zu entscheiden wäre. Der Inhalt der Vereinbarung berührt allerdings mit dem Autobahnausbau ein planfeststellungsbedürftiges Vorhaben. Insoweit dürfte ein Bürgerbegehren mit dem Ziel, eine Verwaltungsvereinbarung wie die vorliegende abzuschließen im Hinblick auf die durch § 26 Abs. 5 Satz 1 Nr. 4 GO NRW beabsichtigte Vermeidung einer Einwirkung auf das Planfeststellungsverfahrens unzulässig sein. Ob selbiges dann auch für die hier vorliegende umgekehrte Konstellation gelten muss oder insoweit Sinn und Zweck des Ausschlussgrundes gerade nicht greifen, kann hier offen bleiben.
121Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 159 Satz 2 VwGO.
122Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 10, Nr. 11, § 711 ZPO.
123Die Revision ist nicht nach § 132 Abs. 2 VwGO zuzulassen, weil keiner der dort genannten Zulassungsgründe gegeben ist.
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Tenor
Das angefochtene Urteil wird teilweise geändert.
Es wird festgestellt, dass der beklagte Rat die Organrechte der Klägerin verletzt hat, indem er mit der Durchführung seiner Sitzung vom 26. November 2015 gegen den Grundsatz der Sitzungsöffentlichkeit verstoßen hat.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Beteiligten tragen die die Kosten des Verfahrens beider Instanzen je zur Hälfte
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in jeweils entsprechender Höhe leistet.
Die Revision wird zugelassen.
1Tatbestand:
2Der Bürgermeister der Stadt H. berief am 16. November 2015 eine Ratssitzung für den 26. November 2015 ein. Ort der Sitzung war der Ratssaal des Rathauses. Im Mittelpunkt der Tagesordnung stand - neben den Beratungen über die Haushaltssatzung 2016 u. a. - der mögliche Ausbau der B 224 zur Autobahn A 52.
3Im Dezember 2011 war der Stadt H. durch das Bundesverkehrsministerium und den damaligen Landesverkehrsminister ein Angebot zur Lösung der Verkehrsprobleme auf der B 224 und zum Ausbau der Bundesstraße zur A 52 unterbreitet worden. Kern dieses Angebots war ein Ausbau zwischen Q. - und H1. -/M.---straße als Volltunnel in einer Länge von 1,5 km sowie als Anknüpfung von der A 2 und A 52 ein Autobahnkreuz mit einem sogenannten Überflieger. Da das Vorhaben im Bereich der Stadt H. auch aus Städtebauförderungsmitteln finanziert werden sollte, wurde über die notwendige finanzielle Beteiligung der Stadt H. an den Kosten des geplanten Tunnels am 25. März 2012 ein Ratsbürgerentscheid durchgeführt. Die Mehrheit der Abstimmenden sprach sich gegen die geplante Beteiligung der Stadt H. am Tunnelbau aus (Ja-Stimmen: 10.255; Nein-Stimmen: 12.991). Der Stimmzettel zum Referendum enthielt den folgenden Hinweis:
4„Mit "Nein" stimmen Sie gegen die finanzielle Beteiligung der Stadt H. an dem Volltunnel und für einen Abbruch des Planungsprozesses des Ausbaus der B 224 zur A 52 auf H2. Stadtgebiet durch das Land NRW“.
5Im August 2014 wurde das Planfeststellungsverfahren für den Ausbau der B 224 zur A 52 zwischen der Stadtgrenze C. und der A 2 - einschließlich des Autobahnkreuzes - in H. eingeleitet. Im Rahmen des Planfeststellungsverfahrens beschloss der Beklagte für die Stadt H. in ihren Eigenschaften sowohl als Trägerin öffentlicher Belange im Sinne des § 73 Abs. 2 VwVfG NRW als auch als Einwenderin im Sinne des § 73 Abs. 4 VwVfG NRW eine umfassende kritische Stellungnahme zum Bau des Abschnitts zwischen der Stadtgrenze C. /H. und der A 2.
6Im März und November 2015 wurden erneut Gespräche zwischen Stadt, Bund und Land geführt.
7Zur Sitzung am 26. November 2015 wurde dem Beklagten eine Vereinbarung zum geplanten Neubau der A 52 im Zuge der B 224 auf H2. Stadtgebiet sowie Eckpunkte hierzu unter TOP 4 a) zur Erörterung und Beschlussfassung vorgelegt. Die Klägerin brachte hierzu einen Vorschlag gem. § 7 der Geschäftsordnung für den Rat der Stadt H. und seiner Ausschüsse ein. Sie begehrte mit ihrem Antrag die Durchführung eines - erneuten - Ratsbürgerentscheids. Der Antrag der Klägerin wurde als Tagesordnungspunkt TOP 4 b) festgesetzt.
8Da die Verwaltung mit einem großen Zuschauerinteresse für die Ratssitzung rechnete, entschloss sie sich dazu, für die Ratssitzung Eintrittskarten zu vergeben. Im Ratssaal standen von den normalerweise vorhandenen 40 Plätzen aufgrund zusätzlicher Bestuhlung 73 Plätze für Zuhörer zur Verfügung. Außerdem wurde die Sitzung akustisch in den Sitzungssaal I und den Empfangsraum übertragen. Auch die zum Tagesordnungspunkt 4 in der Sitzung gezeigte PowerPoint-Präsentation wurde in diese Räume übertragen. Dadurch konnten insgesamt weitere 100 Zuhörerplätze geschaffen werden.
9Bei der Vergabe der Eintrittskarten für den Ratssaal wurde wie folgt verfahren:
10- Acht Plätze waren der Presse vorbehalten.
11- Ein Kontingent von 25 Karten wurde den Fraktionen entsprechend ihrem Proporz nach dem Wahlergebnis der Kommunalwahl 2014 zur Verfügung gestellt. Demnach erhielten die SPD zwölf Karten, die CDU sieben Karten, die Linke und die Grünen je zwei Karten und die Fraktionsgemeinschaften SBIG und DSL je eine Karte. Die Eintrittskarten wurden an die Fraktionen mit Begleitschreiben vom 16. November 2015 übersandt. Darin heißt es, wegen des Tagesordnungspunktes „Ausbau der B 224 zur A 52“ sei in der Sitzung am 26. November 2015 mit besonderem Zuschauerinteresse zu rechnen. Es sei daher beabsichtigt, zu dieser Sitzung Eintrittskarten zu vergeben. Die Fraktionen erhielten Karten im erwähnten Umfang. Die verbleibenden Karten würden der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Es wurde gebeten, nicht benötigte Karten an die Geschäftsstelle „Rat und Bürger“ zurückzugeben.
12- Jeweils zwei Karten erhielten die IHK, der Personalrat und der Landrat des Kreises S. .
13- Jeweils eine Karte erhielten der Verein zur Förderung der H2. Wirtschaft e.V., Herr Prof. M1. von der Fachhochschule N. , der die Stadt bei der Verkehrsplanung zur B 224 / A 52 umfassend beraten hatte, sowie der neue, noch nicht in sein Amt eingeführte Kämmerer.
14- Sieben Karten wurden dem Bürgermeister zur Verfügung gestellt. Mit diesen wurden vier Plätze für Personen reserviert, die Mitglieder der Bürgerinitiative „Für H. “ sind (die Herren I. , N1. , E. und X. ). Die Bürgerinitiative hatte sich im Jahr 2012 gegründet und u. a. dafür geworben, bei dem damaligen Ratsbürgerentscheid zum Ausbau der B 224 mit „Ja“ zu stimmen. Mit seinen übrigen drei Karten reservierte der Bürgermeister Plätze für seine Ehefrau sowie die Herren T. und T1. .
15- Insgesamt 24 Karten wurden durch die Verwaltung nach der Reihenfolge der telefonischen Anfragen an interessierte Bürgerinnen und Bürger vergeben. Dieses Verfahren war zuvor in den örtlichen Tageszeitungen mitgeteilt worden.
16Am Tage der Ratssitzung fanden am Zugangsportal des Rathauses Einlasskontrollen statt.
17Die Klägerin rügte beim Vorsitzenden des Beklagten am 24. November 2015 die Verletzung des Grundsatzes der Sitzungsöffentlichkeit und kündigte einen Antrag auf Vertagung an. Vor Eintritt in die Tagesordnung wiederholte sie ihre Rüge und stellte einen Vertagungsantrag mit der Maßgabe, dass die etwaige Ausgabe von Eintrittskarten zu einer neu einzuberufenden Ratssitzung unter Einhaltung des Grundsatzes der Öffentlichkeit vorzunehmen sei. Der Vertagungsantrag wurde mit großer Mehrheit der Mitglieder des Beklagten abgelehnt.
18Der Beklagte beschloss in namentlicher Abstimmung zu Tagesordnungspunkt 4 a), das Ergebnis der Gespräche zwischen Bund, Land und Stadt zum geplanten Ausbau der B 224 zur A 52 zu begrüßen und den Bürgermeister zu beauftragen, die inhaltlich endabgestimmte Vereinbarung zum geplanten Neubau der A 52 im Zuge der B 224 auf H2. Stadtgebiet abzuschließen. Ein modifizierter Beschlussentwurf, der den Zusatz enthalten hatte, dass hinsichtlich des finanziellen Teils der Vereinbarung der Rat noch über einen Ratsbürgerentscheid beraten werde, war zuvor mit der Mehrheit der Stimmen abgelehnt worden. Aufgrund dieses Abstimmungsergebnisses wurde eine Beratung und Abstimmung des Tagesordnungspunktes 4 b) als obsolet angesehen.
19Die Klägerin hat am 17. Dezember 2015 Klage erhoben.
20Zur Begründung hat sie geltend gemacht, die Beschlüsse des Beklagten in der Sitzung vom 26. November 2015 seien unwirksam. Sie seien unter Verletzung des unmittelbar aus dem Demokratiegebot abzuleitenden Grundsatzes der Sitzungsöffentlichkeit zu Stande gekommen.
21Nach § 48 Abs. 2 Satz 1 GO NRW seien die Sitzungen des Rates öffentlich. Öffentlich sei eine Ratssitzung, wenn jeder ohne Ansehen seiner Person Zutritt zum Sitzungsraum habe. Zwar könnten Eintrittskarten ausgegeben werden, wenn die räumlichen Kapazitäten begrenzt seien. Allerdings müsse das Vergabeverfahren geeignet sein, Einfluss auf die Zusammensetzung der Öffentlichkeit zu vermeiden. Das Gebot der Öffentlichkeit sei verletzt, wenn die für die allgemeine Öffentlichkeit bestimmte Zahl der Zuschauerplätze gezielt verringert werde. Es komme insoweit allein auf die Saalöffentlichkeit an. Die Vergabe eines Teilkontingents der Eintrittskarten nach Fraktionsstärke werde den Anforderungen des Grundsatzes der Sitzungsöffentlichkeit nicht gerecht. Es sei dadurch nicht von vornherein ausgeschlossen, dass die Weitergabe der Eintrittskarten durch die den Zutritt letztlich vermittelnden Dritten (die Fraktionen) über den Grundsatz der Öffentlichkeit zuwiderlaufende Auswahlmaßstäbe geschehe, die zur Bevorzugung bestimmter Personen oder Personengruppen führten - etwa nach politischen oder taktischen Zielvorstellungen - und damit gerade nicht ohne Ansehen der Person entschieden werde. Jeder Beteiligte sei gleich zu behandeln. Werde aber die Vergabe in das Ermessen Dritter gestellt, so führe dies dazu, dass gerade keine objektiven Kriterien mehr angewandt würden.
22Unter den gegebenen Umständen erscheine allein die unmittelbare Weitergabe des gesamten Kontingents durch die Verwaltung an die Öffentlichkeit im Wege des sog. Prioritäts- oder Windhundprinzips als zuverlässig und sachgerecht, indem die Vergabe der Karten ausschließlich in der Reihenfolge ihrer Anforderungen geschehe.
23Die Klägerin hat beantragt,
24festzustellen, dass die Beschlüsse des Beklagten im öffentlichen Teil der Sitzung am 26. November 2015 unwirksam sind.
25Der Beklagte hat beantragt,
26die Klage abzuweisen.
27Zur Begründung hat er vorgetragen, dass der Zugang nach Maßgabe der tatsächlichen örtlichen Verhältnisse „im Prinzip“ jedermann offen stehen müsse. Zuhörer seien also nur zuzulassen, soweit tatsächlich Plätze vorhanden seien. Die Rechtsprechung habe klargestellt, dass unter dem Gesichtspunkt der Sitzungsöffentlichkeit ausdrücklich keine Verpflichtung bestehe, die üblichen Kapazitäten eines Sitzungsraumes zu erweitern oder einen besonders großen Sitzungsraum zu wählen. Anerkannt sei auch, dass dem mit der Sitzungsleitung betrauten Entscheidungsträger bei der Entscheidung über die Modalitäten zur Gewährung der Sitzungsöffentlichkeit ein weiter Ermessensspielraum zukomme, der im Wesentlichen durch das Willkürverbot begrenzt sei. Die Vorgehensweise bei der Vergabe der Platzkarten für die Sitzung am 26. November 2015 sei keinesfalls willkürlich gewesen, sondern offensichtlich darauf gerichtet, es einerseits möglichst vielen interessierten Personen zu ermöglichen, die Debatte und Abstimmung im Rat zu verfolgen, und andererseits einen ungestörten und geordneten Ablauf der Ratssitzung sicherzustellen.
28Die Verteilung der 24 Zuschauerplätze an interessierte Bürgerinnen und Bürger über Platzkarten sei rechtlich nicht zu beanstanden. In Fällen, in denen mit einem besonderen Zuschauerinteresse zu rechnen sei, seien vorbeugende Maßnahmen zulässig, mit denen die ungestörte Durchführung der Sitzung sichergestellt werde. Insbesondere die Vergabe von Platzkarten werde grundsätzlich für zulässig erachtet, wenn diese zeitnah und ohne Beschaffungsaufwand von interessierten Zuhörern besorgt werden könnten und kostenlos erhältlich seien.
29Diese Voraussetzungen seien gegeben gewesen. Angesichts der Bedeutung der Sitzung für Personen aus Verwaltung und Politik sowie des besonderen Interesses der allgemeinen Öffentlichkeit und angesichts der im Vorfeld angemeldeten Demonstrationen der Gegnerinnen und Gegner des Autobahnausbaus seien vorbeugende Maßnahmen zur Steuerung der Zuschauermengen und kontrollierten Belegung der Zuschauerplätze im Ratssaal offensichtlich erforderlich gewesen, um einen ungestörten Sitzungsablauf sicherzustellen. Die Karten seien zudem kostenlos ausgegeben worden. Sie seien über die Verwaltung auch ohne besonderen Aufwand zu beschaffen gewesen, da eine telefonische Reservierung genügt habe.
30Ferner sei es unproblematisch, dass „nur“ 24 Plätze nach dem Prioritätsprinzip an die „allgemeine Öffentlichkeit“ vergeben worden seien. Denn eine Anzahl von 24 Zuschauerplätzen werde dem allgemeinen, durchschnittlichen Interesse an einer Ratssitzung gerecht, auf das bei der Bemessung der Plätze allein abzustellen gewesen sei.
31Auch die Ausgabe von insgesamt 41 Platzkarten an die Fraktionen und an sonstige Repräsentantinnen und Repräsentanten sei nicht zu bemängeln. Es liege auf der Hand, dass an einer Ratssitzung regelmäßig nicht nur die Ratsmitglieder und der Bürgermeister sowie die „allgemeine Öffentlichkeit“, sondern auch eine Vielzahl anderer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Repräsentanten und Repräsentantinnen sowie Entscheidungsträger und -trägerinnen teilnehmen wollten. Die Gemeindeordnung unterstelle die Anwesenheit von Mitgliedern der Bezirksvertretungen und Mitgliedern der Ausschüsse, die kein Ratsmandat hätten, in der Ratssitzung etwa in § 48 Abs. 4 Satz 1 GO NRW wie selbstverständlich. Ebenso sei allgemein anerkannt, dass Fraktionsassistenten und -assistentinnen, Personalratsmitglieder, Vertreter und Vertreterinnen der Presse und der Aufsichtsbehörde regelmäßig an den Ratssitzungen teilnehmen würden und sich insoweit - naturgemäß - das Platzangebot im Ratssaal verringere.
32Vor diesem Hintergrund sei es nicht nur angemessen, sondern notwendig gewesen, auch den Fraktionen und den zu erwartenden Repräsentanten und Repräsentantinnen Platzkarten zur Verfügung zu stellen, um sicherzustellen, dass alle sich auf das knappe Raumangebot einstellen konnten, und dadurch einen störungsfreien Sitzungsbeginn und -ablauf zu gewährleisten. Die Vergabe von Platzkontingenten an die Fraktionen entsprechend ihrem Proporz stelle sich als sachlich begründet und keinesfalls als willkürlich dar, da auch in anderen Zusammenhängen der Proporz das entscheidende Kriterium für eine Differenzierung zwischen den politischen Kräften im Rat bzw. für die Verteilung von Mitteln und Ressourcen darstelle. Insoweit werde auch nicht die Ermessensentscheidung des Bürgermeisters über die Zuteilung von Plätzen an die Öffentlichkeit auf die Fraktionen verlagert, sondern den Fraktionen seien Plätze zugeteilt worden, die sie im eigenen Informationsinteresse hätten nutzen können.
33Die Anzahl der über den Bürgermeister an sonstige Repräsentanten und Repräsentantinnen vergebenen Plätze sei ebenfalls nicht zu beanstanden und bringe keine unangemessene oder unsachliche Bevorzugung dieser Personen und auch keine unangemessene Beschränkung des Platzangebotes für die allgemeine Öffentlichkeit mit sich. Der Bürgermeister habe insoweit das ihm eingeräumte Ermessen nicht pflichtwidrig und keinesfalls willkürlich ausgeübt.
34Wolle man dies anders sehen, liege in der Vorgehensweise der Platzvergabe jedenfalls nur eine Beschränkung der für die allgemeine Öffentlichkeit zur Verfügung stehenden Plätze und kein Ausschluss der Öffentlichkeit.
35Das Verwaltungsgericht hat mit Urteil vom 12. Juli 2018, berichtigt durch Urteilsberichtigungsbeschluss vom 17. Juli 2018, festgestellt, dass die Beschlüsse des Beklagten aus dem öffentlichen Teil der Ratssitzung am 26. November 2015 unwirksam sind. Zur Begründung hat es ausgeführt, es liege ein Verstoß gegen den Grundsatz der Sitzungsöffentlichkeit vor. Kapazitären Grenzen der Sitzungsöffentlichkeit sei mittels Chancengleichheit beim Zutritt zu begegnen. Es sei zwar unbedenklich, dass die vorhandenen Plätze durch Eintrittskarten vergeben worden seien. Auch die Ausgestaltung der Vergabe der Karten nach der Reihenfolge der telefonischen Anfrage sei nicht zu beanstanden. Der Verstoß gegen den Öffentlichkeitsgrundsatz bestehe aber darin, dass vorab ca. 2/3 der Eintrittskarten an die einzelnen Fraktionen und an ausgewählte Personen des öffentlichen Lebens überlassen worden seien. Diese Vergabepraxis lasse eine an sachgerechten Kriterien orientierte Zulassung der Öffentlichkeit nicht erkennen. Es sei damit in unzulässiger Weise Einfluss auf das in der Ratssitzung gebildete Abbild der Öffentlichkeit ausgeübt worden. Als Folge der gezielten Steuerung der politisch vertretenen Meinungen im Zuschauerraum könne eine Beeinflussung der einzelnen Ratsmitglieder und Fraktionen nicht ausgeschlossen werden. Durch die Verletzung des Prinzips der Öffentlichkeit habe eine ungehinderte Beratung und Beschlussfassung nicht mehr gewährleistet werden können. Die Einhaltung des Grundsatzes der Öffentlichkeit gewährleiste, dass die tatsächliche Meinung der Bevölkerung abgebildet werde. Die gezielte Vergabe an politische Meinungsträgerinnen und Meinungsträger konterkariere diese Gewährleistung. Die auf diese Weise zugelassenen Zuhörerinnen und Zuhörer könnten nicht mehr als Repräsentanten und Repräsentantinnen einer keiner besonderen Auswahl unterliegenden Öffentlichkeit angesehen werden.
36Mit Beschluss vom 8. November 2019 hat der Senat die Berufung des Beklagten zugelassen.
37Zur Begründung seiner Berufung wiederholt und vertieft der Beklagte sein erstinstanzliches Vorbringen. Ergänzend führt er aus: Das Verwaltungsgericht wähle bei der Prüfung der Sitzungsöffentlichkeit den falschen Bezugspunkt, wenn es davon ausgehe, dass alle im Ratssaal vorhandenen Sitzplätze mit Ausnahme derer der Ratsmitglieder und des Oberbürgermeisters im sog. Windhundverfahren an jedermann hätten vergeben werden müssen. Es entspreche allgemeiner Übung, dass diverse weitere Personen aufgrund ihres Amtes, ihrer Funktion und ihrer sonstigen Einbindung in die Verwaltung der Gemeinde oder das politische Leben an einer Ratssitzung teilnehmen müssten und Sitzplätze beanspruchen dürften. Dazu könnten sie nicht auf eine Bewerbung um eine allgemeine Eintrittskarte verwiesen werden. Der Grundsatz der Sitzungsöffentlichkeit verlange lediglich, dass daneben hinreichend Sitzplätze für die allgemeine Öffentlichkeit zur Verfügung stünden und ohne Ansehen der Person vergeben würden. Eine unzulässige Beschränkung der Öffentlichkeit liege nur dann vor, wenn entweder die für die allgemeine Öffentlichkeit zur Verfügung stehenden Plätze nach unsachgemäßen Kriterien vergeben würden oder durch die Teilnahme der Funktionsträger und -trägerinnen gar keine oder nur noch zu wenige Sitzplätze für die allgemeine Öffentlichkeit zur Verfügung stünden. Die Entscheidung des Bürgermeisters, die gegebene Anzahl Eintrittskarten an die Fraktionen und weitere Personen zu vergeben, müsse sich lediglich am Willkürmaßstab messen lassen, für dessen Verletzung keinerlei Anhaltspunkt vorliege.
38Das Verwaltungsgericht unterstelle eine aktive Einflussnahme auf das Abbild der Öffentlichkeit und eine gezielte Steuerung der politisch vertretenen Meinungen durch den Beklagten. Dies entbehre jeder Grundlage. Die gewählte Vorgehensweise entspreche langjähriger Übung in H. und sei in der Vergangenheit von allen Fraktionen akzeptiert worden. Bei sämtlichen Maßnahmen sei es darum gegangen, einen ungestörten Sitzungsablauf zu gewährleisten und allen berechtigten Ansprüchen an eine Sitzungsteilnahme möglichst umfassend gerecht zu werden. Im Übrigen sei es falsch, wenn das Verwaltungsgericht annehme, durch die Einhaltung des Grundsatzes der Öffentlichkeit werde gewährleistet, dass die tatsächliche Meinung der Bevölkerung abgebildet werde. Sinn und Zweck der Sitzungsöffentlichkeit bestünden darin, Transparenz, Kontrolle und Akzeptanz der Ratsentscheidungen herbeizuführen, nicht aber darin, die politische Meinung der Bevölkerung in den Ratssaal zu transferieren.
39Jedenfalls habe eine unterstellte ermessensfehlerhafte Vergabe von Sitzplätzen als Verfahrensmangel - anders als der fehlerhafte Ausschluss der Öffentlichkeit - nicht das besondere Gewicht, das zur Nichtigkeit der in der fraglichen Sitzung gefassten Beschlüsse führe.
40Der Beklagte beantragt,
41 das angefochtene Urteil zu ändern und die Klage abzuweisen.
42Die Klägerin beantragt,
43 die Berufung zurückzuweisen.
44Auch sie wiederholt und vertieft ihr erstinstanzliches Vorbringen. Ergänzend macht sie geltend, dem Informations- und Kontrollbedürfnis der allgemeinen Öffentlichkeit komme gegenüber dem Informationsbedürfnis der an der Kommunalverwaltung und -politik beteiligten Personen eine vorrangige Bedeutung zu, weil Ersteres auf den verfassungsrechtlich verbürgten Demokratie- und Rechtsstaatsprinzipien beruhe. Gemessen daran verfüge der Ratsvorsitzende im Rahmen der Prognose beschränkter Kapazitäten bei hohem Öffentlichkeitsinteresse zwar über ein Organisationsermessen und könnten sich aus Gründen des ungestörten und geordneten Sitzungsablaufs und aus der äußeren und inneren Repräsentationsfunktion des Rates zulässige Beschränkungen der tatsächlich vorhandenen Kapazitäten ergeben. Die dafür geltenden Maßstäbe seien indes nicht eingehalten worden. Insbesondere die Vergabe der Kartenkontingente an die einzelnen Fraktionen sei insoweit verfehlt, weil diese ihr Informationsinteresse selbst wahrzunehmen hätten. Im Übrigen lege der Beklagte nicht dar, von welchen sachgerechten Erwägungen er sich bei der Verteilung der Karten an „besondere Gäste“ habe leiten lassen und wieso gerade die gewählte Anzahl an Karten für diese Personengruppe sowie die Fraktionen erforderlich gewesen sei. Es treffe auch nicht zu, dass das gewählte Verfahren der Platzvergabe einer langjährigen Übung in H. entspreche. Schon aus den Verwaltungsvorgängen ergebe sich, dass in der Vergangenheit nur etwa die Hälfte der Karten an Fraktionen und andere vorab vergeben worden und die andere Hälfte allgemein zugänglich gewesen sei. Hier sei aber für die allgemeine Öffentlichkeit nur ein Anteil von etwa einem Drittel der Karten verblieben.
45Nicht nur der fehlerhafte Ausschluss der Öffentlichkeit, sondern jeglicher Verstoß gegen den Öffentlichkeitsgrundsatz müsse zur Nichtigkeit der in der fraglichen Sitzung gefassten Beschlüsse führen. Verfahrensfehler bei Verstößen gegen zwingende Normen des Kommunalverfassungsrechts hätten grundsätzlich die Rechtsfolge der Nichtigkeit der darauf beruhenden Beschlüsse zur Folge, da es an einer Vorschrift fehle, die ihre Gültigkeit auch bei Unwirksamkeit anordne. Selbst wenn man den Maßstab des § 44 VwVfG anlege, müsse man zur Rechtsfolge der Nichtigkeit gelangen, da es sich um einen schwerwiegenden und offensichtlichen Verfahrensfehler handele. Es sei eine erhebliche Anzahl von Plätzen ermessensfehlerhaft vergeben worden, was dafür spreche, dass das Publikum zielgerichtet zusammengestellt worden sei. Die vom Bürgermeister persönlich vergebenen Karten seien an Personen verteilt worden, die sich durch eine öffentliche Unterstützung des Bürgermeisters in der Frage des Autobahnausbaus hervorgetan hätten. Auch die IHK befürworte den Ausbau. Lege man hier einen großzügigeren Maßstab an, würden für die Ausübung des Organisationsermessens verantwortlichen Organe ermutigt, sämtliche Grenzen auszuloten, um so weit wie irgend möglich eine gezielte Steuerung der politisch vertretenen Meinungen im Zuhörerraum zu erreichen und gleichsam die Herrschaft über die Dramaturgie der Sitzung zu erlangen. Eine ungehinderte Beratung und Beschlussfassung sei dann nicht mehr gewährleistet. Es sei zu besorgen, dass Ratsmitglieder bei einer gezielten Steuerung der Sitzungsöffentlichkeit bei der Ausübung ihrer Statusrechte ihre Spontaneität verlören oder schwiegen, wo sie sonst gesprochen hätten. Wegen der staatsrechtlichen Bedeutung des Öffentlichkeitsgebotes für parlamentarische Gremien, zu denen auch die kommunalen Vertretungskörperschaften gehörten, handele es sich bei § 48 Abs. 2 Satz 1 GO NRW um einen tragenden Grundsatz, dessen gleichwie veranlasste Verletzung zur Nichtigkeit der gefassten Beschlüsse führen müsse.
46Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen.
47E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
48Die Berufung des Beklagten hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg. Die Klage ist zulässig (dazu I.), aber nur teilweise begründet (dazu II.).
49I. Die Klage ist als Feststellungsklage nach § 43 Abs. 1 VwGO statthaft und auch im Übrigen zulässig. Die von der Klägerin der Sache nach begehrte Feststellung, dass der Beklagte bei Durchführung der Sitzung am 26. November 2015 gegen den Grundsatz der Öffentlichkeit verstoßen habe und infolgedessen die in der Sitzung gefassten Beschlüsse unwirksam seien, betrifft ein konkretes organschaftliches Rechtsverhältnis im Sinne des § 43 Abs. 1 VwGO.
50Die Klägerin ist analog § 42 Abs. 2 VwGO klagebefugt, weil ihr als Ratsfraktion ein eigenes wehrfähiges subjektives Organrecht auf Wahrung des Grundsatzes der Sitzungsöffentlichkeit in § 48 Abs. 2 Satz 1 GO NRW durch den Bürgermeister und durch den Rat zusteht. Die systematische Auslegung der genannten Vorschrift ergibt, dass Ratsfraktionen in Bezug auf die Sitzungsöffentlichkeit mit eigenen wehrfähigen Organrechten ausgestattet sind. Anerkannt ist nämlich, dass der Verpflichtung des Bürgermeisters aus § 48 Abs. 1 Satz 2 GO NRW, einen durch eine Fraktion vorgeschlagenen Tagesordnungspunkt in die Tagesordnung der Ratssitzung aufzunehmen, ein subjektives Organrecht der Fraktion korrespondiert. Diese hat einen Anspruch auf Aufnahme ihres Vorschlags in die Tagesordnung des Rates, sofern der Vorschlag die formalen Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 2 GO NRW erfüllt. Der Anspruch umfasst zwar nicht zugleich auch das Recht darauf, dass der Rat den vorgeschlagenen Tagesordnungspunkt in öffentlicher Sitzung berät. Aus § 56 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 GO NRW ergibt sich jedoch das grundsätzliche Recht der Ratsfraktionen, ihre Auffassung öffentlich darzustellen, soweit sie bei der Willensbildung und Entscheidungsfindung im Rat mitwirken. Mit der Befugnis zur gemeinderatsinternen Öffentlichkeitsarbeit wird den Fraktionen ein eigenes subjektives Organrecht zugewiesen.
51Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 12. September 2008 - 15 A 2129/08 -, juris Rn. 9, Urteil vom 24. April 2001 - 15 A 3021/97 -, juris Rn. 23 ff.; vgl. ferner zur vergleichbaren Rechtslage betreffend Fraktionen in Kreistagen OVG NRW, Beschluss vom 25. März 2014 - 15 A 1651/12 -, juris Rn. 67.
52Dieses Organrecht, das im Übrigen auch aus dem verfassungsrechtlichen Demokratieprinzip abzuleiten sein dürfte, vermittelt einer Ratsfraktion - vorbehaltlich eines rechtmäßigen Ausschlusses der Öffentlichkeit - nicht nur einen Anspruch auf Herstellung einer wie auch immer gearteten Öffentlichkeit, sondern einen Anspruch auf die rechtmäßige Verwirklichung des Öffentlichkeitsprinzips insgesamt. Denn auch bei einer rechtswidrigen Zusammensetzung des Publikums ist das Recht der Ratsfraktionen, ihre Auffassung öffentlich darzustellen, beeinträchtigt.
53Darüber hinaus ist es nicht ausgeschlossen, dass eine Verletzung der Sitzungsöffentlichkeit die Unwirksamkeit der in der streitgegenständlichen Sitzung gefassten Beschlüsse zur Folge hätte.
54Vgl. VerfGH NRW, Beschluss vom 9. April 1976- VerfGH 58/75 -, NJW 1976, 1931; OVG NRW, Urteil vom 19. Dezember 1978 - XV A 1031/77 -, OVGE 35, 8, 12; VG Aachen, Urteil vom 22. Mai 2012 - 3 K 347/11 -, juris Rn. 24.
55Darunter befinden sich auch Satzungsbeschlüsse, von denen einige - etwa die Gebührensatzung für Leistungen des Standesamtes der Stadt H. und die Änderung der Entgeltordnung für das Hallenbad der Stadt H. - unverändert Geltung beanspruchen.
56II. Die Klage ist nur teilweise begründet.
57Zwar hat das Verwaltungsgericht zu Recht entschieden, dass die Durchführung der Ratssitzung am 26. November 2015 gegen den Grundsatz der Sitzungsöffentlichkeit verstoßen hat und hierdurch organschaftliche Rechte der Klägerin verletzt worden sind (dazu 1.). Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts führt diese Rechtsverletzung aber nicht zur Unwirksamkeit der in der Sitzung gefassten Beschlüsse (dazu 2.).
581. Die Klägerin ist in ihren subjektiven Organrechten aus § 56 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 GO NRW i. V. m. § 48 Abs. 2 Satz 1 GO NRW verletzt, weil in der Ratssitzung vom 26. November 2015 der Grundsatz der Öffentlichkeit verletzt worden ist.
59Gemäß § 48 Abs. 2 Satz 1 GO NRW sind die Sitzungen des Rates öffentlich. Die Vorschrift ist eine einfachgesetzliche Ausprägung des auch für das kommunale Organisationsrecht geltenden Verfassungsprinzips der parlamentarischen Demokratie (Art. 28 Abs. 1 GG). Die Sitzungsöffentlichkeit ist wesentliche Vorbedingung für den sich insbesondere in der Kommunalwahl vollziehenden Kontroll- und Legitimationsakt; sie hat den Sinn, den wahlberechtigten Gemeindemitgliedern und der darüber hinaus interessierten Öffentlichkeit Gelegenheit zu geben, von den Beratungen der Vertretungskörperschaft und dem Verhalten ihrer Mitglieder einen unmittelbaren Eindruck zu gewinnen, dadurch politische Zusammenhänge und Entscheidungsalternativen zu erkennen und sich auf dieser Grundlage eine eigene Meinung über Vorzüge und Nachteile der miteinander konkurrierenden politischen Kräfte zu bilden.
60Vgl. OVG NRW, Urteile vom 21. Juli 1989 - 15 A 713/87 -, NVwZ 1990, 186, und vom 19. Dezember 1978 - XV A 1031/77 -, OVGE 35, 8, 10.
61Daneben hat die Sitzungsöffentlichkeit die Aufgabe, das Interesse der Bevölkerung an der Arbeit der Vertretungskörperschaft zu fördern. Die damit angestrebte Integrationswirkung soll einerseits die Zielsetzung der Bürgernähe im Rahmen des Möglichen verwirklichen. Andererseits kann sie mit Blick auf die Ratsmitglieder Anlass geben dafür, dass diese sich ihrer Stellung als Volksvertreterinnen und Volksvertreter und der damit verbundenen Verantwortung bewusst bleiben, und insoweit selbst wiederum ein Instrument demokratischer Kontrolle sein.
62Vgl. OVG NRW, Urteile vom 21. Juli 1989 - 15 A 713/87 -, NVwZ 1990, 186, 186 f. m. w. N. und vom 19. Dezember 1978 - XV A 1031/77 -, OVGE 35, 8, 10 f.
63Sitzungsöffentlichkeit bedeutet, dass eine ungehinderte Zugangsmöglichkeit für jedermann ohne Ansehen der Person im Rahmen der verfügbaren Kapazitäten besteht.
64Vgl. OVG NRW, Urteile vom 3. November 2009- 15 A 2318/07 -, juris Rn. 40 f. m. zahlr. w. N., und vom 21. Juli 1989 - 15 A 713/87 -, NVwZ 1990, 186, 187.
65Hinsichtlich der Modalitäten der Verwirklichung der Sitzungsöffentlichkeit steht dem Vorsitzenden des Rates ein weitgespannter Ermessensspielraum zu, der im Wesentlichen durch das Willkürverbot begrenzt wird.
66Vgl. OVG NRW, Urteil vom 21. Juli 1989 - 15 A 713/87 -, NVwZ 1990, 186, 187; für die Öffentlichkeit bei Gerichtssitzungen vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 12. April 2013 - 1 BvR 990/13 -, juris Rn. 19; BGH, Beschluss vom 10. Januar 2006- 1 StR 527/05 -, juris Rn. 16.
67Danach sind Zuhörer und Zuhörerinnen zur Wahrung der Sitzungsöffentlichkeit nur zuzulassen, soweit Plätze vorhanden sind. Eine Pflicht zur Erweiterung der üblichen Kapazität, insbesondere durch Wahl eines größeren Raumes, besteht unter dem Gesichtspunkt der Sitzungsöffentlichkeit nicht.
68Vgl. Rohde, in: Dietlein/Heusch, BeckOK Kommunalrecht Nordrhein-Westfalen, 13. Edition, Stand: 1. September 2020, § 48 GO NRW, Rn. 22; Held/Winkel/Wansleben, Kommunalverfassungsrecht Nordrhein-Westfalen, Loseblatt, Stand: Dezember 2019, § 48 GO NRW Rn. 9.2; zum Grundsatz der Öffentlichkeit der Sitzungen eines Hochschulsenats OVG NRW, Urteil vom 3. November 2009 - 15 A 2318/07 -, juris Rn. 42; vgl. ferner zur entsprechenden Problematik der Öffentlichkeit von Gerichtssitzungen BGH, Urteil vom 6. Oktober 1976 - 3 StR 291/76 -, NJW 1977, 157 f.; Kissel/Mayer, GVG, 9. Aufl. 2018, § 169 Rn. 25.
69Eine Grenze wird jedoch da erreicht sein, wo ein so kleiner Raum gewählt wird, dass die Öffentlichkeit faktisch ausgeschlossen ist, weil nur so wenige Personen Zutritt haben, dass sie nicht mehr als Repräsentantinnen und Repräsentanten einer keiner besonderen Auswahl unterliegenden Öffentlichkeit angesehen werden können. Das ist etwa der Fall, wenn nur für einen einzigen Zuhörer ein Platz vorgesehen ist und weitere allenfalls in ganz geringer Zahl und unter unzumutbaren Bedingungen Zutritt erhalten können.
70Vgl. zu solchen Konstellationen für Sitzungen eines Hochschulsenats OVG NRW, Urteil vom 3. November 2009 - 15 A 2318/07 -, juris Rn. 44 f. m. zahlr. w. N. für die entsprechende Problematik bei Gerichtssitzungen.
71Auch ist das Gebot der Sitzungsöffentlichkeit verletzt, wenn in Abkehr von der gewöhnlichen Platzbereitstellung oder Raumverteilung die Zahl der Zuhörerplätze gezielt verringert oder zur Verringerung der Zuhörerzahl ein kleinerer Sitzungssaal ausgesucht wird.
72Vgl. Held/Winkel/Wansleben, Kommunalverfassungsrecht Nordrhein-Westfalen, Loseblatt, Stand: Dezember 2019, § 48 GO NRW Rn. 9.2; zu Sitzungen eines Hochschulsenats OVG NRW, Urteil vom 3. November 2009 - 15 A 2318/07 -, juris Rn. 46; für Gerichtssitzungen Kissel/Mayer, GVG, 9. Aufl. 2018, § 169 Rn. 28.
73Demgegenüber ist es nicht von vornherein ausgeschlossen, dass der Bürgermeister im Rahmen seines Ermessens einen Teil der vorhandenen Zuhörerplätze - also der Plätze, die nicht für die Ratsmitglieder (vgl. § 40 Abs. 2 Satz 2 GO NRW) und andere mitwirkende Personen benötigt werden - bestimmten Interessenten und Interessentinnen vorbehält und damit der allgemeinen „Jedermanns“-Öffentlichkeit entzieht. Voraussetzung ist dabei in Anlehnung an die oben dargelegten Maßgaben jedoch zum einen, dass daneben noch eine relevante Anzahl an allgemein zugänglichen Plätzen verbleibt und zum anderen, dass für die dadurch bewirkte Beschränkung der Öffentlichkeit mit den Prinzipien der Sitzungsöffentlichkeit zu vereinbarende sachliche Gründe vorliegen.
74Vgl. hinsichtlich der parallelen Problematik bei Gerichtssitzungen Kissel/Mayer, GVG, 9. Aufl. 2018, § 169 Rn. 32; vgl. ferner BGH, Urteil vom 25. März 1971 - 4 StR 47/69 -, DRiZ 1971, 206 f.
75So können etwa im Hinblick auf die grundrechtlichen Gewährleistungen des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG und deren demokratische Kontroll- und Mittlerfunktion der Presse Plätze vorbehalten werden und kann sich dies sogar zu einer Verpflichtung verdichten.
76Vgl. Held/Winkel/Wansleben, Kommunalverfassungsrecht Nordrhein-Westfalen, Loseblatt, Stand: Dezember 2019, § 48 GO NRW Erl. 9.2; zur Öffentlichkeit der Verhandlungen des Deutschen Bundestages: Morlok, in: Dreier, GG, Band 2, 3. Aufl. 2015; Art. 42 Rn. 26 f.; Müller-Terpitz, in: Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar zum GG, Loseblatt (Stand: Juni 2020), Art. 42 Rn. 38; Linck, ZParl 1992, 673, 676; Achterberg/Schulte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Band 2, 6. Aufl. 2010, Art. 42 Abs. 1 Rn. 4; für Gerichtssitzungen BVerfG, Beschluss vom 18. März 2008 - 1 BvR 282/01 -, juris Rn. 10 ff. m. w. N.; BGH, Beschluss vom 10. Januar 2006 - 1 StR 527/05 -, juris Rn. 18; Walther, in: Graf, BeckOK GVG, 7. Edition, Stand: 1. Februar 2020, § 169 Rn. 8.
77Ferner wird es nicht zu beanstanden sein, wenn Personen oder Gruppierungen, die von dem Beratungsgegenstand in besonderem Maße betroffen oder an dem Beratungsgegenstand ein besonderes dienstliches bzw. berufliches Interesse haben, ein gewisses Kontingent an Plätzen erhalten.
78In diese Richtung: BVerfG, Beschluss vom 12. April 2013 - 1 BvR 990/13 -, juris Rn. 19 ff.
79Auch bei einer solchen Vorgehensweise handelt es sich aber um die Vergabe von Zuhörerplätzen, die im Einzelfall sachlich gerechtfertigt sein muss. Die Verwaltung kann nicht allgemein ein Platzkontingent für ihr „nahestehende“ Funktionsträgerinnen und -träger oder sonstige Personen in der Form beanspruchen, dass diese Plätze - bei Kapazitätsknappheit - der übrigen Öffentlichkeit von vornherein entzogen wären.
80Gemessen an diesen Maßstäben wurde die Platzvergabe bei der streitgegenständlichen Ratssitzung am 26. November 2015 den Anforderungen des Öffentlichkeitsgrundsatzes nicht gerecht. Zwar bestehen nach den obigen Grundsätzen weder gegen die Verteilung von Eintrittskarten noch gegen die Art der Vergabe der 24 für die „allgemeine“ Öffentlichkeit vorgesehenen Plätze nach dem sog. Windhundprinzip Bedenken. Gleiches gilt hinsichtlich der acht für die Presse reservierten Plätze. Mit dieser Praxis geht keine gezielte Verringerung der Zuschauerkapazität oder eine vergleichbare Restriktion einher. Diesbezüglich werden auch von der Klägerin keine Einwände geltend gemacht.
81Auch die Reservierung von insgesamt sieben Plätzen für die IHK, Landrat/Kreis S. , den Verein zur Förderung der H2. Wirtschaft e.V., Herrn Prof. M1. und den neuen, aber noch nicht in sein Amt eingeführten Kämmerer dürfte sich noch im Rahmen der dargestellten Grenzen des Ermessens des Bürgermeisters gehalten haben, weil dieser Personenkreis ein erkennbares Sonderinteresse an dem Beratungsgegenstand hatte. Dies kann letztlich aber dahinstehen, weil der Bürgermeister jedenfalls in anderer Hinsicht seinen Ermessensspielraum überschritten hat.
82Dies gilt zunächst in Bezug auf die Ausgabe von insgesamt 25 Eintrittskarten an die im Rat vertretenen Fraktionen. Die Verteilung dieser Karten erfolgte, wie sich aus den Begleitschreiben vom 16. November 2015 ergibt, ohne jegliche Begrenzung der Weitergabe an bestimmte Personengruppen, für deren bevorzugte Teilnahme an der Sitzung ein rechtfertigender Grund im o. g. Sinn bestanden haben könnte. Mag hinter der Zuteilung an die Fraktionen auch die Absicht gestanden haben, damit im Wesentlichen Fraktionsbeschäftigten und sachkundigen Bürgerinnen und Bürgern eine Teilnahmemöglichkeit zu eröffnen, so ist dies schon deshalb unbeachtlich, weil ein dahin gehender Verwendungszweck gegenüber den Fraktionen nicht zum Ausdruck gebracht worden ist und diese sich daher in keiner Weise bei der Verwendung der Karten gebunden fühlen mussten. Letztlich führte diese Vorgehensweise des Bürgermeisters dazu, dass ein erheblicher Anteil der zur Verfügung stehenden Kapazitäten der allgemeinen Zugänglichkeit für jedermann entzogen war und der Zutritt zur Ratssitzung insoweit allein über die Fraktionen vermittelt wurde. Dies ist mit dem Öffentlichkeitsgrundsatz nicht zu vereinbaren.
83Vgl. in diesem Zusammenhang Müller-Terpitz, in: Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar zum GG, Loseblatt (Stand: Juni 2020), Art. 42 Rn. 37.
84Zudem hat der Bürgermeister auch bei der Verteilung weiterer Eintrittskarten sein Ermessen überschritten. Insoweit ist zunächst im Hinblick auf die Reservierung ei-nes Platzes für seine Ehefrau kein sachlicher Grund ersichtlich. Die Weitergabe der Eintrittskarten an die vier Mitglieder der Bürgerinitiative „Für H. “ begegnet ebenfalls Bedenken. Zwar könnten diese als Interessenvertreter mit besonderer Sachnähe zum Tagesordnungspunkt 4. angesehen werden. Die bevorzugte Platzvergabe an Mitglieder dieser Bürgerinitiative erweist sich aber jedenfalls im Hinblick auf das Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 GG als ermessensfehlerhaft, weil die inhaltlich "konkurrierende" Bürgerinitiative Bürgerforum H. e. V. - soweit ersichtlich - keine Plätze erhalten hat. Ein besonderer Bezug zum Beratungsgegenstand, der eine bevorzugte Platzzuteilung hätte rechtfertigen können, ist schließlich für den Personalrat und die Herren T. und T1. ebenfalls weder dargelegt noch sonst ersichtlich.
85b) Der Verstoß gegen den Öffentlichkeitsgrundsatz führt allerdings nicht zur Unwirksamkeit der in der Ratssitzung gefassten Beschlüsse; insoweit ist die Feststellungsklage unbegründet.
86Verstöße gegen (gesetzliche) Verfahrensvorschriften führen nicht generell zur Rechtswidrigkeit bzw. Nichtigkeit der betreffenden Hoheitsakte. Für Verwaltungsakte ist dies in § 46 VwVfG, für baurechtliche Satzungen etwa in § 214 Abs. 1 BauGB ausdrücklich gesetzlich geregelt. Dieser Grundsatz beansprucht aber auch unabhängig von einer expliziten normativen Verankerung Geltung. So geht das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass Verstöße gegen verfassungsrechtliche Verfahrensvorschriften nur im Falle ihrer Evidenz zur Nichtigkeit einer Rechtsverordnung bzw. eines Gesetzes führen. Dies gebiete die Rücksicht auf die Rechtssicherheit.
87Vgl. BVerfG, Urteil vom 26. Juli 1972 - 2 BvF1/71 -, juris Rn. 58, Beschlüsse vom 11. November 1994 - 1 BvR 337/92 -, juris Rn. 132, vom 15. Januar 2008 - 2 BvL 12/01 -, juris Rn. 71, und vom 8. Dezember 2009 - 2 BvR 758/07 -, juris Rn. 77.
88Auch im übrigen Verwaltungsrecht werden z. T. Verstöße gegen bloße Ordnungsvorschriften als für die Rechtmäßigkeit eines Hoheitsaktes irrelevant eingeordnet.
89Vgl. dazu etwa BVerwG, Urteil vom 17. November 2016 - 3 C 20.15 -, juris Rn. 23 f.; OVG NRW, Urteil vom 27. August 1996 - 15 A 32/93 -, juris Rn. 10; Schneider, NWVBl. 1996, 89, 90 f.
90Zwar handelt es sich bei dem Grundsatz der Ratsöffentlichkeit nicht um eine bloße Ordnungsvorschrift, sondern um einen wesentlichen, aus dem Demokratieprinzip folgenden Verfahrensgrundsatz. Aus diesem Grund stellt der fehlerhafte Ausschluss der Öffentlichkeit stets einen erheblichen Verfahrensmangel dar, der zur Rechtswidrigkeit und damit i. d. R. zur Nichtigkeit der in nichtöffentlicher Sitzung gefassten Beschlüsse führt.
91Vgl. VerfGH NRW, Beschluss vom 9. April 1976- VerfGH 58/75 -, NJW 1976, 1931; OVG NRW, Urteil vom 19. Dezember 1978 - XV A 1031/77 -, OVGE 35, 8, 12; Magiera, in: Sachs, GG, 7. Aufl. 2014, Art. 42 Rn. 7; Morlok, in: Dreier, GG, Band 2, 3. Aufl. 2015, Art. 42 Rn. 28.
92In Anknüpfung an die aufgezeigte differenzierte Beantwortung der Frage der Rechtsfolgen eines Verfahrensverstoßes kann aber - neben der Bedeutung der jeweiligen Norm und der Evidenz des Verstoßes - auch der Schwere der jeweiligen Verletzung ausschlaggebende Bedeutung zukommen.
93Vgl. BVerwG, Beschluss vom 25. Oktober 1979- 2 N 1.78 -, juris Rn. 11; OVG NRW, Urteil vom 8. Juli 1959 - III A 611/59 -, OVGE MüLü 15, 87, 92.
94Die ermessensfehlerhafte Vergabe von Zuhörerplätzen hat in der Regel - so auch hier - nicht ein vergleichbares Gewicht wie der Ausschluss der Öffentlichkeit. Während beim vollständigen Ausschluss der Öffentlichkeit die Willensbildung und die Beschlussfassung jeder unmittelbaren Beobachtung und Teilnahme durch die Bevölkerung entzogen sind, finden diese Vorgänge bei einer fehlerhaften Platzvergabe gleichwohl vor den Augen der - wenn auch unvollkommenen - Öffentlichkeit statt. Damit wird den grundlegenden demokratischen Grundsätzen jedenfalls dann noch genügt, wenn eine relevante Anzahl an für jedermann chancengleich zugänglichen Plätzen vorhanden ist und die Zuhörerschaft auch insgesamt nicht das Gepräge eines von den politischen Akteuren zielgerichtet zusammengestellten Publikums hat. Diese aufeinander bezogenen Kriterien waren vorliegend noch erfüllt. Die Anzahl von 24 allgemein zugänglichen Plätzen, die insgesamt knapp ein Drittel der Publikumsplätze ausmachten, ist als relevanter Anteil anzusehen, weil allenfalls ein kleiner Anteil der Karten gezielt an Befürworter und Befürworterinnen des Autobahnausbaus vergeben worden war. Bei den den Fraktionen überlassenen Karten kann davon nicht die Rede sein. Unabhängig von der nicht feststellbaren inhaltlichen Positionierung der über die Fraktionskarten zum Zuge gekommenen Zuhörerinnen und Zuhörer ist insoweit jedenfalls deshalb nicht von einer „gelenkten“ Öffentlichkeit auszugehen, weil die Kartenvergabe nach Proporz dem Grunde nach einer bestehenden Praxis der Verwaltung entsprach. Zudem erfolgte die Vergabe dieser Plätze durch so viele verschiedene Akteure, dass eine gezielte Lenkung fernliegt.
95Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
96Die Revision ist nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen. Von grundsätzlicher Bedeutung ist die Frage, welche Maßstäbe sich aus dem Demokratieprinzip - als revisiblem Recht - für die Verwirklichung des Öffentlichkeitsgrundsatzes bei Ratssitzungen bei einer begrenzten Zahl von Zuhörerplätzen ergeben und welche Folgen eine fehlerhafte Platzvergabe hat.
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Tenor
Das Beschwerdeverfahren wird eingestellt, soweit die Beteiligten dieses hinsichtlich des Antrags auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung von der Pflicht zum Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung während des Schulunterrichts übereinstimmend für erledigt erklärt haben.
Im Übrigen wird die Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 25. August 2020 zurückgewiesen.
Die Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert wird unter Änderung der Streitwertfestsetzung des Verwaltungsgerichts für beide Instanzen auf jeweils 10.000,00 Euro festgesetzt.
1G r ü n d e :
2Das Beschwerdeverfahren wird in entsprechender Anwendung des § 93 Abs. 3 Satz 1 VwGO eingestellt, soweit die Beteiligten dieses hinsichtlich des Antrags auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung von der Pflicht zum Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung während des Schulunterrichts übereinstimmend für erledigt erklärt haben.
3Die verbleibende Beschwerde der Antragsteller mit dem Antrag,
4„den Antragstellern hilfsweise vorläufig eine Ausnahmegenehmigung nach § 1 Abs. 6 Nr. 2 Corona-Betreuungsverordnung in der ab dem 12.08.2020 geltenden Fassung sowie nachfolgender neuerer Fassungen für das Betreten des Schulgeländes des städtischen Gymnasiums U. L. zu erteilen“,
5hat keinen Erfolg. Sie ist unbegründet, da die Antragsteller keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht haben (§ 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO).
6Die von ihnen dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, geben keinen Anlass, den Beschluss des Verwaltungsgerichts zu ändern und dem Antrag der Antragsteller stattzugeben.
7Die Antragsteller haben nicht glaubhaft gemacht, dass medizinische Gründe vorliegen, die eine Befreiung von der sog. Maskenpflicht auf dem Schulgelände und in Schulgebäuden gemäß § 1 Abs. 4 i. V. m. Abs. 3 Satz 1 CoronaBetrVO rechtfertigen.
8Nach § 1 Abs. 4 CoronaBetrVO kann die Schulleiterin oder der Schulleiter aus medizinischen Gründen von der Maskenpflicht des Absatzes 3 Satz 1 befreien. Die Gründe sind nach Satz 2 Halbsatz 1 der Regelung auf Verlangen nachzuweisen. Um der Schule eine sachgerechte Entscheidung über die Befreiung von der sog. Maskenpflicht aus medizinischen Gründen zu ermöglichen, bedarf es für diesen Nachweis grundsätzlich der Vorlage eines aktuellen ärztlichen Attests, das gewissen Mindestanforderungen genügen muss. Aus dem Attest muss sich regelmäßig jedenfalls nachvollziehbar ergeben, welche konkret zu benennenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen auf Grund der Verpflichtung zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung in der Schule alsbald zu erwarten sind und woraus diese im Einzelnen resultieren. Soweit relevante Vorerkrankungen vorliegen, sind diese konkret zu bezeichnen. Darüber hinaus muss im Regelfall erkennbar werden, auf welcher Grundlage der attestierende Arzt zu seiner Einschätzung gelangt ist.
9Vgl. so schon Senatsbeschluss vom 24. September 2020 - 13 B 1368/20 -, juris, Rn. 11 ff.
10Den benannten Anforderungen genügen die jeweils für beide Antragsteller gleichlautenden Bescheinigungen vom 21. August 2020 nicht. Sie beruhen im Kern auf einem Formular der Partei Wir2020, das auf den Internetseiten der Partei zum Download bereitgestellt wird und das Eltern als Formulierungshilfe gegenüber dem jeweiligen Schulleiter dienen soll, um ihre Kinder von der Pflicht zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung auf dem Schulgelände befreien zu lassen. Das Formular bezeichnet einzelne „erhebliche gesundheitliche Nachteile“, die jedem Kind durch das Tragen der Mund-Nasen-Bedeckung drohen sollen, und fordert den jeweiligen Schulleiter auf, im Falle der Verweigerung einer Befreiung eine korrekte Anwendung der Mund-Nasen-Bedeckung sicherzustellen und eine Haftungserklärung für ggfs. auftretende gesundheitliche Schäden zu unterzeichnen. Dieser Hintergrund erklärt, warum die beiden Bescheinigungen zuerst von einem Elternteil der Antragsteller unterschrieben wurden und warum sie mit der Formulierung eingeleitet werden, dass das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung „für mein Kind…“ unzumutbar sei. Das Formular wurde durch - für beide Antragsteller gleichlautende - Diagnosen verschiedener Erkrankungen ergänzt. Erst durch diese Angaben und die Unterschrift des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie, Psychotherapie Prof. Dr. Dr. F. lässt sich die Bezeichnung der Bescheinigungen als ärztliche Atteste rechtfertigen.
11Anhand dieser Atteste haben die Antragsteller keinen Anordnungsanspruch auf (vollständige) Befreiung von der Pflicht zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung auf dem Schulgelände aus medizinischen Gründen glaubhaft gemacht. Unabhängig davon, dass zum Teil bereits nicht nachvollziehbar ist, wie die bei den Antragstellern diagnostizierten Erkrankungen entstanden sind, obwohl sie jedenfalls im schulischen Bereich keine Mund-Nasen-Bedeckung getragen haben, verhalten sich die Atteste auch nicht zu den gesundheitlichen Auswirkungen, die ein nur kurzzeitiges Tragen der Mund-Nasen-Bedeckung bei den Antragstellern verursacht. Denn seit dem 1. September 2020 gilt die Pflicht für Schüler zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung im Wesentlichen nur noch auf den Fluren, in den Toilettenräumen und auf dem Schulhof. Während des Unterrichts - beim Sitzen auf dem eigenen Sitzplatz ‑ ist das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung nicht mehr vorgeschrieben. Gleiches gilt - unter bestimmten Voraussetzungen - für die Wahrnehmung von Angeboten der Ganztagsbetreuung (vgl. § 1 Abs. 3 CoronaBetrVO). Da mithin während eines Großteils des Schultags das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung nicht mehr erforderlich ist, bedarf es weiterer ärztlicher Darlegungen, ob und in welchem Ausmaß die diagnostizierten gesundheitlichen Beeinträchtigungen, so z. B. die Spannungskopfschmerzen, auch bei nur kurzzeitigem Tragen der Mund-Nasen-Bedeckung (z. B. in der Pause) bestehen. Da es sich bei den diagnostizierten Erkrankungen überwiegend um psychische Beeinträchtigungen handelt, bedarf es darüber hinaus ärztlicher Erläuterungen, inwiefern die erstrebte Befreiung geeignet ist, den bereits eingetretenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen entgegen zu wirken bzw. eine Verschlimmerung derselben zu verhindern. Denn da nicht ersichtlich ist, dass die Antragsteller in der Vergangenheit eine Mund-Nasen-Bedeckung über einen längeren Zeitraum getragen haben, erscheint es möglich, dass die diagnostizierten gesundheitlichen Beeinträchtigungen (z. B. die diffuse Angst) durch die aktuelle Lebenssituation hervorgerufen wurden. Da die Antragsteller aber auch für den Fall einer eigenen Befreiung weiterhin dem Anblick anderer, eine Mund-Nasen-Bedeckung tragender Schüler ausgesetzt wären, bestehen Zweifel, inwiefern eine eigene Befreiung den diagnostizierten psychischen Beschwerden entgegen wirken könnte.
12Soweit die Antragsteller ganz allgemein die Schutzwirkung von Mund-Nasen-Bedeckungen infrage stellen und vielmehr dem Tragen von Mund-Nasen-Bedeckungen gesundheitsschädliche Wirkungen beimessen, wird durch dieses Vorbringen nicht der Befreiungstatbestand von § 1 Abs. 4 Satz 1 CoronaBetrVO erfüllt. Einen Normenkontrollantrag gegen die Pflicht zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung auf dem Schulgelände außerhalb der Unterrichtszeiten haben die Antragsteller nicht gestellt.
13Siehe dazu im Übrigen den Senatsbeschluss vom 27. August 2020 - 13 B 1220/20.NE -, juris.
14Soweit die Antragsteller ausweislich der Begründung ihrer Beschwerde festgestellt wissen wollen, „welche Beschaffenheit die MNB hinsichtlich der Stoffdichte etc. haben muss“, steht auch dies in keinem Zusammenhang mit ihrem Begehren auf Erteilung einer Befreiung von der Pflicht zum Tragen der Mund-Nasen-Bedeckung. Schließlich ist auch dem in der Beschwerdebegründung geäußerten Begehren auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der schulordnungsrechtlichen Maßnahmen schon durch die verwaltungsgerichtliche Entscheidung Rechnung getragen worden.
15Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 161 Abs. 2 VwGO. Es entspricht im Sinne von § 161 Abs. 2 Satz 1 VwGO billigem Ermessen unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes, den Antragstellern auch hinsichtlich des für erledigt erklärten Teils des Rechtsstreits die Kosten aufzuerlegen, da die Beschwerde mit Blick auf die Defizite der vorgenannten Atteste auch insoweit nicht erfolgreich gewesen wäre.
16Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 1, 52, 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG. Bietet der Sach- und Streitstand - wie hier - für die Bestimmung des Streitwerts keine genügen Anhaltspunkte, ist grundsätzlich ein Streitwert von 5.000 Euro anzunehmen, §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 2 GKG. Dieser wird nach der ständigen Rechtsprechung des Senats,
17vgl. dazu nur OVG NRW, Beschluss vom 16. März 2009 - 13 C 1/09 -, juris, Rn. 37 ff.,
18nicht reduziert, wenn das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes auf eine Vorwegnahme der Hauptsache zielt, vgl. dazu auch Ziffer 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Der so ermittelte Streitwert ist für jeden Antragsteller gemäß § 39 Abs. 1 GKG in Ansatz zu bringen.
19Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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Gründe
1
Die Antragstellerin wendet sich dagegen, dass ihr die Antragsgegnerin nach Besuch des 10. Schuljahrgangs mit dem Realschul-Abschlusszeugnis vom 15. Juni 2020 nur den Sekundarabschluss I – Realschulabschluss zuerkannt hat und nicht den Erweiterten Sekundarabschluss I.
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Der sinngemäß gestellte Antrag, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, der Antragstellerin vorläufig den Erweiterten Sekundarabschluss I zuzuerkennen, hat keinen Erfolg.
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Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes erlassen, wenn diese Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile oder aus anderen Gründen notwendig erscheint. Dazu muss der Antragsteller grundsätzlich glaubhaft machen, dass die gerichtliche Entscheidung eilbedürftig ist (Anordnungsgrund) und der geltend gemachte Anspruch besteht (Anordnungsanspruch). Besondere Anforderungen gelten für den Fall, dass die begehrte Anordnung die Entscheidung in der Hauptsache vorwegnehmen würde. Da die einstweilige Anordnung grundsätzlich nur zur Regelung eines vorläufigen Zustandes ausgesprochen werden darf, ist sie in diesen Fällen nur möglich, wenn sonst das Grundrecht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes verletzt würde. So darf die Entscheidung in der Hauptsache ausnahmsweise vorweggenommen werden, wenn ein Hauptsacheverfahren mit überwiegender Wahrscheinlichkeit Erfolg haben würde und wenn es dem Antragsteller darüber hinaus schlechthin unzumutbar wäre, den Abschluss des Hauptsacheverfahrens abzuwarten (vgl. z. B. VG Braunschweig, B. v. 19.08.2003 - 6 B 315/03 -, www.rechtsprechung.niedersachsen.de = NVwZ-RR 2004, 110; Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl., Rn. 190 ff.). Diese Anforderungen sind nicht erfüllt.
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Der Eilantrag der Antragstellerin ist auf die Vorwegnahme der Hauptsache gerichtet. Eine die Anforderungen an den Erlass einer einstweiligen Anordnung erhöhende Vorwegnahme der Hauptsache liegt schon dann vor, wenn die begehrte Entscheidung des Gerichts dem Antragsteller für die Dauer eines Hauptsacheverfahrens die Rechtsposition vermitteln würde, die er in der Hauptsache anstrebt (vgl. Nds. OVG, B. v. 23.11.1999 - 13 M 3944/99 -, NVwZ-RR 2001, 241; Finkelnburg/Dombert/Külpmann, a.a.O., Rn. 179 f.). Dies ist hier der Fall. Die Antragstellerin will ausdrücklich so gestellt werden, als habe sie den Erweiterten Sekundarabschluss I erworben, und damit jedenfalls vorübergehend diejenige Rechtsposition erreichen, die sie in einem Hauptsacheverfahren erstreiten müsste.
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Die Antragstellerin hat nicht glaubhaft gemacht, dass ein Hauptsacheverfahren mit überwiegender Wahrscheinlichkeit Erfolg haben würde und damit die besonderen Voraussetzungen erfüllt sind, unter denen bei einem auf die Vorwegnahme der Hauptsache gerichteten Eilantrag von einem Anordnungsanspruch ausgegangen werden kann. Nach den vorliegenden Unterlagen ist nicht ersichtlich, dass eine eventuell nachfolgende Klage gegen die von der Antragstellerin beanstandeten Zeugnisnoten und die Entscheidung der Antragsgegnerin, ihr nicht den Erweiterten Sekundarabschluss I zuzuerkennen, mit überwiegender Wahrscheinlichkeit Erfolg hätte.
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Rechtsgrundlage für die Entscheidung der Antragsgegnerin über den Schulabschluss der Antragstellerin ist die Regelung in § 7 der Verordnung über die Abschlüsse im Sekundarbereich I der allgemein bildenden Schulen einschließlich der Freien Waldorfschulen (AVO-Sek I) vom 7. April 1994 (Nds. GVBl. S. 197), zuletzt geändert durch Verordnung vom 23. September 2020 (Nds. GVBl. S. 332). Danach erwirbt den Erweiterten Sekundarabschluss I, wer über die Voraussetzungen für den Erwerb des Sekundarabschlusses I – Realschulabschluss nach § 6 AVO-Sek I hinaus im Durchschnitt (mindestens) befriedigende Leistungen – erstens – in allen Pflichtfächern und Wahlpflichtkursen sowie – zweitens – in den Pflichtfächern Deutsch, erste Fremdsprache und Mathematik erbracht hat. Da die Leistungen der Antragstellerin in den Fächern Deutsch und Englisch (erste Fremdsprache) jeweils mit der Note ausreichend und in Mathematik mit der Note befriedigend bewertet worden sind, erfüllt sie die gesetzlichen Voraussetzungen für den Erweiterten Sekundarabschluss I nicht. Dazu hätte sie in den drei Fächern eine Durchschnittsnote von 3,0 oder besser aufweisen müssen (vgl. § 22 Abs. 2 AVO-Sek I).
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Die von der Antragstellerin angegriffene Bewertung ihrer Leistungen in den Fächern Deutsch, Englisch und Mathematik ist nach den vorliegenden Unterlagen rechtlich nicht zu beanstanden.
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I. Soweit sie geltend macht, die Vorbereitung auf die Abschlussprüfungen in diesen Fächern sei unter Berücksichtigung der durch die COVID-19-Pandemie verursachten besonderen Umstände unzureichend gewesen, kann dies nicht zur Rechtswidrigkeit der Leistungsbewertungen und zur Entscheidung über den Schulabschluss führen. Die Antragstellerin hat die angeblichen Mängel in der Vorbereitung nicht rechtzeitig vor den Prüfungen gerügt. Sie ist daher jetzt – nachdem sie sich den Prüfungen unterzogen hat – mit den von ihr insoweit erhobenen Einwänden ausgeschlossen (1.). Unabhängig davon ist aber auch nicht ersichtlich, dass die Prüfungsvorbereitung rechtlich fehlerhaft gewesen ist (2.).
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1. Die Antragstellerin hat die angeblichen Mängel in der Prüfungsvorbereitung nicht rechtzeitig gerügt.
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Mängel in der Vorbereitung auf eine Prüfung, wie beispielsweise eine zu kurze Vorbereitungszeit, können wie andere Ausbildungsmängel als Verfahrensfehler anzusehen sein und damit nicht nur einen Anspruch auf hinreichende Verlängerung der Ausbildungszeit begründen, sondern zur Rechtswidrigkeit der Prüfungsentscheidung führen, wenn die Vorbereitung bzw. Ausbildung nach der Konzeption des betreffenden Bildungs- oder Studiengangs integrierter Bestandteil des Prüfungsvorgangs ist (vgl. BVerwG, B. v. 12.11.1992 - 6 B 36.92 -, juris Rn. 2). Dies wird bei schulischen Abschlussprüfungen jedenfalls in aller Regel der Fall sein (vgl. Niehues/Fischer/Jeremias, Prüfungsrecht, 7. Aufl., Rn. 628; s. auch VG Berlin, U. v. 18.06.2014 - VG 12 K 941.13 -, BeckRS 2014, 123239 Rn. 24).
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Allerdings trifft die Schülerinnen und Schüler wie alle Prüflinge in Prüfungsverfahren eine Mitwirkungspflicht. Ihnen obliegt es, das Ihnen Zumutbare zu einem ordnungsgemäßen Prüfungsablauf beizutragen und auf eine fehlerfreie Verfahrensgestaltung hinzuwirken. Daher müssen sie eine (angeblich) unzureichende Prüfungsvorbereitung wie andere Ausbildungsdefizite und sonstige Verfahrensfehler unverzüglich und damit grundsätzlich vor Beginn der Prüfung rügen. Unterbleibt diese Rüge, ist es der Schülerin oder dem Schüler grundsätzlich verwehrt, die Mängel nach der Prüfung geltend zu machen. Wird die Rüge nicht rechtzeitig erhoben, erlischt der Anspruch des Prüflings auf Beseitigung des Mangels und seiner Folgen (vgl. zu allem - ausdrücklich für Vorbereitungsmängel - Nds. OVG, B. v. 22.12.2003 - 2 NB 394/03 -, juris Rn. 3; VG München, U. v. 28.03.2017 - M 16 K 14.5156 -, juris Rn. 24; VG Berlin, B. v. 22.02.2013 - 3 K 291.12 -, juris Rn. 10; U. v. 29.01.2013 - 3 K 616.11 -, juris Rn. 32; s. auch Littmann in: Brockmann/Schippmann/Littmann, NSchG, Stand: September 2020, § 59 Anm. 7.2.3; für „Ausbildungsmängel“ ebenso BVerwG, a.a.O., Rn. 6 ff.; OVG Berlin-Brandenburg, B. v. 02.08.2017 - 5 N 30.16 -, BeckRS 2017, 139690 Rn. 9; OVG Nordrhein-Westfalen, B. v. 19.12.2016 - 6 A 1699/15 -, juris Rn. 26 ff.; VGH Baden-Württemberg, B. v. 03.07.2012 - 9 S 2189/11 -, juris Rn. 19; VG Berlin, B. v. 11.03.2013 - 12 L 1326.12 -; Niehues/Fischer/Jeremias, a.a.O., Rn. 388a). Dies dient dazu, die Chancengleichheit in Prüfungen zu gewährleisten (vgl. VGH Baden-Württemberg, a.a.O., Rn. 17). Wäre ein Verfahrensfehler zeitlich unbegrenzt zu berücksichtigen, hätte es der Prüfungskandidat unter unzulässiger Bevorzugung gegenüber anderen Prüflingen in der Hand, die erbrachte Prüfungsleistung je nach Ausgang der Prüfung gelten oder annullieren zu lassen, dadurch sein Risiko gegenüber dem der anderen Prüflinge zu mindern und sich eine weitere Prüfungschance zu verschaffen. Darüber hinaus soll die Rügepflicht der Prüfungsbehörde die zeitnahe Überprüfung der gerügten Defizite mit dem Ziel einer schnellstmöglichen Aufklärung und unter Umständen einer noch rechtzeitigen Korrektur oder Kompensation festgestellter Mängel ermöglichen.
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Die Pflicht zur rechtzeitigen Rüge von Vorbereitungsmängeln erfüllt die Schülerin oder der Schüler grundsätzlich nur dann, wenn die Rüge vor Beginn der jeweiligen Prüfung und in unmittelbarem Zusammenhang mit dieser erhoben wird. Daher genügt es nicht, die Mängel während des Unterrichts gegenüber einer Lehrkraft anzusprechen. Sind die gerügten Mängel bis zur Prüfung nicht beseitigt, ist es dem betroffenen Prüfling zuzumuten, die Prüfung unter einem ausdrücklich erklärten Vorbehalt abzulegen (vgl. zu allem: BVerwG, B. v. 12.11.1992, a.a.O., Rn. 6 ff.; VGH Baden-Württemberg, a.a.O., Rn. 19). Dass der Prüfling einen Vorbereitungsmangel nicht vor Beginn der Prüfungen gerügt hat, kann ihm nur dann nicht vorgehalten werden, wenn ihm diese Rüge ausnahmsweise nach den besonderen Umständen des Einzelfalles nicht zuzumuten gewesen ist (vgl. Nds. OVG, a.a.O., Rn. 3). Da die Chancengleichheit betroffen ist, gilt dafür ein strenger Maßstab (vgl. Niehues/Fischer/Jeremias, a.a.O., Rn. 218 m.w.N.).
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Nach diesen Maßstäben hat die Antragstellerin die aus ihrer Sicht bestehenden Vorbereitungsmängel nicht rechtzeitig gerügt. Sie hat eine solche Rüge nach eigenen Angaben nicht vor den Abschlussprüfungen (§ 27 AVO-Sek I) und in unmittelbarem Zusammenhang mit diesen erhoben, sondern erst im Widerspruchsverfahren. Auf die Prüfungen hat sie sich vorbehaltlos eingelassen. Die Rüge einer ihrer Auffassung nach unzureichenden Vorbereitung hat sie erst im Rahmen der Begründung des gegen das Abschlusszeugnis gerichteten Widerspruchs und damit verspätet erhoben. Die nachträgliche Beanstandung (angeblicher) Vorbereitungsdefizite ist ihr aus Gründen der Chancengleichheit verwehrt.
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Dass es der Antragstellerin ausnahmsweise nicht zuzumuten gewesen ist, die von ihr geltend gemachten Mängel schon vor Beginn der Prüfungen zu rügen, ist nicht ersichtlich. Ihre Rüge hat sie auf eine angeblich verfehlte Schwerpunktbildung der Fachlehrkräfte in der Vorbereitungszeit gestützt und die ihrer Ansicht nach in verschiedener Hinsicht unzureichend kompensierten pandemiebedingten Beschränkungen des Präsenz-unterrichts. Diese Umstände sind ihr bereits vor Beginn der Abschlussprüfungen bekannt gewesen. Die Antragstellerin hatte bis zum Beginn der Prüfungen die Möglichkeit, die Situation zu reflektieren und eine Entscheidung darüber zu treffen, ob sie eine Rüge erheben will. Die Rüge wäre auch nicht mit der Pflicht verbunden gewesen, die Prüfungen nicht anzutreten und damit das Nichtbestehen zu riskieren. Den rechtlichen Anforderungen, die sich aus dem Grundsatz der Chancengleichheit ergeben, hätte es genügt, wenn die Antragstellerin nach der Rüge unter einem ausdrücklich erklärten Vorbehalt an den Prüfungen teilgenommen hätte. Dies wäre ihr zumutbar gewesen.
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Die Antragstellerin kann insoweit auch nicht erfolgreich geltend machen, sie und „alle Beteiligte“ hätten keinerlei Erfahrungen im Hinblick auf die Abschlussprüfungen gehabt, sodass sie die Gegebenheiten nur sehr eingeschränkt habe abschätzen können. Mangelnde Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler im Hinblick auf schulische Abschlussprüfungen sind der Regelfall und können daher schon aus diesem Grund nicht die strengen Anforderungen erfüllen, die zur Gewährleistung der Chancengleichheit aller Prüfungskandidaten an die ausnahmsweise Zulässigkeit einer späteren Rüge zu stellen sind. Im Übrigen ist die Rüge nicht erst dann zumutbar, wenn die Schülerin oder der Schüler die Tragweite der (angeblichen) Mängel für die Prüfung in vollem Umfang abschätzen kann. Dies wird – wenn überhaupt – nur in sehr wenigen Fällen möglich sein. Der Prüfling soll gerade nicht spekulativ abwarten dürfen, wie sich ein Vorbereitungsmangel im Einzelnen auf seine Prüfung auswirkt. Nach dem im Sinne der Chancengleichheit strengen Maßstab ist die Rüge dem Prüfling vielmehr schon dann vor Beginn der Prüfungen zuzumuten, wenn ihm die von ihm beanstandeten Mängel zu diesem Zeitpunkt bereits bekannt waren (s. auch BVerwG, B. v. 12.11.1992, a.a.O., Rn. 8). Dies ist hier der Fall gewesen.
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2. Unabhängig davon hat die Antragstellerin aber auch nicht dargelegt, dass Mängel in der Prüfungsvorbereitung vorgelegen haben, die bei rechtzeitiger Rüge zur Rechtswidrigkeit der Prüfungsentscheidungen geführt hätten.
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Auch die Vorbereitung auf eine schulische Abschlussprüfung unterliegt rechtlichen Regelungen. Für sie gilt zunächst ebenfalls der sich aus Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes ergebende Grundsatz der Chancengleichheit. Danach ist die Vorbereitungszeit für alle Prüflinge im Wesentlichen gleich zu bemessen (OEufach0000000063, B. v. 12.09.1989 - 1 B 70/89 u.a. -, juris Rn. 8; Niehues/Fischer/Jeremias, a.a.O., Rn. 187). Alle Prüflinge müssen grundsätzlich die gleiche Chance haben, sich angemessen auf die Prüfung vorzubereiten. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Schulen insoweit absolut gleiche Bedingungen schon aus tatsächlichen Gründen nicht gewährleisten können. Ungleichheiten, die sich aus von den Schulen nicht zu beeinflussenden äußeren Umständen wie einer weltweiten gesundheitlichen Krisensituation ergeben oder aus persönlichen und sozialen Umständen allgemeiner Art wie z.B. familiären Belastungen, die über das konkrete Prüfungsverfahren hinauswirken, sind von dem Prüfling hinzunehmen (vgl. VG Berlin, B. v. 20.04.2020 - 3 L 155.20 -, juris Rn. 23, bestätigt durch OVG Berlin-Brandenburg, B. v. 21.04.2020 - OVG 3 S 30.20 -, juris; Niehues/Fischer/Jeremias, a.a.O., Rn. 403). Auch inhaltlich muss die Prüfungsvorbereitung bestimmten Mindestanforderungen genügen. Die Schulen müssen bei der Vorbereitung etwa vorhandene spezielle rechtliche Vorgaben berücksichtigen. Darüber hinaus müssen sie bei den berufsrelevanten Abschlussprüfungen schon wegen des insoweit betroffenen Grundrechts der Schülerinnen und Schüler aus Art. 12 Abs. 1 des Grundgesetzes auch inhaltlich eine angemessene, auf die jeweiligen Prüfungsinhalte bezogene Prüfungsvorbereitung gewährleisten. Beeinträchtigungen durch äußere Umstände wie eine gesundheitliche Krisensituation sind den Schulen dabei ebenfalls nicht zuzurechnen. Sie haben in diesen Fällen aber Maßnahmen zu treffen, um die Auswirkungen möglichst in Grenzen zu halten. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Methodik der Wissensvermittlung in die eigene pädagogische Verantwortung der Lehrkräfte fällt; Entscheidungen der Lehrkräfte sind insoweit nur begrenzt gerichtlich überprüfbar, insbesondere dahin, ob sie den geltenden Rechtsvorschriften entsprechen (vgl. dazu § 50 Abs. 1 NSchG und BVerwG, B. v. 18.05.1982 - 1 WB 148/78 -, juris Rn. 46, 49 und 52 sowie Nds. OVG, B. v. 03.06.2020 - 2 ME 265/20 -, juris Rn. 9). Ein zur Rechtswidrigkeit der Prüfungsentscheidung führender Rechtsfehler liegt im Fall einer durch äußere Umstände beeinträchtigten Vorbereitungszeit nach allem vor, wenn damit eine angemessene, dem Gebot der Chancengleichheit entsprechende Vorbereitung auf die Prüfungen schlechterdings nicht möglich war (ebenso im Ergebnis VG Berlin, B. v. 20.04.2020, a.a.O., Rn. 23; ähnlich Fischer/Dieterich, NVwZ 2020, 657, 659). Danach sind hier Rechtsfehler nicht ersichtlich.
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Die Kammer verkennt nicht, dass wegen der durch die COVID-19-Pandemie verursachten Schulschließungen, derentwegen auch an den Realschulen Niedersachsens im Zeitraum vom 16. März bis zum 24. April 2020 kein und ab dem 27. April 2020 ein nur eingeschränkter Präsenzunterricht stattgefunden hat, die Vorbereitung der Schülerinnen und Schüler auf die Abschlussprüfungen im Jahr 2020 auch bei der Antragsgegnerin nur unter erschwerten Bedingungen möglich gewesen ist. Rechtsverstöße, die zur Rechtswidrigkeit der Prüfungsentscheidungen führen könnten, sind nach den vorliegenden Unterlagen aber nicht erkennbar.
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Die Bedingungen waren für alle Schülerinnen und Schüler der Abschlussklasse gleich. Die sich aus der Pandemie ergebenden Beeinträchtigungen in der Vorbereitung auf die Abschlussprüfungen sind von den Schülerinnen und Schülern grundsätzlich hinzunehmen (im Ergebnis ebenso VG Berlin, B. v. 20.04.2020, a.a.O., Rn. 23, 26; bestätigt durch OVG Berlin-Brandenburg, a.a.O.). Diese Beeinträchtigungen sind auf eine weltweite gesundheitliche Krisensituation zurückzuführen, auf die die Schulen keinen Einfluss haben und die ihnen daher auch rechtlich nicht zuzurechnen sind. Die Antragsgegnerin hat auf diese Krisensituation nach der im vorliegenden Verfahren nur möglichen summarischen Prüfung der Sachlage mit der Gewährleistung des außerschulischen Unterrichts während der Schulschließungen, der Wiederaufnahme des Präsenzunterrichts und gesteigerten Informationspflichten gegenüber den Schülerinnen und Schülern, jeweils auf der Grundlage der vom Kultusministerium erlassenen Regelungen und Empfehlungen, angemessen reagiert, um die Beeinträchtigungen der Prüfungsvorbereitungen in Grenzen zu halten (s. dazu z.B. Erlasse d. MK v. 13.03.2020 und v. 16.04.2020, sowie die vom MK herausgegebenen Leitfäden „Schule in Corona-Zeiten“ und „Lernen zu Hause“ v. April 2020). Dass ein Ausnahmefall vorliegt, in dem Beeinträchtigungen in der Vorbereitung die Rechtswidrigkeit der Prüfungsentscheidungen bewirken können, hat die Antragstellerin nicht glaubhaft gemacht. Nach den vorliegenden Unterlagen ist nicht ersichtlich, dass ihr eine angemessene, dem Gebot der Chancengleichheit entsprechende Vorbereitung auf die Abschlussprüfungen der Antragsgegnerin schlechterdings nicht möglich war.
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Dabei ist zum einen zu berücksichtigen, dass Präsenzunterricht nicht nur vor, sondern auch nach den Schulschließungen – wenn auch in eingeschränktem Umfang – wieder stattgefunden hat (s. dazu den Leitfaden „Schule in Corona-Zeiten“ v. April 2020). Zum anderen sind die Schülerinnen und Schüler der Abschlussklassen auch nach dem Vortrag der Antragstellerin während der Schulschließung online unterrichtet worden. Dass der Unterricht dabei nach der Darstellung der Antragstellerin vorwiegend so ausgestaltet war, dass die Schülerinnen und Schüler die „Abschlusshefte“ selbstständig bearbeiten sollten und nach Ansicht der Antragstellerin in den Prüfungsfächern zu wenige Aufgaben zur Bearbeitung erhielten, weist nicht auf Rechtsfehler hin. Die Schulen durften von den Schülerinnen und Schülern der Abschlussklassen während der pandemiebedingten Schulschließungen ein gesteigertes Maß an Selbstdisziplin und Eigeninitiative bei der Erarbeitung des Lernstoffes für die Prüfungen verlangen. Anders war eine Vorbereitung auf die Prüfungen wegen der besonderen Umstände nicht möglich. Dies war auch deswegen gerechtfertigt, weil das Kultusministerium und die Schulen den Schülerinnen und Schülern trotz der schwierigen Umstände der Corona-Krise eine reguläre Prüfung ermöglichen wollten, um sie nicht durch eine Verschiebung der Prüfungen oder die Erteilung von Not-Abschlüssen langfristig in ihrer Bildungsbiographie und damit vor allem auch bei Bewerbungen zu benachteiligen (vgl. auch VG Berlin, B. v. 20.04.2020, a.a.O., Rn. 29). Unabhängig davon gehört es zu den Bildungszielen der Realschulen, selbstständiges Lernen zu fördern (vgl. § 10 Abs. 1 Satz 2 NSchG). Wenn eine Lehrkraft während der vorübergehenden Schulschließung im Rahmen ihrer pädagogischen Gestaltungsfreiheit zur Prüfungsvorbereitung vorwiegend auf selbstständiges Lernen gesetzt hat, ist dies demnach rechtlich nicht zu beanstanden. Im Übrigen ist nicht ersichtlich, dass eine angemessene Prüfungsvorbereitung durch diese Praxis schlechthin unmöglich geworden ist. Die Antragstellerin hat nicht aufgezeigt, dass nur eine höhere Anzahl von Aufgaben eine angemessene Prüfungsvorbereitung ermöglicht hätte. Schließlich hat sie eingeräumt, dass sie selbst die ihr jedenfalls im Fach Deutsch von der Fachlehrerin angebotene Möglichkeit, zusätzliche Aufgaben zu bearbeiten, nicht wahrgenommen hat. Auch die Englisch-Lehrerin hat in ihrer schriftlichen Stellungnahme vom 22. August 2020 erklärt, die Antragstellerin habe regelmäßig per E-Mail Kontakt mit ihr aufgenommen, jedoch nie das Angebot angenommen, sich ein Thema zur Bearbeitung zu wünschen; außerdem habe sie niemals erwähnt, dass sie sich weitere Aufgaben wünsche.
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Soweit die Antragstellerin geltend macht, sie habe in der Vorbereitungszeit nicht die ausreichende Möglichkeit gehabt, den Lehrkräften Fragen zum Unterrichtsstoff zu stellen, ist dies schon nicht nachvollziehbar. Es ist nicht ersichtlich, dass die Kommunikation mit den Fachlehrern insbesondere per Telefon oder per E-Mail während der Schulschließungen nicht möglich gewesen ist. Die Möglichkeit, mit den Lehrkräften telefonisch Kontakt aufzunehmen, war im Übrigen auch nach Erlasslage zu gewährleisten (vgl. den Erlass des MK v. 16.04.2020 - 82300 -, Ziff. 3). Die Fachlehrerinnen für Deutsch und Englisch haben die Möglichkeit der Schülerinnen und Schüler, mit ihnen Kontakt aufzunehmen, ausdrücklich bestätigt. So hat die Deutsch-Lehrerin Frau E. den Schülerinnen und Schülern nach den vorgelegten Unterlagen ausdrücklich angeboten, sich mit Fragen oder Anliegen direkt an sie zu wenden (E-Mail v. 07.08.2020). Die Englisch-Lehrerin Frau F. hat in ihrer schriftlichen Stellungnahme vom 22. August 2020 angegeben, die Antragstellerin habe regelmäßig per Mail Fragen an sie gestellt, die sie immer zeitnah, überwiegend noch am gleichen Tag beantwortet habe. Die Kammer hat keinen Anlass, an der Richtigkeit dieser Angaben zu zweifeln. Im Übrigen liegt der Kammer der Ausdruck einer E-Mail der Fachlehrerin Frau F. vom 16. März 2020 an die Klasse der Antragstellerin vor, in der sie anbietet, ihr Fragen per E-Mail zu übersenden. Auch wenn andere Lehrkräfte entsprechende Angebote nicht gemacht haben sollten, wäre der Antragstellerin ohne Weiteres zuzumuten gewesen, die aufgetretenen Fragestellungen in eigener Initiative mit den Lehrkräften zu klären. Unabhängig davon ist der Präsenzunterricht nach der Wiederöffnung der Schulen wieder aufgenommen worden. Nach dem Vortrag der Antragstellerin ist nicht ersichtlich, dass sich ihre Fragen zum Unterrichts- und Prüfungsstoff nicht zumindest in der danach bis zu den Prüfungen im Mai 2020 verbliebenen Zeit hätten klären lassen.
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Die Antragstellerin kann auch nicht erfolgreich geltend machen, die Schule habe bei der Vorbereitung auf die Prüfungen einen falschen Schwerpunkt gesetzt, der Arbeitsaufwand in den Nebenfächern habe zulasten der Vorbereitung in den Hauptfächern einen zu großen Anteil eingenommen. Nach dem Vortrag der Antragstellerin ist schon nicht ersichtlich, dass ihr nach Bearbeitung der in den Nebenfächern erteilten Aufgaben nicht mehr hinreichend Zeit verblieben ist, um sich angemessen auf die Prüfungen vorzubereiten. Gerade vor den Abschlussprüfungen darf den Schülerinnen und Schülern, die einen Erweiterten Sekundarabschluss I anstreben, ein erhöhter Arbeitsaufwand abverlangt werden, der dazu führen kann, Arbeitszeiten beispielsweise auch in sonst üblicherweise für Freizeitaktivitäten vorgehaltene Wochentage auszudehnen. Dass die Antragstellerin auch unter Berücksichtigung dieser Anforderungen nicht in der Lage gewesen ist, sich angemessen auf die Prüfungen vorzubereiten, ist nach den vorliegenden Unterlagen nicht ersichtlich.
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Unabhängig davon weist die Antragsgegnerin zutreffend darauf hin, dass es vorrangig Sache der Schülerin oder des Schülers ist, in der Vorbereitung auf Abschlussprüfungen sinnvolle, d.h. die eigenen Stärken und Schwächen berücksichtigende Schwerpunkte zu setzen. Dies ist eine Fähigkeit, die die Realschule vermitteln soll (s. auch § 10 Abs. 1 Satz 2 NSchG) und die der Prüfling letztlich auch in den Abschlussprüfungen nachzuweisen hat. Schwerpunkte lassen sich vor allem dadurch setzen, dass die Bearbeitungszeit oder die Bearbeitungstiefe in als weniger relevant angesehenen Fächern verringert wird. Dass eine solche eigenständige Schwerpunktsetzung wegen des nach dem Vortrag der Antragstellerin erheblichen Arbeitsanfalls in den Nebenfächern schlechthin unmöglich gewesen ist, ist nicht ersichtlich. Dies wird auch durch die Feststellungen der Abhilfekonferenz der Antragsgegnerin bestätigt, die nach Anhörung der Klassenlehrerin, eines weiteren Fachlehrers und der Schülervertreterin zu dem Ergebnis gekommen ist, eine übermäßige Beanspruchung in den Nebenfächern habe es nicht gegeben (Protokoll der Abhilfekonferenz v. 24.08.2020, Bl. 28 Beiakte 002). Nach Wiederaufnahme des Präsenzunterrichts ab dem 27. April 2020 seien die Aufgabenstellungen noch einmal deutlich reduziert worden (a.a.O.).
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Darüber hinaus hat die Klassenlehrerin der Antragstellerin diese nach den Angaben im Protokoll der Abhilfekonferenz vom 24. August 2020 mehrfach darauf hingewiesen, die für die Bearbeitung von Aufgaben in den Nebenfächern nach den Vorgaben der Schulleitung zu begrenzenden Arbeitszeiten einzuhalten, damit mehr Lernzeit für die Hauptfächer bleibe. Sie habe festgestellt, dass die Antragstellerin oft mehr Zeit mit der Bearbeitung der Aufgaben in den Nebenfächern verbringe. Weil die Antragstellerin schon zum Halbjahr in den Fächern Deutsch und Englisch auf der Note 4 gestanden habe, habe sie auch den Onkel der Antragstellerin in Telefongesprächen darauf hingewiesen, dass sie in den Hauptfächern „Gas geben“ müsse, um den Erweiterten Sekundarabschluss I zu erreichen. Diese Angaben deuten darauf hin, dass der Antragstellerin die ihr abzuverlangende sinnvolle Schwerpunktsetzung in der Vorbereitung auf die Abschlussprüfungen nicht gelungen ist.
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Soweit die Antragstellerin behauptet hat, in den Hauptfächern sei der Lernstoff mit den Schülerinnen und Schülern nicht wiederholt worden, ist die Antragsgegnerin dem unter Hinweis auf den ab dem 27. April 2020 wieder aufgenommenen Präsenzunterricht entgegengetreten, der in den Hauptfächern gezielt auch der Wiederholung und der Vorbereitung auf die Prüfungen gedient habe. Ihre dem entgegenstehende Behauptung hat die Antragstellerin nicht glaubhaft gemacht. Gegen die Behauptung der Antragstellerin spricht darüber hinaus, dass die Deutsch-Lehrerin Frau E. nach ihrer E-Mail vom 7. August 2020 Themen benannt hat, die wiederholt werden sollten; außerdem habe sie abgefragt, welche Themen die Schülerinnen und Schüler wiederholen wollten, die Antragstellerin habe sich daraufhin nicht gemeldet. Auch die Angaben der Englisch-Lehrerin Frau F. sprechen gegen die Darstellung der Antragstellerin. Frau F. hat in ihrer Stellungnahme vom 22. August 2020 auf das zur Vorbereitung von den Schülerinnen und Schülern angeschaffte Unterrichtsmaterial verwiesen, das der Einübung der für die Abschlussprüfung erforderlichen Fertigkeiten – und damit auch der Wiederholung – diente. Darüber hinaus hat Frau F. in ihrer Stellungnahme angegeben, sie habe den Schülerinnen und Schülern vorgeschlagen, Themen zu nennen, die sie zur Vorbereitung auf die Abschlussprüfung wiederholen möchten. Die Klasse der Antragstellerin habe dieses Angebot nicht angenommen. Unabhängig davon hat die Antragstellerin auch insoweit nicht substanziiert aufgezeigt, dass eine angemessene Vorbereitung trotz des jedenfalls zur Verfügung stehenden Lehrangebots nur durch die von ihr offenbar darüber hinaus für erforderlich erachtete Wiederholung von Unterrichtsstoff unter Anleitung der Lehrkräfte möglich gewesen ist. Die Wiederholung von Unterrichtsstoff ist in weitem Umfang auch in eigener Initiative möglich; diese ist den Schülerinnen und Schülern einer Abschlussklasse vor den Prüfungen – gerade auch im Hinblick auf die durch die Pandemie verursachten Unterrichtsbeschränkungen – abzuverlangen.
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Inwieweit ein Lehrerwechsel im 9. Jahrgang rechtlich relevant sein soll, erschließt sich nicht. Soweit die Antragstellerin geltend macht, dieser Lehrerwechsel habe sich als „problematisch“ erwiesen, ist schon nicht substanziiert vorgetragen, welche Schwierigkeiten sich konkret ergeben haben. Dass eine andere Schülerin nach dem Lehrerwechsel nach Darstellung der Antragstellerin eine deutlich schlechtere Note erhalten hat, genügt nicht für die Annahme hier entscheidungsrelevanter Rechtsfehler.
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II. Die Antragstellerin hat auch keine Anhaltspunkte dafür aufgezeigt, dass die Leistungsbewertungen in den Fächern Deutsch, Englisch und Mathematik materiell-rechtlich fehlerhaft sind.
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Die Bewertung der im Rahmen einer schulischen Abschlussprüfung erbrachten Leistungen durch die Lehrkräfte ist gerichtlich nur beschränkt überprüfbar. Dabei ist zwischen prüfungsspezifischen Wertungen und Fachfragen zu unterscheiden. Den Prüfern, d.h. den Lehrkräften, steht ein gerichtlich nur beschränkt überprüfbarer Bewertungsspielraum zu, soweit sie prüfungsspezifische Wertungen treffen müssen. Dem liegt das Gebot der vergleichenden Beurteilung von Prüfungsleistungen zugrunde, das letztlich aus dem das Prüfungsrecht beherrschenden Grundsatz der Chancengleichheit herzuleiten ist. Eine unabhängig vom Bezugs- und Vergleichsrahmen der Lehrkräfte erfolgende Leistungsbewertung durch das Gericht würde die Maßstäbe verzerren, einzelnen Schülern die Bewertung nach besonderen Kriterien eröffnen und damit letztlich den Grundsatz der Chancengleichheit verletzen. Soweit ein Beurteilungsspielraum eröffnet ist, darf das Gericht die Leistungsbewertung daher nur darauf überprüfen, ob die Grenzen dieses Spielraums überschritten worden sind, weil die Prüfer etwa von falschen Tatsachen ausgegangen sind, allgemein anerkannte Bewertungsgrundsätze missachtet oder sachfremde und damit willkürliche Erwägungen angestellt haben. Zu den prüfungsspezifischen Fragen, die der Letztentscheidungskompetenz der Prüfer überlassen bleiben, gehört insbesondere die Benotung, darüber hinaus aber auch die Gewichtung verschiedener Aufgaben untereinander und der Schwere einzelner Fehler, die Überzeugungskraft der Argumente, die Einordnung des Schwierigkeitsgrades der Aufgabenstellung und die Würdigung der Qualität der Darstellung sowie der Geordnetheit der Darlegungen Weiter reicht die gerichtliche Kontrolle hingegen im Hinblick auf Fachfragen. Insoweit hat das Gericht zu überprüfen, ob eine von der Lehrkraft als falsch bewertete Lösung zu Einzelfragen im Gegenteil als richtig oder jedenfalls vertretbar anzusehen ist. Unter Fachfragen sind alle Fragen zu verstehen, die fachwissenschaftlicher Erörterung zugänglich sind (vgl. zu allem BVerwG, B. v. 17.12.1997 - 6 B 55/97 -, NVwZ 1998, 738 ff.; U. v. 21.10.1993 - 6 C 12/92 -, Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 320, S. 308; Nds. OVG, U. v. 24.05.2011 - 2 LB 158/10 -, juris Rn. 46; VG Braunschweig, U. v. 11.02.2014 - 6 A 50/13 -, juris Rn. 35 ff. = SchuR 2014, 108; Niehues/Fischer/Jeremias, a.a.O., Rn. 633 ff., 874 ff.).
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Die Untersuchungsmaxime verpflichtet das Verwaltungsgericht nicht, das Prüfungsgeschehen von sich aus auf Fehler zu überprüfen. Vielmehr obliegt es dem Prüfling, konkrete und substanziierte Einwendungen gegen bestimmte Bewertungen der Prüfer vorzubringen. Im Hinblick auf eine als falsch bewertete Antwort auf eine Fachfrage muss der Prüfling die fachwissenschaftliche Richtigkeit bzw. Vertretbarkeit seiner Lösung mithilfe objektiver Kriterien, z. B. unter Bezugnahme auf qualifizierte Äußerungen in der Fachliteratur deutlich machen (vgl. Niehues/Fischer, a. a. O., Rn. 855 f.). Rügt er die prüfungsspezifischen Bewertungen der Prüfer, so genügt er seiner Darlegungslast, wenn er konkrete Fakten und Umstände darlegt, nach denen die Wertungen trotz des den Prüfern verbleibenden Bewertungsspielraums als rechtsfehlerhaft zu qualifizieren sind (vgl. Niehues/Fischer, a. a. O., Rn. 857).
30
Ausgehend von diesen Maßstäben ist nach den vorliegenden Unterlagen nicht ersichtlich, dass die Lehrkräfte die Leistungen der Antragstellerin rechtsfehlerhaft bewertet haben. Konkrete und substanziierte Einwendungen gegen bestimmte Bewertungen der Prüfer hat die Antragstellerin nicht vorgetragen.
31
Soweit die Antragstellerin geltend macht, sie hätte bei den Abschlussprüfungen nicht nur anhand ihrer Leistungen bewertet werden dürfen, die besonderen Umstände der Pandemie hätten vielmehr eine pädagogische Beurteilung der Schüler notwendig gemacht, kann dem nicht gefolgt werden. Grundsätzlich sind Lehrkräfte bei der Vergabe von Zeugnisnoten zwar nicht strikt an die sich aus den mündlichen und schriftlichen Leistungen ergebende rechnerische Gesamtnote gebunden (vgl. VG Braunschweig, B. v. 10.08.2011 - 6 B 157/11 -, juris Rn. 9 ff. m.w.N.); sie können auch berechtigt sein, pädagogische Gesichtspunkte einzubeziehen (vgl. VG Braunschweig, a.a.O., Rn. 10). Dies gilt jedoch nicht für die Notenvergabe bei Abschlussprüfungen. Die Ergebnisse der Realschul-Abschlussprüfung haben wesentliche Bedeutung für die Noten im Abschlusszeugnis (§ 29 Abs. 2 AVO-Sek I), für die Zuerkennung von Abschlüssen (§§ 6 ff. AVO-Sek I) und damit für den weiteren schulischen Bildungsweg sowie den Zugang der Schülerinnen und Schüler zu bestimmten Berufen. Für die Leistungsbewertung in Abschlussprüfungen greifen die dargelegten rechtlichen Anforderungen an die Leistungsbewertung, die sich aus dem Grundrecht auf Chancengleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG) und der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) ergeben, daher unmittelbar durch. Dies bedeutet, dass die erbrachten Leistungen der Schülerinnen und Schüler den alleinigen Maßstab für die Notenvergabe bilden. Auch die gesetzlichen Regelungen bringen dies zum Ausdruck (vgl. § 31 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 Satz 3, Abs. 5 Satz 5 und Abs. 6 Satz 1 AVO-Sek I). Rechtlich verbleibt den Lehrkräften daher kein Spielraum dafür, einem einzelnen Schüler oder einer einzelnen Schülerin aus pädagogischen Gründen eine bessere Abschlussnote zu erteilen (im Ergebnis ebenso Rux, Schulrecht, 6. Aufl., Rn. 492). Auch die Erschwernisse, die bei der Vorbereitung auf die schulischen Abschlussprüfungen aufgrund der COVID-19-Pandemie entstehen, entbinden die Schulen nicht von der sich schon aus der Verfassung ergebenden Pflicht, die Noten für die Abschlussprüfungen allein anhand der von den Schülerinnen und Schülern erbrachten Leistungen zu bestimmen. Rechtserhebliche und rechtzeitig gerügte Mängel in der Vorbereitung – die hier nicht vorliegen (s. oben) – können zur Rechtswidrigkeit der Prüfungsentscheidungen führen, nicht aber rechtfertigen, pädagogische, nicht leistungsbezogene Erwägungen in die Vergabe der Prüfungsnoten einfließen zu lassen.
32
Insbesondere waren die Lehrkräfte entgegen der Auffassung der Antragstellerin nicht berechtigt, ihr Arbeits- und Sozialverhalten bei der Vergabe der Fachnoten zu berücksichtigen. Nach den rechtlichen Vorgaben sind das Arbeits- und Sozialverhalten einerseits und die Leistungen in den Schulfächern andererseits getrennt zu bewerten (s. Nrn. 3.8, 3.4 und 3.5 des Erlasses „Zeugnisse in den allgemeinbildenden Schulen“, RdErl. des MK v. 03.05.2016 - SVBl. S. 303 - sowie § 38 a und § 31 AVO-Sek I). Die Bewertung des Arbeits- und Sozialverhaltens hat eine selbstständige rechtliche Bedeutung, sie ist aber nicht Grundlage für die Entscheidung über den Erwerb eines Abschlusses an der Realschule (vgl. die §§ 6 bis 8 AVO-Sek I und dazu VG Braunschweig, U. v. 18.02.2004 - 6 A 106/03 -, juris Rn. 26 = NVwZ-RR 2004, 576). Die in einem Abschlusszeugnis dokumentierten Fachnoten allein auf der Grundlage der in diesen Fächern erbrachten Leistungen der Schülerin oder des Schülers zu bilden, entspricht auch den dargelegten verfassungsrechtlichen Vorgaben.
33
Auch soweit sie der Auffassung ist, ihre schulische „Vorgeschichte“ hätte bei der Benotung berücksichtigt werden müssen, verkennt die Antragstellerin die rechtlichen Grundlagen für die Bildung der Fachnoten und die Entscheidung über den Schulabschluss. Für den Erwerb des Erweiterten Sekundarabschlusses I kommt es allein auf die im Abschlussjahrgang einschließlich der Abschlussprüfungen tatsächlich erbrachten Leistungen an (vgl. § 29 Abs. 2, § 28 und § 7 AVO-Sek I sowie Kaufmann in: Brockmann/Littmann/Schippmann, a.a.O., § 34 Anm. 3.5.1.1).
34
Der an den Realschulen des Landes Niedersachsen aufgrund der Pandemie im Schuljahr 2019/2020 reduzierte Unterrichtsumfang bildet jedenfalls eine ausreichende Grundlage für die „Vornoten“, also für die Bewertung der Leistungen, die neben den Noten der Abschlussprüfungen in die Abschlussnote einfließen (vgl. § 29 Abs. 2 AVO-Sek I sowie Nds. OVG, B. v. 03.06.2020 - 2 ME 265/20 -, juris Rn. 7).
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Tenor
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 13. Dezember 2018 – soweit dieser entgegensteht – verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% der festzusetzenden Kosten abwenden, falls nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrags leistet.
Tatbestand
1
Die Klägerin begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus und weiter hilfsweise die Feststellung eines Abschiebungsverbots hinsichtlich der Islamischen Republik Iran.
2
Die Klägerin ist iranische Staatsangehörige persischer Volkszugehörigkeit. Sie reiste ihrer Erstbefragung zufolge im Mai 2018 auf dem Luftweg von Iran über die Türkei, nach späteren Angaben bereits im Dezember 2017 auf dem Luftweg von Iran über die Niederlande in die Bundesrepublik Deutschland ein. Am 29. Oktober 2018 stellte sie einen Asylantrag.
3
Am 3. Dezember 2018 hörte die Beklagte – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) – die Klägerin persönlich an. Diese gab ausweislich der hierzu aufgenommenen Niederschrift im Wesentlichen an, vor ihrer Ausreise aus Iran in der Wohnung einer Freundin in Teheran gelebt zu haben. Zu ihrem ebenfalls in Teheran wohnenden Ehemann, von dem sie seit Januar 2018 getrennt lebe, habe sie keinen Kontakt. Nach dem Schulabschluss habe sie einen Bachelor im Bereich Filmregie erworben und zuletzt in der Werbebranche gearbeitet. Im September 2016 habe sie eine Frau namens F kennen gelernt, die – wie sie später erfahren habe – Bahá‘í sei. Da es ihr – der Klägerin – aufgrund des Todes ihrer Mutter im Januar 2017 und beruflichen Drucks schlecht gegangen sei, habe sich ihre Bekannte um sie gekümmert, wodurch sie mit dem Bahaitum in Berührung gekommen sei; der Islam habe sie nie überzeugt. Nach der Trennung von ihrem Ehemann habe sie noch intensiveren Kontakt zu ihrer Bekannten gehabt und mehr über das Bahaitum erfahren wollen, weshalb sie hierzu auf einem Dienstcomputer recherchiert habe. Dies sei in ihrer Firma aufgefallen, eine Freundin habe ihr von gegen sie – die Klägerin – ausgesprochenen Drohungen des Firmenvorsitzenden berichtet. Aus Angst habe sie sich daraufhin bei einer Freundin versteckt. Durch ein Telefonat mit ihrer Putzfrau habe sie erfahren, dass ihre Wohnung gestürmt und durchsucht worden sei; in der Wohnung hätten sich Unterlagen über das Bahaitum befunden, die sichergestellt worden seien. Anschließend habe sie Kontakt zu einem Schleuser aufgenommen und sei mit dessen Hilfe ausgereist. In Deutschland besuche sie einen Glaubenskurs; in diesem Zusammenhang legte die Klägerin eine Bestätigung der Bahá‘í-Gemeinde Hamburg über die Teilnahme an Informationsveranstaltungen und an den Ruhi-Kursen 1 und 2 aus September 2018 vor. Im Übrigen wird auf die Niederschrift Bezug genommen.
4
Mit Bescheid vom 13. Dezember 2018 lehnte die Beklagte die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1), den Antrag auf Asylanerkennung (Nr. 2) sowie die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus (Nr. 3) ab und stellte fest (Nr. 4), dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen. Weiter (Nr. 5 und 6) forderte sie die Klägerin zur Ausreise auf, drohte ihr die Abschiebung in die Islamische Republik Iran an und befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbote gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung. Zur Begründung führte die Beklagte im Wesentlichen aus, es sei nicht davon auszugehen, dass die Klägerin Iran aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Abwendung vom Islam bzw. der Hinwendung zum Bahaitum verlassen hat. Die Klägerin habe nicht glaubhaft gemacht, den Bahá’í-Glauben aus tiefer innerer Überzeugung angenommen zu haben bzw. in einer identitätsprägenden Weise zu leben. Wegen der weiteren Begründung wird auf den Bescheid verwiesen.
5
Am 2. Januar 2019 hat die Klägerin Klage erhoben. Sie räumt ein, unverfolgt aus Iran ausgereist zu sein und nimmt von ihren Angaben gegenüber dem Bundesamt weitgehend Abstand: Zutreffend sei nur, dass sie schon in Iran durch eine Bekannte mit dem Bahaitum in Berührung gekommen sei. In Deutschland habe sie sich dem Bahaitum (weiter) zugewandt; hierzu legt die Klägerin – neben anderen Dokumenten – eine Bestätigung des Nationalen Geistigen Rates der Bahá‘í in Deutschland über ihre Mitgliedschaft in der Bahá‘í-Gemeinde aus Juli 2019 sowie einen Mitgliedsausweis vor. Für den (weiteren) Inhalt der vorgelegten Dokumente wird auf diese Bezug genommen.
6
Die Klägerin beantragt,
7
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 13. Dezember 2018 – soweit dieser entgegensteht – zu verpflichten,
8
ihr die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
9
hilfsweise, ihr den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,
10
weiter hilfsweise, festzustellen, dass zu ihren Gunsten Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich der Islamischen Republik Iran vorliegen.
11
Aus dem Schriftsatz der Beklagten vom 10. Januar 2019 ergibt sich der Antrag,
12
die Klage abzuweisen.
13
Zur Begründung bezieht sich die Beklagte auf die angegriffene Entscheidung.
14
Das Gericht hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung persönlich angehört und Beweis erhoben über deren Hinwendung zum Bahaitum durch Vernehmung der Zeugen Dr. Z1 und Z2. Insoweit wird auf das Sitzungsprotokoll verwiesen.
15
Die Sachakte der Beklagten zum Asylverfahren der Klägerin, die Ausländerakte der Klägerin und die vom Gericht bezeichneten Erkenntnisquellen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe
I.
16
Die Entscheidung ergeht durch den Einzelrichter, dem der Rechtsstreit durch Beschluss vom 20. April 2020 gemäß § 76 Abs. 1 AsylG übertragen wurde. Der Einzelrichter konnte trotz Ausbleibens der Beklagten in der mündlichen Verhandlung verhandeln und entscheiden, da die Beklagte mit der Ladung auf die Folgen eines Ausbleibens hingewiesen wurde, § 102 Abs. 2 VwGO.
II.
17
Die gemäß § 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO statthafte und auch im Übrigen zulässige Klage hat Erfolg: Der Bescheid der Beklagten vom 13. Dezember 2018 ist unter Berücksichtigung der nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 AsylG maßgeblichen Sach- und Rechtslage in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
18
1. Der mit dem Hauptantrag geltend gemachte Anspruch der Klägerin auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft besteht.
19
Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 der Vorschrift ist, grundsätzlich – vorbehaltlich § 60 Abs. 8 Satz 1 und 3 AufenthG – die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559; sog. Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
20
Eine „begründete Furcht“ vor Verfolgung liegt vor, wenn dem Ausländer entsprechende Gefahren bzw. Handlungen im Sinne von § 3a AsylG angesichts der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände und seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (vgl. – auch zum Folgenden – BVerwG, Urt. v. 20.2.2013, 10 C 23/12, juris Rn. 32 = BVerwGE 146, 67; Beschl. v. 13.2.2019, 1 B 2/19, juris Rn. 6; OVG Hamburg, Urt. v. 29.5.2019, 1 Bf 284/17.A, juris Rn. 38). Dies ist anzunehmen, wenn bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung stehenden Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen als die dagegen sprechenden Tatsachen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtung im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen und zu bewerten, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann.
21
Bei einer Vorverfolgung des Ausländers greift insoweit die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU (sog. Qualifikationsrichtlinie): Der Umstand, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ist hiernach ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird.
22
Dies berücksichtigend obliegt es dem um Asyl bzw. Flüchtlingsschutz nachsuchenden Ausländer, die Gründe für seine Furcht vor Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat dazu unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich – als wahr unterstellt – ergibt, dass er bei verständiger Würdigung Verfolgung im oben genannten Sinne ausgesetzt war bzw. eine solche im Rückkehrfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten hat. Hierzu gehört eine Schilderung zu den in die Sphäre des Ausländers fallenden Ereignissen, insbesondere zu dessen persönlichen Erlebnissen, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen (stRspr, vgl. BVerwG, Beschl. v. 19.10.2001, 1 B 24/01, juris Rn. 5; OVG Hamburg, Urt. v. 21.9.2018, 4 Bf 186/18.A, juris Rn. 37; OVG Münster, Urt. v. 14.2.2014, 1 A 1139/13.A, juris Rn. 35 und auch bereits BVerwG, Urt. v. 22.3.1983, 9 C 68/81, juris Rn. 5).
23
Schließlich kann eine begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG nur festgestellt werden, wenn das Gericht die nach § 108 Abs. 1 VwGO erforderliche volle Überzeugung von der Wahrheit – und nicht nur von der Wahrscheinlichkeit – des vorgetragenen individuellen Verfolgungsschicksals erlangt hat (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.4.1985, 9 C 109/84, juris Rn. 16 = BVerwGE 71, 180; Beschl. v. 29.11.1996, 9 B 293/96, juris Rn. 2; OVG Hamburg, Urt. v. 2.11.2001, 1 Bf 242/98.A, juris Rn. 29).
24
Hiervon ausgehend steht zur gerichtlichen Überzeugung fest, dass der Klägerin im Fall einer Rückkehr nach Iran aufgrund ihrer Konversion zum Bahaitum mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG droht.
25
a) Das Gericht geht entsprechend der gefestigten Erkenntnislage und Rechtsprechung davon aus, dass die Abwendung vom Islam und Hinwendung zum Bahaitum in Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu Verfolgung im Sinne der §§ 3 ff. AsylG führt (vgl. etwa VG Trier, Urt. v. 16.5.2013, 2 K 1011/12.TR, juris S. 10; VG Würzburg, Urt. v. 21.10.2015, W 6 K 15/30149, juris Rn. 25; Urt. v. 13.11.2017, W 8 K 17/31790, juris Rn. 30; VG Berlin, Urt. v. 7.3.2018, 3 K 829/16 A, juris Rn. 26; VG Augsburg, Urt. v. 9.5.2019, Au 5 K 18/31137, juris Rn. 29 f.; auch VG München, Urt. v. 1.8.2014, M 2 K 14/30088, juris Rn. 26).
26
Aus dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 26. Februar 2020 (S. 13 [2020/1]1) geht hervor, dass Bahá’í in Iran als Abtrünnige angesehen werden; sie seien wirtschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Diskriminierung ausgesetzt und stellten derzeit die am stärksten in ihren Rechten eingeschränkte Minderheit dar. Vom Pensions- und Sozialversicherungssystem seien Bahá’í ebenso ausgeschlossen wie vom Zugang zu höherer Bildung. Seit Januar 2020 müsse zudem für die Beantragung eines Personalausweises ein Formular verwendet werden, in dem das Bahaitum nicht als Glaubensrichtung angegeben werden könne, sodass Bahá’í gezwungen seien, zur Erlangung eines Ausweises als Voraussetzung für die Inanspruchnahme grundlegender öffentlicher Dienstleistungen ihren Glauben zu verleugnen. Entsprechend stellt sich die Erkenntnislage des österreichischen Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl dar (s. Länderinformationsblatt Iran, Stand: Gesamtaktualisierung am 19.6.2020, S. 52 ff. [G 9/20]): Staatliche Stellen schürten Hass gegen Bahá’í, Gewaltakte gegen Angehörige des Bahaitums würden kaum geahndet. In den Jahren 2017 und 2018 seien dutzende von Bahá’í geführte Unternehmen behördlich geschlossen worden, nachdem sie an Bahá’í-Feiertagen nicht geöffnet hatten. Zwar ist im Jahr 2019 ein Urteil eines iranischen Berufungsgerichts bekannt geworden, dem zufolge die reine, nicht missionierende Religionsausübung der Bahá’í nicht als Propaganda gegen die Regierung strafbar sein soll (s. Bundesamt, Erkenntnisse Iran, Stand: Mai 2019, S. 3 [G 5/19]). Gleichwohl wurde über die Verhängung langjähriger Haftstrafen gegen Bahá’í berichtet, die an einer Zeremonie zum 200. Geburtstag des Bahá´u´lláh teilgenommen hätten; den Betroffenen sei dabei auf Grundlage von Art. 499 des iranischen Strafgesetzbuchs die Gründung und Leitung bzw. Mitgliedschaft in einer illegalen Gruppierung der Bahá’í vorgeworfen worden (s. Bundesamt, Erkenntnisse Iran, Stand: Dezember 2019, S. 9 f. [G 32/19]). Insgesamt ist den Erkenntnisquellen zu entnehmen, dass Bahá’í in Iran als Anhänger einer vom Islam abgefallenen Sekte betrachtet werden. Angehörige des Bahaitums und insbesondere muslimische Konvertiten, die zum Bahaitum übertreten und sich zu ihrem neuen Glauben bekennen, sind fortgesetzter systematischer Diskriminierung und willkürlicher Behandlung durch staatliche Stellen ausgesetzt, die bis hin zu Festnahmen und Inhaftierungen reicht (vgl. auch Amnesty International, Amnesty Report Iran 2019, S. 6 [G 1/20]). Diese allgemeine Gefahrenlage, die sich in jüngster Zeit noch verschärft haben soll (vgl. Bundesamt, Briefing Notes v. 20.7.2020, S. 4 [G 11/20] unter Bezugnahme auf den Nationalen Geistigen Rat der Bahá’í in Deutschland) hat sich dahin verdichtet, dass von einer konkreten Gefahr für jeden einzelnen Bahá’í auszugehen ist (im Ergebnis ebenso VG Augsburg, Urt. v. 3.8.2015, Au 5 K 14/30496, juris Rn. 37; VG Würzburg, Urt. v. 21.10.2015, W 6 K 15/30149, juris Rn. 30).
27
Ein bloß formal vollzogener Übertritt vom islamischen Glauben zum Bahaitum genügt gleichwohl nicht für die Annahme einer dem Betroffenen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden Verfolgung (so auch VG München, Urt. v. 1.8.2014, M 2 K 14/30088, juris Rn. 26 f.; VG Stuttgart, Urt. v. 13.5.2016, A 11 K 3939/15, juris Rn. 40; VG Augsburg, Urt. v. 9.5.2019, Au 5 K 18/31137, juris Rn. 31). Aus den Erkenntnisquellen ergeben sich keine Anhaltspunkte, dass eine vom Nationalen Geistigen Rat der Bahá’í in Deutschland ausgestellte Bestätigung über die Mitgliedschaft in der Bahá’í-Gemeinde den Betroffenen schon für sich genommen der Gefahr aussetzt, im Rückkehrfall Diskriminierungen oder Willkürmaßnahmen der genannten Art zu erleiden. Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft setzt vielmehr eine echte Glaubensentscheidung des Schutzsuchenden voraus, die im Fall einer Rückkehr trotz der in Iran drohenden Nachteile und Gefahren Bestand hätte und erwarten lässt, dass der Betroffene an seinem neuen Glauben festhält und diesen auch in Iran praktizieren will. Es muss – so auch vorliegend – festgestellt werden können, dass die Hinwendung des Schutzsuchenden zum Bahaitum auf einem ernst gemeinten religiösen Einstellungswandel mit festen, identitätsprägenden Überzeugungen und nicht bloß auf Opportunitätserwägungen beruht (vgl. VG Stuttgart, a.a.O. Rn. 41; VG Augsburg, a.a.O.). Denn nur wenn der Glaubenswechsel die religiöse Identität des Schutzsuchenden prägt, ist es ihm nicht zumutbar, seine neue Glaubenszugehörigkeit im Herkunftsland zur Vermeidung staatlicher oder nichtstaatlicher Repressionen zu verschweigen, zu verleugnen oder aufzugeben (vgl. für den Fall einer Konversion zum christlichen Glauben OVG Hamburg, Urt. v. 11.9.2012, 5 Bf 336/04.A, juris Rn. 48). Sich hierzu gezwungen zu sehen, würde den Schutzsuchenden in aller Regel existenziell in seiner sittlichen Person treffen und ihn in eine ausweglose, unzumutbare Lage bringen (vgl. VGH Kassel, Urt. v. 26.7.2007, 8 UE 3140/05.A, juris Rn. 20).
28
Die religiöse Identität des Schutzsuchenden kann dabei als innere Tatsache nur auf Grundlage von dessen Vorbringen und im Wege eines Rückschlusses von äußeren Anhaltspunkten auf die innere Einstellung des Betroffenen festgestellt werden (vgl. nur BVerwG, Beschl. v. 25.8.2015, 1 B 40/15, juris Rn. 14 m.w.N.). Ein danach grundsätzlich zu berücksichtigender Umstand ist die Bestätigung des Nationalen Geistigen Rates der Bahá’í in Deutschland über die Mitgliedschaft in der Bahá’í-Gemeinde. Hiervon zu trennen ist jedoch die Frage, welche Aspekte der Glaubensüberzeugung und -betätigung für die religiöse Identität des Schutzsuchenden prägend sind (vgl. zuletzt – bezogen auf die durch Taufe begründete Zugehörigkeit zu einer christlichen Religionsgemeinschaft – BVerfG (K), Beschl. v. 3.4.2020, 2 BvR 1838/15, juris Rn. 30; vorgehend BVerwG, a.a.O. Rn. 11). Insoweit besteht keine Bindung des Gerichts an die Bewertung der individuellen Glaubensüberzeugung und -betätigung durch die Religionsgemeinschaft, welcher der Schutzsuchende angehört. Vielmehr ist im Einzelfall zu prüfen, wie der Betroffene seinen Glauben lebt und ob die verfolgungsträchtige Glaubensbetätigung für ihn persönlich nach seinem Glaubensverständnis zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist (vgl. BVerwG, a.a.O. Rn. 11 unter Verweis auf EuGH, Urt. v. 5.9.2012, C-71/11 u.a., NVwZ 2012, 1612; bestätigt durch BVerfG (K), a.a.O. Rn. 27 ff.; s. auch Fleuß, BDVR-Rundschreiben 1/2020, 38, 39). Hierzu ist der Stellung des Schutzsuchenden zu seinem Glauben nachzugehen, namentlich der Intensität und Bedeutung der von ihm selbst empfundenen Verbindlichkeit von Glaubensgeboten für die eigene religiöse Identität (vgl. BVerfG (K), a.a.O. Rn. 31). Dass er sich in diesem Sinne zur Betätigung seines Glaubens verpflichtet fühlt, muss der Schutzsuchende dabei zur vollen Überzeugung des Gerichts nachweisen (§ 108 Abs. 1 VwGO, vgl. BVerwG, Urt. v. 20.2.2013, 10 C 23/12, juris Rn. 30 m.w.N. = BVerwGE 146, 67), wobei im Rahmen der tatrichterlichen Beweiswürdigung die besondere Bedeutung des Grundrechts auf Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit zu berücksichtigen ist (vgl. BVerfG (K), a.a.O. Rn. 34). Von einem erwachsenen Schutzsuchenden kann danach im Regelfall erwartet werden, dass er schlüssige und nachvollziehbare Angaben zu den inneren Beweggründen für seine Konversion macht und im Rahmen seiner Persönlichkeit, seines Bildungsniveaus und seiner intellektuellen Disposition mit den Grundzügen seiner neuen Religion vertraut ist (vgl. BVerfG (K), a.a.O. Rn. 36; BVerwG, Beschl. v. 25.8.2015, 1 B 40/15, juris Rn. 14 und dem folgend etwa VGH Mannheim, Urt. v. 5.12.2017 A 11 S 1144/17, juris Rn. 63; VGH München, Urt. v. 14.11.2019, 13a B 19.33359, juris Rn. 54; OVG Münster, Urt. v. 18.6.2019, 13 A 3930/18.A, juris Rn. 72; OVG Weimar, Urt. v. 28.5.2020, 3 KO 590/13, juris Rn. 73).
29
b) In Anwendung dieser Grundsätze hat der Einzelrichter die Überzeugung gewonnen, dass sich die Klägerin in einer ihre religiöse Identität prägenden Weise dem Bahaitum zugewandt hat.
30
Berücksichtigung findet dabei zunächst die Bestätigung des Nationalen Geistigen Rates der Bahá’í in Deutschland über die Mitgliedschaft der Klägerin in der Bahá’í-Gemeinde, die allein für die Überzeugungsbildung des Einzelrichters allerdings nicht hinreicht. Zwar bestehen angesichts der ausführlichen und glaubhaften Angaben des Zeugen Dr. Z1 keine Zweifel, dass das einer Aufnahme in die Bahá’í-Gemeinde vorausgehende Verfahren und insbesondere das mit dem jeweiligen Interessenten geführte Gespräch ebenfalls darauf zielen, sich von der Aufrichtigkeit und Ernsthaftigkeit der individuellen Glaubens(-wechsel-)entscheidung zu überzeugen. Auch deutet nichts darauf hin, dass Interessenten vor dem Hintergrund der in Iran für Angehörige des Bahaitums bestehenden Gefährdungssituation „leichtfertig“ bzw. aus asyltaktischen Gründen in die Gemeinde aufgenommen würden. Das von dem Zeugen Dr. Z1 für die Region Nordwest geschilderte Aufnahmeverfahren – dessen Ablauf und Inhalt sich dem Zeugen zufolge von entsprechenden Verfahren in anderen Regionen durchaus unterscheiden kann – besteht nach dem Eindruck des Einzelrichters aber vornehmlich in einem Austausch über Inhalte des Bahaitums und unterscheidet sich hierin vom gerichtlichen Verfahren zur Feststellung einer im obigen Sinne identitätsprägenden Glaubensüberzeugung. Gewiss weisen die Fähigkeit und Bereitschaft zum vertieften Austausch über Glaubensinhalte darauf hin, dass sich der Betroffene ernsthafte mit dem Glauben befasst (hat), und bieten insofern Anhalt für eine nicht bloß auf Opportunitätserwägungen beruhende Glaubensentscheidung. Ob sich der Betroffene zur Betätigung seines Bahá’í-Glaubens in einer Weise verpflichtet fühlt, dass ihm ein Verschweigen, Verleugnen oder gar die Aufgabe seines Glaubens nach rechtlichen Maßstäben unzumutbar ist, kann und soll nach der auf die Bekundungen des Zeugen Dr. Z1 gestützten Einschätzung des Einzelrichters im Rahmen des gemeindlichen Aufnahmeverfahrens jedoch nicht festgestellt werden. Hieran ändert es auch nichts, dass ein Anliegen der Bahá’í-Gemeinde(n) darin liegen mag, Missbrauch in Gestalt von asyltaktisch motiviertem Interesse vorzubeugen (vgl. VG Würzburg, Urt. v. 21.10.2015, W 6 K 15/30149, juris Rn. 34 f.): So nahe sie liegt, so wenig enthebt diese Annahme das Gericht von der Verpflichtung, die Glaubensüberzeugung des Betroffenen als Voraussetzung für die Schutzgewährung anhand eines rechtlichen Maßstabs eigenständig zu beurteilen. Dessen bedarf es umso mehr, als es sich bei dem Aufnahmegespräch nach der Aussage des Zeugen Dr. Z1 nicht um eine Prüfung bzw. einen Test handelt und die der Aufnahmeentscheidung letztlich zugrunde gelegten Erwägungen variieren können, da das Gespräch auf den jeweiligen Interessenten abzustimmen versucht werde. Ein der gleichmäßigen Rechtsanwendung verpflichtetes Gericht ist in Anbetracht dessen gehindert, die Entscheidung der Bahá’í-Gemeinde „mechanisch“ – ohne eigene Prüfung – zu übernehmen. Dies gilt schließlich in beiderlei Hinsicht: Die Bestätigung über die Mitgliedschaft in der Bahá’í-Gemeinde ist weder hinreichende noch notwendige Voraussetzung für die Annahme einer identitätsprägenden Hinwendung des Betroffenen zum Bahaitum, sondern – wie ausgeführt – „nur“ ein zu berücksichtigender Umstand. Es ist nicht schlechthin ausgeschlossen, dass eine Person in einer rechtlich als identitätsprägend anzuerkennenden Weise zum Bahaitum übergetreten ist, ohne (schon) in die Bahá’í-Gemeinde aufgenommen worden zu sein.
31
Die Anhaltspunkte für eine echte Glaubensentscheidung zugunsten des Bahaitums sind im Fall der Klägerin indes nicht auf die Bestätigung über die Mitgliedschaft in der Bahá’í-Gemeinde beschränkt. Vielmehr vermochte die Klägerin die Beweggründe für ihre bereits in Iran begonnene Auseinandersetzung mit dem Bahá’í-Glauben plausibel zu erläutern: Dass sie nach dem Tod ihrer Mutter eine Stütze in ihrer dem Bahaitum angehörenden Freundin F gefunden hat und so mit dem Bahá’í-Glauben zunehmend in Berührung gekommen ist, erscheint nachvollziehbar. Aufgrund der emotional authentischen Ausführungen zu ihrer von Unterdrückung und Gewalt geprägten Ehe ist der Klägerin auch abzunehmen, dass ihr die weitere Hinwendung angesichts des im Bahaitum herrschenden Toleranzverständnisses und der von dem Zeugen Dr. Z1 ebenfalls betonten Anerkennung der Gleichwertigkeit von Frau und Mann nahelag; in diesem Zusammenhang wurden über eine abstrakte Überzeugung vom Bahá’í-Glauben hinaus persönliche Bezüge der Klägerin zu konkreten Glaubensinhalten deutlich. Dem entspricht es, dass die Klägerin übereinstimmend mit ihrer Tochter (= Klägerin im Verfahren 10 A 5538/18) eine durch ihre Konversion bedingte positive Veränderung des zwischen beiden bestehenden Verhältnisses beschrieb und diese mit der Bahá’í-Lehre über die Grundlagen der Kindererziehung (Ruhi 3) verknüpfte. Der hierdurch entstandene Eindruck einer Verinnerlichung des Bahaitums wird bestätigt durch das Engagement der Klägerin als Tutorin in einer Kinderklasse ihrer Gemeinde.
32
Mit zentralen Inhalten des Bahá’í-Glaubens zeigte sich die Klägerin auch im Übrigen vertraut: Die Verkündigung Bahá´u´lláhs und das aus diesem Anlass begangene Ridvan-Fest, die Gebetspraxis, die Bedeutung der Wallfahrt und insbesondere die ethischen Grundsätze des Bahaitums konnte sie verständlich erklären und darüber hinaus – wiederum – individuelle Bezüge zu einzelnen Grundsätzen aufzeigen (Pflicht zur selbstständigen Erforschung der Wahrheit, gemeinsame Grundlage aller Religionen, Übereinstimmung von Religion und Wissenschaft). Hierbei ließ die Klägerin ein aufrichtig wirkendes Bemühen erkennen, ihr Verhalten an diesen Grundsätzen auszurichten: Dass sie in der Vergangenheit für ein ihrem Ehemann oder ihrer Schwiegermutter widerfahrendes Unglück gebetet habe, bewertete sie vor dem Hintergrund ihres Bahá’í-Glaubens überzeugend als Fehler. Ihr Bekenntnis zur eigenverantwortlichen Entscheidung des Einzelnen über seinen Glauben setzt die Klägerin nach dem Eindruck des Einzelrichters vor allem in Bezug auf ihre Tochter um, der sie – wie diese glaubhaft bestätigte – zwar einen Einblick in das Bahaitum gegeben, nicht aber auf einen Glaubenswechsel hingewirkt hat. Die Schilderungen der Klägerin zum Verhältnis von Bahaitum und islamischen Glauben und den insoweit bestehenden Unterschieden gingen zudem über eine pauschale Religionskritik hinaus und zeugten allgemein von einer reflektierten Beschäftigung mit dem eigenen Glauben.
33
Insgesamt ist der Einzelrichter davon überzeugt, dass die Klägerin ihre Hinwendung zum Bahaitum im Fall einer Rückkehr nach Iran nicht verheimlichen bzw. auf eine Betätigung ihres Bahá’í-Glaubens allenfalls unter dem Druck der Verfolgungsgefahr erzwungenermaßen verzichten würde.
34
2. Über die hilfsweise gestellten Anträge war danach nicht mehr zu entscheiden. Allerdings lässt die Verpflichtung zur Zuerkennung des Flüchtlingsstatus die in Nr. 3 und 4 des angegriffenen Bescheids enthaltenen Entscheidungen gegenstandslos werden, weshalb der Bescheid auch insoweit aufzuheben ist. Entsprechendes gilt für Nr. 5 und 6 des Bescheids.
III.
35
Die Kostenentscheidung beruht auf § 83b AsylG und § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 Satz 1 und 2, § 709 Satz 2 ZPO.
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Tenor
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Osnabrück - 3. Kammer - vom 11. August 2020 mit Ausnahme der Festsetzung des Streitwertes geändert.
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 116.500,00 EUR festgesetzt.
Gründe
1
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Osnabrück vom 11. August 2020 hat Erfolg.
2
I. Das Verwaltungsgericht hat die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 2. Dezember 2019 zu Unrecht wiederhergestellt.
3
Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung der Klage ganz oder teilweise wiederherstellen. Ist - wie hier - die sofortige Vollziehung von der Behörde den formellen Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO genügend angeordnet worden, so setzt die gerichtliche Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO über die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage eine Abwägung des Interesses der Antragstellerin, von der Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsakts bis zur endgültigen Entscheidung über seine Rechtmäßigkeit verschont zu bleiben, gegen das vorrangig öffentliche Interesse an dessen sofortiger Vollziehung voraus (vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 16.3.2004 - 8 ME 164/03 -, NJW 2004, 1750 m.w.N.). Dem öffentlichen Vollzugsinteresse kann dabei überhaupt nur dann Vorrang eingeräumt werden, wenn der angefochtene Verwaltungsakt voraussichtlich auch im Hauptsacheverfahren Bestand haben, mithin sich als rechtmäßig erweisen wird. Darüber hinaus muss das von der Behörde geltend gemachte besondere, also über das allgemeine Interesse am Vollzug eines Verwaltungsaktes hinausgehende Vollzugsinteresse tatsächlich vorliegen. Schließlich sind in einer Folgenabwägung gegenüberzustellen die konkreten Nachteile für die gefährdeten Rechtsgüter bei einem Aufschub des Vollzugs, wenn sich die Untersagungs- und Rückrufverfügung nachträglich als rechtmäßig erweist, den konkreten Folgen des Sofortvollzugs für die Antragstellerin, wenn sich die Verfügung nachträglich als rechtswidrig erweisen sollte (vgl. Senatsbeschl. v. 17.10.2018 - 13 ME 107/18 -, GewArch 2019, 45; Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl. 2017, Rn. 964 ff. m.w.N.).
4
Nach diesen Maßstäben fällt die Abwägung zu Lasten der Antragstellerin aus.
5
1. Der angefochtene Bescheid vom 2. Dezember 2019 ist nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung voraussichtlich rechtmäßig.
6
Nach § 69 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 des Gesetzes über den Verkehr mit Arzneimitteln in der hier maßgeblichen, zuletzt durch Gesetz vom 20. November 2019 (BGBl. I S. 1626) geänderten Fassung (Arzneimittelgesetz - AMG -) können die zuständigen Behörden das Inverkehrbringen von Arzneimitteln untersagen, deren Rückruf anordnen und diese sicherstellen, wenn die erforderliche Zulassung oder Registrierung für das Arzneimittel nicht vorliegt oder deren Ruhen angeordnet ist.
7
Diese Voraussetzungen liegen hier vor, da es sich bei den von der angefochtenen Verfügung betroffenen Produkten der Produktserie „…“ der Antragstellerin um zulassungspflichtige Präsentationsarzneimittel im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 1 AMG handelt.
8
Gemäß § 21 Abs. 1 Satz 1 AMG dürfen Fertigarzneimittel, die Arzneimittel im Sinne des § 2 Abs. 1 oder Abs. 2 Nr. 1 AMG sind, nur in den Verkehr gebracht werden, wenn sie durch die zuständige Bundesoberbehörde zugelassen sind oder wenn für sie die Europäische Gemeinschaft oder die Europäische Union eine Genehmigung für das Inverkehrbringen gemäß Art. 3 Abs. 1 oder 2 der Verordnung (EG) Nr. 726/2004 auch in Verbindung mit der Verordnung (EG) Nr. 1901/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12.12.2006 über Kinderarzneimittel und zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1768/92, der Richtlinien 2001/20/EG und 2001/83/EG sowie der Verordnung (EG) Nr. 726/2004 (ABl. L 378 vom 27.12.2006, S. 1) oder der Verordnung (EG) Nr. 1394/2007 erteilt hat.
9
Nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 AMG, der die unionsrechtliche Begriffsbestimmung des Art. 1 Nr. 2 Buchstabe a) der Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 06.11.2001 (ABl. L 311 vom 28.11.2001, S. 67) in der Fassung der Änderungsrichtlinie 2012/26/EU (ABl. L 299/1 vom 27.10.2012) zur Schaffung eines einheitlichen Gemeinschaftskodex für Arzneimittel aufgegriffen hat (vgl. Senatsurt. v. 3.2.2011 - 13 LC 92/09 -, juris Rn. 3), sind Arzneimittel Stoffe oder Zubereitungen aus Stoffen, die zur Anwendung im oder am menschlichen oder tierischen Körper und als Mittel mit Eigenschaften zur Heilung oder Linderung oder zur Verhütung menschlicher oder tierischer Krankheiten oder krankhafter Beschwerden bestimmt sind (sog. Präsentationsarzneimittel). Der arzneimittelrechtliche Krankheitsbegriff ist denkbar weit gefasst. Eine Krankheit ist danach jede Störung der normalen Beschaffenheit oder der normalen Tätigkeit des Körpers, die geheilt, d. h. beseitigt oder gelindert werden kann. Eingeschlossen werden alle Beschwerden, die von der gesundheitlichen Norm abweichen, ohne Rücksicht darauf, ob die Normabweichungen nur vorübergehend oder nicht erheblich sind (vgl. Kügel/Müller/Hofmann, Arzneimittelgesetz, 2. Aufl. 2016, § 2 Rn. 75 m.w.N.). Dazu gehört auch der (überhöhte) Wurmbesatz bei Haustieren, was die Antragstellerin nicht ernsthaft bestreiten kann, bietet sie ihre Produkte doch gerade im Hinblick auf die Vermeidung eines solchen überhöhten Wurmbesatzes an.
10
Unter den Begriff des Präsentationsarzneimittels fällt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, die der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs folgt (vgl. EuGH, Urt. v. 15.11.2007 - C-319/05 -, juris Rn. 44 ff.; BVerwG, Urt. v. 20.11.2014 - 3 C 25/13 -, juris Rn. 14; vgl. auch schon: BVerwG, Urt. v. 24.11.1994, - 3 C 2/93 -, juris Rn. 25), ein Erzeugnis, wenn es ausdrücklich als ein Mittel zur Heilung oder zur Verhütung von menschlichen oder tierischen Krankheiten bezeichnet
11
oder empfohlen wird, oder wenn sonst bei einem durchschnittlich informierten Verbraucher auch nur schlüssig, aber mit Gewissheit der Eindruck entsteht, dass dieses Erzeugnis in Anbetracht seiner Aufmachung die Eigenschaften eines Mittels zur Heilung, Linderung oder Verhütung menschlicher oder tierischer Krankheiten habe (EuGH, Urt. v. 15.11.2007, a. a. O., Rn. 46). Damit erfasst Art. 1 Nr. 2 Buchst. a) der Richtlinie alle Produkte mit therapeutischer oder prophylaktischer Zweckbestimmung, ohne dass es auf einen therapeutischen Nutzen oder ihre pharmakologische Wirksamkeit ankommt. Allein die Bezeichnung eines solchen Nutzens oder einer solchen Wirksamkeit ist ausreichend (vgl. EuGH, Urt. v. 15.11.2007, a.a.O., Rn. 44; Bay. VGH, Beschl. v. 10.7.2020 - 20 CS 20.435 -, juris Rn. 17). Für ein arzneimittelartiges Erscheinungsbild eines Produkts reicht es jedoch nicht aus, dass diesem nach allgemeiner Verkehrsanschauung gesundheitsbezogene Wirkungen zugeschrieben werden. Vielmehr wird ein Produkt nur dann als Arzneimittel "präsentiert", wenn es auf dem Etikett, durch die Angaben auf der Verpackung oder in sonstiger Weise den Eindruck erweckt, dass es Eigenschaften zur Heilung oder zur Verhütung von Krankheiten besitzt. Für den erforderlichen Heilmittelbezug genügt es daher nicht, dass einem Erzeugnis Eigenschaften zugeschrieben werden, die der Gesundheit im Allgemeinen förderlich sind. Es muss vielmehr gerade um die Funktion der Verhütung oder Heilung von Krankheiten gehen (vgl. Senatsurt. v. 3.2.2011, a.a.O., Rn. 5). Die Entscheidung über die Einordnung als Präsentationsarzneimittel ist jeweils im Einzelfall anhand einer Gesamtbetrachtung der konkreten Merkmale des Produkts und seiner Präsentation zu vorzunehmen. Zu berücksichtigen sind die stoffliche Zusammensetzung des Erzeugnisses, seine Darreichungsform und Verpackung ebenso wie seine Bezeichnung, der Beipackzettel mit möglichen Hinweisen auf pharmazeutische Forschungen oder ärztliche Zeugnisse über bestimmte Eigenschaften, sowie weitere dem Hersteller zurechenbare Informationen, Veröffentlichungen und Produktwerbung, die für den Verbraucher verfügbar sind. Dazu gehören auch solche Informationen, die dem Verbraucher erst auf seine Anfrage vom Hersteller oder von Dritten, die in dessen Auftrag handeln oder mit diesem in Verbindung stehen, zugänglich gemacht werden (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 26.9.2019 - 13 A 3290/17 -, juris Rn. 56).
12
Wird ein Erzeugnis ausdrücklich nicht als Arzneimittel, sondern als Produkt einer anderen Kategorie im Sinne des § 2 Abs. 3 Nrn. 1 - 8 AMG auf den Markt gebracht, kommt dieser Einordnung (nur) eine indizielle Bedeutung zu. Denn andernfalls könnte der Hersteller allein durch die Angabe einer bestimmten Produktkategorie die Anwendbarkeit des Arzneimittelrechts und die Zulassungspflicht für Arzneimittel umgehen (EuGH, Urt. v. 21.3.1991 - C-369/88 -, juris Rn. 41). Entsprechende Angaben sind aber in die aus der objektivierten Verbraucherperspektive anzustellende Gesamtbetrachtung der konkreten Merkmale der jeweiligen Präsentation mit einzustellen. Dabei wird ein verständiger Durchschnittsverbraucher im Allgemeinen nicht annehmen, dass ein Produkt entgegen eines ausdrücklichen Hinweises oder einer anderen Bezeichnung ein Arzneimittel ist. Allerdings können im Einzelfall Umstände hinzutreten, die es gleichwohl als Arzneimittel erscheinen lassen, etwa die Art der Bewerbung oder die preisende Nennung von (vermeintlich) arzneilich wirksamen Bestandteilen (EuGH, Urt. v. 21.3.1991, a.a.O.; BVerwG, Urteil v. 26.5.2009 - 3 C 5.09 -, juris Rn. 22; BVerwG, Urt. v. 25.7.2007 - 3 C 21.06 -, juris Rn. 40; Senatsurt. v. 3.2.2011, a.a.O., Rn. 8).
13
Unter Anwendung dieser Vorgaben hat das Verwaltungsgericht die vom Antragsgegner beanstandeten Produkte der Antragstellerin zu Unrecht nicht als Präsentationsarzneimittel angesehen.
14
Die in den Akten und auf der Internetseite der Antragstellerin (www.A..de) befindlichen Produktbeschreibungen bezeichnen die Produkte als Ergänzungsfuttermittel. Die für alle beanstandeten Produkte weitgehend identische Produktbeschreibung lautet:
15
„[Produktname] wurde für den speziellen Ernährungsbedarf entwickelt, der im Zusammenhang mit Wurmbesatz entsteht. Der Mangel an Kräuterinhaltstoffen, wie Saponine, Bitterstoffe und Gerbstoffe kann bei unseren Haustieren zu einer Anfälligkeit für überhöhten Wurmbesatz führen. Im Gegensatz zu ihren in der Wildnis lebenden Artgenossen haben sie oftmals nicht die Möglichkeit, die genannten Stoffe durch Pflanzen und Kräuter aufzunehmen. Doch gerade diese Stoffe tragen nachweislich bei ihren wilden Verwandten dazu bei, einen übermäßigen krankhaften Wurmbesatz durch die gesunde Ernährung zu vermeiden. Um seltener einen Grund für chemische Wurmkuren (Arzneimittel) zu haben, sollte daher der Darm des Tieres mit entsprechenden Kräutern, die in [Produktname] enthalten sind, unterstützt werden. Dies erreichen Sie neben einer ausgewogenen Ernährung mit der gelegentlichen Zugabe der Futterergänzung [Produktname], die den Mangel an Kräuterinhaltstoffen wie Saponine, Bitterstoffe und Gerbstoffe wieder ausgleichen kann. [Produktname] ist speziell auf die ernährungsbedingte Stärkung der Verdauung in Bezug auf Wurmbesatz optimiert.
16
Zudem empfehlen viele Fachleute für Parasitologie den Wurmbesatz des Tieres durch eine regelmäßige Überwachung der Kotproben zu prüfen.“
17
Diese Produktbeschreibung ist für sich genommen unter den hier interessierenden Gesichtspunkten der Einordnung als Präsentationsarzneimittel nicht zu beanstanden (vgl. auch die Stellungnahme des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit in der E-Mail vom 30.7.2015, BeiA, Bl. 93 ff.). Eine arzneilich-pharmakologische Wirkung wird den Produkten an keiner Stelle zugeschrieben. Vielmehr grenzt die Antragstellerin ihre Produkte textlich deutlich von Arzneimitteln ab. Allerdings ist an dieser Stelle im Hinblick auf die im Text hervorgehobene Bezeichnung chemischer Wurmkuren als Arzneimittel darauf hinzuweisen, dass es für die Einordnung eines Produktes als (Funktions-)Arzneimittel unerheblich ist, ob es auf chemischer oder rein pflanzlicher (natürlicher) Basis hergestellt worden ist. Zu Recht hat das Verwaltungsgericht insgesamt aber festgestellt, dass bei objektiver Betrachtung und verständiger Würdigung diese Produktinformation so zu verstehen ist, dass bei Verwendung der Produkte ernährungsbedingt seltener auf Arzneimittel zurückgegriffen werden muss. Auch der Senat sieht die Annahme, die Produkte würden durch diese Beschreibungen als „alternative Wurmkuren“ dargestellt, als eher fernliegend an. Darauf, ob die beschriebene Wirkung der Produkte wissenschaftlich haltbar ist, kommt es für die Einordnung als Präsentationsarzneimittel nicht an.
18
Gleichwohl wird diese Produktbeschreibung von Umständen überlagert, die in ihrer Gesamtheit die beanstandeten Produkte in den Augen eines normal informierten, aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbrauchers als Arzneimittel erscheinen lassen. Dies betrifft zunächst den Bestandteil des Produktnamens „…“, der in allen Produktbezeichnungen zu finden ist (vgl. insoweit auch die Stellungnahme des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit in der E-Mail vom 30.7.2015, BeiA, Bl. 93 ff.). Mit diesem Namen wird die Assoziation eines veterinärmedizinischen Mittels gegen Wurmbesatz, mithin eines Arzneimittels, hervorgerufen. Diese Assoziation wird durch die auf den Etiketten vieler der Produkte enthaltene grafische Darstellung eines Tierdarms mit einem sich darin befindenden Wurm verstärkt. Auch der Aufsteller mit der Beschriftung: „Würmer? …“ sowie „Natur Pur“ (BeiA, Bl. 86) legt es nahe, den damit beworbenen Produkten die Eigenschaft eines pflanzlichen (natürlichen) Entwurmungsmittels zuzusprechen. Obwohl dort auch - deutlich kleiner - mit einem wurmfeindlichen Darmmilieu und einem starken Organismus geworben wird, liegt der Schwerpunkt doch eindeutig auf der Präsentation als ein (Arznei-)Mittel gegen Wurmbefall. Die vorgelegten Kundenbewertungen im Internet bieten hingegen nur einen schwachen Anhalt für eine bestehende Verkehrsauffassung der Anwender, zumal die Herkunft und das Zustandekommen dieser Bewertungen unklar bleiben muss. Gleiches gilt für die Kategorisierung als Wurmkur bei Amazon. Deutlich für die Einordnung als Präsentationsarzneimittel spricht jedoch die Durchführung von Webinaren, bei denen die beanstandeten Produkte als Alternative zu chemischen Entwurmungsmitteln dargestellt werden. Dies wird durch die vorgelegten Unterlagen eines Webinars zu dem Thema „Würmer bei Pferden“ und des Produktes „…“ vom 23. Oktober 2019 (GA, Bl. 234 ff., dort Stand: 20.12.2019) sowie durch das Protokoll über dieses Webinar, das eine teilnehmende Mitarbeiterin der LAVES gefertigt hat (BeiA, Bl. 159 f.), belegt. Aus den Unterlagen geht hervor, dass dort chemische und alternative Wurmmittel einander gegenübergestellt wurden (vgl. BeiA, Bl. 152 ff.). Als Alternative zu chemischen Wurmmitteln wurde sodann ausweislich des Protokolls der Mitarbeiterin des LAVES durch die das Webinar durchführende Frau C. das Produkt „…“ genannt. Derartige unter anderem im Rahmen der „D.“ angebotenen Webinare werden auf der Internetseite der Antragstellerin regelmäßig angeboten und betreffen nicht lediglich das am 23. Oktober 2019 besprochene Produkt.
19
Insgesamt ist nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtschutzes gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung davon auszugehen, dass die Bezeichnung und Beschreibung der beanstandeten Produkte als Nahrungsergänzungsmittel durch ihre tatsächliche Präsentation als natürliche Mittel zur Vorbeugung und Behandlung einer Wurmerkrankung in den Hintergrund gerückt wird und diese Produkte aufgrund dieser Tatsache als Präsentationstierarzneimittel anzusehen sind.
20
Nach § 114 Satz 1 VwGO relevante Fehler des vom Antragsgegner bei Erlass der Verfügung vom 2. Dezember 2019 betätigten Ermessens hinsichtlich des Einschreitens überhaupt und hinsichtlich der Anordnung der Untersagung des weiteren Inverkehrbringens und des Rückrufs bereits inverkehrgebrachter Produkte vermag der Senat bei summarischer Prüfung auch unter Berücksichtigung des Verbringens der Antragstellerin nicht festzustellen.
21
2. Es besteht auch tatsächlich ein besonderes Interesse am sofortigen Vollzug der Untersagungs- und Rückrufverfügung des Antragsgegners vom 2. Dezember 2019.
22
Die sofortige Einstellung des Inverkehrbringens sowie der Rückruf von Tierarzneimitteln, die nicht über die erforderliche Zulassung verfügen, dient dem Interesse einer ordnungsgemäßen Versorgung mit Tierarzneimitteln, der Sicherheit im Verkehr mit diesen Arzneimitteln und dem Schutz der am Arzneimittelverkehr Beteiligten. Durch die Erstreckung der arzneimittelrechtlichen Vorschriften auf Präsentationsarzneimittel und durch die weite Auslegung dieses Begriffs soll der Verbraucher vor Erzeugnissen geschützt werden, die nicht ausreichend wirksam sind oder nicht die Wirksamkeit besitzen, die der Verbraucher nach ihrer Bezeichnung von ihnen erwarten darf. Er soll also nicht nur vor schädlichen oder giftigen Arzneimitteln geschützt werden, sondern auch vor solchen Erzeugnissen, die anstelle der geeigneten Heilmittel verwendet werden (vgl. EuGH, Urt. v. 30.11.1983 - C-227/82 - Rn. 17, juris). Aus diesem Grunde ist es nicht entscheidend, ob die beanstandeten Produkte - was zwischen den Beteiligten streitig ist - tatsächlich zu einer Gefährdung der Gesundheit der mit ihnen behandelten Tiere führen können. Darüber hinaus dient die Anordnung der sofortigen Vollziehung auch dem Schutz vor Wettbewerbsverzerrungen, da sich die Antragstellerin durch die Vermarktung ihrer Produkte als Arzneimittel ohne die erforderliche Herstellungserlaubnis einen Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Herstellern bzw. Händlern verschafft, die sich an die arzneimittelrechtlichen Vorschriften halten.
23
Dass diese Interessen am sofortigen Vollzug mit den öffentlichen Interessen am Erlass und der Durchsetzung der Untersagungs- und Rückrufverfügung als solcher weitgehend übereinstimmen, steht der Annahme eines besonderen Vollzugsinteresses nicht entgegen. Die Untersagung dient der Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und ist auf den Schutz wichtiger Gemeinwohlbelange gerichtet. Das öffentliche Interesse an einer effektiven Gefahrenabwehr begründet bereits für sich genommen ein hinreichendes besonderes Interesse an einer sofortigen Vollziehung (vgl. Senatsbeschl. v. 26.2.2019 - 13 ME 289/18 -, juris Rn. 42; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschl. v. 15.1.2008 - 3 M 196/07 -, juris Rn. 5; Nds. OVG, Beschl. v. 20.9.2006 - 8 ME 115/06 -, juris Rn. 21 ff.; Finkelnburg/Dombert/Külpmann, a.a.O. Rn. 759 jeweils m.w.N.).
24
Auch die Einschätzung des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit in seiner E-Mail vom 30. Juli 2015 steht einer Anordnung der sofortigen Vollziehung nicht entgegen. Wie aus der E-Mail hervorgeht, hat das Bundesamt aufgrund damals nicht ausreichender Tatsachengrundlage keine verbindliche Entscheidung im Sinne des § 21 Abs. 4 AMG getroffen. Es hat zum damaligen Zeitpunkt im Hinblick auf das Vorliegen eines Präsentationsarzneimittels lediglich die Produktbeschreibung und den Produktnamen geprüft. Es stand dem Antragsgegner auch frei, die angefochtene Verfügung nunmehr in eigener Zuständigkeit zu erlassen, nachdem er über weitergehende Erkenntnisse hinsichtlich der Vermarktung der beanstandeten Produkte verfügte. Eine vorherige Einschaltung des Bundesamtes nach § 21 Abs. 4 AMG ist im Hinblick auf die Herausbildung einheitlicher Maßstäbe zwar wünschenswert, gesetzlich aber nicht vorgeschrieben. Auch nimmt der zwischenzeitlich verstrichene Zeitraum der Verfügung nicht ihre Dringlichkeit, nachdem der Antragsgegner nunmehr über eine breitere Tatsachengrundlage verfügt. Die Formulierung der internen E-Mail vom 23. Oktober 2019 (BeiA, Bl. 93) ist vor diesem Hintergrund zwar unglücklich, gleichzeitig aber auch unschädlich.
25
3. Die bei einem Aufschub des Vollzugs eintretenden konkreten Nachteile für die gefährdeten Rechtsgüter überwiegen die die Antragstellerin treffenden Folgen der sofortigen Vollziehung.
26
Bei einem Aufschub des Vollzugs bis zur Entscheidung in der Hauptsache dürfte die Antragstellerin die beanstandeten Produkte weiterhin in der bisherigen Weise vermarkten. Die hiermit verbundenen, den Sofortvollzug rechtfertigenden Gefahren würden in nicht rückgängig zu machender Weise realisiert. Auch die befürchteten Wettbewerbsverzerrungen und die hiermit verbundenen nachteiligen Folgen für Mitbewerber könnten unabänderlich eintreten.
27
Diesen erheblichen Nachteilen für wichtige Rechtsgüter der Allgemeinheit steht keine Beeinträchtigung überwiegender Rechtsgüter der Antragstellerin bei der sofortigen Vollziehung der beanstandeten Untersagungs- und Rückrufverfügung des Antragsgegners vom 2. Dezember 2019 gegenüber. Zwar könnte sie die beanstandeten Produkte nicht mehr in der bisherigen Weise vermarkten. Ihr stünde es aber frei, diese Erzeugnisse in arzneimittelrechtskonformer Weise auf den Markt zu bringen, indem sie einen unverfänglicheren Namen wählt, die Aufmachung der Aufdrucke (Tierdarm mit Wurm) ändert und weder durch entsprechende Werbemaßnahmen (z.B. Aufsteller) noch über Webinare oder ähnliche Maßnehmen zur Kundenwerbung bzw. -bindung den Eindruck verbreiten lässt, es handele sich bei diesen Produkten um alternative Wurmkuren.
28
II. Auch mit dem erstinstanzlich gestellten Hilfsantrag auf Feststellung der aufschiebenden Wirkung der Klage hat der Antrag keinen Erfolg. Diesem Antrag liegt die Rüge der unzureichenden Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung zugrunde. Die entsprechende Begründung des besonderen Interesses an einer sofortigen Vollziehung der Untersagung des Inverkehrbringens und des Rückrufs der beanstandeten Produkte in der angefochtenen Verfügung vom 2. Dezember 2019 genügt jedoch den formellen Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO. Insoweit verweist der Senat auf die zutreffenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts auf den Seiten 10 und 11 des angefochtenen Beschlusses und macht sie sich zu eigen (§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO).
29
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
30
IV. Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG. Dabei folgt der Senat dem Verwaltungsgericht und legt der Bemessung des Streitwertes für das vorliegende Beschwerdeverfahren die Hälfte des von der Antragstellerin bezifferten Jahresnettoumsatzes der betroffenen Produktserie „…“ zugrunde.
31
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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Tenor
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen, der diese selbst trägt.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 23.482,71 Euro festgesetzt.
1G r ü n d e
2Die Beschwerde des Antragstellers hat keinen Erfolg.
3Der Senat ist bei der Überprüfung der erstinstanzlichen Entscheidung auf die Prüfung der von dem Rechtsmittelführer fristgerecht dargelegten Gründe beschränkt (§ 146 Abs. 4 Satz 6 i. V. m. Satz 1 und 3 VwGO). Diese Gründe rechtfertigen es nicht, dem mit der Beschwerde weiterverfolgten Antrag des Antragstellers zu entsprechen,
4der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu untersagen, den mit A 16 BBesO besoldeten Dienstposten "Leiterin/Leiter Lehrbereich 3 (m/w/d) in der Abteilung III 'Schulische Bildung' bei der Beschäftigungsdienststelle Bildungszentrum der Bundeswehr in P. " mit dem Beigeladenen zu besetzen, bis über seine Bewerbung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut entschieden wurde.
5Das Verwaltungsgericht hat diesen Antrag mit der Begründung abgelehnt, der Antragsteller habe zwar einen Anordnungsgrund, aber keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Sein Bewerbungsverfahrensanspruch sei nicht verletzt. Es sei nicht zu beanstanden, dass die Antragsgegnerin ihn mit der Begründung aus dem für die Auswahlentscheidung weiter zu betrachtenden Bewerberfeld ausgeschieden habe, er könne keine zweijährige ministerielle Verwendung nachweisen. Dieses Merkmal ergebe sich aus der ZDv A-1340/16 "Personalentwicklung für Beamtinnen und Beamte" (Ziffern 341. und 342.) und sei ein konstitutives Anforderungsmerkmal. Dieses habe die Antragsgegnerin auch zulässigerweise aufgestellt. Diese in ihr Organisationsermessen fallende Entscheidung sei nur auf sachfremde Erwägungen überprüfbar, die hier nicht vorlägen. Die Antragsgegnerin habe vielmehr nachvollziehbar erläutert, dass Dienstposten ab der Besoldungsgruppe A 16 BBesO nach ihrer Bewertung besonders verantwortungsvolle Tätigkeiten mit herausgehobenen Führungsaufgaben umfassten. Oft seien dies Leitungsstellen großer Behörden oder Referatsleiterpositionen besonders großer Referate, bei denen zur Erfüllung der jeweiligen Aufgaben vertiefte, durch Einsicht in ministerielle Arbeitsabläufe gewonnene Kenntnisse stets unabdingbar seien. Der Einwand des Antragstellers, unter Berücksichtigung von § 43 BLV benötige er die ministerielle Vorverwendung nicht, greife nicht durch. Diese Vorschrift sei schon ihrem Wortlaut nach nicht auf den Antragsteller anwendbar, da er gegenwärtig nach A 15 BBesO besoldet werde und daher kein Beamter einer der dort aufgeführten Besoldungsgruppen sei. Unerheblich sei insoweit, dass er in der Zeit von 2002 bis 2008 in eine nach C 3 BBesO besoldete Planstelle eingewiesen gewesen sei. Auch eine erweiternde Auslegung der Norm komme nicht in Betracht. Diese diene ersichtlich dem laufbahnrechtlichen Wechsel von Wissenschaftlern aus der W- oder C-Besoldung in Statusämter der A- oder B-Besoldung, regele die jeweilige Zuordnung und erfasse (schon) nicht die weiteren laufbahnrechtlichen Voraussetzungen. Darüber hinausgehende Anforderungskriterien für Beförderungen schließe sie nicht aus.
6Hiergegen wendet der Antragsteller im Kern das Folgende ein: Das Verwaltungsgericht habe die Anforderungen des beamtenrechtlichen, hier aufgrund der gesetzlichen Wertung des § 43 Nr. 4 BLV konturierten Leistungsprinzips aus Art. 33 Abs. 2 GG verkannt, indem es der Ansicht der Antragsgegnerin gefolgt sei, er könne "pauschal und a limine", d. h. ohne auf seinen Fall bezogene Ermessensausübung, wegen Fehlens der nach dem Personalentwicklungskonzept geforderten zweijährigen ministeriellen Verwendung aus dem weiteren Auswahlverfahren ausgeschlossen werden. Dem stehe die Ermessensnorm des § 43 BLV entgegen, die sich hier auch für einen "gewesenen C3er" bei der gebotenen Ermessensentscheidung auszuwirken habe. Diese Vorschrift ermögliche bei ihrer unmittelbaren bzw. "direkten" Anwendung den unmittelbaren Wechsel eines Wissenschaftlers in die A- oder B-Besoldung (unmittelbare Übertragung des Amtes, "Direktbestellung"), wobei eine vorherige Ministerialverwendung grundsätzlich nicht verlangt werde(n dürfe), sondern "alles das, was für eine Direktübertragung" der A- oder B-Ämter "vom Prinzipiellen her gefordert" sei, "als abgedeckt" gelte. Sähe man dies anders und forderte entsprechend dem Personalentwicklungskonzept zusätzlich eine oder gar mehrere bestimmte A-Verwendung(en), könnte nur der ehemalige Wissenschaftler bestallt werden. Bereits das zeige, wie sehr Normbereich sowie Sinn und Zweck des § 43 BLV missverstanden und die Normhierarchie missachtet würden, wenn für den Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung pauschal auf das Personalentwicklungskonzept verwiesen würde. Sei eine nach diesem Konzept erforderliche A-Verwendung bereits vor der wissenschaftlichen Tätigkeit erfolgt, bedürfe es keiner Regelung in § 43 BLV, weil solche Kandidaten das Personalentwicklungskonzept ohnehin erfüllt hätten. Alle diese Erwägungen zeigten, dass das Personalentwicklungskonzept überhaupt nicht auf § 43 BLV "zugeschnitten" sei. Zwar sei die Vorschrift des § 43 BLV hier nicht unmittelbar anwendbar. Sie stelle aber in ihren "fünf Überführungsstufen normlogisch zwingend jeweils einen Qualifikationsstatus mit bestimmtem Wirkradius" auf, der in seinem – des Antragstellers – Fall durch die von 2002 bis 2008 innegehabte sechsjährige C 3-Professur an der Fachhochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung gebildet werde. Dieser Qualifikationsstatus eröffne, wie dargelegt, bei – hier unstreitig gegebener – Laufbahnbefähigung "vom Prinzipiellen her eine Direktbestellung auf A 16, ohne Ministerialschleife," könne ebenso wenig verloren werden wie etwa eine durch ministerielle Verwendung erworbene Qualifikation und sei als Leistungselement "grundsätzlich geeignet, die Forderung einer zweijährigen Ministerialverwendung als konstitutives Ausschreibungsmerkmal zu überwinden". Er mache deshalb entsprechende fehlerfreie Ermessenserwägungen der Antragsgegnerin bei der ihm zustehenden, bislang aber unterbliebenen Ermessensentscheidung der Antragsgegnerin zu seinem Bewerbungsverfahrensanspruch nach Art. 33 Abs. 2 GG nötig.
7Dieses Vorbringen stellt die Einschätzung des Verwaltungsgerichts nicht durchgreifend in Frage, der Antragsteller habe vorab aus der Bewerberauswahl ausgeschlossen werden dürfen, weil er das – unstreitig – konstitutive, für alle Bewerber geltenden Anforderungsmerkmals einer mindestens zweijährigen ministeriellen Verwendung im höheren Dienst nach Ziffer 342. ZDv A-1340/16 nicht erfülle. Der Ausschluss verletzt den Bewerbungsverfahrensanspruch des Antragstellers nicht. Dieser hat keinen Anspruch darauf, allein mit Blick auf seine frühere Zeitprofessur und die Regelung des § 43 Nr. 4 BLV im Wege einer "Ermessensentscheidung" in den Qualifikationsvergleich einbezogen zu werden.
8Nach Art. 33 Abs. 2 GG dürfen öffentliche Ämter im statusrechtlichen Sinne nur nach Kriterien vergeben werden, die unmittelbar Eignung, Befähigung und fachliche Leistung betreffen. Hierbei handelt es sich um Gesichtspunkte, die darüber Aufschluss geben, in welchem Maße der Beamte den Anforderungen seines Amts genügt und sich in einem höheren Amt voraussichtlich bewähren wird. Art. 33 Abs. 2 GG gilt für Beförderungen unbeschränkt und vorbehaltlos; er enthält keine Einschränkungen, die die Bedeutung des Leistungsgrundsatzes relativieren. Diese inhaltlichen Anforderungen des Art. 33 Abs. 2 GG für die Vergabe höherwertiger Ämter erfordern eine Auswahl unter den Bewerbern. Der Dienstherr darf das Amt nur demjenigen Bewerber verleihen, den er aufgrund eines den Vorgaben des Art. 33 Abs. 2 GG entsprechenden Leistungsvergleichs als den am besten geeigneten ausgewählt hat. Art. 33 Abs. 2 GG dient dem Zweck, das fachliche Niveau und die rechtliche Integrität des öffentlichen Dienstes gerade durch die ungeschmälerte Anwendung des Leistungsgrundsatzes zu gewährleisten. Zudem vermittelt die Vorschrift Bewerbern ein grundrechtsgleiches Recht auf leistungsgerechte Einbeziehung in die Bewerberauswahl. Jeder Bewerber um ein Amt hat einen Anspruch darauf, dass der Dienstherr seine Bewerbung nur aus Gründen zurückweist, die durch Art. 33 Abs. 2 GG gedeckt sind (sog. Bewerbungsverfahrensanspruch). Der für die Bewerberauswahl maßgebende Leistungsvergleich ist anhand aktueller, inhaltlich aussagekräftiger und auf das Statusamt zu beziehender dienstlicher Beurteilungen vorzunehmen. Maßgebend für den Leistungsvergleich ist in erster Linie das abschließende Gesamturteil, das durch eine Würdigung, Gewichtung und Abwägung der einzelnen leistungsbezogenen Gesichtspunkte zu bilden ist.
9Vgl. etwa OVG NRW, Beschluss vom 13. Mai 2015– 1 B 67/15 –, juris, Rn. 9 f., m. w. N.
10Allerdings kann der Dienstherr über die Eignung des Bewerberfeldes auch in einem gestuften Auswahlverfahren befinden. Bewerber, die die allgemeinen Ernennungsbedingungen oder die laufbahnrechtlichen Voraussetzungen nicht erfüllen oder denen aus sonstigen Gründen für die Vergabe des Beförderungsamtes von vornherein die Eignung fehlt, darf der Dienstherr bereits auf einer ersten Stufe des Auswahlverfahrens ausschließen mit der Folge, dass sie in den auf der zweiten Stufe des Auswahlverfahrens stattfindenden Leistungsvergleich nicht mehr einbezogen werden. Dies gilt auch für Bewerber, die ein vom Dienstherrn zulässigerweise aufgestelltes konstitutives (obligatorisches) Anforderungsmerkmal nicht erfüllen; auch diese scheiden notwendig und unmittelbar aus dem für die Auswahlentscheidung weiter zu betrachtenden Bewerberfeld aus.
11Vgl. etwa OVG NRW, Beschlüsse vom 7. Juni 2018 – 1 A 1381/17 –, juris, Rn. 22 und 24, und vom 13. Mai 2015 – 1 B 67/15 –, juris, Rn. 11 f., jeweils m. w. N.
12"Konstitutiv" in diesem Sinne sind die Merkmale des Eignungs- und Befähigungsprofils, die zum einen zwingend sind und deren Vorliegen zum anderen anhand objektiv überprüfbarer Kriterien letztlich eindeutig und unschwer festzustellen sind. Dabei unterliegt die Frage, ob der Dienstherr die konstitutiven Anforderungskriterien beachtet hat, in vollem Umfang der gerichtlichen Kontrolle.
13Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 7. Juni 2018– 1 A 1381/17 –, juris, Rn. 22 und 24, m. w. N.
14Die Einengung des Kreises der nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung zu vergleichenden Bewerber um ein öffentliches Amt durch die Festlegung eines Anforderungsprofils – hier durch die gemäß Ziffer 342. ZDv A-1340/16 im Vorfeld der Auswahlentscheidung getroffene Entscheidung der Antragsgegnerin, die Berücksichtigung bei der Bewerberauswahl für die zu besetzende Stelle (u. a.) zwingend von dem Nachweis der einschlägigen ministeriellen Vorverwendung abhängig zu machen – kann wegen der damit verbundenen teilweisen Vorwegnahme der Auswahlentscheidung allerdings nur aufgrund sachlicher, dem Grundsatz der Bestenauslese entsprechender Erwägungen erfolgen; die Einhaltung der Schranken, die der Organisationsgewalt des Dienstherrn bei einer solchen Organisationsgrundentscheidung gezogen sind, unterliegt dabei der gerichtlichen Kontrolle.
15Vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 26. November 2010 – 2 BvR 2435/19 –, juris, Rn. 13, m. w. N., und vom 8. Oktober 2007 – 2 BvR 1846/07 –, juris, Rn. 17 f.; zur verfassungsrechtlichen Fundierung der Organisationsgewalt des Dienstherrn vgl. Kenntner, Grundsatzfragen zum dienstrechtlichen Konkurrentenstreit, in: NVwZ 2017, 417 ff. (419), auch unter Hinweis auf Art. 65 Satz 2 GG; zur Personal- und Organisationsgewalt des jeweiligen Ministers für den übertragenen Geschäftsbereich ferner etwa auch Küster, in: Hömig/Wolff, GG, 12. Aufl. 2018, Art. 65 Rn. 4, und Oldiges/Brinktrine, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 65 Rn. 21.
16Macht der Dienstherr die Beförderung seiner Beamten in das nächsthöhere Statusamt – wie hier – von allgemein Geltung beanspruchenden zwingenden Eignungsvorgaben abhängig, so genügen diese dann den Anforderungen des Art. 33 Abs. 2 GG und können zur Grundlage einer (gestuften) Beförderungsentscheidung gemacht werden, wenn sie grundsätzlich von jedem entsprechend qualifizierten Bediensteten erfüllt werden können, indem die für ein Fortkommen erforderlichen Stellen (Verwendungen) regelmäßig durch – hausinterne – Ausschreibungen vergeben werden. Außerdem müssen die erforderlichen Verwendungen in einem Zusammenhang mit der Beförderungsstelle stehen, indem sie entweder den Beamten besser befähigen, das nächsthöhere Statusamt auszufüllen, oder aber geeignet sind, eine zuverlässigere Beurteilung des Leistungsvermögens und eine besser fundierte Prognose über die voraussichtliche Bewährung in einem höheren Amt zu gewährleisten.
17Vgl. BVerwG, Beschluss vom 25. Oktober 2011– 2 VR 4.11 –, juris, Rn. 35 (für das im Personalentwicklungskonzept der dortigen Antragsgegnerin geforderte Merkmal der Bewährung in mindestens zwei Sachgebietsleitungen), und OVG NRW, Beschluss vom 13. Mai 2015 – 1 B 67/15 –, juris, Rn. 21 bis 23.
18Diese beiden Voraussetzungen sind hier erfüllt.
19Dass die in Rede stehende Eignungsvorgabe vorliegend grundsätzlich von jedem qualifizierten Bediensteten erfüllt werden kann, weil die Stellen, die für ein späteres Fortkommen zunächst erlangt werden müssen, regelmäßig (entsprechend der Ausschreibungspflicht nach § 4 BLV) ausgeschrieben werden, wird schon durch die ZDv A-1340/16 "Personalentwicklung für Beamtinnen und Beamte" indiziert. Sie hebt nämlich unter Ziffer 101. hervor, dass für die Besetzung von Förderdienstposten der Grundsatz der Bestenauslese gilt, was eine Ausschreibung oder die (gleichwertige) Betrachtung aller in Frage kommenden Beamten voraussetzt. Zudem ergibt sich aus der Personalakte des Beigeladenen (Beiakte Heft 5, Blatt 293 ff., insbesondere Blatt 299 f. und 304), dass auch die Stelle im Bundesministerium der Verteidigung, die dieser vom 17. Mai 2016 bis zum 31. Mai 2018 innegehabt hat, aufgrund einer Ausschreibung vergeben worden ist. Dass es qualifizierten Beamten aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung möglich ist, die vom Personalentwicklungskonzept für eine Beförderung nach A 16 BBesO verlangte Vorverwendungen nachzuweisen, zeigt im Übrigen auch das vorliegende Auswahlverfahren. Dem Auswahlvermerk vom 2. Januar 2020 kann nämlich entnommen werden, dass unter Einschluss des Beigeladenen (mindestens) drei Bewerber diese Vorgaben vollständig erfüllen konnten. Bezogen auf den Antragsteller ist im Übrigen darauf hinzuweisen, dass in der ihm erteilten dienstlichen Beurteilung vom 17. Mai/10. Juni 2017 u. a. eine Verwendung im Bundesministerium der Verteidigung vorgeschlagen worden war.
20Die erforderlichen Vorverwendungen stehen nach dem Sachgründe benennenden Vortrag der Antragsgegnerin im Schriftsatz vom 28. Januar 2020 auch in einem hinreichenden Zusammenhang mit der Beförderungsstelle. Nach diesem Vortrag befähigen die bei einer (ministeriellen) Vorverwendung erworbenen Kenntnisse und Erfahrungen den Beamten besser, das nächsthöhere Statusamt (A 16 BBesO) auszufüllen. Die Antragsgegnerin hat insoweit nämlich ohne weiteres nachvollziehbar ausgeführt, dass es zur Erfüllung der besonders anspruchsvollen und besonders verantwortungsvollen Aufgaben auf Dienstposten der Besoldungsgruppe A 16 BBesO unabdingbar sei, bereits über vertiefte Kenntnisse durch Einsicht in ministerielle Arbeitsabläufe und die dort zusammenlaufende Verzahnung von allen organisatorischen Bereichen der Bundesverwaltung in der Laufbahngruppe des höheren Dienstes zu verfügen.
21Das auf § 43 BLV gestützte Beschwerdevorbringen rechtfertigt keine von dem Vorstehenden abweichende Bewertung.
22Der Antragsteller stellt nicht in Frage, dass die – hier allein in Betracht kommende – Regelung des § 43 Nr. 4 BLV in seinem Fall nicht unmittelbar anwendbar ist. Nach § 43 Nr. 4 BLV können u. a. Beamtinnen und Beamten der Besoldungsgruppe C 3 der Bundesbesoldungsordnung C nach sechs Jahren Ämter der Besoldungsgruppen A 16 oder B 2 der Bundesbesoldungsordnungen A und B übertragen werden, wenn sie die Befähigung für die vorgesehene Laufbahn besitzen. Zu diesem Personenkreis zählt der Antragsteller nicht, weil er schon seit dem Ablauf des 8. September 2008 nicht mehr nach C 3, sondern nach A 14 bzw. A 15 BBesO besoldet wird.
23Er stellt vielmehr, wie bereits dargestellt, die Rechtsbehauptung auf, die Vorschrift des § 43 (Nr. 4) BLV "konturiere" über ihren unmittelbaren Regelungsgehalt hinausgehend Art. 33 Abs. 2 GG und wirke dabei auch auf die an dieser Norm zu messende Organisationsentscheidungen (wie hier das Aufstellen eines zwingenden Anforderungsmerkmals) einschränkend ein. Dieser Ansicht kann nicht gefolgt werden. Die Vorschrift des § 43 BLV soll von ihr erfasste Wissenschaftler im Rahmen eines Stellenbesetzungsverfahrens nicht vor Anforderungskriterien bewahren, die bei der Besetzung einer (ausgeschriebenen) Stelle in Bezug auf alle übrigen Laufbahnbewerber ohne Weiteres aufgestellt werden dürfen (s. o.). Gegenstand des § 43 Nr. 4 BLV ist vielmehr nur, ein der Stellenbesetzung entgegenstehendes Beförderungsverbot (Verbot der Sprungbeförderung) zu beseitigen und ein pauschaliertes, allgemein auf die Ämter bestimmter Besoldungsgruppen bezogenes Wechselsystem vorzugeben. Im Einzelnen gilt Folgendes:
24Die Vorschrift des § 43 BLV ermöglicht mit ihren Nummern 2 bis 4 für den Fall eines angestrebten Wechsels von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern (vgl. die amtliche Überschrift der Norm) der W- oder C-Besoldung in Ämter der Besoldungsgruppe A eine Verbeamtung außerhalb der Eingangsbesoldung
25– vgl. Peters/Grunewald/Lösch, Handbuch zum Laufbahnrecht des Bundes, 2009, Rn. 417, und Lemhöfer, in: Lemhöfer/Leppek, Das Laufbahnrecht der Bundesbeamten, Stand: April 2020, BLV 2009 § 43 Rn. 2 –,
26die sich in den Laufbahnen des höheren Dienstes nach A 13 BBesO bemisst (vgl. § 23 Abs. 1 Nr. 4 BBesG). Hierzu etabliert die Vorschrift ein klar definiertes "Wechselsystem", das der jeweiligen W- oder C-Besoldung unter Anrechnung insoweit gesammelter Berufserfahrung das entsprechende Amt der A-Besoldung zuordnet. Auf diese Weise soll sichergestellt werden, dass die Überleitung weder mit Gewinnen noch mit Verlusten verbunden ist.
27Vgl. Peters/Grunewald/Lösch, Handbuch zum Laufbahnrecht des Bundes, 2009, Rn. 417.
28Indem § 43 BLV mit seinen Nummern 2 bis 4 eine Übertragung von Ämtern der A-Laufbahn ohne Durchlaufen des Eingangsamtes sowie etwaiger Beförderungsämter unterhalb des jetzt zu übertragenden Amtes laufbahnrechtlich für zulässig erklärt, erweist sich die Norm als Ausnahmeregelung zu dem grundsätzlichen Verbot der Sprungbeförderung des § 22 Abs. 3 BBG (mögliche Ausnahme: § 22 Abs. 6 BBG), nach dem Ämter, die nach der Gestaltung der Laufbahn regelmäßig zu durchlaufen sind – hierzu zählen nach § 9 Abs. 2 BLV die Ämter der Bundesbesoldungsordnung A –, nicht übersprungen werden dürfen.
29Dass § 43 Nr. 2 bis 4 BLV darüber hinausgehend mindestens auch den Zweck verfolgt, die die Vergabe einer konkreten Stelle betreffende Entscheidung über zu erfüllende Anforderungskriterien oder (sogar auch) die eigentliche Auswahlentscheidung zu steuern oder auch nur zu beeinflussen, ist nicht erkennbar.
30Der Wortlaut der Vorschrift enthält insoweit keinen Anhalt. Dessen Betrachtung unter gesetzessystematischen Gesichtspunkten streitet im Gegenteil nachdrücklich gegen eine solche Annahme. § 43 BLV spricht nämlich lediglich davon, dass "Ämter" der jeweils genannten Besoldungsgruppe (§ 43 Nr. 1 bis 3 BLV) bzw. Besoldungsgruppen (§ 43 Nr. 4, 5 BLV) übertragen werden können, während das Gesetz in Bezug auf die einer Auswahlentscheidung vorausgehende Ausschreibung und damit auch in Bezug auf die Auswahlentscheidung selbst jeweils auf konkret "zu besetzende Stellen" abstellt (§§ 8 Abs. 1 Satz 1 BBG, 4 Abs. 1 Satz 1 BLV; vgl. auch § 2 Abs. 2 und 3 BLV, die in Bezug auf die Qualifikationsmerkmale der Eignung bzw. Befähigung von einem bestimmten Amt bzw. von der dienstlichen Verwendung sprechen).
31Nichts anderes folgt aus den Erwägungen des Antragstellers, der Normbereich sowie der Sinn und Zweck des § 43 BLV würden bereits in den unmittelbaren Anwendungsfällen des § 43 Nr. 2 bis 4 BLV (Fälle eines angestrebten Wechsels eines aktuell nach W 2, C 2 oder C 3 besoldeten Beamten in ein Beförderungsamt der A‑Besoldung) missverstanden bzw. ausgehöhlt, wenn – wie vorliegend im Personalentwicklungskonzept – über die in der Vorschrift ausdrücklich genannten Zeitvorgaben hinausgehende zwingende Anforderungen aufgestellt würden.
32Das Argument des Antragstellers, solche Beamten der W- oder C-Besoldungsgruppe könnten ansonsten niemals "bestallt" werden, trifft schon deshalb nicht zu, weil diese die Erfordernisse des Personalentwicklungskonzepts bereits vor ihrer (auf Zeit angelegten) wissenschaftlichen Tätigkeit erfüllt haben können.
33Nicht überzeugend ist auch das weitere Argument des Antragstellers, es bedürfe, wenn die erforderliche A-Verwendung bereits vor der wissenschaftlichen Tätigkeit erfolgt sei, der Regelung des § 43 BLV nicht, weil solche Kandidaten das Personalentwicklungskonzept ohnehin erfüllt hätten. Der Wechsel eines gegenwärtig W- oder C-besoldeten Wissenschaftlers in ein Beförderungsamt der früher innegehabten A-Besoldung wäre nämlich ohne die Regelung des § 43 BLV auch dann grundsätzlich unmöglich, wenn der Wissenschaftler wegen der Erfüllung aller nach der Ausschreibung aufgestellten zwingenden Anforderungskriterien einschließlich derer des Personalentwicklungskonzepts in die Auswahlentscheidung einzubeziehen und (sogar) als der bestqualifizierte Bewerber im Bewerberfeld auszuwählen wäre. Dabei kommt es nicht darauf an, ob einem solchen – sich als "Rückkehr" in die A-Besoldung darstellenden – Wechsel aus der W- oder C-Besoldung das grundsätzliche laufbahnrechtliche Verbot der Sprungbeförderung entgegenstehen könnte. § 43 BLV wäre nämlich auch in einem solchen Fall jedenfalls deshalb nicht überflüssig, weil es der von § 43 BLV geleisteten Zuordnung für die "Rückkehr" in die A-Besoldung bedürfte. So müsste etwa für einen vor der wissenschaftlichen Tätigkeit (W 2 BBesO) zuletzt nach A 15 BBesO besoldeten Beamten festgelegt werden, ob diesem schon ein Amt z. B. nach A 16 BBesO (bzw. sogar nach B 2 BBesO) übertragen werden darf (§ 43 Nr. 3, 4 BLV).
34Dieses Normverständnis wird durch einen Blick auf die bis zum 11. Februar 2009 geltende Rechtslage bestätigt. Danach entschied der Bundespersonalausschuss über Ausnahmen von der damaligen Regelung, nach der "Besoldungsgruppen" bzw. "Ämter",
35– so ohne sachliche Änderung seit der Änderung des § 24 Satz 1 BBG a. F. durch Art. 2 Nr. 3 des Gesetzes zur Reform des öffentlichen Dienstrechts vom 24. Februar 1997, BGBl. I S. 322: vgl. Plog/Wiedow, BBG (alt), § 24 Rn. 1 und 4, und Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 13/3994 S. 35 –
36die bei regelmäßiger Gestaltung der Laufbahn zu durchlaufen waren, nicht übersprungen werden sollten (§ 24 Satz 1 und 3 BBG a. F., §§ 44 Abs. 1 Nr. 5, 12 Abs. 3 Satz 1 BLV a. F.).
37Vgl. auch Battis, BBG, 3. Aufl. 2004, § 24 Rn. 4.
38Der Bundespersonalausschuss konnte also lediglich ein Beförderungshindernis ausräumen und die mögliche Zuordnung festlegen, während die eine Stellenvergabe betreffenden Entscheidungen dem Dienstherrn oblagen. Die damalige Spruchpraxis des Bundespersonalausschusses zeichnet § 43 BLV nun mit seinem Wechselsystem nach,
39vgl. Peters/Grunewald/Lösch, Handbuch zum Laufbahnrecht des Bundes, 2009, Rn. 417.
40Eine abweichende Bewertung folgt schließlich offensichtlich nicht aus der (verallgemeinerten) Behauptung des Antragstellers, eine sechsjährige Tätigkeit als Professor an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung könne die nach dem Personalentwicklungskonzept verlangte ministerielle Erfahrung ersetzen. Es ist nämlich schon im Ansatz nicht nachvollziehbar, dass eine solche Lehr-und ggf. auch Forschungstätigkeit die vertieften praktischen Kenntnisse ministerieller Arbeitsabläufe und der dort zusammenlaufende Verzahnung von allen organisatorischen Bereichen der Bundesverwaltung in der Laufbahngruppe des höheren Dienstes vermitteln könnte, deren Vorhandensein die Antragsgegnerin mit dem in Rede stehenden, Beförderungen nach A 16 BBesO betreffenden Anforderungskriterium ohne Rechtsverstoß (s. o.) sicherstellen will.
41Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 3 VwGO. Es entspricht nicht der Billigkeit, die außergerichtlichen Kosten, die dem Beigeladenen im Beschwerdeverfahren entstanden sein mögen, für erstattungsfähig zu erklären, weil dieser insoweit keinen Antrag gestellt hat und damit kein Kostenrisiko eingegangen ist.
42Die Festsetzung des Streitwerts für das Beschwerdeverfahren beruht auf den §§ 40, 47 Abs. 1 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG sowie § 52 Abs. 1, Abs. 6 Satz 4 i. V. m. Satz 1 Nr. 1, Satz 2 und 3 GKG. Auszugehen ist nach § 52 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 GKG von dem Jahresbetrag der Bezüge, die dem jeweiligen Antragsteller nach Maßgabe des im Zeitpunkt der Beschwerdeerhebung (hier: 27. März 2020) bekanntgemachten, für Beamtinnen und Beamte des Bundes geltenden Besoldungsrechts unter Zugrundelegung der jeweiligen Erfahrungsstufe fiktiv für das angestrebte Amt im Kalenderjahr der Beschwerdeerhebung zu zahlen sind. Nicht zu berücksichtigen sind dabei die nach § 52 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 und Satz 3 GKG ausgenommenen Besoldungsbestandteile. Der nach diesen Maßgaben zu bestimmende Jahresbetrag ist wegen § 52 Abs. 6 Satz 4 GKG und wegen der im Eilverfahren nur begehrten vorläufigen Sicherung auf ein Viertel zu reduzieren. Der nach den vorstehenden Grundsätzen zu ermittelnde Jahresbetrag beläuft sich hier angesichts des angestrebten Amtes der Besoldungsgruppe A 16 und bei Zugrundelegung der Erfahrungsstufe 8 für das maßgebliche Jahr 2020 auf 93.930,86 Euro (Januar und Februar jeweils noch 7.759,03 Euro, für die übrigen Monate jeweils schon 7.841,28 Euro). Die Division des o. g. Jahresbetrages mit dem Divisor 4 führt auf den im Tenor (abgerundet) festgesetzten Streitwert von 23.482,71 Euro.
43Dieser Beschluss ist hinsichtlich der Streitwertfestsetzung nach §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG und im Übrigen gemäß § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.
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Tenor
1.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Landgerichts Münster vom 23. Juli 2019 (Az. 04 O 270/18) wird zurückgewiesen.
2.
Der Kläger hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
3.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Das Urteil des Landgerichts Münster vom 23. Juli 2019 ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
4.
Die Revision wird zugelassen.
5.
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 25.646,12 Euro festgesetzt.
1Gründe(§ 540 ZPO)
2I.
3Der Kläger begehrt von der Beklagten Schadensersatz Zug um Zug gegen Rückgabe seines von dem sog. „Abgasskandal“ betroffenen Fahrzeuges. Hinsichtlich der Darstellung des Sach- und Streitstandes wird auf den Tatbestand im angefochtenen Urteil des Landgerichts Münster vom 23. Juli 2019 Bezug genommen.
4Das Landgericht Münster hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, dass sämtliche kaufrechtlichen oder deliktischen Ansprüche des Klägers im Zusammenhang mit dem Erwerb seines vom sog. „Abgasskandal“ betroffenen Fahrzeuges verjährt sind. Gegen dieses Urteil wendet sich der Kläger mit seiner Berufung, mit der er seine geltend gemachten Ansprüche weiterverfolgt. Er ist der Meinung, seine Ansprüche gegen die Beklagte seien nicht verjährt. Im Jahre 2015 habe er noch keine positive Kenntnis von den Machenschaften der Beklagten gehabt. Diese habe ihn nie über die Betroffenheit seines Fahrzeuges in Kenntnis gesetzt. Die Diskussion in der Öffentlichkeit reiche nicht aus, um eine positive Kenntnis bzw. grob fahrlässige Unkenntnis seinerseits bereits im Jahre 2015 zu bejahen. Hinsichtlich seines Vortrages im Einzelnen wird auf die Berufungsbegründung des Klägers mit Schriftsatz vom 24. September 2019 verwiesen.
5Im Rahmen der Berufung beantragt der Kläger nunmehr, das am 23. Juli 2019 verkündete Urteil des Landgerichts Münster (Az. 04 O 270/18) abzuändern und wie folgt neu zu fassen:
61.
7Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger einen Betrag in Höhe von 25.646,12 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit Zug um Zug gegen Übergabe und Rückübereignung des Fahrzeuges X, ###70, zu zahlen.
82.
9Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger einen Betrag in Höhe von 8.385,10 Euro sowie weiteren Zinsen aus einem Betrag in Höhe von 30.295,44 Euro in Höhe von 4 Prozentpunkten seit dem 16.10.2018 bis zur Rechtshängigkeit sowie in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
103.
11Für den Fall, dass der Antrag zu 1. Erfolg hat, wird beantragt festzustellen, dass sich die Beklagte mit der Rücknahme des im Klageantrag zu 1. genannten Pkw in Annahmeverzug befindet.
124.
13Hilfsweise wird beantragt:
14Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger einen Betrag bezüglich des im Klageantrag zu 1. genannten Fahrzeugs, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, jedoch mindestens in Höhe von 6.059,08 Euro (20 % des Kaufpreises) nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
155.
16Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger von den außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 1.358,86 Euro freizustellen.
176.
18Im Hinblick auf die nicht vorgenommene Schätzung gemäß § 287 ZPO bzw. das nicht eingeholte Sachverständigengutachten wird beantragt, gemäß § 538 Abs. 2 ZPO hilfsweise das Urteil des Landgerichts Münster vom 23.07.2019 – 4 O 470/18 – aufzuheben und das Verfahren zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht Münster zurückzuverweisen.
19Die Beklagte beantragt,
20die Berufung zurückzuweisen.
21Sie hält ihren bisherigen Vortrag, insbesondere hinsichtlich der Verjährung etwaiger Ansprüche des Klägers, aufrecht. Auf ihre Berufungserwiderung mit Schriftsatz vom 11. Mai 2020 wird wegen ihres Vorbringens im Einzelnen Bezug genommen.
22II.
23Die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts Münster vom 23. Juli 2019 ist zurückzuweisen.
24Sämtliche etwaigen kaufrechtlichen oder deliktischen Ansprüche des Klägers gegen die Beklagte aufgrund des Erwerbs seines X im Jahr 2012 sind verjährt. Da vorliegend Verjährung eingetreten ist, ist die Beklagte nach § 214 Abs. 1 BGB in Verbindung mit §§ 195, 438 Abs. 1 Nr. 3 BGB berechtigt, gegen sie unter Umständen bestehende Leistungsansprüche zu verweigern.
25Zur Begründung nimmt der Senat zunächst Bezug auf die in jeder Hinsicht zutreffenden Ausführungen des Landgerichts Münster im angefochtenen Urteil. Ergänzend weist der Senat noch auf Folgendes hin:
26Das Landgericht hat zutreffend festgestellt, dass im vorliegenden Fall mit Ablauf des Jahres 2018, also am 31. Dezember 2018, die Verjährung etwaiger Ansprüche gegen die Beklagte eingetreten ist.
27Die Verjährung sämtlicher ggf. in Betracht kommender kaufrechtlicher oder deliktischer Ansprüche gegen die Beklagte begann hier nach § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB mit dem Schluss des Jahres 2015, dem 31. Dezember 2015. Denn im Jahr 2015 hat der Kläger ohne jeden Zweifel Kenntnis davon erlangt, dass er ein vom sog. Abgasskandal betroffenes Fahrzeug von der Beklagten erworben hatte und ihm aus diesem Grund Ersatzansprüche gegen diese zustehen könnten. Jedenfalls hätte er diese Kenntnis ohne grob fahrlässiges Fehlverhalten unschwer erlangen können. Insoweit ist der Senat jedoch davon überzeugt, dass der Kläger hier positive Kenntnis von etwaigen Ansprüchen gegen die Beklagte als Haftungsschuldner bereits im Jahr 2015 hatte. Hierfür spricht bereits deutlich die vom Kläger am 15. Oktober 2018 verfasste Klage, die er auch noch im Oktober 2018 bei Gericht einreichte. Sie ging am 22. Oktober 2018 und damit noch mehr als zwei Monate vor Ablauf der Verjährungsfrist beim Landgericht Münster ein. Zudem hatte er die Beklagte schon mit anwaltlichem Schreiben vom 28. August 2018 nicht nur zur Rückabwicklung des Kaufvertrages aufgefordert und Schadensersatzansprüche geltend gemacht, sondern sie auch ausdrücklich aufgefordert, auf die Einrede der Verjährung zu verzichten. Eine unmittelbare Klageeinreichung bei fruchtlosem Ablauf einer auf den 11. September 2018 gesetzten Frist hatte der Kläger zudem auch schon angekündigt. Allein aus diesem Verhalten wird deutlich, dass sich der Kläger der Verjährungsproblematik bewusst war und er die Kenntnis von etwaigen Ansprüchen gegen die Beklagte schon im Jahr 2015 erlangt hatte. Angesichts des unstreitigen allgemeinen Bekanntwerdens des sog. Dieselskandals im Jahre 2015 sowie der umfassenden Berichterstattung über die der Beklagten vorgeworfene Täuschung in sämtlichen Medien spätestens ab Herbst 2015 ist es für den Senat nicht nachvollziehbar, wenn der Kläger vorträgt, er habe im Jahre 2015 keine positive Kenntnis von den Machenschaften der Beklagten gehabt.
28So hat die Beklagte am 22. September 2015 eine ad-hoc-Mitteilung sowie eine gleichlautende Pressemitteilung herausgegeben, in der sie Unregelmäßigkeiten in Bezug auf die verwendete Software bei Dieselmotoren einräumte. Sie arbeitete mit dem Kraftfahrtbundesamt zusammen, das ihr die Entfernung der Software und Maßnahmen zur Wiederherstellung der Vorschriftsmäßigkeit auferlegte. Auch wurde seitens der Beklagten auf ihrer Webseite eine Suchmaschine freigeschaltet, mit der die Ausstattung eines bestimmten Fahrzeuges mit der beanstandeten Motorsteuerungssoftware festgestellt werden konnte. Servicepartner und Vertragshändler wurden informiert sowie ein Software-Update für die betroffenen Fahrzeuge bereit gestellt. Hierüber wurde in Presse, Funk und Fernsehen umfangreichst und fortlaufend berichtet. Es fand in der breiten Öffentlichkeit eine ständige Diskussion statt, die sich über Monate hinzog, u.a. unter den Bezeichnungen „Diesel-Gate“, „Dieselskandal“ und „X-Abgasskandal“.
29Diese Ereignisse, insbesondere schon die Mitteilung der Beklagten vom 22. September 2015, waren objektiv geeignet, das Vertrauen von potenziellen Käufern von Fahrzeugen mit X-Dieselmotoren in eine vorschriftsmäßige Abgastechnik zu zerstören (vgl. BGH, Urteil vom 30. Juli 2020 – VI ZR 5/20 – Rn. 34 ff.). Dies lässt folglich auch nur den Schluss zu, dass aufgrund der dargelegten Geschehnisse spätestens ab Herbst 2015 für jeden Besitzer eines Dieselfahrzeuges von der Beklagten oder einer anderen Konzernmarke sowohl deren Verantwortlichkeit für die Motorenmanipulation als auch ihre damit verbundene mögliche Pflicht zur Rückabwicklung des Kaufvertrages oder Leistung von Schadensersatz klar erkennbar waren. Ausgehend von den geschilderten Vorgängen im Jahr 2015 und der darauf beruhenden massiven sowie auch in die Details gehenden Berichterstattung in den gesamten Medien, dem Verhalten der Beklagten selbst und den Erklärungen des Kraftfahrtbundesamtes ist es als geradezu unverständlich anzusehen, wenn ein Käufer bzw. Besitzer eines Dieselfahrzeuges der Beklagten hinsichtlich der individuellen Betroffenheit keine weiteren Erkundigungen einholt (vgl. OLG München, Beschlüsse vom 5. Februar und 10. März 2020 – 3 U 7392/19 ‑; Beschluss vom 2. Juni 2020 – 3 U 7229/19 -). Für die erforderliche Kenntnis im Sinne des § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB muss sich ein Käufer bzw. Besitzer eines Dieselfahrzeuges der Beklagten so behandeln lassen, als hätte er bis zum 31. Dezember 2015 die entsprechende Kenntnis gehabt. Seine etwaige Unkenntnis beruht nämlich jedenfalls auf grober Fahrlässigkeit. Sowohl die Umstände, die einen Ersatzanspruch begründen könnten, als auch die Umstände, aus denen sich ergibt, dass die Beklagte als mögliche Haftungsschuldnerin in Betracht kommt, sind ihm zumindest infolge grober Fahrlässigkeit unbekannt geblieben (vgl. OLG München, Beschlüsse vom 5. Februar, 10. März und 2. Juni 2020, a.a.O.).
30Vorliegend ist jedoch aufgrund des an die Beklagte gerichteten Schreibens vom 28. August 2019 sowie der – grundsätzlich rechtzeitigen – Klageeinreichung noch im Oktober 2018 von einer positiven Kenntnis des Klägers hinsichtlich der möglichen Haftung der Beklagten für die vorgenommene Motormanipulation auszugehen. Sofern der Kläger es dann unterlässt, sein Klageverfahren zu fördern und rechtzeitig den angeforderten Gerichtskostenvorschuss zu bezahlen, so dass die maßgebliche Zustellung der Klage erst am 23. Januar 2019 und damit verspätet erfolgt, beruht dies allein auf seinem Verschulden. Die sich hieraus ergebenden Folgen muss sich der Kläger zurechnen lassen.
31Zutreffend hat das Landgericht Münster festgestellt, dass die Zustellung der Klage jedenfalls nicht „demnächst“ im Sinne des § 167 ZPO erfolgt ist. Es liegt hier eine allein vom Kläger als Zustellungsbetreiber verursachte Zustellungsverzögerung vor, die eine Rückwirkung nach § 167 ZPO ausschließt. Auf die weiteren Ausführungen des Landgerichts, die vom Senat geteilt werden, wird Bezug genommen.
32Das Landgericht hat somit zu Recht die Klage als unbegründet abgewiesen, da etwaige Ansprüche des Klägers gegen die Beklagte verjährt sind.
33Die Berufung des Klägers ist dementsprechend zurückzuweisen.
34Soweit der Kläger nach Schluss der mündlichen Verhandlung noch einen weiteren Schriftsatz vom 29. September 2020 eingereicht hat, ist das dortige Vorbringen für die Entscheidung des Senats unbeachtlich.
35Nach Schluss der mündlichen Verhandlung sind im Rahmen der zu treffenden Entscheidung nicht nachgelassene Schriftsätze nicht mehr zu berücksichtigen. Das dortige Vorbringen stellt keinen verwertbaren Streitstoff dar (vgl. Zöller, ZPO, 33. Aufl., § 540 Rn. 12).
36Dies ist vorliegend der Fall. Im Übrigen besteht auch kein Grund, erneut in die mündliche Verhandlung einzutreten. Die Voraussetzungen des § 156 ZPO liegen ersichtlich nicht vor.
37Soweit seitens des Klägers zudem hilfsweise versucht wird, einen Schadensersatzanspruch nach § 852 Satz 1 BGB zu konstruieren, weist der Senat darauf hin, dass auch insoweit die Anspruchsvoraussetzungen nicht erfüllt sind. Das Vorliegen eines sog. Restschadens im Sinne des § 852 Satz 1 BGB, auf dessen Ersatz ein Anspruch bestehen könnte, ist nicht ersichtlich.
38III.
39Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit aus § 708 Nr. 10 ZPO.
40Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1, 48 GKG.
41IV.
42Die Revision wird zugelassen, da die Sache grundsätzliche Bedeutung hat. Die hier zu entscheidende Streitfrage der Verjährung ist vom Bundesgerichtshof bisher noch nicht abschließend entschieden worden und wird von den Oberlandesgerichten unterschiedlich bewertet.
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Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen trägt die Klägerin.
Das Urteil ist für die Beigeladene hinsichtlich der Kostenentscheidung gegen Leistung einer Sicherheit in Höhe von 110 % des Vollstreckungsbetrages vorläufig vollstreckbar. Für die Beklagte ist es hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung insoweit durch Leistung einer Sicherheit in Höhe von 110 % des Vollstreckungsbetrages abwenden, wenn nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Die Berufung wird zugelassen.
1T a t b e s t a n d
2Die Klägerin ist Inhaberin der mit Bescheiden vom 04.10.2017 durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) nach dezentralem Verfahren erteilten nationalen Zulassungen für die Arzneimittel „Q. 20mg/5 mg Filmtabletten“, „Q. 40 mg/5 mg Filmtabletten“ und „Q. 40 mg/10 mg Filmtabletten“ mit den Zulassungs-Nummern 00000.00.00, 00000.00.00 und 00000.00.00. Die verschreibungspflichtigen Präparate enthalten eine Kombination der Wirkstoffe „Q1. “ und „C. “. Das Anwendungsgebiet ist wie folgt formuliert: „Q2. ist als Substitutionstherapie zur Behandlung der essentiellen Hypertonie bei Patienten indiziert, die bereits mit der gleichzeitigen Gabe vom Q3. und C1. in den gleichen Dosen wie in der Kombination kontrolliert werden.“ Grundlage der Zulassungen waren als eigenständig bezeichnete Zulassungsdossiers („Stand Alone Application“ im Sinne von § 22 Abs. 2 AMG bzw. Art. 8 Abs. 3 i.V.m. Art. 10b der RL 2001/83/EG).
3Die Beigeladene ist Inhaberin der Zulassungen für die wirkstoffgleichen Arzneimittel „U. 20 mg/5 mg Filmtabletten“, „U. 40 mg/5 mg Filmtabletten“ und „U. 40 mg/10 mg Filmtabletten“. Die ersten Zulassungen dieser Arzneimittel innerhalb der Europäischen Union wurden am 19.08.2008 in den Niederlanden erteilt. Die Formulierung des Anwendungsgebiets lautet in Deutschland: „Behandlung der essentiellen Hypertonie. U. ist bei erwachsenen Patienten indiziert, deren Blutdruck nicht ausreichend mit Q1. oder C1. als Monotherapie kontrolliert werden kann.“
4Mit Datum vom 26.10.2017 erhob die Beigeladene Widerspruch gegen die Zulassungen der „Q. “-Produkte und bat hilfsweise um die Feststellung, dass sie vor dem 19.08.2018 nicht in den Verkehr gebracht werden dürften. Das Unternehmen M. in Slowenien habe in Bezug auf die Wirkstoffkombination zwei Arten von Dossiers entwickelt. Zum einen handele es sich um ein rein generisches Dossier, aufgrund dessen das BfArM nach Ablauf der achtjährigen Unterlagenschutzfrist Zulassungen für das Tochterunternhmen XXX – die Klägerin – erteilt habe. Insoweit werde anerkannt, dass aufgrund dieser Zulassungen die Arzneimittel erst ab dem 19.08.2018 vermarktet werden dürften. Daneben habe M. jedoch nach eigenen Angaben auch eigene klinische Studien durchgeführt und ein Dossier in Zusammenhang einer „Stand Alone Application“ erstellt, das den nunmehr erteilten Zulassungen zugrunde liege. Nach Angaben von M. werde hinsichtlich der Einzelbestandteile auf die insoweit nicht mehr geschützten Unterlagen verwiesen; bezüglich der Kombination seien jedoch vollständig eigene Unterlagen erstellt worden. Es sei davon auszugehen, dass dieses Zulassungsdossier zwar auch eigene Studien enthalte, aber dem Antrag auch Publikationen beigefügt seien, die mit „U. “ durchgeführt worden seien. Die angefochtenen Zulassungen seien daher unter Verstoß gegen § 24a und § 24b AMG erteilt worden. Die Beigeladene verwies in diesem Zusammenhang auf das Urteil des BVerwG vom 10.12.2015 - 3 C 18.14 -, „E. “. Auch die EMA gehe in ihrem Papier „European Medicines Agency Policy on Publication of Clinical Date for Medicinal Products for Human Use“ davon aus, dass Unterlagen, die öffentlich verfügbar seien, dann nicht für Zulassungsanträge missbraucht werden dürften, wenn sie noch dem Unterlagenschutz unterlägen.
5Unter dem 02.11.2017 beantragte die Fa. M. als Bevollmächtigte der Klägerin beim BfArM, die sofortige Vollziehung der Zulassungsbescheide anzuordnen. Der Beigeladenen stehe kein Suspensivinteresse zu. Sie stütze ihr Begehren auf bloße Vermutungen. Keine der angefochteten Zulassungen sei auf Dokumente gestützt, an denen Unterlagenschutz bestehe. Sie habe Investitionen in Millionenhöhe getätigt, um die Voraussetzungen eines Vollantrages für die Kombination zu schaffen. Von September 2014 bis Mai 2016 habe sie unter erheblichem Kostenaufwand die erforderlichen pharmakologischen und toxikologische Versuche und klinischen Prüfungen durchgeführt. Die Zulassungsunterlagen stützten sich an keiner Stelle auf Unterlagen der Beigeladenen. Sie enthielten auch keine bibliographischen Dokumente, die sich auf geschützte Unterlagen aus dem U. -Verfahren bezögen. Solche Publikationen unterfielen auch nicht dem arzneimittelrechtlichen Unterlagenschutz. Dieser schütze Ergebnisse von Studien und Versuchen, die zu der Zulassung des Originalpräparats geführt hätten, nicht das Originalpräparat selbst. Wenn Publikationen sich auf ein zugelassenes Arzneimittel oder dessen Anwendung bezögen, ohne auf Studien oder Versuche zu verweisen, die zur Zulassung geführt hätten, bestehe an diesen Publikationen kein Unterlagenschutz. Der Drittwiderspruch sei allein in der Absicht erhoben, unter Ausnutzung einer aufschiebenden Wirkung die Markteinführung von „Q. “ zu verzögern und damit aufkommenden Wettbewerb zu unterbinden. Er sei rechtsmissbräuchlich und wettbewerbsschädigend.
6Die Beigeladene erwiderte hierauf mit Schriftsatz vom 10.11.2017. Die Zulassungen seien materiell-rechtlich unter Verstoß gegen Art. 17 Abs. 2 der RL 2001/83/EG sowie § 25a Abs. 4 AMG über den Vorrang des dezentralisierten Verfahrens erteilt worden. Sie verwies auf parallel laufende dezentralisierte generische Verfahren über das Unternehmen (...) mit der Tschechischen Republik als Referenzstaat, die M. betreibe. Sie seien im vorliegenden Verfahren offensichtlich verschwiegen worden. Der Unterlagenschutz werde verletzt, da offensichtlich im bibliographischen Teil der Zulassungsanträge Daten verwendet worden seien, die sich auf „U. “ bezögen. In einem vollständigen Dossier müssten zwangsläufig solche Daten angegeben werden. Die Klägerin bestätigte dies selbst durch die Angabe, dass der Antrag „on their own data and data in public domain“ gestützt sei. Die vorliegenden Zulassungsanträge seien zudem in bemerkenswert kurzer Zeit bearbeitet worden. Dies spreche dafür, dass sie faktisch wie generische Anträge behandelt worden seien.
7Mit Datum vom 13.11.2017 ordnete das BfArM die sofortige Vollziehung der drei Zulassungen gemäß § 80a Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO an. Das Interesse der Zulassungsinhaberin an der sofortigen Vollziehung überwiege das Suspensivinteresse der Beigeladenen, weil der Drittwiderspruch bei der gebotenen summarischen Prüfung keinen Erfolg habe. Aus einer möglicherweise nach Art. 17 Abs. 2 der RL 2001/83/EG unzulässigen Parallelität von Zulassungsanträgen könne die Beigeladene keine Rechte herleiten. Die Möglichkeit einer Verletzung des Unterlagenschutzes sei nicht erkennbar. Zwar umfasse der Unterlagenschutz nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch Veröffentlichungen zu klinischen Studien, die ihrerseits dem Unterlagenschutz unterfielen. Auch seien verwertete Unterlagen unabhängig davon geschützt, ob eine auf sie gestützte Zulassung als originäre, generische, bibliographische oder gemischt-bibliographische erteilt worden sei. Voraussetzung sei allerdings, dass diese Unterlagen bzw. ggf. hierzu erfolgte Veröffentlichungen Bestandteil des Dossiers der Originalzulassung gewesen seien und damit auch Gegenstand der Prüfung für das Originalpräparat. Eine Durchsicht der Zulassungsakten habe ergeben, dass mit den Dossiers der angegriffenen Zulassungen keine Unterlagen eingereicht worden seien, die auch von der Beigeladenen als Teil ihres Zulassungsdossiers vorgelegt worden seien. Auch fände sich in den nunmehr vorgelegten Zulassungsdossiers kein Hinweis auf den Originator.
8Die Beigeladene suchte daraufhin im Verfahren 7 L 4692/17 am 11.12.2017 um einstweiligen Rechtsschutz nach und beantragte, die aufschiebende Wirkung des Drittwiderspruchs wiederherzustellen. Die Annahme des BfArM, es handele sich um sog. „Stand Alone Applications“, sei falsch. Dies ergebe sich aus einer Auswertung der „Clinical Summaries und Overviews“, des „Preliminary and Final Assessment Reports“ und der Protokolle der Beratungsgespräche. Im Clinical Overview würden Übersichtsartikel diskutiert und zitiert, die eindeutig auf von ihr durchgeführte Studien mit „U. “ Bezug nähmen. Die Beigeladene verwies hierbei auf die Übersichtsarbeiten von O. XX aus den Jahren 2008 und 2009. Es handele sich um die Referenznummer 22 im Clinical Overview und umfasse eine eingehende Diskussion der Kombinationstherapie von Angiotensin-Rezeptor-Blockern (ARB) mit Calziumkanalblockern (CCB). Im Clinical Overview werde sie auf den Seiten 7, 8 und 50 diskutiert. Die von ihr durchgeführte Studie sei die maßgebliche Studie zur zusätzlichen Wirksamkeit von „U. “ gegenüber Placebo und den Monosubstanzen (XX0000-X-X000 (...)). Außerdem seien Marktdaten verwendet worden, die nur von „U. “ stammen könnten, da die Präparate der Antragstellerin zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht auf dem Markt gewesen seien. Die Angaben zur Häufigkeit von Nebenwirkungen seien bis auf die Prozentzahlen hinter dem Komma mit denen für „U. “ identisch. Die Beigeladene äußerte zudem die Vermutung, dass im Zusammenhang eines Scientific Advice des BfArM durch die Antragstellerin Ausweichstrategien zur Umgehung des Unterlagenschutzes diskutiert und ergriffen worden seien, die es möglich gemacht hätten, trotz schlechter Studienlage eine Zulassung zu erteilen. Dem habe auch die Heranziehung chinesischer Studien gedient.
9Mit Datum vom 22.12.2017 hob das BfArM die unter dem 13.11.2017 verfügte Anordnung der sofortigen Vollziehung auf. Aus dem Vortrag der Beigeladenen ergäben sich Anhaltspunkte dafür, dass im Rahmen des Zulassungsverfahrens möglicherweise auf noch geschützte Unterlagen Bezug genommen worden sei, bzw. solche Unterlagen bei der Zulassungserteilung verwendet worden seien. Dies gelte zum einen für die Erwähnung der D. -Studie in einer mit dem Clinical Overview eingereichten Literaturstelle (O. XX 2009), zum anderen für die in der Fachinformation unter 4.8 aufgeführten und aus Studien der Beigeladenen stammenden Zahlen für die häufigsten Nebenwirkungen Ödeme (11,3 %), Kopfschmerzen (5,3 %) und Schwindelgefühl (4,5 %). Bezüglich dieser Daten könne eine Verletzung der Unterlagenschutzrechte der Beigeladenen nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Bei der vorzunehmenden Interessenabwägung sei die Anordnung des Sofortvollzuges nicht länger zu rechtfertigen. Es müsse deshalb beim gesetzlichen Regelfall der aufschiebenden Wirkung des Drittwiderspruchs bleiben. Das BfArM verwies in diesem Zusammenhang auf den Beschluss des OVG NRW vom 05.09.2008 -13 B 1013/08 -.
10Die Klägerin suchte daraufhin ihrerseits am 28.12.2017 um einstweiligen Rechtsschtz nach (7 L 4867/17).
11Sie verwies darauf, dass die Zulassungen aufgrund eines Vollantrages i.S.v. § 22 Abs. 1 und 2 AMG erteilt worden seien. Die Aufhebung des Sofortvollzuges sei evident rechtlich und sachlich falsch. Die Zulassung beruhe nicht auf den Überblicksartikeln O. 2008 und 2009. Diese seien schon objektiv ungeeignet, die für einen Vollantrag erforderlichen klinischen Studien zu ersetzen. Sie seien nur hinzugefügt worden, um das Bedürfnis nach fixen Kombinationspräparaten in der Praxis zu illustrieren. Sie hätte dies rechtzeitig klarstellen können, wenn sie nur angehört worden wäre. Rechtlich unhaltbar sei die Annahme, die Weiterverweisung durch O. 2009 auf „Crystant SG“ begründe die Möglichkeit einer Verletzung drittschützender Rechte. Diese Auffassung widerspreche dem Zweck des Unterlagenschutzes. Dieser bestehe in der Sicherung von Investitionen, die ein Erstanmelder zur Erstellung notwendiger Studien tätige. Diesem Schutzzweck sei nicht dadurch gedient, übliche Überblicksartikel derart zu „vergiften“, dass sie durch einen enthaltenen Verweis auf eine geschützte Studie auch dann für spätere Zulassungen unbrauchbar seien, wenn der Verweis den Zulassungsantrag weder stütze noch stützen solle. Dies gelte jedenfalls dann, wenn der spätere Antragsteller die notwendigen Studien selbst durchgeführt habe. Andernfalls seien einem Missbrauch der drittschützenden Vorschriften Tür und Tor geöffnet. Es handele sich um Publikationen Dritter, aus denen die Beigeladene keine Rechte herleiten könne. Die Ausweitung des Unterlagenschutzes auf solche Studien werfe überdies die Frage nach Rechtsklarheit und Bestimmtheit auf. Denn die Einbeziehung von Drittveröffentlichungen führe zu der Frage, ob bereits eine Fußnote oder wenige Fußnoten zu einer „Vergiftung“ des gesamten Dokuments führten, und ob eine solche „Vergiftung“ auch dann anzunehmen sei, wenn das Dokument ein drittes Dokument zitiere, das seinerseits auf eine geschützte Studienunterlage Bezug nehme. Erforderlich sei zumindest der positive Nachweis, dass ein solches Dokument für die neue Zulassung ursächlich gewesen sei. Die Prozentzahlen in den Nebenwirkungsangaben seien vom BfArM eigenmächtig in die deutschsprachige Zulassung eingefügt worden. Dies könne anhand eines Ausdrucks der Bescheidmaske für die Fachinformation im Zulassungsverfahren belegt werden. Sie – die Antragstellerin – habe englischsprachige SmPCs vorgelegt, die eigene Angaben enthalten hätten. Diese beruhten auf eigenen klinischen Studien. Schließlich verkenne das BfArM, dass es keine gesetzliche Bevorzugung des Suspensivinteresses bei Drittwidersprüchen gebe.
12Mit Beschluss vom 25.01.2018 lehnte die Kammer den Antrag ab. Bei summarischer Prüfung bestehe kein Anspruch auf die Anordnung des Sofortvollzuges. Hierbei ging sie davon aus, dass auch die Verwertung von Sekundarquellen zu einer Verletzung des arzneimittelrechtlichen Unterlagenschutzes führen könne.
13Die Beschwerde der Klägerin gegen diesen Beschluss wies das OVG NRW mit Beschluss vom 09.05.2018 zurück (13 B 201/18). Zwar beanspruche § 24b Abs. 1 AMG nur für die Zulassung von I. unmittelbare Geltung. Die Vorschrift sei aber ihrem Sinn und Zweck nach bei allen anderen Zulassungsverfahren anzuwenden. Der Unterlagenschutz erstrecke sich dabei auch auf Übersichtsarbeiten, die der Sekundärliteratur zuzuordnen seien. Auch begründe die Einbeziehung der D. -Studie in die Zulassungsdossiers die Vermutung, dass die geschützten Unterlagen bei der Erteilung der Zulassungen für „Q. “ verwertet worden seien. Die Studie betreffe auch keinen Randaspekt, der vernachlässigbar sei, sondern eine der zentralen Fragen des Zulassungsverfahrens. Diese liege nicht in der grundsätzlichen Wirksamkeit der Kombination von Calziumkanalblockern und Angiotensin-Rezeptorblockern, sondern in der konkreten Fixierung der Dosierung der Kombination der Wirkstoffe Q4. und C1. .
14Bereits am 20.03.2018 hat die Klägerin die vorliegende Klage als Untätigkeitsklage erhoben und begehrt, die Beklagte zu verpflichten die Widersprüche der Beigeladenen gegen die Zulassungsentscheidung zurückzuweisen. Zur Begründung wiederholt und vertieft sie das Vorbringen aus dem Verfahren 7 L 4867/17. Bis Klageehebung dürfte durch die Untätigkeit des BfArM ein Schaden von ca. 20.000.000,00 Euro entstanden sein.
15Mit Widerspruchsbescheid vom 04.05.2018 hob das BfArM die streitbefangenen Zulassungen auf.
16Die Klägerin hat daraufhin das Verfahren als Anfechtungsklage gegen den Widerspruchsbescheid fortgesetzt. Die Rücknahme der Zulassungen sei auch schon vor Ablauf der errechneten Unterlagenschutzfrist mit dem 19.08.2018 rechtswidrig. Aufgrund des Zeitablaufs könne nicht der achtjährige Unterlagenschutz nach § 24b Abs. 1 Satz 1 AMG, sondern höchstens die anschließende zweijährige weitere Marktexklusivität gemäß § 24 Abs. 1 Satz 2 AMG betroffen sein. Eine nach Ablauf der acht Jahre erteilte Zulassung könne nicht wegen Verletzung des Unterlagenschutzes rechtswidrig sein. Zudem sei das BfArM mit der Rücknahme über das Widerspruchsbegehren der Beigeladenen hinausgegangen, was mit § 50 VwVfG unvereinbar sei. Ein Angebot, die Veröffentlichungen O. 2008 und O. 2009 durch unterlagenschutzneutrale Angaben zu ersetzen, habe das BfArM abgelehnt. Auch könne der Widerspruchsbescheid nicht auf Formulierungen der Fachinformation gestützt werden, die auf Initiative des BfArM eingefügt worden seien. Zudem seien diese im Zeitpunkt der Widerspruchsentscheidung bereits ersetzt worden. Dessen ungeachtet liege kein Verstoß gegen die Bestimmungen des Unterlagenschutzes vor. Für die Verwertung geschützter Unterlagen sei allein maßgeblich, ob die Zulassungsentscheidung inhaltlich auf diese Unterlagen gestützt sei. Nicht entscheidend sei der Inhalt der Zulassungsunterlagen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts komme es darauf an, ob die Zulassung ohne die geschützten Unterlagen hätte verweigert werden müssen oder sich die Zulassungsbehörde bei der Entscheidung tatsächlich auf diese Unterlagen gestützt habe. Beides sei bei der D. -Studie nicht der Fall gewesen. Auch das BfArM sei in seiner ersten Vollziehbarkeitsentscheidung davon ausgegangen, dass eigene präklinische und klinische Studien der Klägerin zulassungsentscheidend seien. Auch ohne die streitigen Unterlagen habe die Zulassung erteilt werden können. Für den Nachweis von Wirksamkeit und Unbedenklichkeit seien sie vollkommen unerheblich. Das gelte auch für die Übersichtsarbeit von O. 2009 und dessen Weiterverweisung auf die D. -Studie.
17Mit Bescheid vom 20.08.2018 hob das BfArM den Bescheid vom 04.05.2018 auf, da die Grundlage für seinen Erlass nach Ablauf der Unterlagenschutzfrist entfallen sei. Maßgebend sei die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Aufhebungsentscheidung. Widerspruch gegen diesen Bescheid wurde nicht erhoben.
18Unter dem 13.09.2018 hat die Klägerin mitgeteilt, das Verfahren nach der Aufhebung des Rücknahmebescheides als Fortsetzungsfeststellungklage weiter zu betreiben. Sie habe ein Rechtsschutzinteresse, weil sie aufgrund der Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 04.05.2018 Schadensersatzansprüche gegen die Beigeladene bzw. Amtshaftungsansprüche gegen die Beklagte durchsetzen wolle. Sie wiederholt und vertieft die Begründung der Anfechtungsklage. Eine Verwertungsvermutung habe sie – die Klägerin – widerlegt. Der mittelbare Verweis auf die D. -Studie der Beigeladenen im Abschnitt 2.5.1 des Clinical Overview sei inhaltlich vollständig redundant und erfülle ausschließlich den Zweck, das zum Gemeinwissen zählende Bedürfnis nach fixen Kombinationspräparaten in der klinischen Praxis zu illustrieren. Maßgebend für die Zulassung seien die beiden Studien der Klägerin bzw. ihrer Rechtsvorgängerin und bibliographische Nachweise, insgesamt zehn Veröffentlichungen, darunter acht in chinesischer Sprache. Diese enthielten keinerlei Bezüge auf die D. -Studie. Die Klägerin legt zum Beleg dessen den Finalen Bewertungsbericht zu „P. “ vor, den das BfArM für das dezentralisierte Verfahren verfasst hat. Dieser stelle auf Seite 11 fest, dass bereits die Studie KL00000 die Wirksamkeit der Kombination belegt habe. Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der Kombination seien durch ihre klinischen Studien KKL000000 und KKLR000000 und das bibliographische Material vollständig belegt. Auf eine Verwertungsvermutung dürfe sich das BfArM nicht zurückziehen, da es selbst mitteilen könne, ob sie die Zulassungsentscheidung auf die D. -Studie gestützt habe oder nicht, zumal sie im Rahmen ihrer kostenpflichtigen wissenschaftlichen Beratung an der Erstellung des Dossiers und der Gestaltung der Studien selbst mitgewirkt habe.
19Eine Rücknahme der Zulassungen sei auch nicht im Hinblick auf die Nebenwirkungsangaben rechtmäßig, da das BfArM die Nebenwirkungsangaben der Klägerin eigenmächtig durch Angaben ersetzt habe, die denen für „T. “ entsprochen hätten.
20Eine nach Ablauf der achtjährigen Unterlagenschutzfrist erteilte Zulassung sei zudem wirksam und vom Konkurrenten nicht anfechtbar. Es entspreche auch der ständigen Verwaltungspraxis des BfArM, solche Zulassungen ohne Befristungen oder Bedingungen zu erteilen. Die nach Ablauf von acht Jahren für zwei weitere Jahre bestehende Vermarktungsexklusivität gemäß § 24b Abs. 1 Satz 2 AMG gewähre dem Vorantragsteller nur ein absolutes Recht, das er gemäß § 1004 BGB vor den ordentlichen Gerichten geltend machen könne. Auch die Kammer sei in dem Beschluss vom 25.01.2018 - 7 L 4867/17 - davon ausgegangen, dass ein Verstoß gegen die Vermarktungsexklusivität nicht die Rechtmäßigkeit der erteilten Zulassung berühre. Die Entscheidung des BVerwG, NVwZ-RR 2016, 504, 505 sei nicht einschlägig, weil sie die einheitliche zehnjährige Schutzfrist betreffe. Die Unterscheidung zwischen achtjähriger Schutzfrist und zweijähriger Marktexklusivität gelte auch für diejenigen Antragsteller, die keinen generischen, sondern einen Vollantrag gestellt hätten. Auch die RL 2001/83/EG gehe in Art. 10 Abs. 1, UAbs. 2 davon aus, dass Genehmigungen vor Ablauf der zehnjährigen Frist erteilt werden könnten. Anders verhalte es sich nur bei der Marktexklusivität für Arzneimittel für seltene Leiden gemäß Art. 8 Abs. 1 der VO 141/2000/EG. Dort dürfe innerhalb der zehn Jahre auch kein Antrag entgegen genommen werden.
21Die Klägerin beantragt,
22festzustellen, dass die Rücknahme der Zulassungen mit den Zulassungsnummern 00000.00.00, 00000.00.00 und 00000.00.00 durch den Widerspruchsbescheid des BfArM vom 04.05.2018 rechtswidrig war.
23Die Beklagte beantragt,
24 die Klage abzuweisen.
25Sie hält die Rücknahme der Zulassungen für rechtmäßig, weil Unterlagen der Beigeladenen verwertet worden seien. Maßstab für die Verwertung sei die Feststellung, ob ein bestimmtes Dokument oder eine bestimmte Aussage oder Fundstelle im Dossier ersichtlich zu dem Zweck eingereicht worden sei, die Zulassung zu bewirken und ob sie hierfür objektiv geeignet sei. Hieran könne es fehlen, wenn sich eine Bezugnahme auf einen fachlichen Aspekt beziehe, der nicht Gegenstand des Zulassungverfahrens sei. In den neunseitigen Artikel von O. XX, Complementary mechanism of angiotensin receptor blockers and calcium channel blockers in managing hypertension, PostgRAD Med 2009; 121(2): 40-48, werde die D. -Studie in einem Umfang von etwa 1/5 Seite dargestellt und zusätzlich als Beispiel unter mehreren für Kombinationstherapien von Angiotensinrezeptor-Blockern und Calciumkanal-Antagonisten erwähnt. Zudem werde die D. -Studie vielfältig als Beleg für allgemeingültige Aussagen zitiert. Im Clinical Overview der Klägerin werde der Artikel zweimal zitiert. Die D. -Studie verweise auf O. hinsichtlich der allgemeingültigen Feststellung einer Wirkungsverstärkung durch die Kombination (S. 45). Eine Trennung zwischen allgemeingültigen Aussagen zur Kombination und einer Bezugnahme auch die D. -Studie sei in der Publikation nicht möglich. Der Verweis sei nicht redundant, sondern betreffe eine wesentliche Voraussetzung der Zulassung. Es komme auch nicht darauf an, dass er im Kapitel „Product Development Rationale“ des Clinical Overview zu finden sei. Es spreche nichts dafür, dass sich das Verwertungsverbot sowie die Verwertungsvermutung auf einzelne Teile des Dossiers beschränke.
26Ein subjektiv-öffentliches Abwehrrecht gegen eine unter Verletzung des Unterlagenschutzes erteilte Zulassung stehe dem Erstantragsteller für den gesamten Zeitraum bis zum Ablauf von zehn Jahren am 19.08.2018 zu. Der Klägerin sei es gerade darum gegangen, durch die schnelle Erlangung einer Stand-Alone-Zulassung einen zeitlichen Vorsprung vor konkurrierenden generischen Zulassungen zu erlangen. Sie habe daher keinen Anlass gehabt, die zweijährige Vermarktungssperre abzuwarten.
27Die Beigeladene beantragt ebenfalls,
28 die Klage abzuweisen.
29Die Rücknahmeentscheidung des BfArM sei rechtmäßig. Dies gelte auch über den 19.08.2018 hinaus. Eine „Heilung“ der Rechtswidrigkeit durch Ablauf der Unterlagenschutzfrist trete nicht ein.
30Sie verweist auf die Beschlüsse der Kammer und des OVG NRW. Auch nach Ablauf der achtjährigen Frist sei der Unterlagenschutz vor dem Verwaltungsgericht geltend zu machen. Unternehmen, die einen generischen Zulassungsantrag unter dem Begriff der Stand-Alone-Zulassung markierten, dürften nicht von Nutzungsrechten generischer Unternehmen profitieren, sondern hätten die Rechte zum Schutz des geistigen Eigentums zu beachten. Die Zulassungen seien daher schon bei Erteilung rechtswidrig gewesen und die Rücknahmeentscheidung des BfArM rechtmäßig. Hinsichtlich der Frage der Voraussetzungen der „Verwertung“ geschützter Unterlagen bezieht sich die Beigeladene auf BVerwG, Urteil vom 10.12.2015 - 3 C 18.14 -. Ferner legt sie u.a. eine Stellungnahme Dr. R. (...) vom 07.02.2019 zur Relevanz der streitbefangenen Unterlagen für die Zulassung vor. Die Studie XXX00000 sei gescheitert. Nur die D. -Studie könne daher Grundlage der Zulassung der Kombination gewesen sein. Zudem sei die einzige pivotale[1] Dosisfindungsstudie im „multilevel factorial design“ zu Q3. -C1. -Kombinationsarzneimitteln, die „in concordance with current standard research approaches“ durchgeführt worden sei und die Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der verschiedenen Stärken der Kombination zu den Einzelsubstanzen belege, die von der Beigeladenen durchgeführte Studie.
31Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte des vorliegenden Verfahrens nebst Anlagen sowie des Verfahrens 7 L 4867/17 und der beigezogenen Akten des BfArM Bezug genommen.
32E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
33Die Klage ist zulässig.
34Sie ist insbesondere als Fortsetzungsfeststellungklage gemäß 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO statthaft, nachdem die zunächst als Untätigkeitsklage und nach Erlass des Widerspruchsbescheides vom 04.05.2018 nach § 42 Abs. 1, 1. Var. i.V.m. § 79 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Satz 1 VwGO als statthafte Anfechtungsklage gegen die Rücknahme der Zulassungen im Widerspruchsbescheid geführte Klage mit der Aufhebung der Rücknahmeentscheidung nach Ablauf der Unterlagenschutzfrist ihre Erledigung gefunden hat. Die Klägerin kann ein berechtigtes Interesse an der begehrten Feststellung im Sinne des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO geltend machen. Der Hinweis auf die spätere Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen gegen die Beigeladene oder von Amtshaftungsansprüchen gegen die Beklagte begründen ein schützenswertes Interesse an der Fortsetzung der Anfechtungsklage über den Erledigungszeitpunkt hinaus jedenfalls dann, wenn die Erledigung während des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens eingetreten ist und die Verfolgung solcher Ansprüche nicht offenkundig und nach jeder rechtlichen Betrachtung ausgeschlossen ist,
35vgl. BVerwG, Urteil vom 20.01.1989 - 8 C 30.87 -, BVerwGE 81, 226-229; OVG Lüneburg, Beschluss vom 29.08.2007 - 10 LA 31/06 -, DVBl. 2007, 1384; Redeker/v. Oertzen, 16. Auflage 2016, § 113 Rn. 46 und 50 m.w.N.
36Das verwaltungsgerichtliche Verfahren berechtigt nicht zu einer Vorab-Beurteilung der Erfolgsaussichten solcher Ansprüche. Greifbare Anhaltspunkte dafür, dass sie von vorherein auszuschließen sind, bestehen nicht.
37Die Klage ist jedoch nicht begründet.
38Die Aufhebung der Zulassungen mit den Zulassungsnummern 0000.00.00, 00000.00.00 und 00000.00.00 durch den Widerspruchsbescheid des BfArM vom 04.05.2018 war rechtmäßig und verletzte die Klägerin nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Satz 4 VwGO.
39Gemäß § 30 Abs. 1, 1. Halbsatz AMG ist eine arzneimittelrechtliche Zulassung zurückzunehmen, wenn nachträglich bekannt wird, dass einer der Versagungsgründe des § 25 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, 3, 5, 5a, 6 oder 7 AMG bei der Erteilung vorgelegen hat. Das BfArM ist in der Widerspruchsentscheidung rechtsfehlerfrei davon ausgegangen, dass die im nationalen Verfahren erteilten Zulassungen für „Q. 20mg/5 mg Filmtabletten“, „Q. 40 mg/5 mg Filmtabletten“ und „Q. 40 mg/10 mg Filmtabletten“ bis zum Ablauf der Unterlagenschutzfrist mit Ablauf des 19.08.2018 Schutzrechte der Beigeladenen aus § 24b Abs. 1 AMG verletzten.
40Im Zulassungsverfahren vorgelegt wurden im Clinical Overview u.a. Fundstellen zu Überblicksarbeiten von P. , die auf der vom Unterlagenschutz umfassten D. -Studie fußen. Die D. -Studie zählt wiederum zum Zulassungsdossier zu U. , das die Beigeladene für sich in Anspruch nehmen kann. Die Übersichtsarbeiten von P. , namentlich diejenige aus 2009, setzen sich mit dem blutdrucksenkenden Effekt gerade der Kombination aus C1. und Q3. auseinander. Angesprochen sind damit das Erfordernis der Kombinationsbegründung nach § 22 Abs. 3a AMG und der hieran anschließende Versagungsgrund des § 25 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5a AMG.
41Die genannten Unterlagen hätten nicht zum Gegenstand der Zulassungsverfahren gemacht werden dürfen. Die erteilten Zulassungen verletzten Rechte der Beigeladenen. Zwar sind die Vorschriften des Arzneimittelgesetzes über die Zulassung von Arzneimitteln grundsätzlich objektiv-rechtlicher Natur. Sie vermitteln Dritten keine subjektiv-öffentlichen Rechte und dienen dem in § 1 AMG ausgedrückten Zweck, im Interesse einer ordnungsgemäßen Arzneimittelversorgung für die Sicherheit im Verkehr mit Arzneimitteln, insbesondere für die Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit von Arzneimitteln zu sorgen. Nicht geschützt sind damit die Wettbewerbsinteressen Dritter. Neben diesen objektiv-rechtlichen Bestimmungen kommen als drittschützende Normen in Konkurrenzsituationen grundsätzlich nur die Bestimmungen über den Unterlagenschutz in Betracht, die den Interessen derjenigen pharmazeutischen Unternehmen dienen, die innovative Arzneimittel entwickeln und auf den Markt bringen. Die Beschränkung der Rechte Dritter im arzneimittelrechtlichen Zulassungsverfahren auf einen befristeten Unterlagenschutz entspricht gefestigter verwaltungsgerichtlicher Rechtsprechung.
42Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 22.09.2016 - 13 A 2378/14 -, vom 07.04.2016 - 13 B 28/16 -, vom 27.11.2014 - 13 B 950/14 -, vom 30.08.2012 - 13 B 733/12 -, vom 31.03.2009 - 13 B 1169/08 -, vom 26.09.2008 - 13 A 1169/08 - und vom 26.06.2008 - 13 B 345/08 -, jeweils m.w.N.; vgl. ferner BVerwG, Urteile vom 10.12.2015 - 3 C 18.14 und 19.14 -, hierzu Beschlüsse vom 08.12.2016 - 3 C 9.16 und 3 C 10.16 -.
43Zweck der Regelungen ist es, dem innovativen Erstanbieter eines Arzneimittels mit einem Datenschutz von acht und einem Vermarktungsschutz von insgesamt zehn, in besonderen Fällen von elf Jahren die Möglichkeit zu eröffnen, entstandene Aufwendungen zur Entwicklung des neuen Präparats zu refinanzieren.
44Vgl. Beschlüsse der Kammer vom 11.03.2016 - 7 L 3011/15 - und vom 08.08.2017 - 7 L 98/17 - m.w.N.
45Durch die Anordnung starrer Fristen ist der Unterlagenschutz schematisiert. Auf die Höhe der zu refinanzierenden Aufwendungen kommt es ebenso wenig an wie auf den Nachweis eines Refinanzierungsbedarfs. Beides wird vom Gesetz unwiderlegbar angenommen. Deshalb kommt es regelmäßig auch nicht darauf an, ob die vorgelegten Unterlagen besonders umfangreich oder für die Zweitzulassung allein entscheidend waren.
46Die Bestimmungen des Unterlagenschutzes sind für die zuständige Bundesoberbehörde zwingend und von Amts wegen zu beachten. Eine unter Verletzung des Unterlagenschutzes erteilte Zulassung ist rechtswidrig. Dies gilt auch dann, wenn die Zweitzulassung nach Ablauf der achtjährigen, aber vor Ablauf der zehnjährigen Schutzfrist erteilt wurde. Zwar weist die Klägerin zutreffend darauf hin, dass nach § 24b Abs. 1 Satz 1 AMG eine Zulassung unter Verwendung von Unterlagen des Erstanbieters bereits nach Ablauf von acht Jahren erteilt werden kann, der nachdrängende Wettbewerber sein Arzneimittel gemäß § 24b Abs. 1 Sätze 2 und 3 AMG jedoch nicht vor Ablauf von zehn bzw. elf Jahren in den Verkehr bringen darf („8+2+1-Regelung“). Der Unterlagenschutz unterteilt sich damit in eine achtjährige Erteilungs- und eine anschließende zwei- resp. dreijährige Vermarktungssperre. Mit der im Gefolge des 14. AMG-Änderungsgesetzes geänderten Ausgestaltung der Schutzfristen sollte klargestellt werden, dass eine Antragstellung und eine Bearbeitung des Antrags durch die Behörde in dem hier fraglichen Zeitraum nicht ausgeschlossen ist. Denn eine „Bearbeitungssperre“ bis zum Ablauf des zehnjährigen Zeitraums überließe den faktischen zeitlichen Ablauf des Unterlagenschutzes dem Zufall der sich anschließenden Bearbeitungsdauer bis zur Erteilung der Zweitzulassung. Dem entsprach im Übrigen bereits die Rechtsprechung zum zehnjährigen Unterlagenschutz nach § 24a Abs. 1 Satz 3 AMG a.F., der aufgrund der Übergangsbestimmung des § 141 Abs. 5 AMG in einschlägigen Fällen noch für Zeiträume bis 2015 von rechtlicher Bedeutung war.
47 Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 25.06.2018 - 13 A 537/16 -.
48Auch dort galt es zu verhindern, dass sich der Unterlagenlagenschutz durch die zeitlichen Erfordernisse eines Zulassungsverfahrens um Monate oder Jahre über den zehnjährigen Zeitraum hinaus verlängerte. Dem trug die Neuregelung durch eine Verkürzung des absoluten Unterlagenschutzes auf acht Jahre mit einem anschließenden Vermarktungsschutz von weiteren zwei Jahren Rechnung. Aus der Sicht des Erstantragstellers trat hierdurch keine wirtschaftliche Veränderung gegenüber der vorherigen Rechtsauslegung ein.
49Eine nach Ablauf des achtjährigen Zeitraums neuen Rechts erteilte Zulassung kann damit an sich nicht deshalb rechtswidrig sein, weil in den Unterlagen des Zweitantragstellers auf geschützte Unterlagen Bezug genommen wurde. Eine solche Zulassung darf lediglich nicht wirtschaftlich durch das Inverkehrbringen des Arzneimittels verwertet werden. Indes ist zu beachten, dass die Vorschriften über den Unterlagenschutz nach § 24b AMG auf die Zulassung eines Generikums bezogen sind. Entsprechend den Vorgaben des Art. 10 der RL 2001/83/EG sollte ein Ausgleich zwischen den Interessen des Erstanmelders an einer wettbewerbsfreien Vermarktung seines Arzneimittels und den berechtigten Interessen des nachdrängenden generischen Wettbewerbs hergestellt werden. Eine allgemeine Verwertungsbefugnis der Behörde sieht das Gesetz daneben nur in § 24d AMG für Zwecke außerhalb des Zulassungsverfahrens vor. Eine Verwertung liegt hier vor, wenn die Behörde allgemein aus den Unterlagen Informationen gewinnt oder Schlüsse zieht und dies bei späteren Entscheidungen berücksichtigt. Soweit es die bezugnehmende Verwendung von Unterlagen im Zulassungsverfahren betrifft, gehen nach § 24d, letzter Halbsatz AMG die spezielleren Regelungen der §§ 24a und 24b AMG vor.
50Vgl. Kloesel/Cyran, Arzneimittelrecht-Kommentar, Loseblatt (Stand 135. Akt.-Lief. 2019), § 24d, Erl. 3.
51Dies hat zur Folge, dass im Zulassungsverfahren geschützte Unterlagen des Erstantragstellers nur verwendet werden dürfen, wenn dieser nach § 24a AMG zustimmt oder die Voraussetzungen einer generischen Zulassung nach § 24b AMG vorliegen. Die Unterscheidung zwischen achtjährigem Unterlagen- und zwei- bzw. dreijährigem Vermarktungsschutz ist dabei ein Spezifikum generischer Zulassungen. Der als grundsätzlich förderungswürdig erkannte generische Wettbewerb sollte durch eine klare Fixierung des Starttermins nach zehn Jahren und einem vorangegangenen Zulassungsverfahren begünstigt werden. Eine generische Zulassung hat die Rechtsvorgängerin der Klägerin jedoch nicht beantragt, sondern ihren Antrag stets als „Stand-Alone-Application“ apostrophiert. Anlass, die zugunsten generischer Antragsteller modifizierten Fristen der „8+2+1“-Regelung auch auf solche Anträge anzuwenden, besteht nicht.
52Dem steht auch nicht entgegen, dass der Unterlagenschutz entsprechend § 24b Abs. 1 AMG nach seinem Sinn und Zweck bei allen Zulassungsverfahren heranzuziehen ist. Dies beruht auf dem Gedanken, dass verwertete Unterlagen unabhängig davon Schutz genießen, ob es sich um eine originäre, generische, bibliographische oder gemischt-bibliographische Zulassung handelt. Die Interessen eines Vorantragstellers sind ungeachtet der Art des Antrags stets in gleicher Weise betroffen. Auf die Klassifizierung des Zulassungsantrags kommt es dabei nicht an.
53Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 09.05.2018 - 13 B 201/18 - unter Hinweis auf BVerwG, Urteil vom 10.12.2015 - 3 C 18.14 - sowie OVG NRW, Beschluss vom 27.04.2015 - 13 B 1484/14 - und Urteil vom 04.07.2013 - 13 A 2788/10 -.
54Hiervon gedanklich zu trennen ist jedoch der Umstand, dass die Möglichkeit der Zulassung vor Ablauf des zehnjährigen Regelzeitraums aus den vorerwähnten Gründen nur bei der Zulassung eines Generikums vorgesehen ist. Anlass zu einer weitergehenden Privilegierung des Antragstellers außerhalb dieses Bereichs besteht nicht. Folglich kann der Erstantragsteller jedenfalls in Fällen der vorliegenden Art nach Ablauf eines achtjährigen Zeitraums auch nicht allein auf zivilrechtliche Abwehransprüche verwiesen werden.
55Der so beschriebene Unterlagenschutz beschränkt sich nicht auf die Ergebnisse pharmakologischer und toxikologischer Versuche bzw. die Ergebnisse klinischer Prüfungen oder sonstigen Erprobung. Er erfasst vielmehr nicht nur die Studien als solche, sondern auch hierauf bezogene Sekundärliteratur, die zur Begründung von Wirksamkeit und Unbedenklichkeit vorgelegt wird. Die Kammer folgt der Bewertung des OVG NRW im Beschluss vom 09.05.2018, dass auch die mittelbare Nutzung geistigen Eigentums durch die Vorlage hierauf bezogener Literatur den Unterlagenschutz verletzen kann,
56 vgl. auch ausführlich OVG NRW, Beschluss vom 27.04.2015 - 13 B 1484/14 -.
57Der Unterlagenschutz würde ausgehöhlt, wenn der Zweitantragsteller die Studienergebnisse mittelbar durch die Vorlage von Veröffentlichungen zu den Studien des Erstantragstellers nutzen dürfte,
58 OVG, a.a.O.
59Dies gilt namentlich bei bibliographischen oder gemischt-bibliographischen Zulassungsanträgen, bei denen nach § 22 Abs. 3 Satz 1 Nrn. 1-3 AMG anderes wissenschaftliches Erkenntnismaterial vorgelegt wird. Dieses Erkenntnismaterial muss so beschaffen sein, dass es in etwa den Ergebnissen klinischer oder sonstiger Versuche entspricht. Denn die bibliographische Zulassung ist keine Zulassung minderer Qualität, sondern beruht auf einem vergleichbaren Evidenzgrad wie eine Zulassung auf der Grundlage des gesetzlichen Regelfalls.
60Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 09.06.2009 - 13 A 1364/08 -; Winnands, in: Kügel/Müller/Hofmann, AMG, 2. Auflage 2016, § 22 Rn. 80.
61Verweisende und zitierende Quellen gewinnen in diesem Zusammenhang besondere Bedeutung. Ihnen kommt dann im Zulassungsverfahren die gleiche Funktion zu wie einer Primärquelle, wenn diese Gegenstand der Verweisung ist.
62Vor diesem Hintergrund bestehen keine durchgreifenden Zweifel daran, dass die Klägerin geschützte Unterlagen der Beigeladenen mit ihren Zulassungsanträgen vorgelegt und sich hierauf bezogen hat. Die Beklagte hat in ihrer Klageerwiderung vom 06.11.2018 nochmals ausgeführt, dass der neunseitige Artikel von P. aus dem Jahr 2009 sich mit den Grundprinzipien einer Kombinationstherapie mit Angiotensinrezeptor- und Calciumkanal-Blockern bei Patienten mit arterieller Hypertonie auseinandersetzt. Hierbei wird die fragliche D. -Studie der Beigeladenen in einem Umfang von etwa 1/5 Seite dargestellt und zusätzlich als Beispiel unter mehreren für Kombinationstherapien dieser Art erwähnt. Auch werde sie vielfältig als Beleg für allgemeingültige Aussagen zitiert. Im Clinial Overwiew wird der Artikel an zwei Stellen zitiert, die sich mit dem Zusammenspiel beider Wirkstoffe befassen und damit den Beleg der Kombination betreffen („The components of olmesartan/amlodipine FDC have complementary mechanism of action. The vasodilatory effects of CCBs cause an activation of the RAAS, which is antagonized by an ARB. ARB delay or reduce the risk of new-onset diabetis, CCB are typically metabolically neutral. Compelling patient subpopulations for olmesartan/amlodipine combination include patients with high coronary disease risk, diabetes, and chronic kidney disease.“ und „The pharmacologic effects of ARB and calcium channel blockers (CCBs) are complementary, and their combination results in additive blood pressure reduction“). Diese tatsächlichen Feststellungen stellt auch die Klägerin nicht in Abrede. Sie bestätigen die Bewertung des OVG NRW im Beschluss vom 09.05.2018, dass die mittelbare Einbeziehung der D. -Studie nicht einen vernachlässigbaren Randaspekt des Zulassungsverfahrens betrifft, sondern zentrale Fragen der Wirkstoffkombination. Beide Wirkstoffe sind seit längerem bekannt und werden in Monopräparaten eingesetzt. Die Besonderheit des Zulassungsverfahrens von „U. “ lag gerade in der Begründung der Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der fixen Wirkstoffkombination. Dem diente die mittelbare Bezugnahme auf die D. -Studie in unzweideutiger Weise. Bereits im Beschluss des einstweiligen Rechtsschutzes hat die Kammer ausgeführt, dass eine Relativierung der Bedeutung der bibliographischen Angaben auf „wenige Fußnoten“ nicht angezeigt ist, da sich die Bedeutung einer Quelle nicht nach quantitativen Kriterien bemisst. Ohne eine tragfähige Begründung zu dem angesprochenen Punkt, ggf. unter Vorlage zureichenden klinischen Erkenntnismaterials, wären die Anträge nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5a AMG zu versagen gewesen. Auf die Gründe des Beschlusses vom 25.01.2018 wird insoweit ebenso Bezug genommen wie auf die Gründe des Beschlusses des OVG NRW im Beschwerdeverfahren 13 B 201/18.
63Dem steht auch nicht entgegen, dass das BfArM in einer nachträglichen Bewertung nicht nachvollziehen kann, warum P. die D. -Studie als Beleg dafür anführe, dass die Kombination aus Q3. und C1. bei bestimmten Risikopatienten besonders geeignet sei, da diese Patienten bis auf eine Ausnahme nicht in die D. -Studie einbezogen seien. Derartige nachträgliche Bewertungen ändern nichts an dem Umstand, dass die geschützten Unterlagen Gegenstand der Zulassungsverfahren für „Q. “ waren. Zudem beziehen sie sich nur auf einen Teil der Zitate, während das BfArM der D. -Studie in Bezug auf den Beleg der Wirkungsverstärkung durch die Kombination beider Wirkstoffe eine „prominente Rolle“ zuweist.
64Dessen ungeachtet ist daran festzuhalten, dass die Vorlage geschützter Unterlagen des Erstantragstellers – und sei es in Form einer Inbezugnahme – zumindest die Vermutung begründet, dass diese bei der Zulassung auch verwertet wurden. Ein effektiver Unterlagenschutz wäre gefährdet, würde man auf häufig spekulativ bleibende oder schwer abzusichernde Kausalitätserwägungen abstellen. Diese im gerichtlichen Verfahren nachzuvollziehen, liefe auf die Wiederholung eines Teils des Zulassungsverfahrens hinaus. Für die Verletzung der Schutzrechte reicht deshalb bereits die Möglichkeit der Unterlagenverwertung durch die Behörde aus, sofern sie sich im Einzelfall nicht eindeutig ausschließen lässt, insbesondere die Behörde nicht klar und eindeutig darlegt, dass die geschützten Unterlagen für ihre Entscheidung in keiner Weise erheblich waren.
65Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 09.05.2018 - 13 B 201/18 -; BVerwG, Urteil vom 10.12.2015 - 3 C 18.14 -; OVG NRW, Beschluss vom 27.04.2015 - 13 B 1484/14 - und Urteil vom 04.07.2013 - 13 A 2788/10 -.
66Die Ausführungen des BfArM in der Klageerwiderung vom 06.11.2018 sprechen für das Gegenteil. Sie werden auch durch die Ausführungen des Vertreters der Fachabteilung nicht entscheidend widerlegt. Dieser hat ausgeführt, dass die von der Rechtsvorgängerin der Klägerin initiierte Studie XXX 000000 nicht „die Dosis-/Wirkungsbeziehung gezeigt habe, die man üblicherweise erwartet hätte“, aber eine effektive therapeutische Alternative belegt. Maßgebend sei die Gesamtschau aller vorliegenden Daten gewesen. Allerdings habe ihm der bearbeitende Kollege erklärt, dass das Zitat P. bei der Bearbeitung keine Rolle gespielt habe. Unterlagen zur D. -Studie habe er nicht zugrunde gelegt. Da eine arzneimittelrechtliche Zulassung nicht aufgrund bestimmter Unterlagen, sondern stets aufgrund aller vorgelegter Unterlagen erteilt wird, bleiben die Angaben des BfArM gleichwohl indifferent. Denn eine Verwertung der Unterlagen ist schon dann anzunehmen, wenn sie der Behörde vorliegen und zum Verfahrensgegenstand gemacht werden, um die Zulassung zu erlangen. In das Bewertungsergebnis einfließen müssen sie dabei nicht. § 24b Abs. 1 AMG stellt für den Unterlagenschutz schon dem Wortlaut nach nicht auf eine Verwertung im Sinne einer Entscheidungserheblichkeit ab. Vielmehr spricht die Norm im Zusammenhang mit der Regelung des Umfangs der vorzulegenden Unterlagen nach §§ 22- 24c AMG die Bezugnahme auf fremde Unterlagen an. Wenn eine Zulassungsentscheidung auf der Grundlage einer Gesamtschau aller vorliegenden Daten getroffen wird, kommt ein Nachweis fehlender Verwertung nur in Betracht, wenn die Daten ihrer Art nach für das Zulassungsverfahren ohne Belang sind. Dies ist hier nicht der Fall.
67Ob die Rechtswidrigkeit der Zulassungen auch aus der Verwendung von Angaben zur Häufigkeit von Nebenwirkungen folgt, die aus den Unterlagen zu „U. “ stammten, kann angesichts dessen offen bleiben. Auch muss nicht entschieden werden, wie es sich auswirkt, dass diese Daten wohl auf Vorschlag des BfArM Gegenstand der Zulassung wurden. Ebenso wenig ist noch entscheidungserheblich, ob die Zulassungen möglicherweise deshalb formell rechtswidrig sind, weil für dieselben Arzneimittel bereits im dezentralisierten Verfahren Zulassungsanträge gestellt waren und die Anträge in den hiesigen Verfahren daher nach § 25a Abs. 4 AMG i.V.m. § 17 Abs. 2 der RL 2001/83/83 in der Vorprüfung abzulehnen gewesen wären.
68Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, Abs. 3, 162 Abs. 3 VwGO. Es entspricht der Billigkeit, der Beigeladenen einen Anspruch auf Ersatz ihrer außergerichtlichen Kosten einzuräumen, weil sie einen Klageabweisungsantrag gestellt und sich damit einem Kostenrisiko ausgesetzt hat.
69Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 709 ZPO.
70Die Berufung ist nach § 124a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.
71Rechtsmittelbelehrung
72Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zu. Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, einzulegen. Sie muss das angefochtene Urteil bezeichnen.
73Statt in Schriftform kann die Einlegung der Berufung auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) erfolgen.
74Die Berufung ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils zu begründen. Die Begründung ist schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV bei dem Oberverwaltungsgericht, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, einzureichen, sofern sie nicht zugleich mit der Einlegung der Berufung erfolgt; sie muss einen bestimmten Antrag und die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe) enthalten.
75Vor dem Oberverwaltungsgericht und bei Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht eingeleitet wird, muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung im Übrigen bezeichneten ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.
76Die Berufungsschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.
77Beschluss
78Der Wert des Streitgegenstandes wird auf
793.000.000,00 €
80festgesetzt.
81Gründe
82Mit Rücksicht auf die Bedeutung der Sache für die Klägerin ist es angemessen, den Streitwert auf den festgesetzten Betrag zu bestimmen (§ 52 Abs. 1 GKG). Die für die Streitwertbemessung maßgeblichen Erwägungen ergeben sich aus der Begründung der Streitwertfestsetzung des Beschlusses vom 29.01.2018 im Verfahren 7 L 4867/17. Ihnen sind die Beteiligten im Beschwerdeverfahren vor dem OVG NRW und im vorliegenden Verfahren nicht entgegengetreten.
83Rechtsmittelbelehrung
84Gegen diesen Beschluss kann schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, Beschwerde eingelegt werden.
85Statt in Schriftform kann die Einlegung der Beschwerde auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) erfolgen.
86Die Beschwerde ist innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, einzulegen. Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.
87Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.
88Die Beschwerdeschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.
89[1] zentrale oder entscheidende Studie
| {
"jurisdiction": "Germany",
"type": "caselaw",
"language": "de"
} |
Tenor
1. Das Verfahren wird gemäß § 33 a StPO von Amts wegen in die Lage vor dem Senatsbeschluss vom 27. August 2020, der damit gegenstandslos wird, zurückversetzt.
2. Auf die Rechtsbeschwerde des Antragstellers wird der Beschluss der Kleinen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Frankenthal (Pfalz) vom 29. Mai 2020 aufgehoben und die Sache an die Kleine Strafvollstreckungskammer zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen.
3. Die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens und die diesbezüglichen notwendigen Auslagen des Antragstellers trägt die Landeskasse (§§ 121 Abs. 4 StVollzG, 467 Abs. 1 StPO).
4. Der Gegenstandswert des Beschwerdeverfahrens beträgt 500,-- € (§§ 1 Abs. 1 Nr. 8, 65, 60, 52 Abs. 1 GKG).
Gründe
I.
1
Der Antragsteller und Rechtsbeschwerdeführer ist derzeit in der Justizvollzugsanstalt Frankenthal (Pfalz) inhaftiert, wo er seit dem 29. August 2018 mehrere Haftstrafen wegen Wohnungseinbruchsdiebstahl und versuchtem Wohnungseinbruchsdiebstahl verbüßt.
2
Am 10. Februar 2020 beantragte er die Gestattung der Überlassung eine Gebetskerze zur Nutzung im eigenen Haftraum, die er über den Anstaltspfarrer beziehen wollte. Die Leitung der Justizvollzugsanstalt Frankenthal (Pfalz) lehnte dies unter Verweis auf die Dienstanweisung des Ministeriums der Justiz vom 29. November 2018, die die Überlassung von Gebetskerzen untersagt, mit Entscheidung vom 10. Februar 2020 ab. Nach dieser Dienstanweisung wird mit Blick auf eine bestehende Brandgefahr und in Reaktion auf mehrere Brandereignisse in rheinland-pfälzischen Vollzugseinrichtungen die Überlassung von Kerzen in Hafträumen der Gefangenen untersagt.
3
Hiergegen wandte sich der Antragsteller am 20. April 2020 mit seinem Antrag nach § 109 StVollzG an die Strafvollstreckungskammer des Landgericht Frankenthal (Pfalz) mit der Begründung, er benötige die Gebetskerze zum persönlichen Gebet im Haftraum. Er sei es gewohnt, sein Gebet mit dem Anzünden einer Kerze zu verbinden. Die Kleine Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Frankenthal (Pfalz) wies den Antrag mit Beschluss vom 29. Mai 2020 zurück. Zum einen habe der Antragsteller erst mit Schreiben vom 20. April 2020 gerichtliche Entscheidung gegen die ablehnende Entscheidung der Justizvollzugsanstalt vom 10. Februar 2020 eingelegt und damit die 14-tägige Antragsfrist nicht eingehalten, was den Antrag unzulässig mache. Zum anderen sei der Antrag auch unbegründet. Zwar könne sich der Antragsteller auf das Grundrecht der Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 2 GG berufen. Dieses Grundrecht finde seine Grenze aber in den Grundrechten Dritter, nämlich der körperlichen Unversehrtheit der anderen Gefangenen und des Vollzugspersonals, der die angeführten Brandschutzvorschriften dienten. Letztere überwögen bei einer Abwägung angesichts der hohen abstrakten Gefahr, die von einer Dauerbrennstelle in einem notwendig verschlossenen Haftraum ausgehe. Insbesondere könnten sich die Gefangenen einem evtl. Brand nur schlecht entziehen. Sie verfügten auch nur über begrenzte Löschmöglichkeiten. Ein Zugang durch die Feuerwehr in eine Justizvollzugsanstalt sei aufgrund der Umstände nur verzögert möglich. Angesichts der zu erwartenden Intensität eines Brandes unter den Bedingungen einer Justizvollzugsanstalt, seien auch in der Abwägung mit der Religionsfreiheit des Beschwerdeführers an die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts geringere Anforderungen zu stellen. Da mit LED-Kerzen eine von der Leitung der Justizvollzugsanstalt angebotene Alternative für das Gebet zur Verfügung stehe, sei die Untersagung von Wachskerzen auch verhältnismäßig. Eine dauerhafte Fremdüberwachung der Kerze könne nicht gewährleistet werden.
4
Dass die Justizvollzugsanstalt zudem vortrage, der Antragsteller, halte seinen Haftraum nicht in Ordnung und führe hygienisch bedenkliche Zustände herbei, sei angesichts der ausgeführten generellen Abwägung nicht von entscheidender Bedeutung, könne aber für den nicht zu entscheidenden Fall der zeitweisen, kontrollierten Überlassung einer Gebetskerze, z.B. zu Feiertagen, Bedeutung erlangen.
5
Das Ministerium der Justiz hat im Rechtsbeschwerdeverfahren Stellung genommen und beantragt die Rechtsbeschwerde unter Verweis auf die Entscheidung des Landgerichts Koblenz, Beschluss vom 17. April 2019 – 7 c StVK 150/19, nicht veröffentlicht, als unzulässig zurückzuweisen.
6
Die gegen die Entscheidung des Landgerichts geführte Rechtsbeschwerde hat (vorläufigen) Erfolg und führt zu Aufhebung der angefochtenen Entscheidungen.
II.
7
Die form- und fristgerecht eingelegte Rechtsbeschwerde ist zulässig.
8
Sie ist zunächst nicht schon wegen eines durch den Antragsteller unterzeichneten Rechtsmittelverzichts unzulässig. Der Antragsteller unterzeichnete zwar am 02. Juni 2020 ein Dokument „Mitteilung und Niederschrift anlässlich einer persönlichen Zustellung an Gefangene“. Dieses Dokument wurde dem Gefangenen im Zusammenhang mit der Aushändigung des Beschlusses des Landgerichts vom 29. Mai 2020 vorgelegt. Dort ist mit der direkt darunter folgenden Unterschrift des Antragstellers und dem Vermerk „vorgelesen, genehmigt und unterschrieben“ unter „D. Gefangene erklärte Rechtsmittelverzicht Ja/Nein“ Ja angekreuzt. Der Senat hat aber aufgrund nachgeholter Anhörung des Antragstellers (§ 33 a StPO) freibeweislich nicht sicher feststellen können, dass er mit dieser Erklärung tatsächlich auf Rechtsmittel gegen den angefochtenen Beschluss der Kleinen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Frankenthal (Pfalz) verzichten wollte. Vielmehr hat er mit Schreiben vom 28. September 2020 mitgeteilt, er sei davon ausgegangen, dass die Frage lautete, ob er Rechtsmittel einlegen wolle, weswegen er „Ja“ angekreuzt habe. Der Vollzugsbeamte, der ihm das Dokument vorgelegt habe, sei in Eile gewesen, er selbst sei nach der Arbeit müde und hungrig gewesen, weshalb er sich überfordert gefühlt habe. Das erste, formlos übersandte, Anhörungsschreiben des Senats vom 28. Juli 2020 habe er – was nicht zu widerlegen ist – nicht erhalten. Dieser Einlassung schenkt der Senat im Lichte des gesamten Verfahrensablaufs Glauben. Es erscheint angesichts des Engagements des Antragstellers für seine Sache und der Begleitung des Verfahrens durch den Anstaltsseelsorger unplausibel, dass der Antragsteller ohne weitere Rücksprache tatsächlich auf Rechtsmittel verzichten wollte. Diese Diskrepanz veranlasste den Senat erst zu der mit dem Schreiben vom 28. Juli 2020 erfolgten erneuten Anhörung zur Frage des Rechtsmittelverzichts. Der Antragsteller gibt nunmehr auch eine in sich nachvollziehbare Erklärung für das Zustandekommen des augenscheinlichen Rechtsmittelverzichts ab, die einen ursprünglichen Verzichtswillen in Bezug auf ein Rechtsmittel zweifelhaft erscheinen lässt. Der Erforschung des wahren Erklärungswillens (vgl. § 133 BGB) kommt in der vorliegenden prozessualen Situation eine wesentliche Bedeutung zu (vgl. Dahs, Die Revision im Strafprozess, 9. Aufl. 2017, Teil 4 Rn. 42 f.). Das gilt insbesondere im unmittelbaren Anschluss an die Bekanntmachung einer nachteiligen Entscheidung, etwa nach der Verkündung eines Urteils in der Hauptverhandlung (vgl. KK-StPO/Paul, 8. Aufl. 2019, StPO § 302 Rn. 11). Dieser Situation vergleichbar ist die unmittelbare Zustellungssituation einer im schriftlichen Verfahren ergangenen Entscheidung im Strafvollzug. Im Zweifel – wie hier – ist nicht von einem wirksamen Rechtsmittelverzicht auszugehen.
9
Damit beruht zugleich der nicht mehr anfechtbare Senatsbeschluss vom 27. August 2020 auf einer Gehörsverletzung, weil er in Unkenntnis dessen, dass der Antragsteller das Anhörungsschreiben des Senats vom 28. Juli 2020 nicht erhalten und deshalb von seinem Äußerungsrecht keinen Gebrauch machen konnte, ergangen war. Der Antragsteller hat bei der nachgeholten Anhörung einen Sachverhalt vorgetragen, der dem ursprünglichen Beschluss die Grundlage nimmt. Folglich war das Verfahren in den Stand zurück zu versetzen, in dem es sich vor dem Beschluss befand.
III.
10
Im Übrigen ist die Rechtsbeschwerde nach § 116 Abs. 1 StVollzG zulässig.
11
1. Die Behandlung eines zulässigen Antrags auf gerichtliche Entscheidung als unzulässig begründet einen Verstoß gegen den verfassungsrechtlichen Anspruch des Antragstellers auf rechtliches Gehör und führt unter diesem Gesichtspunkt zu Zulässigkeit der Rechtsbeschwerde.
12
Die Strafvollstreckungskammer hat keine hinreichenden Feststellungen getroffen, soweit sie den Antrag auf gerichtliche Entscheidung schon deshalb für unzulässig gehalten hat, weil der Antragsteller die 2-Wochen-Frist des § 112 Abs. 1 StVollzG nicht eingehalten habe. Der Beschluss der Strafvollstreckungskammer muss den Anforderungen des § 120 Abs. 1 Satz 2 StVollzG iVm. § 267 StPO entsprechend alle entscheidungserheblichen Tatsachen und rechtlichen Gesichtspunkte enthalten, um dem Rechtsbeschwerdegericht die Prüfung der Voraussetzungen des § 116 Abs. 1 StVollzG zu ermöglichen (OLG Hamm, Beschluss vom 11. Juli 2019 – 1 Vollz (Ws) 5/19, BeckRS 2019, 28114 Rn. 6; Beschluss vom 13. März 2018 – III-1 Vollz (Ws) 26/18, BeckRS 2018, 11485 Rn. 11; Arloth/Krä, StVollzG, 4. Aufl. 2017, StVollzG § 116 Rn. 4). Dies ist vorliegend nicht der Fall. Zwar hat der Gefangene den Antrag auf gerichtliche Entscheidung gegen die Entscheidung der Justizvollzugsanstalt vom 10. Februar 2020 erst im April 2020 gestellt. Die 2-Wochen-Frist des § 112 Abs. 1 StVollzG wird indes nur durch Zustellung oder schriftliche Bekanntgabe der angefochtenen Entscheidung in Gang gesetzt, wobei eine schriftliche Bekanntgabe gem. § 37 Abs. 3 VwVfG – in Rheinland-Pfalz in Verbindung mit § 1 LVwVfG – eine Unterschrift oder eine Namenswiedergabe erfordert (vgl. Arloth/Krä, StVollzG 4. Aufl. 2017, § 112 StVollzG Rn. 2 mwN aus der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte). Eine solche Bekanntmachung oder Zustellung hat die Strafvollstreckungskammer nicht festgestellt. Festgestellt wurde nur, dass der Besitz einer Gebetskerze dem Antragsteller „schriftlich versagt“ wurde. Insofern werden der zeitliche Verfahrensablauf, die Form und vor allem die Überlassung der schriftlichen Versagung an den Antragsteller nicht deutlich. Eine bloß mündliche Unterrichtung von der Entscheidung setzt die Frist des § 112 Abs. 1 StVollzG indes nicht in Gang (OLG Frankfurt, Forum Strafvollzug 1979, 61; OLG Koblenz, Forum Strafvollzug 1981, 62; 1991, 321; Laubenthal, Rn. 794; Arloth/Krä, a.a.O.). Die schriftliche Abfassung einer Entscheidung genügt für das Ingangsetzen der Frist ebenfalls nicht, wenn die Zustellung oder die schriftliche Bekanntgabe nicht nachvollziehbar ist. Dem Antragsteller muss insoweit nachweislich ein Schriftstück zum Verbleib ausgehändigt werden. Ob dies der Fall war, kann der Senat anhand der insoweit unzureichenden Feststellungen des angefochtenen Beschlusses nicht überprüfen.
13
2. Die rechtliche Nachprüfung der Entscheidung (§ 119 Abs. 3 Satz 4 StVollzG) ist auch nicht deshalb entbehrlich, weil der Antrag auf gerichtliche Entscheidung – wie die Strafvollstreckungskammer gemeint hat – auch unbegründet wäre. Die Zulassung der Rechtsbeschwerde ist insoweit gem. § 116 Abs. 1 StVollzG zur Fortbildung des Rechts und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung geboten.
14
a. Der angefochtene Beschluss des Landgerichts Frankenthal (Pfalz) weicht zum einen von der Entscheidung des Landgerichts Zweibrücken, Beschluss vom 28. August 1985 – 1 Vollz 41/84, NStZ 1985, 142 in den entscheidungserheblichen Obersätzen ab, ohne dass dies – da beide Entscheidungen mit grundsätzlichen und damit verallgemeinerungsfähigen Erwägungen begründet sind – auf Sachverhaltsabweichungen zurückzuführen wäre. In beiden Entscheidungen wird mit unterschiedlichen Ergebnissen das Recht der Religionsausübungsfreiheit aus Art. 4 GG auf seine Reichweite im Hinblick auf untergesetzliche Vorschriften zum Schutz vor Brandentwicklung und das dahinterstehende Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 GG hin untersucht. Dass die Entscheidung des Landgerichts Zweibrücken noch zum alten Strafvollzugsrecht ergangen ist, nimmt ihr nicht die divergierende Qualität, weil sich die maßgeblichen gesetzlichen Vorschriften (§ 53 Abs. 3 StVollzG einerseits und § 58 LJVollzG Rheinland-Pfalz andererseits) inhaltlich gleichen. Seit der Übernahme der Gesetzgebungskompetenz für den Strafvollzug durch die Länder und dem Erlass von entsprechenden Landesgesetzes bedarf es einer Abweichung innerhalb des Geltungsbereichs des jeweiligen Landesgesetzes (vgl. (OLG Hamburg, Forum Strafrecht 2009, 43; OLG Frankfurt, NStZ 2012, 437), was aber – wie gezeigt – der Fall ist.Danach erfordert die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts, nicht zuletzt wegen der Grundrechtsrelevanz der aufgeworfenen Fragen.
15
b. Zugleich ist die Rechtsbeschwerde auch zur Fortbildung des Rechts zuzulassen, weil im Geltungsbereich des LJVollzG Rheinland-Pfalz bislang obergerichtlich nicht geklärt ist, inwieweit das in § 58 Satz 1 LJVollzG gewährleistete Recht der Gefangenen Gegenstände des religiösen Gebrauchs in angemessenem Umfang zu besitzen im Licht des Art. 4 GG durch Vorschriften des LJVollzG oder andere Eingriffsnormen begrenzt oder ausgeschlossen werden kann. Das Oberlandesgericht Koblenz hat in seinem Beschluss vom 2. Juli 2019 – 2 Ws 397/19 Vollz. (nicht veröffentlicht) nicht in der Sache entschieden, sondern lediglich die zeitliche Erledigung der in der Vorinstanz vom Landgericht Koblenz (Diez) mit Beschluss vom 17. April 2019 – 7 c StVK 150/19 entschiedenen Sache, auf die sich das Ministerium der Justiz in seiner Stellungnahme bezieht, festgestellt.
IV.
16
1. Die angefochtene Entscheidung beruht, soweit das Landgericht meint, der Antrag des Gefangenen sei von der Antragsgegnerin zu Recht abgelehnt worden, auf einer Verkennung der Reichweite des Grundrechts auf Freiheit der Religionsausübung aus Art. 4 GG.
17
Die Antragsgegnerin konnte dem Antragsteller die dauerhafte Überlassung einer Gebetskerze nicht mit dem bloßen Verweis auf die ihrem Inhalt nach nicht festgestellte Dienstanweisung vom 29. November 2018 verweigern. Die von der Strafvollstreckungskammer nachgeholte und erforderliche Abwägung der beteiligten Grundrechtspositionen ist indes nicht frei von Rechtsfehlern, weil sie die grundrechtlich geschützte Religionsausübungsfreiheit des Antragstellers aus Art. 4 GG unverhältnismäßig beschränkt und sich angesichts des Vorbehalts des Gesetzes nicht dazu verhält, auf welcher einfachgesetzlichen Grundlage die Justizvollzugsanstalt entscheiden kann.
18
2. Die Strafvollstreckungskammer geht zunächst zutreffend davon aus, dass es sich bei der beantragten Gebetskerze „unzweifelhaft“ um einen Gegenstand des religiösen Bedarfs im Sinne des § 58 Satz 1 LJVollzG handelt, auf deren Besitz der Antragsteller in angemessenem Umfang einen Anspruch hat. Dabei geht sie – wie sich aus dem Zusammenhang ergibt – von einer Gebetskerze in ihrer Form als brennende Wachs- oder Paraffinkerze aus und nicht (ausschließlich) von einer strombetriebenen LED-Kerze. Damit befindet sie sich im Einklang mit der herrschenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur (vgl. Müller-Moning, in Feest/Lesting/Lindemann, Strafvollzugsgesetze, 7. Aufl. 2017, § 69 LandesR Seelsorge, Rn. 15; Laubenthal Rn. 625; SBJL-Schäfer, StVollzG, 7. Auflage 2020, 8. Religionsausübung Rn. 23; OLG Frankfurt, Beschluss vom 3. Juli 1986 – 3 Ws 1078/85 (StVollz), BeckRS 2016, 3466; LG Hamburg, Beschluss vom 24. August 2011 – 607 Vollz 74/11, LG Zweibrücken, NStZ 1985, 142). Dabei wird auch erkannt, dass es sich bei § 58 Satz 1 LJVollzG um eine Norm zur Konkretisierung der aus Art. 4 GG folgenden Religionsfreiheit für den Bereich des Strafvollzugs handelt.
19
3. Zutreffend geht die Strafvollstreckungskammer weiter davon aus, dass auch ein Art. 4 GG ausgestaltender Rechtsanspruch, wie der aus § 58 Satz 1 LJVollzG, der Einschränkung zum Schutz von Grundrechtspositionen Dritter sowie anderer Rechtsgüter von Verfassungsrang zugänglich ist, obwohl Art. 4 GG keinen Gesetzesvorbehalt enthält (vgl. jüngst BVerfG, Beschluss vom 14. Januar 2020 – 2 BvR 1333/17, NJW 2020, 1049, sog. Kopftuch-III-Beschluss, Rn. 82 sowie BVerfGE 28, 243, 260 f.; 41, 29, 50 f.; 41, 88, 107; 44, 37, 49 f., 53; 52, 223, 247; 93, 1, 21; 108, 282, 297; 138, 296, 333 Rn. 98; BVerfG, Beschluss vom 18. Oktober 2016 - 1 BvR 354/11, Rn. 61; SBJL-Schäfer, Strafvollzugsgesetz, 7. Auflage 2020, 8. Religionsausübung Rn. 5). Zu beachten ist allerdings im Sinne der Wesentlichkeitstheorie (vgl. Voßkuhle, JuS 2007, 118, 119), dass auch die Einschränkung von schrankenlos gewährleisteten Grundrechten auf einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage erfolgen muss (BVerfG, Beschluss vom 14. Januar 2020 – 2 BvR 1333/17, NJW 2020, 1049 Rn. 82; BVerfGE 108, 282, 297; für den Strafvollzug vgl. BVerfGE 33, 1, juris Rn. 19).
20
4. Diesbezüglich geht die Strafvollstreckungskammer stillschweigend vom Vorhandensein einer hinreichenden gesetzlichen Grundlage aus, was im Ergebnis mit § 4 Abs. 3 LJVollzG als sog. Generalklausel auch der Fall ist. Nach dieser Norm dürfen den Gefangenen Beschränkungen auferlegt werden soweit es an einer spezielleren Rechtsnorm fehlt und die Beschränkungen „zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder zur Abwendung einer schwerwiegenden Störung der Ordnung der Anstalt […] unerlässlich sind“. § 4 Abs. 3 LJVollzG knüpft eventuelle Beschränkungen eng an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Nach der wohl zu weitgehenden Ansicht von Hettenbach (BeckOK Strafvollzug RhPf, 14. Ed. 1.8.2020, LJVollzG § 4 Rn. 3) sind Beschränkungen zur Aufrechterhaltung der Sicherheit der Anstalt aufgrund der Generalklausel sogar nur bei gegenwärtigen und unmittelbaren Gefahren zulässig. Jedenfalls soweit es um den Ausgleich konkurrierender Grundrechtspositionen geht, bedarf es eines Ausgleichs im Wege einer Abwägung mit dem Ziel einer praktischen Konkordanz.
21
5. Ein Rückgriff auf § 58 Satz 2 LJVollzG scheidet vorliegend als gesetzliche Grundlage für die Versagung einer Gebetskerze aus, weil diese Vorschrift zum einen nur ein nachträgliches Entziehen eines Gegenstandes gestattet und dies zudem an einen groben Missbrauch, etwa die Nutzung einer Kerze als Brenn- oder Kochstelle, durch den Gefangenen knüpft, für den hier nichts festgestellt ist (BeckOK Strafvollzug RhPf/Hettenbach, 14. Ed. 1.8.2020, LJVollzG § 58, Rn. 17, 18).
22
Ebenfalls nicht in Betracht kommt im Außenverhältnis zum Gefangenen eine Begründung der Überlassungsuntersagung allein auf der Grundlage der Dienstanweisung vom 29. November 2020, denn dieser kommt keine Gesetzesqualität zu. Der unmittelbar demokratisch legitimierte parlamentarische Gesetzgeber hat deren Inhalt nicht selbst bestimmt (vgl. zum Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes, Sachs/ders., 8. Aufl. 2018, GG Art. 20 Rn. 113-117). Soweit ihr lenkende Bedeutung für die Ermessensausübung der Leitung der Justizvollzugsanstalt zukommt, ist die Strafvollstreckungskammer bei der Überprüfung der auf gesetzlicher Grundlage getroffenen Ermessensentscheidung nicht an die Vorgaben der Dienstanweisung gebunden (vgl. Voßkuhle/Kaufhold, JuS 2016, 314, 316).
23
6. Die durch die Strafvollstreckungskammer vorgenommene Abwägung des Grundrechts des Antragstellers aus Art. 4 GG mit den Grundrechten der Gefangenen und des Vollzugspersonals aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, dem auch als Schutzpflicht ausgestalteten Recht auf Gesundheit und körperliche Unversehrtheit (vgl. statt vieler Sachs/Murswiek/Rixen, 8. Aufl. 2018, GG Art. 2 Rn. 24 f.), wahrt im Ergebnis nicht die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn und führt zu einer übermäßigen Beschränkung des betroffenen Grundrechts des Antragstellers aus Art. 4 GG, indem sie jegliche dauerhafte Überlassung von traditionellen Gebetskerzen aus Brandschutzgründen untersagt.
24
a. Das Verbot der dauerhaften Überlassung von Gebetskerzen im Haftraum stellt einen Eingriff in den Schutzbereich des Grundrechts auf Religionsausübung des Antragstellers aus Art. 4 Abs. 1, 2 GG dar. Das persönliche Gebet und seine Ausgestaltung sind Teil der Religionsausübung. Das Grundrecht sichert nicht nur im Sinne eines Abwehrrechts zu, dass sich der Staat der Einmischung in den höchstpersönlichen Bereich des Einzelnen enthält, sondern es gebietet auch im positiven Sinn, Raum für die aktive Betätigung der Glaubensüberzeugung und die Verwirklichung der autonomen Persönlichkeit auf weltanschaulich-religiösem Gebiet zu sichern (so BVerfG NStZ 1988, 573). Dies gilt unter den Bedingungen des Strafvollzugs jedenfalls für das persönliche Gebet im eigenen Haftraum. Es ist in der christlichen Tradition, der sich der Antragsteller verbunden sieht, gebräuchlich, eine Kerze als Versinnbildlichung der Präsenz Jesu Christi in religiösen Zusammenhängen zu verwenden, etwa zur Fokussierung beim Gebet. Insoweit wird auf die Bibelstellen Joh 8, 12; Mt 5, 14-16 oder Psalm 27, 1 verwiesen, in denen Gott als „Licht der Welt“ bezeichnet ist. Der traditionellen Kerze wird nach christlichem Verständnis in Abgrenzung zur LED-Kerze dabei eine spirituelle Bedeutung beigemessen, die über das Licht hinaus eine Selbstverzehrung und Aufopferung zum Ausdruck bringt, die an das Sichopfern Jesu Christi für die Menschen erinnert (vgl. Beschluss des Petitionsausschusses in der Sitzung des Schleswig-Holsteinisches Landtages zur Sitzung vom 11. Dezember 2018 betreffend die Petition L2123-19/527, wiedergegeben im vierteljährlichen Bericht des Ausschusses, LT-DRs 19/1211 S. 25-30). Hierbei ist indes ohnehin auf die persönlichen Glaubensvorstellungen des Antragstellers abzustellen, weniger auf die Lehrmeinung einer kirchlichen Gemeinschaft oder eine theologisch zwingende Beurteilung. Soweit der Antragsteller eine Kerze zur Verrichtung seines Gebets fordert, ist dieser Wunsch damit nicht nur einfachgesetzlich nach § 58 Satz 1 LJVollzG verbürgt, sondern auch vom Schutzbereich des Grundrechts aus Art. 4 GG umfasst.
25
b. Demgegenüber hat die Strafvollstreckungskammer überzeugend ausgeführt, welche Aspekte unter dem Stichwort Brandschutz unter den Bedingungen einer Justizvollzugsanstalt zu berücksichtigen sind, um im Rahmen der Abwägungsentscheidung nach § 4 Abs. 3 LJVollzG die Sicherheit der Anstalt und damit zugleich die körperliche Unversehrtheit der Gefangenen und Mitarbeiter zu schützen.
26
c. Im Ergebnis können diese Argumente jedoch nicht im Rahmen der nach § 4 Abs. 3 LJVollzG zu treffenden Abwägungsentscheidung nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz den generellen Vorrang vor der Grundrechtsbetätigung des Antragstellers beanspruchen. Damit wird dem Prinzip der praktischen Konkordanz nicht entsprochen. Zum einen fehlt es an empirisch belegten Tatsachen, die tatsächlich eine durch Kerzen bedingte erhöhte Brandgefahr belegen, im Gegensatz zu durch Zigaretten oder Feuerzeuge bzw. Streichhölzer verursachten Brandereignissen. Insofern bedürfte es eines nicht nur theoretischen Vergleichs, um eine privilegierende Andersbehandlung dieser potentiellen, aber im Justizvollzug erlaubten Brandquellen, deren Besitz und Gebrauch lediglich der Betätigung der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG dient, zu rechtfertigen. Die Stellungnahme des Ministeriums der Justiz im Rechtsbeschwerdeverfahren verhält sich hierzu nicht. Weiter bedürfte es zunächst der Erörterung inwiefern durch Auflagen zur Aufstellung, zur Brenndauer oder zur Verwendung brandsicherer Gefäße oder Untergründe sowie zum Zustand des Haftraumes unter dem Gesichtspunkt der Brandlast die Brandgefahr, die von einer traditionellen Kerze ausgeht, weiter minimiert werden kann.
27
Zentral ist zudem darauf abzustellen, ob sich aus der Person des Antragstellers oder seinem Vollzugsverhalten greifbare Anhaltspunkte dafür ergeben, dass er mit einer überlassenen Gebetskerze nicht in der gebotenen Weise verantwortungsvoll umgehen wird, zumal ein Brand nicht zuletzt seine eigene körperliche Unversehrtheit beeinträchtigen würde, er also schon ein Eigeninteresse am Brandschutz hat. Insofern erschiene es – um ein naheliegendes Beispiel anzuführen – unbedenklich etwa einem Gefangenen eine Gebetskerze zu verweigern, der mit Brandstiftungsdelikten vorbelastet ist. Zu solchen Aspekten hat die Antragsgegnerin in erster Instanz im Ansatz vorgetragen, die Strafvollstreckungskammer hielt dies indes nicht für entscheidungserheblich.
28
Auch insoweit sind weitere Feststellungen zu treffen für den Fall, dass die Strafvollstreckungskammer nach erneuter Prüfung nicht schon die Zulässigkeit des Antrags verneint.
V.
29
Die Kostenentscheidung aus §§ 121 Abs. 4 StVollzG, 467 Abs. 1 StPO.
30
Der Gegenstandswert war gemäß §§ 1 Abs. 1 Nr. 8, 65, 60, 52 Abs. 1 GKG für das Rechtsbeschwerdeverfahren auf 500 Euro festzusetzen.
31
Die Beschwerde gegen die Festsetzung des Gegenstandswerts durch das Landgericht ist durch den Erfolg der Rechtsbeschwerde erledigt.
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Tenor
1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Schwerin vom 05.12.2019 – 5 Ca 1007/19 – wird auf seine Kosten zurückgewiesen.
2. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über die Höhe des tarifvertraglichen Nachtarbeitszuschlags, insbesondere über die Rechtmäßigkeit der Differenzierung zwischen "Schichtarbeit während der Nachtzeit" und "Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit" im Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der obst- und gemüseverarbeitenden Industrie in Mecklenburg-Vorpommern vom 02.06.2009 (im Folgenden nur MTV).
2
Die Beklagte verarbeitet im Werk B-Stadt Kaffeebohnen zu frisch geröstetem und gemahlenem Kaffee, der sodann in Kaffeekapseln abgefüllt wird. Von den insgesamt rund 400 Arbeitnehmern sind etwa 300 Beschäftigte im vollkontinuierlichen Schichtbetrieb, also 7 Tage x 24 Stunden, nach einem starren, dauerhaften Schichtplan tätig. Schichtwechsel ist nach jeweils 6 Tagen. Es gibt 4 Schichtgruppen.
3
Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit der Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der obst- und gemüseverarbeitenden Industrie in Mecklenburg-Vorpommern vom 02.06.2009, abgeschlossen zwischen der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) und dem Arbeitgeberverband Nordernährung, in Kraft getreten zum 01.01.2009, Anwendung. Der MTV enthält folgende Bestimmungen:
4
"…
5
§ 4 Schichtfreizeit
6
Arbeitnehmer, die ständig im Drei-Schicht-Wechsel arbeiten, erhalten für je 25 geleistete Nachtschichten in diesem System eine Freischicht.
7
Arbeitnehmer, die im Zwei-Schicht-Wechsel arbeiten, erhalten nach diesem System für je 60 geleistete Spätschichten eine Freischicht.
8
Wechselschichtarbeit liegt vor, wenn ein regelmäßiger Wechsel des Schichtbeginns und damit der zeitlichen Lage der Schicht erfolgt und die Spätschicht mindestens bis 22 Uhr dauert.
9
§ 5 Mehr-, Nacht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit
10
(1) Begriffsbestimmung
11
Zuschlagspflichtige Mehrarbeit ist die über die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit … hinausgehende Arbeitszeit.
12
…
13
Nachtarbeit ist die in der Zeit von 22 Uhr bis 6 Uhr geleistete Arbeit.
14
…
15
(2) Zuschläge
16
Für Mehr-, Nacht-, Schichtarbeit sowie Sonn- und Feiertagsarbeit sind folgende Zuschläge zu zahlen:
17
-Mehrarbeit (§ 5 Abs. 1 MTV) 25 %
18
-Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit 50 %
19
-Schichtarbeit während der Nachtzeit (22 Uhr – 6 Uhr) 25 %
20
-Sonntagsarbeit 50 %
21
-Arbeit an gesetzlichen Feiertagen 160 %
22
(3) Berechnung der Zuschläge
23
…
24
Beim Zusammentreffen mehrerer Zuschläge ist nur der jeweils höhere zu zahlen. Hiervon ausgenommen ist der Zuschlag für Nachtarbeit außerhalb eines Zwei- bzw. Drei-Schicht-Wechsels, dieser tritt jeweils zu den anderen Zuschlägen hinzu.
25
…"
26
Im Jahr 2018 leisteten die 293 Schichtarbeitnehmer der Beklagten insgesamt 99.374 Stunden "Schichtarbeit während der Nachtzeit", während "Nachtarbeit außerhalb der Schichtarbeit" einen Umfang von 120 Stunden erreichte, verteilt auf 32 Arbeitnehmer. "Nachtarbeit außerhalb der Schichtarbeit" betrifft bei der Beklagten im Wesentlichen Automatisierer, die während der Rufbereitschaft Störungen beheben.
27
Der Kläger ist im Wechselschichtdienst tätig. Im Zeitraum November 2018 bis Mai 2019 leistete er insgesamt 186,28 Stunden Nachtarbeit im Sinne des § 5 Abs. 1 Unterabs. 3 MTV, d. h. von 22:00 Uhr bis 6:00 Uhr, für die er einen Zuschlag von 25 % erhielt. Sein Stundenlohn betrug € 18,21 brutto bei einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 39 Stunden.
28
Der Kläger hat erstinstanzlich die Ansicht vertreten, dass die unterschiedlichen Sätze für "Schichtarbeit während der Nachtzeit" und "Nachtarbeit außerhalb der Schichtarbeit" nicht mit dem Gleichheitssatz vereinbar seien. Für eine solche Differenzierung gebe es keinen sachlichen Grund, wie sich dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 21. März 2018 – 10 AZR 34/17 – entnehmen lasse. Arbeit zur Nachtzeit sei unabhängig davon, ob diese innerhalb oder außerhalb von Schichten geleistet werde, für jeden Menschen schädlich und wirke sich negativ auf seine Gesundheit aus. Die frühere Annahme, der Mensch könne sich mit der Zeit an Nachtarbeit gewöhnen, sei überholt. Die biologische Uhr, die sich an den Lichtverhältnissen orientiere, lasse sich nicht umstellen. Darüber hinaus erschwere Nachtarbeit die Teilhabe am sozialen Leben, das üblicherweise in der Feierabendzeit bzw. am Wochenende stattfinde. Nachtarbeit führe sowohl zu einer biologischen als auch zu einer sozialen Desynchronisation. Eine möglicherweise vorhandene Planbarkeit der Nachtarbeit im Schichtdienst ändere daran nichts. Die Belastung und der Kompensationsbedarf sei in beiden Fällen gleich. Zudem sei es nicht zwingend, dass Nachtarbeit außerhalb des Schichtdienstes stets kurzfristig angeordnet werde. Unterschiedliche Zuschlagshöhen seien deshalb grundsätzlich nicht gerechtfertigt. Die Schichtfreizeit nach 25 Nachtschichten (§ 4 Satz 1 MTV) gleiche die 25-prozentige Differenz zwischen den beiden Nachtarbeitszuschlägen nicht aus.
29
Dementsprechend stehe dem Kläger im Ergebnis ein Zuschlag für Nachtarbeit in der Zeit von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr in Höhe von 50 % zu, also ein Zahlungsanspruch von weiteren 25 % auf die geleisteten Nachtarbeitsstunden. Auf andere Art und Weise als durch eine Anpassung nach oben sei der Verstoß gegen den Gleichheitssatz nicht auszugleichen.
30
Der Kläger hat erstinstanzlich beantragt,
31
1. die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger weitere Nachtarbeitszuschläge für den Zeitraum November 2018 bis Mai 2019 in Höhe von € 848,04 brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.06.2019 zu zahlen, und
32
2. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger Nachtarbeitszuschläge nach dem Manteltarifvertrag für die obst- und gemüseverarbeitende Industrie in Mecklenburg-Vorpommern in der Fassung vom 02.06.2009 für "Schichtarbeit während der Nachtzeit" von 22:00 Uhr bis 6:00 Uhr in gleicher Höhe zu gewähren wie für "Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit" im Sinne von § 5 Abs. 2 des Manteltarifvertrages.
33
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Zunächst sei zu berücksichtigen, dass den Tarifvertragsparteien bei der Regelung der Arbeitsbedingungen eine sogenannte Einschätzungsprärogative zustehe. Den Tarifvertragsparteien stehe es frei einzuschätzen, für welche Belastungen in welcher Höhe ein Ausgleich erfolgen solle. Von den Arbeitsgerichten sei nicht zu prüfen, ob dies die zweckmäßigste, vernünftigste und gerechteste Lösung sei. Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 21.03.2018 – 10 AZR 34/17 – zu einem Tarifvertrag der nordrheinischen Textilindustrie lasse sich auf den Manteltarifvertrag der obst- und gemüseverarbeitende Industrie nicht übertragen. Die Spannbreite zwischen den jeweiligen Zusatzleistungen für Nachtarbeit sei im MTV deutlich geringer als in dem Tarifvertrag, über den das Bundesarbeitsgericht entschieden habe. Bei der Gegenüberstellung der unterschiedlichen Prozentsätze sei zudem zu berücksichtigen, dass es bei Schichtarbeit während der Nachtzeit eine Freischicht je 25 geleisteter Nachtschichten gebe. Das entspreche einem Wert von 4 % in Form von Freizeit. Die Differenzierung zwischen "Schichtarbeit während der Nachtzeit" und „Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit" sei sachlich gerechtfertigt. Der höhere Zuschlag für unregelmäßige Nachtarbeit solle insbesondere die Einbuße der Dispositionsmöglichkeit über die Freizeit ausgleichen und zugleich den Arbeitgeber vor Eingriffen in den geschützten Freizeitbereich abhalten. Ein Arbeitnehmer, der regelmäßig Nachtarbeit leiste, könne sich besser hierauf einstellen als ein Arbeitnehmer, der kurzfristig zu Nachtarbeiten herangezogen werde. Im Falle der kurzfristigen Heranziehung zu Nachtarbeiten handele es sich zudem regelmäßig um Mehrarbeit. Selbst wenn die Differenzierung gleichheitswidrig wäre, könne dies nicht zu einer Anpassung an den höheren Prozentsatz führen. Es sei nicht anzunehmen, dass die Tarifvertragsparteien diese Lücke durch einen Rückgriff auf den höheren Wert geschlossen hätten, da ein Zuschlag von 50 % gerade nicht der Regelsatz sei. Vielmehr sei Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit in der betrieblichen Realität die absolute Ausnahme, da diese bei der Beklagten nur einen Anteil von etwa 0,1 % habe. Eine Anhebung des Zuschlags bei Schichtarbeit während der Nachtzeit auf 50 % würde diese Arbeitnehmer sogar besserstellen gegenüber den unregelmäßig in der Nacht tätigen Arbeitnehmern, da letzteren keine Schichtfreizeit zustehe.
34
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, dass unter Berücksichtigung der Einschätzungsprärogative der Tarifvertragsparteien ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz nicht vorliege. Der Nachtzuschlag dürfe bei Schichtarbeit niedriger bemessen werden als bei Arbeitsleistungen außerhalb des Schichtsystems. Ungeplante Nachtarbeit erschwere die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben stärker als bei einem längerfristig geplanten Einsatz. Ausgehend von dem 25-prozentigen Zuschlag bei Schichtarbeit sei jedenfalls eine Differenz zulässig, die weniger als das Doppelte betrage. Da der in Freizeit gewährte Ausgleich einzurechnen sei, werde diese Grenze nicht überschritten.
35
Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner fristgerecht eingelegten und begründeten Berufung. Entgegen der Auffassung des Arbeitsgerichts sei die Differenz der Zuschlaghöhe zwischen Schichtarbeit während der Nachtzeit und sonstiger Nachtarbeit eben nicht so geringfügig, dass sie sich noch im Rahmen des Gestaltungsspielraums der Tarifvertragsparteien halte. Das Arbeitsgericht habe zudem die Ziele der Richtlinie 2003/88/EG nicht berücksichtigt.
36
Der Kläger beantragt,
37
das Urteil des Arbeitsgerichts Schwerin vom 05.12.2019 – 5 Ca 1007/19 – abzuändern und
38
1. die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger weitere Nachtarbeitszuschläge für den Zeitraum November 2018 bis Mai 2019 in Höhe von € 848,04 brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.05.2019 zu zahlen, und
39
2. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger Nachtarbeitszuschläge nach dem Manteltarifvertrag für die obst- und gemüseverarbeitende Industrie in Mecklenburg-Vorpommern in der Fassung vom 02.06.2009 für "Schichtarbeit während der Nachtzeit" von 22:00 Uhr bis 6:00 Uhr in gleicher Höhe zu gewähren wie für "Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit" im Sinne von § 5 Abs. 2 des Manteltarifvertrages.
40
Die Beklagte beantragt,
41
die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
42
Sie verteidigt die Entscheidung des Arbeitsgerichts. Sinn und Zweck der Zahlung von Zuschlägen für Nachtarbeit sei nicht nur der Ausgleich gesundheitlicher Belastungen, was ohnehin nur mittelbar möglich sei. Vielmehr diene der Zuschlag einem Ausgleich von Einschränkungen bei der Freizeitgestaltung. Zudem gehe es darum, die unregelmäßige Nachtarbeit zu verteuern, um einen Rückgriff hierauf für den Arbeitgeber unattraktiv zu machen. Der geringe Umfang an unregelmäßiger Nachtarbeit zeige, dass dieser Zweck in der Praxis erreicht werde, was nicht zuletzt dem gesundheitlichen Schutz der Beschäftigten diene.
43
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen, die Sitzungsprotokolle sowie das angegriffene arbeitsgerichtliche Urteil verwiesen.
Entscheidungsgründe
44
Die Berufung des Klägers ist zwar zulässig, aber nicht begründet. Das Arbeitsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen.
45
Der Kläger hat keinen Anspruch aus § 5 Abs. 2 MTV auf Zahlung eines Zuschlags in Höhe von 50 % für die im Zeitraum November 2018 bis Mai 2019 geleistete Nachtarbeit im Sinne des MTV (22:00 Uhr bis 6:00 Uhr) und auf Nachzahlung der entsprechenden Differenzbeträge. Die Beklagte ist nicht verpflichtet, dem Kläger gemäß § 5 Abs. 2 MTV Nachtarbeitszuschläge für "Schichtarbeit während der Nachtzeit" in derselben Höhe zu zahlen wie bei "Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit".
46
Der Kläger leistet keine "Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit" im Sinne des § 5 Abs. 2 Gliederungspunkt 2 MTV. Er arbeitet im Drei-Schicht-Wechsel und ist dementsprechend regelmäßig auch nachts tätig. Es handelt sich um "Schichtarbeit während der Nachtzeit". Die Nachtzeit im Sinne des § 5 Abs. 2 MTV ist – abweichend von der Definition des § 2 Abs. 3 ArbZG – die Zeit von 22:00 Uhr bis 6:00 Uhr. Die tarifliche Nachtzeit ist danach 1 Stunde länger als die gesetzliche.
47
Ein Anspruch ergibt sich auch nicht aus einer gleichheitswidrigen Schlechterstellung gegenüber denjenigen Arbeitnehmern, die Nachtarbeit außerhalb des Schichtsystems leisten. Die Differenzierung zwischen "Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit" einerseits und "Schichtarbeit während der Nachtzeit" andererseits verstößt nicht gegen höherrangiges Recht. Der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG ist nicht verletzt.
48
Die Tarifvertragsparteien als Normgeber sind bei der tariflichen Normsetzung zwar nicht unmittelbar, jedoch mittelbar grundrechtsgebunden. Der Schutzauftrag des Art. 1 Abs. 3 GG verpflichtet die staatlichen Arbeitsgerichte dazu, die Grundrechtsausübung durch die Tarifvertragsparteien zu beschränken, wenn diese mit den Freiheits- oder Gleichheitsrechten oder anderen Rechten mit Verfassungsrang der Normunterworfenen kollidiert. Sie müssen insoweit praktische Konkordanz herstellen. Der Schutzauftrag der Verfassung verpflichtet die Arbeitsgerichte auch dazu, gleichheitswidrige Differenzierungen in Tarifnormen zu unterbinden. Der Gleichheitssatz bildet als fundamentale Gerechtigkeitsnorm eine ungeschriebene Grenze der Tarifautonomie. Tarifnormen sind deshalb im Ausgangspunkt uneingeschränkt auch am Gleichheitssatz zu messen (BAG, Urteil vom 27. Mai 2020 – 5 AZR 258/19 – Rn. 37, juris = ZTR 2020, 534; BAG, Urteil vom 19. Dezember 2019 – 6 AZR 563/18 – Rn. 21 und 25, juris = NZA 2020, 734).
49
Bei der Erfüllung ihres verfassungsrechtlichen Schutzauftrags haben die Gerichte jedoch auch in den Blick zu nehmen, dass eine besondere Form der Grundrechtskollision bewältigt und die durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistete kollektive Koalitionsfreiheit mit den betroffenen Individualgrundrechten in einen angemessenen Ausgleich gebracht werden muss. Bei der Prüfung, ob Tarifnormen Grundrechte oder andere Rechte der Arbeitnehmer mit Verfassungsrang verletzen, müssen die Gerichte nicht nur die besondere Sachnähe der Tarifvertragsparteien, sondern außerdem beachten, dass sich die Arbeitnehmer im Regelfall durch den Beitritt zu ihrer Koalition oder durch die vertragliche Bezugnahme auf einen Tarifvertrag, die die Tarifnormen zum Vertragsinhalt macht, bewusst und freiwillig der Regelungsmacht der Tarifvertragsparteien auch für die Zukunft unterworfen haben. Die Tarifvertragsparteien haben bei der tariflichen Normsetzung u. a. den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG und die Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 GG zu beachten. Doch steht ihnen als selbständigen Grundrechtsträgern bei ihrer Normsetzung aufgrund der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie ein weiter Gestaltungsspielraum zu, über den Arbeitsvertrags- und Betriebsparteien nicht in gleichem Maß verfügen. Ihnen kommt eine Einschätzungsprärogative zu, soweit die tatsächlichen Gegebenheiten, die betroffenen Interessen und die Regelungsfolgen zu beurteilen sind. Sie verfügen über einen Beurteilungs- und Ermessensspielraum hinsichtlich der inhaltlichen Gestaltung der Regelung und sind nicht verpflichtet, die jeweils zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung zu wählen. Es genügt, wenn für die getroffene Regelung ein sachlich vertretbarer Grund vorliegt (BAG, Urteil vom 27. Mai 2020 – 5 AZR 258/19 – Rn. 38, juris = ZTR 2020, 534; BAG, Urteil vom 19. Dezember 2019 – 6 AZR 563/18 – Rn. 26, juris = NZA 2020, 734).
50
Ob, in welchem Umfang und in welcher Weise besondere Belastungen bestimmter Beschäftigtengruppen kompensiert werden sollen, unterliegt der Einschätzungsprärogative der Tarifvertragsparteien (BAG, Urteil vom 19. Dezember 2019 – 6 AZR 563/18 – Rn. 34, juris = NZA 2020, 734). Legen sie die Voraussetzungen für die Zahlung einer Zulage fest, steht es ihnen grundsätzlich frei, typisierend zu bestimmen, welche Erschwernisse sie in welcher Weise ausgleichen wollen (BAG, Urteil vom 17. Dezember 2015 – 6 AZR 768/14 – Rn. 16, juris = ZTR 2016, 197).
51
Eine Tarifnorm verletzt den Allgemeinen Gleichheitssatz, wenn die Tarifvertragsparteien es versäumt haben, tatsächliche Gleichheiten oder Ungleichheiten der zu ordnenden Lebensverhältnisse zu berücksichtigen, die so bedeutsam sind, dass sie bei einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise beachtet werden müssen. Die Tarifvertragsparteien dürfen jedoch im Interesse der Praktikabilität, der Verständlichkeit und der Übersichtlichkeit auch typisierende Regelungen treffen. Bei der Überprüfung von Tarifverträgen anhand des Allgemeinen Gleichheitssatzes ist deshalb nicht auf die Einzelfallgerechtigkeit abzustellen, sondern auf die generellen Auswirkungen der Regelungen. Die aus dem Gleichheitssatz folgenden Grenzen sind dann überschritten, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie eine Ungleichbehandlung rechtfertigen können (BAG, Urteil vom 12. November 2013 – 3 AZR 92/12 – Rn. 55, juris = NZA-RR 2014, 315; BAG, Urteil vom 21. August 2012 – 3 AZR 281/10 – Rn. 21, juris; BAG, Urteil vom 22. Dezember 2009 – 3 AZR 895/07 – Rn. 25, juris = NZA 2010, 521).
52
Die Prüfung der sachlichen Rechtfertigung der unterschiedlichen Behandlung hat sich am Zweck der Leistung zu orientieren (BAG, Urteil vom 23. März 2017 – 6 AZR 161/16 – Rn. 55, juris = ZTR 2017, 470). Die Tarifvertragsparteien sind grundsätzlich darin frei, in Ausübung ihrer durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten autonomen Regelungsmacht den Zweck einer tariflichen Leistung zu bestimmen. Dieser ist der von den Tarifvertragsparteien vorgenommenen ausdrücklichen Zweckbestimmung der Leistung zu entnehmen oder im Wege der Auslegung der Tarifnorm anhand von Anspruchsvoraussetzungen, Ausschließungs- und Kürzungsregelungen zu ermitteln (BAG, Urteil vom 28. Mai 2013 – 3 AZR 266/11 – Rn. 38, juris; BAG, Urteil vom 11. Dezember 2012 – 3 AZR 588/10 – Rn. 27, juris = NZA 2013, 572; BAG, Urteil vom 04. Mai 2010 – 9 AZR 181/09 – Rn. 29, juris = ZTR 2010, 583).
53
Zweck der zusätzlichen Leistungen, die an Nachtarbeit anknüpfen, ist es zum einen, die hiermit verbundenen besonderen Belastungen auszugleichen, und zum anderen, Nachtarbeit nach Möglichkeit einzudämmen.
54
Nach § 6 Abs. 5 ArbZG hat der Arbeitgeber, soweit keine tarifvertraglichen Ausgleichsregelungen bestehen, dem Nachtarbeitnehmer für die während der Nachtzeit geleisteten Arbeitsstunden eine angemessene Zahl bezahlter freier Tage oder einen angemessenen Zuschlag auf das ihm hierfür zustehende Bruttoarbeitsentgelt zu gewähren. Nachtzeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes ist die Zeit von 23:00 Uhr bis 6:00 Uhr, in Bäckereien und Konditoreien die Zeit von 22:00 Uhr bis 5:00 Uhr (§ 2 Abs. 3 ArbZG). Nachtarbeitnehmer im Sinne des Arbeitszeitgesetzes sind Arbeitnehmer, die aufgrund ihrer Arbeitszeitgestaltung normalerweise Nachtarbeit in Wechselschicht zu leisten haben oder Nachtarbeit an mindestens 48 Tagen im Kalenderjahr leisten (§ 2 Abs. 5 ArbZG).
55
Lange Nachtarbeitszeiträume sind für die Gesundheit der Arbeitnehmer nachteilig und können ihre Sicherheit bei der Arbeit beeinträchtigen; infolgedessen ist die Dauer der Nachtarbeit, auch in Bezug auf die Mehrarbeit, einzuschränken und vorzusehen, dass der Arbeitgeber im Fall regelmäßiger Inanspruchnahme von Nachtarbeitern die zuständigen Behörden auf Ersuchen davon in Kenntnis setzt (Erwägungsgründe 7 und 8 zur Richtlinie 2003/88/EG vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung).
56
Nachtarbeit ist grundsätzlich für jeden Menschen schädlich und mit negativen gesundheitlichen Auswirkungen verbunden (BVerfG, Urteil vom 28. Januar 1992 – 1 BvR 1025/82 u. a. – Rn. 56, juris = NZA 1992, 270). Die Belastung und Beanspruchung der Beschäftigten steigt nach dem bisherigen Kenntnisstand in der Arbeitsmedizin durch die Anzahl der Nächte pro Monat und die Anzahl der Nächte hintereinander, in denen Nachtarbeit geleistet wird. Insgesamt ist anerkannt, dass Nachtarbeit umso schädlicher ist, in umso größerem Umfang sie geleistet wird (BAG, Urteil vom 21. März 2018 – 10 AZR 34/17 – Rn. 49, juris = NZA 2019, 622; BAG, Urteil vom 09. Dezember 2015 – 10 AZR 423/14 – Rn. 17, juris = NZA 2016, 426).
57
Die Verteuerung der Nachtarbeit durch Zuschlagsregelungen wirkt sich zwar nicht unmittelbar, aber zumindest mittelbar auf die Gesundheit der Nachtarbeit leistenden Arbeitnehmer aus. Zugleich entschädigt der Zuschlag in gewissem Umfang für die erschwerte Teilhabe am sozialen Leben (BAG, Urteil vom 21. März 2018 – 10 AZR 34/17 – Rn. 49, juris = NZA 2019, 622; BAG, Urteil vom 23. August 2017 – 10 AZR 859/16 – Rn. 43, juris = NJW 2017, 3675).
58
Angemessen ist der nach § 6 Abs. 5 ArbZG zu gewährende Zuschlag für Nachtarbeit regelmäßig, wenn er eine Höhe von 25 % erreicht, sei es als Zuschlag zum Bruttostundenlohn oder in Form einer entsprechenden Anzahl von bezahlten freien Tagen (BAG, Urteil vom 13. Dezember 2018 – 6 AZR 549/17 – Rn. 28, juris = NZA 2019, 935; BAG, Urteil vom 25. April 2018 – 5 AZR 25/17 – Rn. 43, juris = NZA 2018, 1145). Ein geringerer als der regelmäßige Zuschlag von 25 % auf das dem Arbeitnehmer zustehende Bruttoarbeitsentgelt kann nach § 6 Abs. 5 ArbZG nur ausreichend sein, wenn die Belastung durch die geleistete Nachtarbeit im Vergleich zum Üblichen geringer ist, weil z. B. in diese Zeit in nicht unerheblichem Umfang Arbeitsbereitschaft fällt oder es sich um nächtlichen Bereitschaftsdienst handelt, bei dem von vornherein von einer geringeren Arbeitsbelastung auszugehen ist (BAG, Urteil vom 23. August 2017 – 10 AZR 859/16 – Rn. 44, juris = NJW 2017, 3675). Ein höherer als der regelmäßige Zuschlag von 25 % ist zu gewähren, wenn die Belastung durch die Nachtarbeit unter qualitativen (Art der Tätigkeit) oder quantitativen (Umfang der Nachtarbeit) Aspekten die normalerweise mit der Nachtarbeit verbundene Belastung übersteigt, insbesondere bei einem dauerhaften Einsatz in der Nachtzeit, sog. Dauernachtarbeit. Bei der Erbringung der regulären Arbeitsleistung in Dauernachtarbeit ist deshalb regelmäßig ein Nachtarbeitszuschlag von 30 % auf den Bruttostundenlohn (bzw. die Gewährung einer entsprechenden Anzahl freier Tage) als angemessen anzusehen (BAG, Urteil vom 23. August 2017 – 10 AZR 859/16 – Rn. 50, juris = NJW 2017, 3675).
59
Die Tarifvertragsparteien des MTV durften unter Berücksichtigung ihrer Einschätzungsprärogative sowohl dem Grunde nach als auch in der festgelegten Bandbreite zwischen "Schichtarbeit während der Nachtzeit" und "Nachtarbeit außerhalb der Schichtarbeit" unterscheiden. Maßgeblich ist eine gebiets- und branchenbezogene Betrachtung, da der Tarifvertrag nicht nur für die Beklagte gilt.
60
Der Leistungszweck rechtfertigt es, Nachtarbeit innerhalb und außerhalb der Schichtarbeit unterschiedlich zu behandeln. Der Zuschlag hat ebenso wie die Gewährung bezahlter Freizeit den Zweck, die besonderen Belastungen der Nachtarbeit durch den erhöhten physischen und psychischen Kraftaufwand sowie die erschwerte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zumindest teilweise auszugleichen. Diese Belastungen können ein unterschiedliches Gewicht haben. Unabhängig von der individuellen körperlichen und seelischen Disposition und dem bevorzugten Freizeitverhalten richtet sich das Ausmaß der Belastung auch nach der Planbarkeit von Nachtarbeit. Je längerfristiger sich ein Arbeitnehmer auf die Arbeit zur Nachtzeit einrichten kann, desto eher ist es ihm möglich, die persönlichen Belange, z. B. die Betreuung von Kindern, die Teilnahme an sportlichen und kulturellen Veranstaltungen, gemeinsame Aktivitäten in der Familie oder im Freundeskreis etc., soweit wie möglich auf die weniger günstigen Arbeitszeiten abzustimmen. Nachtarbeit außerhalb eines Schichtsystems wird zwar nicht in jedem Fall kurzfristig angeordnet und muss nicht stets zur Folge haben, dass es für den Arbeitnehmer schwierig ist, private Belange hiermit in Einklang zu bringen. Dennoch ist der Planungszeitraum üblicherweise deutlich kürzer, als es bei einem Schichtplan der Fall ist. Unregelmäßige Nachtarbeit ist jedenfalls für den Arbeitnehmer deutlich schlechter planbar. Das gilt erst recht im Vergleich zu einem langfristig feststehenden Schichtplan, wie er beispielsweise bei der Beklagten besteht. Wenn auch nicht in allen Unternehmen der obst- und gemüseverarbeitenden Industrie Schichtpläne derart langfristig gelten, so ist der Einsatz nach einem Schichtplan für den Arbeitnehmer in der Regel besser planbar als eine Heranziehung zu Nachtarbeit außerhalb eines Schichtsystems. Es mag im Einzelfall Ausnahmen geben. Angesichts der zulässigen typisierenden Betrachtungsweise durften die Tarifvertragsparteien jedoch davon ausgehen, dass sich die Arbeitnehmer in dem einen Fall grundsätzlich besser auf die Arbeit zur Nachtzeit einstellen können als in dem anderen.
61
Ein weiterer Zweck des höheren Zuschlags bei Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit besteht darin, diese Art der Nachtarbeit deutlich zu verteuern und damit für den Arbeitgeber weniger attraktiv zu machen. Das ergibt sich insbesondere aus der Regelung in § 5 Abs. 3 Unterabs. 3 MTV, nach der bei Nachtarbeit außerhalb eines Zwei- bzw. Drei-Schicht-Wechsels ausnahmsweise keine Anrechnung des Nachtarbeitszuschlags auf andere Zuschläge stattfindet. Wenn sich schon Nachtarbeit im Rahmen eines Schichtsystems nicht vermeiden lässt, so soll jedenfalls jegliche weitere Nachtarbeit nach Möglichkeit vermieden und zurückgedrängt werden. Die Nachtarbeit im Bereich der obst- und gemüseverarbeitenden Industrie ist zwar nicht zum Schutz von Leib und Leben, wie beispielsweise im Rettungsdienst und im Krankenhaus, zwingend erforderlich, sondern folgt vorrangig wirtschaftlichen Erwägungen. Unzulässig ist die Nachtarbeit deshalb aber nicht. Den Tarifvertragsparteien erschien dieser Sachverhalt regelungsbedürftig, um die ökonomischen Interessen einerseits und den Schutz der Arbeitnehmer andererseits zu einem Ausgleich zu bringen. Die Tarifvertragsparteien haben Zuschlag- und Freizeitregelungen geschaffen, die zum einen besondere Belastungen ausgleichen sollen und zum anderen eine Steuerungsfunktion haben.
62
Die gesundheitlichen Gefahren, die mit Nachtarbeit verbunden sind, mögen bei Nachtarbeit innerhalb und außerhalb eines Schichtsystems vergleichbar sein. Diesen Gefahren kann nicht mit einem finanziellen Zuschlag entgegengewirkt werden, der je nach Höhe ggf. sogar noch einen finanziellen Anreiz zur Nachtarbeit bieten kann. Dem Schutz der Gesundheit dient vor allem ein entsprechender Freizeitausgleich, um ausreichend Zeit für die körperliche Erholung und die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben bereitzustellen. Vor allem aber sind die Schichtmodelle so zu gestalten und anzupassen, dass die mit Nachtarbeit verbundenen gesundheitlichen Belastungen so weit wie möglich gesenkt werden. Dies kann z. B. durch eine Verringerung der aufeinanderfolgenden Nachtschichten geschehen.
63
Die Tarifvertragsparteien des MTV haben den ihnen zustehenden Regelungsspielraum auch nicht dadurch überschritten, dass sie die vorhandenen Unterschiede durch die Spannbreite der Leistungen überproportional gewichtet haben, ohne hierfür einen sachlich vertretbaren Grund zu haben. Der Gleichheitsgrundsatz kann nicht nur dadurch verletzt sein, dass überhaupt eine Unterscheidung vorgenommen wurde. Stehen die jeweils gewährten Leistungen in einem auffälligen Missverhältnis zu den vorhandenen Unterschieden und dem Leistungszweck, kann sich daraus ebenfalls eine sachwidrige Ungleichbehandlung ergeben.
64
Bei einem Vergleich der für "Schichtarbeit während der Nachtzeit" gewährten Leistungen mit denen für "Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit" sind alle Vergünstigungen einzubeziehen, die demselben Leistungszweck dienen, also dem angemessenen Ausgleich für die Mehrbelastungen und der Verteuerung von Arbeit zur Nachtzeit. Arbeitnehmer in der Schichtarbeit erhalten für Arbeiten während der Nachtzeit nicht nur einen Zuschlag von 25 %, sondern zudem für je 25 geleistete Nachtschichten eine Freischicht (§ 4 Satz 1 MTV). Die Tarifvertragsparteien haben als Ausgleich für die Nachtarbeit eine Kombination aus Zuschlag und Freizeit gewählt. Rechnerisch ergibt sich danach ein Ausgleich in Höhe von 25 % + 4 % = 29 %. Die Freischicht ist an einen ständigen Einsatz im Drei-Schicht-Wechsel gebunden. Arbeitnehmer, die Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit leisten, kommen somit nicht in den Genuss einer Freischicht. Demgegenüber ist jedoch zu berücksichtigen, dass bei Nachtarbeit außerhalb des Schichtdienstes eine Sonderregelung für den Fall des Zusammentreffens mehrerer Zuschläge gilt. Nach § 5 Abs. 3 Unterabs. 3 MTV ist beim Zusammentreffen mehrerer Zuschläge nur der jeweils höhere zu zahlen. Ausgenommen davon ist der Zuschlag für Nachtarbeit außerhalb eines Zwei- bzw. Drei-Schicht-Wechsels. Dieser Zuschlag tritt jeweils zu den anderen Zuschlägen hinzu. Bei Mehrarbeit sowie Sonn- und Feiertagsarbeit kann sich daraus im Einzelfall ein Gesamtzuschlag von 75 %, 100 % bis hin zu maximal 210 % ergeben. Diese Additionsregel kann den Vorteil der zusätzlichen Freischichten bei Schicht-Nachtarbeit durchaus aufwiegen.
65
Ein im Vergleich zur Schicht-Nachtarbeit in etwa doppelt so hoher Zuschlag für sonstige Nachtarbeit erscheint im Hinblick auf die Einschätzungsprärogative der Tarifvertragsparteien noch sachlich vertretbar. Das gilt insbesondere unter Berücksichtigung des Ziels, sonstige Nachtarbeit außerhalb eines Schichtsystems zu verteuern und diese Form der Nachtarbeit dadurch nach Möglichkeit zu verhindern bzw. einzudämmen. Dieser Ansatz erweist sich in der Praxis als wirksam. Ein in etwa doppelt so hoher Zuschlag ist auch angesichts der zusätzlichen Erschwernisse durch unregelmäßige Nachtarbeit nicht unverhältnismäßig. Die Tarifvertragsparteien durften diese mit nochmals 25 % bewerten. Kurzfristige Umplanungen im persönlichen Bereich verursachen häufig einen erheblichen Zeitaufwand und können zusätzliche Kosten mit sich bringen. Das kann beispielsweise für die Organisation der Kinderbetreuung gelten oder vergebliche Aufwendungen für Freizeitaktivitäten. Solche zusätzlichen Belastungen werden bei typisierender Betrachtung durch den Zuschlag von 50 % jedenfalls nicht offensichtlich übermäßig entschädigt. Den Tarifvertragsparteien ist es aufgrund ihrer Sachnähe vorbehalten, diese Erschwernisse zu gewichten und zu bewerten. Die von Ihnen vorgenommene Bewertung widerspricht nicht den tatsächlichen Lebensverhältnissen. Die Tarifvertragsparteien haben die praktische Situation der Arbeitnehmer im Zusammenhang mit Nachtarbeit nicht falsch eingeschätzt und aufgrund dessen die Erschwernisse von Nachtarbeit außerhalb der Schichtarbeit fehlerhaft bewertet.
66
Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO, die Zulassung der Revision aus § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG.
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Tenor
1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Schwerin vom 05.12.2019 – 5 Ca 1026/19 – wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
2. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über die Höhe des tarifvertraglichen Nachtarbeitszuschlags, insbesondere über die Rechtmäßigkeit der Differenzierung zwischen "Schichtarbeit während der Nachtzeit" und "Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit" im Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der obst- und gemüseverarbeitenden Industrie in Mecklenburg-Vorpommern vom 02.06.2009 (im Folgenden nur MTV).
2
Die Beklagte verarbeitet im Werk B-Stadt Kaffeebohnen zu frisch geröstetem und gemahlenem Kaffee, der sodann in Kaffeekapseln abgefüllt wird. Von den insgesamt rund 400 Arbeitnehmern sind etwa 300 Beschäftigte im vollkontinuierlichen Schichtbetrieb, also 7 Tage x 24 Stunden, nach einem starren, dauerhaften Schichtplan tätig. Schichtwechsel ist nach jeweils 6 Tagen. Es gibt 4 Schichtgruppen.
3
Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit der Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der obst- und gemüseverarbeitenden Industrie in Mecklenburg-Vorpommern vom 02.06.2009, abgeschlossen zwischen der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) und dem Arbeitgeberverband Nordernährung, in Kraft getreten zum 01.01.2009, Anwendung. Der MTV enthält folgende Bestimmungen:
4
"…
5
§ 4 Schichtfreizeit
6
Arbeitnehmer, die ständig im Drei-Schicht-Wechsel arbeiten, erhalten für je 25 geleistete Nachtschichten in diesem System eine Freischicht.
7
Arbeitnehmer, die im Zwei-Schicht-Wechsel arbeiten, erhalten nach diesem System für je 60 geleistete Spätschichten eine Freischicht.
8
Wechselschichtarbeit liegt vor, wenn ein regelmäßiger Wechsel des Schichtbeginns und damit der zeitlichen Lage der Schicht erfolgt und die Spätschicht mindestens bis 22 Uhr dauert.
9
§ 5 Mehr-, Nacht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit
10
(1) Begriffsbestimmung
11
Zuschlagspflichtige Mehrarbeit ist die über die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit … hinausgehende Arbeitszeit.
12
…
13
Nachtarbeit ist die in der Zeit von 22 Uhr bis 6 Uhr geleistete Arbeit.
14
…
15
(2) Zuschläge
16
Für Mehr-, Nacht-, Schichtarbeit sowie Sonn- und Feiertagsarbeit sind folgende Zuschläge zu zahlen:
17
-Mehrarbeit (§ 5 Abs. 1 MTV)
25 %
-Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit
50 %
-Schichtarbeit während der Nachtzeit (22 Uhr – 6 Uhr)
25 %
-Sonntagsarbeit
50 %
-Arbeit an gesetzlichen Feiertagen
160 %
18
(3) Berechnung der Zuschläge
19
…
20
Beim Zusammentreffen mehrerer Zuschläge ist nur der jeweils höhere zu zahlen. Hiervon ausgenommen ist der Zuschlag für Nachtarbeit außerhalb eines Zwei- bzw. Drei-Schicht-Wechsels, dieser tritt jeweils zu den anderen Zuschlägen hinzu.
21
…"
22
Im Jahr 2018 leisteten die 293 Schichtarbeitnehmer der Beklagten insgesamt 99.374 Stunden "Schichtarbeit während der Nachtzeit", während "Nachtarbeit außerhalb der Schichtarbeit" einen Umfang von 120 Stunden erreichte, verteilt auf 32 Arbeitnehmer. "Nachtarbeit außerhalb der Schichtarbeit" betrifft bei der Beklagten im Wesentlichen Automatisierer, die während der Rufbereitschaft Störungen beheben.
23
Die Klägerin ist im Wechselschichtdienst tätig. Im Zeitraum November 2018 bis Juni 2019 leistete sie insgesamt 264,8 Stunden Nachtarbeit im Sinne des § 5 Abs. 1 Unterabs. 3 MTV, d. h. von 22:00 Uhr bis 6:00 Uhr, für die sie einen Zuschlag von 25 % erhielt. Ihr Stundenlohn betrug € 13,85 brutto bei einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 39 Stunden.
24
Die Klägerin hat erstinstanzlich die Ansicht vertreten, dass die unterschiedlichen Sätze für "Schichtarbeit während der Nachtzeit" und "Nachtarbeit außerhalb der Schichtarbeit" nicht mit dem Gleichheitssatz vereinbar seien. Für eine solche Differenzierung gebe es keinen sachlichen Grund, wie sich dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 21. März 2018 – 10 AZR 34/17 – entnehmen lasse. Arbeit zur Nachtzeit sei unabhängig davon, ob diese innerhalb oder außerhalb von Schichten geleistet werde, für jeden Menschen schädlich und wirke sich negativ auf seine Gesundheit aus. Die frühere Annahme, der Mensch könne sich mit der Zeit an Nachtarbeit gewöhnen, sei überholt. Die biologische Uhr, die sich an den Lichtverhältnissen orientiere, lasse sich nicht umstellen. Darüber hinaus erschwere Nachtarbeit die Teilhabe am sozialen Leben, das üblicherweise in der Feierabendzeit bzw. am Wochenende stattfinde. Nachtarbeit führe sowohl zu einer biologischen als auch zu einer sozialen Desynchronisation. Eine möglicherweise vorhandene Planbarkeit der Nachtarbeit im Schichtdienst ändere daran nichts. Die Belastung und der Kompensationsbedarf sei in beiden Fällen gleich. Zudem sei es nicht zwingend, dass Nachtarbeit außerhalb des Schichtdienstes stets kurzfristig angeordnet werde. Unterschiedliche Zuschlagshöhen seien deshalb grundsätzlich nicht gerechtfertigt. Die Schichtfreizeit nach 25 Nachtschichten (§ 4 Satz 1 MTV) gleiche die 25-prozentige Differenz zwischen den beiden Nachtarbeitszuschlägen nicht aus.
25
Dementsprechend stehe der Klägerin im Ergebnis ein Zuschlag für Nachtarbeit in der Zeit von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr in Höhe von 50 % zu, also ein Zahlungsanspruch von weiteren 25 % auf die geleisteten Nachtarbeitsstunden. Auf andere Art und Weise als durch eine Anpassung nach oben sei der Verstoß gegen den Gleichheitssatz nicht auszugleichen.
26
Die Klägerin hat erstinstanzlich beantragt,
27
1. die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin weitere Nachtarbeitszuschläge für den Zeitraum November 2018 bis Juni 2019 in Höhe von € 916,87 brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.07.2019 zu zahlen, und
28
2. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin Nachtarbeitszuschläge nach dem Manteltarifvertrag für die obst- und gemüseverarbeitende Industrie in Mecklenburg-Vorpommern in der Fassung vom 02.06.2009 für "Schichtarbeit während der Nachtzeit" von 22:00 Uhr bis 6:00 Uhr in gleicher Höhe zu gewähren wie für "Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit" im Sinne von § 5 Abs. 2 des Manteltarifvertrages.
29
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Zunächst sei zu berücksichtigen, dass den Tarifvertragsparteien bei der Regelung der Arbeitsbedingungen eine sogenannte Einschätzungsprärogative zustehe. Den Tarifvertragsparteien stehe es frei einzuschätzen, für welche Belastungen in welcher Höhe ein Ausgleich erfolgen solle. Von den Arbeitsgerichten sei nicht zu prüfen, ob dies die zweckmäßigste, vernünftigste und gerechteste Lösung sei. Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 21.03.2018 – 10 AZR 34/17 – zu einem Tarifvertrag der nordrheinischen Textilindustrie lasse sich auf den Manteltarifvertrag der obst- und gemüseverarbeitende Industrie nicht übertragen. Die Spannbreite zwischen den jeweiligen Zusatzleistungen für Nachtarbeit sei im MTV deutlich geringer als in dem Tarifvertrag, über den das Bundesarbeitsgericht entschieden habe. Bei der Gegenüberstellung der unterschiedlichen Prozentsätze sei zudem zu berücksichtigen, dass es bei Schichtarbeit während der Nachtzeit eine Freischicht je 25 geleisteter Nachtschichten gebe. Das entspreche einem Wert von 4 % in Form von Freizeit. Die Differenzierung zwischen "Schichtarbeit während der Nachtzeit" und „Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit" sei sachlich gerechtfertigt. Der höhere Zuschlag für unregelmäßige Nachtarbeit solle insbesondere die Einbuße der Dispositionsmöglichkeit über die Freizeit ausgleichen und zugleich den Arbeitgeber vor Eingriffen in den geschützten Freizeitbereich abhalten. Ein Arbeitnehmer, der regelmäßig Nachtarbeit leiste, könne sich besser hierauf einstellen als ein Arbeitnehmer, der kurzfristig zu Nachtarbeiten herangezogen werde. Im Falle der kurzfristigen Heranziehung zu Nachtarbeiten handele es sich zudem regelmäßig um Mehrarbeit. Selbst wenn die Differenzierung gleichheitswidrig wäre, könne dies nicht zu einer Anpassung an den höheren Prozentsatz führen. Es sei nicht anzunehmen, dass die Tarifvertragsparteien diese Lücke durch einen Rückgriff auf den höheren Wert geschlossen hätten, da ein Zuschlag von 50 % gerade nicht der Regelsatz sei. Vielmehr sei Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit in der betrieblichen Realität die absolute Ausnahme, da diese bei der Beklagten nur einen Anteil von etwa 0,1 % habe. Eine Anhebung des Zuschlags bei Schichtarbeit während der Nachtzeit auf 50 % würde diese Arbeitnehmer sogar besserstellen gegenüber den unregelmäßig in der Nacht tätigen Arbeitnehmern, da letzteren keine Schichtfreizeit zustehe.
30
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, dass unter Berücksichtigung der Einschätzungsprärogative der Tarifvertragsparteien ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz nicht vorliege. Der Nachtzuschlag dürfe bei Schichtarbeit niedriger bemessen werden als bei Arbeitsleistungen außerhalb des Schichtsystems. Ungeplante Nachtarbeit erschwere die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben stärker als bei einem längerfristig geplanten Einsatz. Ausgehend von dem 25-prozentigen Zuschlag bei Schichtarbeit sei jedenfalls eine Differenz zulässig, die weniger als das Doppelte betrage. Da der in Freizeit gewährte Ausgleich einzurechnen sei, werde diese Grenze nicht überschritten.
31
Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer fristgerecht eingelegten und begründeten Berufung. Entgegen der Auffassung des Arbeitsgerichts sei die Differenz der Zuschlaghöhe zwischen Schichtarbeit während der Nachtzeit und sonstiger Nachtarbeit eben nicht so geringfügig, dass sie sich noch im Rahmen des Gestaltungsspielraums der Tarifvertragsparteien halte. Das Arbeitsgericht habe zudem die Ziele der Richtlinie 2003/88/EG nicht berücksichtigt.
32
Die Klägerin beantragt,
33
das Urteil des Arbeitsgerichts Schwerin vom 05.12.2019 – 5 Ca 1026/19 – abzuändern und
34
1. die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin weitere Nachtarbeitszuschläge für den Zeitraum November 2018 bis Juni 2019 in Höhe von € 916,87 brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.07.2019 zu zahlen, und
35
2. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin Nachtarbeitszuschläge nach dem Manteltarifvertrag für die obst- und gemüseverarbeitende Industrie in Mecklenburg-Vorpommern in der Fassung vom 02.06.2009 für "Schichtarbeit während der Nachtzeit" von 22:00 Uhr bis 6:00 Uhr in gleicher Höhe zu gewähren wie für "Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit" im Sinne von § 5 Abs. 2 des Manteltarifvertrages.
36
Die Beklagte beantragt,
37
die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.
38
Sie verteidigt die Entscheidung des Arbeitsgerichts. Sinn und Zweck der Zahlung von Zuschlägen für Nachtarbeit sei nicht nur der Ausgleich gesundheitlicher Belastungen, was ohnehin nur mittelbar möglich sei. Vielmehr diene der Zuschlag einem Ausgleich von Einschränkungen bei der Freizeitgestaltung. Zudem gehe es darum, die unregelmäßige Nachtarbeit zu verteuern, um einen Rückgriff hierauf für den Arbeitgeber unattraktiv zu machen. Der geringe Umfang an unregelmäßiger Nachtarbeit zeige, dass dieser Zweck in der Praxis erreicht werde, was nicht zuletzt dem gesundheitlichen Schutz der Beschäftigten diene.
39
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen, die Sitzungsprotokolle sowie das angegriffene arbeitsgerichtliche Urteil verwiesen.
Entscheidungsgründe
40
Die Berufung der Klägerin ist zwar zulässig, aber nicht begründet. Das Arbeitsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen.
41
Die Klägerin hat keinen Anspruch aus § 5 Abs. 2 MTV auf Zahlung eines Zuschlags in Höhe von 50 % für die im Zeitraum November 2018 bis Juni 2019 geleistete Nachtarbeit im Sinne des MTV (22:00 Uhr bis 6:00 Uhr) und auf Nachzahlung der entsprechenden Differenzbeträge. Die Beklagte ist nicht verpflichtet, der Klägerin gemäß § 5 Abs. 2 MTV Nachtarbeitszuschläge für "Schichtarbeit während der Nachtzeit" in derselben Höhe zu zahlen wie bei "Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit".
42
Die Klägerin leistet keine "Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit" im Sinne des § 5 Abs. 2 Gliederungspunkt 2 MTV. Sie arbeitet im Drei-Schicht-Wechsel und ist dementsprechend regelmäßig auch nachts tätig. Es handelt sich um "Schichtarbeit während der Nachtzeit". Die Nachtzeit im Sinne des § 5 Abs. 2 MTV ist – abweichend von der Definition des § 2 Abs. 3 ArbZG – die Zeit von 22:00 Uhr bis 6:00 Uhr. Die tarifliche Nachtzeit ist danach 1 Stunde länger als die gesetzliche.
43
Ein Anspruch ergibt sich auch nicht aus einer gleichheitswidrigen Schlechterstellung gegenüber denjenigen Arbeitnehmern, die Nachtarbeit außerhalb des Schichtsystems leisten. Die Differenzierung zwischen "Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit" einerseits und "Schichtarbeit während der Nachtzeit" andererseits verstößt nicht gegen höherrangiges Recht. Der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG ist nicht verletzt.
44
Die Tarifvertragsparteien als Normgeber sind bei der tariflichen Normsetzung zwar nicht unmittelbar, jedoch mittelbar grundrechtsgebunden. Der Schutzauftrag des Art. 1 Abs. 3 GG verpflichtet die staatlichen Arbeitsgerichte dazu, die Grundrechtsausübung durch die Tarifvertragsparteien zu beschränken, wenn diese mit den Freiheits- oder Gleichheitsrechten oder anderen Rechten mit Verfassungsrang der Normunterworfenen kollidiert. Sie müssen insoweit praktische Konkordanz herstellen. Der Schutzauftrag der Verfassung verpflichtet die Arbeitsgerichte auch dazu, gleichheitswidrige Differenzierungen in Tarifnormen zu unterbinden. Der Gleichheitssatz bildet als fundamentale Gerechtigkeitsnorm eine ungeschriebene Grenze der Tarifautonomie. Tarifnormen sind deshalb im Ausgangspunkt uneingeschränkt auch am Gleichheitssatz zu messen (BAG, Urteil vom 27. Mai 2020 – 5 AZR 258/19 – Rn. 37, juris = ZTR 2020, 534; BAG, Urteil vom 19. Dezember 2019 – 6 AZR 563/18 – Rn. 21 und 25, juris = NZA 2020, 734).
45
Bei der Erfüllung ihres verfassungsrechtlichen Schutzauftrags haben die Gerichte jedoch auch in den Blick zu nehmen, dass eine besondere Form der Grundrechtskollision bewältigt und die durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistete kollektive Koalitionsfreiheit mit den betroffenen Individualgrundrechten in einen angemessenen Ausgleich gebracht werden muss. Bei der Prüfung, ob Tarifnormen Grundrechte oder andere Rechte der Arbeitnehmer mit Verfassungsrang verletzen, müssen die Gerichte nicht nur die besondere Sachnähe der Tarifvertragsparteien, sondern außerdem beachten, dass sich die Arbeitnehmer im Regelfall durch den Beitritt zu ihrer Koalition oder durch die vertragliche Bezugnahme auf einen Tarifvertrag, die die Tarifnormen zum Vertragsinhalt macht, bewusst und freiwillig der Regelungsmacht der Tarifvertragsparteien auch für die Zukunft unterworfen haben. Die Tarifvertragsparteien haben bei der tariflichen Normsetzung u. a. den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG und die Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 GG zu beachten. Doch steht ihnen als selbständigen Grundrechtsträgern bei ihrer Normsetzung aufgrund der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie ein weiter Gestaltungsspielraum zu, über den Arbeitsvertrags- und Betriebsparteien nicht in gleichem Maß verfügen. Ihnen kommt eine Einschätzungsprärogative zu, soweit die tatsächlichen Gegebenheiten, die betroffenen Interessen und die Regelungsfolgen zu beurteilen sind. Sie verfügen über einen Beurteilungs- und Ermessensspielraum hinsichtlich der inhaltlichen Gestaltung der Regelung und sind nicht verpflichtet, die jeweils zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung zu wählen. Es genügt, wenn für die getroffene Regelung ein sachlich vertretbarer Grund vorliegt (BAG, Urteil vom 27. Mai 2020 – 5 AZR 258/19 – Rn. 38, juris = ZTR 2020, 534; BAG, Urteil vom 19. Dezember 2019 – 6 AZR 563/18 – Rn. 26, juris = NZA 2020, 734).
46
Ob, in welchem Umfang und in welcher Weise besondere Belastungen bestimmter Beschäftigtengruppen kompensiert werden sollen, unterliegt der Einschätzungsprärogative der Tarifvertragsparteien (BAG, Urteil vom 19. Dezember 2019 – 6 AZR 563/18 – Rn. 34, juris = NZA 2020, 734). Legen sie die Voraussetzungen für die Zahlung einer Zulage fest, steht es ihnen grundsätzlich frei, typisierend zu bestimmen, welche Erschwernisse sie in welcher Weise ausgleichen wollen (BAG, Urteil vom 17. Dezember 2015 – 6 AZR 768/14 – Rn. 16, juris = ZTR 2016, 197).
47
Eine Tarifnorm verletzt den Allgemeinen Gleichheitssatz, wenn die Tarifvertragsparteien es versäumt haben, tatsächliche Gleichheiten oder Ungleichheiten der zu ordnenden Lebensverhältnisse zu berücksichtigen, die so bedeutsam sind, dass sie bei einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise beachtet werden müssen. Die Tarifvertragsparteien dürfen jedoch im Interesse der Praktikabilität, der Verständlichkeit und der Übersichtlichkeit auch typisierende Regelungen treffen. Bei der Überprüfung von Tarifverträgen anhand des Allgemeinen Gleichheitssatzes ist deshalb nicht auf die Einzelfallgerechtigkeit abzustellen, sondern auf die generellen Auswirkungen der Regelungen. Die aus dem Gleichheitssatz folgenden Grenzen sind dann überschritten, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie eine Ungleichbehandlung rechtfertigen können (BAG, Urteil vom 12. November 2013 – 3 AZR 92/12 – Rn. 55, juris = NZA-RR 2014, 315; BAG, Urteil vom 21. August 2012 – 3 AZR 281/10 – Rn. 21, juris; BAG, Urteil vom 22. Dezember 2009 – 3 AZR 895/07 – Rn. 25, juris = NZA 2010, 521).
48
Die Prüfung der sachlichen Rechtfertigung der unterschiedlichen Behandlung hat sich am Zweck der Leistung zu orientieren (BAG, Urteil vom 23. März 2017 – 6 AZR 161/16 – Rn. 55, juris = ZTR 2017, 470). Die Tarifvertragsparteien sind grundsätzlich darin frei, in Ausübung ihrer durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten autonomen Regelungsmacht den Zweck einer tariflichen Leistung zu bestimmen. Dieser ist der von den Tarifvertragsparteien vorgenommenen ausdrücklichen Zweckbestimmung der Leistung zu entnehmen oder im Wege der Auslegung der Tarifnorm anhand von Anspruchsvoraussetzungen, Ausschließungs- und Kürzungsregelungen zu ermitteln (BAG, Urteil vom 28. Mai 2013 – 3 AZR 266/11 – Rn. 38, juris; BAG, Urteil vom 11. Dezember 2012 – 3 AZR 588/10 – Rn. 27, juris = NZA 2013, 572; BAG, Urteil vom 04. Mai 2010 – 9 AZR 181/09 – Rn. 29, juris = ZTR 2010, 583).
49
Zweck der zusätzlichen Leistungen, die an Nachtarbeit anknüpfen, ist es zum einen, die hiermit verbundenen besonderen Belastungen auszugleichen, und zum anderen, Nachtarbeit nach Möglichkeit einzudämmen.
50
Nach § 6 Abs. 5 ArbZG hat der Arbeitgeber, soweit keine tarifvertraglichen Ausgleichsregelungen bestehen, dem Nachtarbeitnehmer für die während der Nachtzeit geleisteten Arbeitsstunden eine angemessene Zahl bezahlter freier Tage oder einen angemessenen Zuschlag auf das ihm hierfür zustehende Bruttoarbeitsentgelt zu gewähren. Nachtzeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes ist die Zeit von 23:00 Uhr bis 6:00 Uhr, in Bäckereien und Konditoreien die Zeit von 22:00 Uhr bis 5:00 Uhr (§ 2 Abs. 3 ArbZG). Nachtarbeitnehmer im Sinne des Arbeitszeitgesetzes sind Arbeitnehmer, die aufgrund ihrer Arbeitszeitgestaltung normalerweise Nachtarbeit in Wechselschicht zu leisten haben oder Nachtarbeit an mindestens 48 Tagen im Kalenderjahr leisten (§ 2 Abs. 5 ArbZG).
51
Lange Nachtarbeitszeiträume sind für die Gesundheit der Arbeitnehmer nachteilig und können ihre Sicherheit bei der Arbeit beeinträchtigen; infolgedessen ist die Dauer der Nachtarbeit, auch in Bezug auf die Mehrarbeit, einzuschränken und vorzusehen, dass der Arbeitgeber im Fall regelmäßiger Inanspruchnahme von Nachtarbeitern die zuständigen Behörden auf Ersuchen davon in Kenntnis setzt (Erwägungsgründe 7 und 8 zur Richtlinie 2003/88/EG vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung).
52
Nachtarbeit ist grundsätzlich für jeden Menschen schädlich und mit negativen gesundheitlichen Auswirkungen verbunden (BVerfG, Urteil vom 28. Januar 1992 – 1 BvR 1025/82 u. a. – Rn. 56, juris = NZA 1992, 270). Die Belastung und Beanspruchung der Beschäftigten steigt nach dem bisherigen Kenntnisstand in der Arbeitsmedizin durch die Anzahl der Nächte pro Monat und die Anzahl der Nächte hintereinander, in denen Nachtarbeit geleistet wird. Insgesamt ist anerkannt, dass Nachtarbeit umso schädlicher ist, in umso größerem Umfang sie geleistet wird (BAG, Urteil vom 21. März 2018 – 10 AZR 34/17 – Rn. 49, juris = NZA 2019, 622; BAG, Urteil vom 09. Dezember 2015 – 10 AZR 423/14 – Rn. 17, juris = NZA 2016, 426).
53
Die Verteuerung der Nachtarbeit durch Zuschlagsregelungen wirkt sich zwar nicht unmittelbar, aber zumindest mittelbar auf die Gesundheit der Nachtarbeit leistenden Arbeitnehmer aus. Zugleich entschädigt der Zuschlag in gewissem Umfang für die erschwerte Teilhabe am sozialen Leben (BAG, Urteil vom 21. März 2018 – 10 AZR 34/17 – Rn. 49, juris = NZA 2019, 622; BAG, Urteil vom 23. August 2017 – 10 AZR 859/16 – Rn. 43, juris = NJW 2017, 3675).
54
Angemessen ist der nach § 6 Abs. 5 ArbZG zu gewährende Zuschlag für Nachtarbeit regelmäßig, wenn er eine Höhe von 25 % erreicht, sei es als Zuschlag zum Bruttostundenlohn oder in Form einer entsprechenden Anzahl von bezahlten freien Tagen (BAG, Urteil vom 13. Dezember 2018 – 6 AZR 549/17 – Rn. 28, juris = NZA 2019, 935; BAG, Urteil vom 25. April 2018 – 5 AZR 25/17 – Rn. 43, juris = NZA 2018, 1145). Ein geringerer als der regelmäßige Zuschlag von 25 % auf das dem Arbeitnehmer zustehende Bruttoarbeitsentgelt kann nach § 6 Abs. 5 ArbZG nur ausreichend sein, wenn die Belastung durch die geleistete Nachtarbeit im Vergleich zum Üblichen geringer ist, weil z. B. in diese Zeit in nicht unerheblichem Umfang Arbeitsbereitschaft fällt oder es sich um nächtlichen Bereitschaftsdienst handelt, bei dem von vornherein von einer geringeren Arbeitsbelastung auszugehen ist (BAG, Urteil vom 23. August 2017 – 10 AZR 859/16 – Rn. 44, juris = NJW 2017, 3675). Ein höherer als der regelmäßige Zuschlag von 25 % ist zu gewähren, wenn die Belastung durch die Nachtarbeit unter qualitativen (Art der Tätigkeit) oder quantitativen (Umfang der Nachtarbeit) Aspekten die normalerweise mit der Nachtarbeit verbundene Belastung übersteigt, insbesondere bei einem dauerhaften Einsatz in der Nachtzeit, sog. Dauernachtarbeit. Bei der Erbringung der regulären Arbeitsleistung in Dauernachtarbeit ist deshalb regelmäßig ein Nachtarbeitszuschlag von 30 % auf den Bruttostundenlohn (bzw. die Gewährung einer entsprechenden Anzahl freier Tage) als angemessen anzusehen (BAG, Urteil vom 23. August 2017 – 10 AZR 859/16 – Rn. 50, juris = NJW 2017, 3675).
55
Die Tarifvertragsparteien des MTV durften unter Berücksichtigung ihrer Einschätzungsprärogative sowohl dem Grunde nach als auch in der festgelegten Bandbreite zwischen "Schichtarbeit während der Nachtzeit" und "Nachtarbeit außerhalb der Schichtarbeit" unterscheiden. Maßgeblich ist eine gebiets- und branchenbezogene Betrachtung, da der Tarifvertrag nicht nur für die Beklagte gilt.
56
Der Leistungszweck rechtfertigt es, Nachtarbeit innerhalb und außerhalb der Schichtarbeit unterschiedlich zu behandeln. Der Zuschlag hat ebenso wie die Gewährung bezahlter Freizeit den Zweck, die besonderen Belastungen der Nachtarbeit durch den erhöhten physischen und psychischen Kraftaufwand sowie die erschwerte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zumindest teilweise auszugleichen. Diese Belastungen können ein unterschiedliches Gewicht haben. Unabhängig von der individuellen körperlichen und seelischen Disposition und dem bevorzugten Freizeitverhalten richtet sich das Ausmaß der Belastung auch nach der Planbarkeit von Nachtarbeit. Je längerfristiger sich ein Arbeitnehmer auf die Arbeit zur Nachtzeit einrichten kann, desto eher ist es ihm möglich, die persönlichen Belange, z. B. die Betreuung von Kindern, die Teilnahme an sportlichen und kulturellen Veranstaltungen, gemeinsame Aktivitäten in der Familie oder im Freundeskreis etc., soweit wie möglich auf die weniger günstigen Arbeitszeiten abzustimmen. Nachtarbeit außerhalb eines Schichtsystems wird zwar nicht in jedem Fall kurzfristig angeordnet und muss nicht stets zur Folge haben, dass es für den Arbeitnehmer schwierig ist, private Belange hiermit in Einklang zu bringen. Dennoch ist der Planungszeitraum üblicherweise deutlich kürzer, als es bei einem Schichtplan der Fall ist. Unregelmäßige Nachtarbeit ist jedenfalls für den Arbeitnehmer deutlich schlechter planbar. Das gilt erst recht im Vergleich zu einem langfristig feststehenden Schichtplan, wie er beispielsweise bei der Beklagten besteht. Wenn auch nicht in allen Unternehmen der obst- und gemüseverarbeitenden Industrie Schichtpläne derart langfristig gelten, so ist der Einsatz nach einem Schichtplan für den Arbeitnehmer in der Regel besser planbar als eine Heranziehung zu Nachtarbeit außerhalb eines Schichtsystems. Es mag im Einzelfall Ausnahmen geben. Angesichts der zulässigen typisierenden Betrachtungsweise durften die Tarifvertragsparteien jedoch davon ausgehen, dass sich die Arbeitnehmer in dem einen Fall grundsätzlich besser auf die Arbeit zur Nachtzeit einstellen können als in dem anderen.
57
Ein weiterer Zweck des höheren Zuschlags bei Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit besteht darin, diese Art der Nachtarbeit deutlich zu verteuern und damit für den Arbeitgeber weniger attraktiv zu machen. Das ergibt sich insbesondere aus der Regelung in § 5 Abs. 3 Unterabs. 3 MTV, nach der bei Nachtarbeit außerhalb eines Zwei- bzw. Drei-Schicht-Wechsels ausnahmsweise keine Anrechnung des Nachtarbeitszuschlags auf andere Zuschläge stattfindet. Wenn sich schon Nachtarbeit im Rahmen eines Schichtsystems nicht vermeiden lässt, so soll jedenfalls jegliche weitere Nachtarbeit nach Möglichkeit vermieden und zurückgedrängt werden. Die Nachtarbeit im Bereich der obst- und gemüseverarbeitenden Industrie ist zwar nicht zum Schutz von Leib und Leben, wie beispielsweise im Rettungsdienst und im Krankenhaus, zwingend erforderlich, sondern folgt vorrangig wirtschaftlichen Erwägungen. Unzulässig ist die Nachtarbeit deshalb aber nicht. Den Tarifvertragsparteien erschien dieser Sachverhalt regelungsbedürftig, um die ökonomischen Interessen einerseits und den Schutz der Arbeitnehmer andererseits zu einem Ausgleich zu bringen. Die Tarifvertragsparteien haben Zuschlag- und Freizeitregelungen geschaffen, die zum einen besondere Belastungen ausgleichen sollen und zum anderen eine Steuerungsfunktion haben.
58
Die gesundheitlichen Gefahren, die mit Nachtarbeit verbunden sind, mögen bei Nachtarbeit innerhalb und außerhalb eines Schichtsystems vergleichbar sein. Diesen Gefahren kann nicht mit einem finanziellen Zuschlag entgegengewirkt werden, der je nach Höhe ggf. sogar noch einen finanziellen Anreiz zur Nachtarbeit bieten kann. Dem Schutz der Gesundheit dient vor allem ein entsprechender Freizeitausgleich, um ausreichend Zeit für die körperliche Erholung und die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben bereitzustellen. Vor allem aber sind die Schichtmodelle so zu gestalten und anzupassen, dass die mit Nachtarbeit verbundenen gesundheitlichen Belastungen so weit wie möglich gesenkt werden. Dies kann z. B. durch eine Verringerung der aufeinanderfolgenden Nachtschichten geschehen.
59
Die Tarifvertragsparteien des MTV haben den ihnen zustehenden Regelungsspielraum auch nicht dadurch überschritten, dass sie die vorhandenen Unterschiede durch die Spannbreite der Leistungen überproportional gewichtet haben, ohne hierfür einen sachlich vertretbaren Grund zu haben. Der Gleichheitsgrundsatz kann nicht nur dadurch verletzt sein, dass überhaupt eine Unterscheidung vorgenommen wurde. Stehen die jeweils gewährten Leistungen in einem auffälligen Missverhältnis zu den vorhandenen Unterschieden und dem Leistungszweck, kann sich daraus ebenfalls eine sachwidrige Ungleichbehandlung ergeben.
60
Bei einem Vergleich der für "Schichtarbeit während der Nachtzeit" gewährten Leistungen mit denen für "Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit" sind alle Vergünstigungen einzubeziehen, die demselben Leistungszweck dienen, also dem angemessenen Ausgleich für die Mehrbelastungen und der Verteuerung von Arbeit zur Nachtzeit. Arbeitnehmer in der Schichtarbeit erhalten für Arbeiten während der Nachtzeit nicht nur einen Zuschlag von 25 %, sondern zudem für je 25 geleistete Nachtschichten eine Freischicht (§ 4 Satz 1 MTV). Die Tarifvertragsparteien haben als Ausgleich für die Nachtarbeit eine Kombination aus Zuschlag und Freizeit gewählt. Rechnerisch ergibt sich danach ein Ausgleich in Höhe von 25 % + 4 % = 29 %. Die Freischicht ist an einen ständigen Einsatz im Drei-Schicht-Wechsel gebunden. Arbeitnehmer, die Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit leisten, kommen somit nicht in den Genuss einer Freischicht. Demgegenüber ist jedoch zu berücksichtigen, dass bei Nachtarbeit außerhalb des Schichtdienstes eine Sonderregelung für den Fall des Zusammentreffens mehrerer Zuschläge gilt. Nach § 5 Abs. 3 Unterabs. 3 MTV ist beim Zusammentreffen mehrerer Zuschläge nur der jeweils höhere zu zahlen. Ausgenommen davon ist der Zuschlag für Nachtarbeit außerhalb eines Zwei- bzw. Drei-Schicht-Wechsels. Dieser Zuschlag tritt jeweils zu den anderen Zuschlägen hinzu. Bei Mehrarbeit sowie Sonn- und Feiertagsarbeit kann sich daraus im Einzelfall ein Gesamtzuschlag von 75 %, 100 % bis hin zu maximal 210 % ergeben. Diese Additionsregel kann den Vorteil der zusätzlichen Freischichten bei Schicht-Nachtarbeit durchaus aufwiegen.
61
Ein im Vergleich zur Schicht-Nachtarbeit in etwa doppelt so hoher Zuschlag für sonstige Nachtarbeit erscheint im Hinblick auf die Einschätzungsprärogative der Tarifvertragsparteien noch sachlich vertretbar. Das gilt insbesondere unter Berücksichtigung des Ziels, sonstige Nachtarbeit außerhalb eines Schichtsystems zu verteuern und diese Form der Nachtarbeit dadurch nach Möglichkeit zu verhindern bzw. einzudämmen. Dieser Ansatz erweist sich in der Praxis als wirksam. Ein in etwa doppelt so hoher Zuschlag ist auch angesichts der zusätzlichen Erschwernisse durch unregelmäßige Nachtarbeit nicht unverhältnismäßig. Die Tarifvertragsparteien durften diese mit nochmals 25 % bewerten. Kurzfristige Umplanungen im persönlichen Bereich verursachen häufig einen erheblichen Zeitaufwand und können zusätzliche Kosten mit sich bringen. Das kann beispielsweise für die Organisation der Kinderbetreuung gelten oder vergebliche Aufwendungen für Freizeitaktivitäten. Solche zusätzlichen Belastungen werden bei typisierender Betrachtung durch den Zuschlag von 50 % jedenfalls nicht offensichtlich übermäßig entschädigt. Den Tarifvertragsparteien ist es aufgrund ihrer Sachnähe vorbehalten, diese Erschwernisse zu gewichten und zu bewerten. Die von Ihnen vorgenommene Bewertung widerspricht nicht den tatsächlichen Lebensverhältnissen. Die Tarifvertragsparteien haben die praktische Situation der Arbeitnehmer im Zusammenhang mit Nachtarbeit nicht falsch eingeschätzt und aufgrund dessen die Erschwernisse von Nachtarbeit außerhalb der Schichtarbeit fehlerhaft bewertet.
62
Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO, die Zulassung der Revision aus § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG.
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Tenor
1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Schwerin vom 05.12.2019 – 5 Ca 1003/19 – wird auf seine Kosten zurückgewiesen.
2. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über die Höhe des tarifvertraglichen Nachtarbeitszuschlags, insbesondere über die Rechtmäßigkeit der Differenzierung zwischen "Schichtarbeit während der Nachtzeit" und "Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit" im Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der obst- und gemüseverarbeitenden Industrie in Mecklenburg-Vorpommern vom 02.06.2009 (im Folgenden nur MTV).
2
Die Beklagte verarbeitet im Werk A-Stadt Kaffeebohnen zu frisch geröstetem und gemahlenem Kaffee, der sodann in Kaffeekapseln abgefüllt wird. Von den insgesamt rund 400 Arbeitnehmern sind etwa 300 Beschäftigte im vollkontinuierlichen Schichtbetrieb, also 7 Tage x 24 Stunden, nach einem starren, dauerhaften Schichtplan tätig. Schichtwechsel ist nach jeweils 6 Tagen. Es gibt 4 Schichtgruppen.
3
Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit der Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der obst- und gemüseverarbeitenden Industrie in Mecklenburg-Vorpommern vom 02.06.2009, abgeschlossen zwischen der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) und dem Arbeitgeberverband Nordernährung, in Kraft getreten zum 01.01.2009, Anwendung. Der MTV enthält folgende Bestimmungen:
4
"…
5
§ 4 Schichtfreizeit
6
Arbeitnehmer, die ständig im Drei-Schicht-Wechsel arbeiten, erhalten für je 25 geleistete Nachtschichten in diesem System eine Freischicht.
7
Arbeitnehmer, die im Zwei-Schicht-Wechsel arbeiten, erhalten nach diesem System für je 60 geleistete Spätschichten eine Freischicht.
8
Wechselschichtarbeit liegt vor, wenn ein regelmäßiger Wechsel des Schichtbeginns und damit der zeitlichen Lage der Schicht erfolgt und die Spätschicht mindestens bis 22 Uhr dauert.
9
§ 5 Mehr-, Nacht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit
10
(1) Begriffsbestimmung
11
Zuschlagspflichtige Mehrarbeit ist die über die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit … hinausgehende Arbeitszeit.
12
…
13
Nachtarbeit ist die in der Zeit von 22 Uhr bis 6 Uhr geleistete Arbeit.
14
…
15
(2) Zuschläge
16
Für Mehr-, Nacht-, Schichtarbeit sowie Sonn- und Feiertagsarbeit sind folgende Zuschläge zu zahlen:
17
-Mehrarbeit (§ 5 Abs. 1 MTV)
25 %
-Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit
50 %
-Schichtarbeit während der Nachtzeit (22 Uhr – 6 Uhr)
25 %
-Sonntagsarbeit
50 %
-Arbeit an gesetzlichen Feiertagen
160 %
18
(3) Berechnung der Zuschläge
19
…
20
Beim Zusammentreffen mehrerer Zuschläge ist nur der jeweils höhere zu zahlen. Hiervon ausgenommen ist der Zuschlag für Nachtarbeit außerhalb eines Zwei- bzw. Drei-Schicht-Wechsels, dieser tritt jeweils zu den anderen Zuschlägen hinzu.
21
…"
22
Im Jahr 2018 leisteten die 293 Schichtarbeitnehmer der Beklagten insgesamt 99.374 Stunden "Schichtarbeit während der Nachtzeit", während "Nachtarbeit außerhalb der Schichtarbeit" einen Umfang von 120 Stunden erreichte, verteilt auf 32 Arbeitnehmer. "Nachtarbeit außerhalb der Schichtarbeit" betrifft bei der Beklagten im Wesentlichen Automatisierer, die während der Rufbereitschaft Störungen beheben.
23
Der Kläger ist im Wechselschichtdienst tätig. Im Zeitraum November 2018 bis April 2019 leistete er insgesamt 266,8 Stunden Nachtarbeit im Sinne des § 5 Abs. 1 Unterabs. 3 MTV, d. h. von 22:00 Uhr bis 6:00 Uhr, für die er einen Zuschlag von 25 % erhielt. Sein Stundenlohn betrug € 14,64 brutto bei einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 39 Stunden.
24
Der Kläger hat erstinstanzlich die Ansicht vertreten, dass die unterschiedlichen Sätze für "Schichtarbeit während der Nachtzeit" und "Nachtarbeit außerhalb der Schichtarbeit" nicht mit dem Gleichheitssatz vereinbar seien. Für eine solche Differenzierung gebe es keinen sachlichen Grund, wie sich dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 21. März 2018 – 10 AZR 34/17 – entnehmen lasse. Arbeit zur Nachtzeit sei unabhängig davon, ob diese innerhalb oder außerhalb von Schichten geleistet werde, für jeden Menschen schädlich und wirke sich negativ auf seine Gesundheit aus. Die frühere Annahme, der Mensch könne sich mit der Zeit an Nachtarbeit gewöhnen, sei überholt. Die biologische Uhr, die sich an den Lichtverhältnissen orientiere, lasse sich nicht umstellen. Darüber hinaus erschwere Nachtarbeit die Teilhabe am sozialen Leben, das üblicherweise in der Feierabendzeit bzw. am Wochenende stattfinde. Nachtarbeit führe sowohl zu einer biologischen als auch zu einer sozialen Desynchronisation. Eine möglicherweise vorhandene Planbarkeit der Nachtarbeit im Schichtdienst ändere daran nichts. Die Belastung und der Kompensationsbedarf sei in beiden Fällen gleich. Zudem sei es nicht zwingend, dass Nachtarbeit außerhalb des Schichtdienstes stets kurzfristig angeordnet werde. Unterschiedliche Zuschlagshöhen seien deshalb grundsätzlich nicht gerechtfertigt. Die Schichtfreizeit nach 25 Nachtschichten (§ 4 Satz 1 MTV) gleiche die 25-prozentige Differenz zwischen den beiden Nachtarbeitszuschlägen nicht aus.
25
Dementsprechend stehe dem Kläger im Ergebnis ein Zuschlag für Nachtarbeit in der Zeit von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr in Höhe von 50 % zu, also ein Zahlungsanspruch von weiteren 25 % auf die geleisteten Nachtarbeitsstunden. Auf andere Art und Weise als durch eine Anpassung nach oben sei der Verstoß gegen den Gleichheitssatz nicht auszugleichen.
26
Der Kläger hat erstinstanzlich beantragt,
27
1. die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger weitere Nachtarbeitszuschläge für den Zeitraum November 2018 bis April 2019 in Höhe von € 976,49 brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.05.2019 zu zahlen, und
28
2. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger Nachtarbeitszuschläge nach dem Manteltarifvertrag für die obst- und gemüseverarbeitende Industrie in Mecklenburg-Vorpommern in der Fassung vom 02.06.2009 für "Schichtarbeit während der Nachtzeit" von 22:00 Uhr bis 6:00 Uhr in gleicher Höhe zu gewähren wie für "Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit" im Sinne von § 5 Abs. 2 des Manteltarifvertrages.
29
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Zunächst sei zu berücksichtigen, dass den Tarifvertragsparteien bei der Regelung der Arbeitsbedingungen eine sogenannte Einschätzungsprärogative zustehe. Den Tarifvertragsparteien stehe es frei einzuschätzen, für welche Belastungen in welcher Höhe ein Ausgleich erfolgen solle. Von den Arbeitsgerichten sei nicht zu prüfen, ob dies die zweckmäßigste, vernünftigste und gerechteste Lösung sei. Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 21.03.2018 – 10 AZR 34/17 – zu einem Tarifvertrag der nordrheinischen Textilindustrie lasse sich auf den Manteltarifvertrag der obst- und gemüseverarbeitende Industrie nicht übertragen. Die Spannbreite zwischen den jeweiligen Zusatzleistungen für Nachtarbeit sei im MTV deutlich geringer als in dem Tarifvertrag, über den das Bundesarbeitsgericht entschieden habe. Bei der Gegenüberstellung der unterschiedlichen Prozentsätze sei zudem zu berücksichtigen, dass es bei Schichtarbeit während der Nachtzeit eine Freischicht je 25 geleisteter Nachtschichten gebe. Das entspreche einem Wert von 4 % in Form von Freizeit. Die Differenzierung zwischen "Schichtarbeit während der Nachtzeit" und „Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit" sei sachlich gerechtfertigt. Der höhere Zuschlag für unregelmäßige Nachtarbeit solle insbesondere die Einbuße der Dispositionsmöglichkeit über die Freizeit ausgleichen und zugleich den Arbeitgeber vor Eingriffen in den geschützten Freizeitbereich abhalten. Ein Arbeitnehmer, der regelmäßig Nachtarbeit leiste, könne sich besser hierauf einstellen als ein Arbeitnehmer, der kurzfristig zu Nachtarbeiten herangezogen werde. Im Falle der kurzfristigen Heranziehung zu Nachtarbeiten handele es sich zudem regelmäßig um Mehrarbeit. Selbst wenn die Differenzierung gleichheitswidrig wäre, könne dies nicht zu einer Anpassung an den höheren Prozentsatz führen. Es sei nicht anzunehmen, dass die Tarifvertragsparteien diese Lücke durch einen Rückgriff auf den höheren Wert geschlossen hätten, da ein Zuschlag von 50 % gerade nicht der Regelsatz sei. Vielmehr sei Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit in der betrieblichen Realität die absolute Ausnahme, da diese bei der Beklagten nur einen Anteil von etwa 0,1 % habe. Eine Anhebung des Zuschlags bei Schichtarbeit während der Nachtzeit auf 50 % würde diese Arbeitnehmer sogar besserstellen gegenüber den unregelmäßig in der Nacht tätigen Arbeitnehmern, da letzteren keine Schichtfreizeit zustehe.
30
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, dass unter Berücksichtigung der Einschätzungsprärogative der Tarifvertragsparteien ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz nicht vorliege. Der Nachtzuschlag dürfe bei Schichtarbeit niedriger bemessen werden als bei Arbeitsleistungen außerhalb des Schichtsystems. Ungeplante Nachtarbeit erschwere die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben stärker als bei einem längerfristig geplanten Einsatz. Ausgehend von dem 25-prozentigen Zuschlag bei Schichtarbeit sei jedenfalls eine Differenz zulässig, die weniger als das Doppelte betrage. Da der in Freizeit gewährte Ausgleich einzurechnen sei, werde diese Grenze nicht überschritten.
31
Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner fristgerecht eingelegten und begründeten Berufung. Entgegen der Auffassung des Arbeitsgerichts sei die Differenz der Zuschlaghöhe zwischen Schichtarbeit während der Nachtzeit und sonstiger Nachtarbeit eben nicht so geringfügig, dass sie sich noch im Rahmen des Gestaltungsspielraums der Tarifvertragsparteien halte. Das Arbeitsgericht habe zudem die Ziele der Richtlinie 2003/88/EG nicht berücksichtigt.
32
Der Kläger beantragt,
33
das Urteil des Arbeitsgerichts Schwerin vom 05.12.2019 – 5 Ca 1003/19 – abzuändern und
34
1. die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger weitere Nachtarbeitszuschläge für den Zeitraum November 2018 bis April 2019 in Höhe von € 976,49 brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.05.2019 zu zahlen, und
35
2. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger Nachtarbeitszuschläge nach dem Manteltarifvertrag für die obst- und gemüseverarbeitende Industrie in Mecklenburg-Vorpommern in der Fassung vom 02.06.2009 für "Schichtarbeit während der Nachtzeit" von 22:00 Uhr bis 6:00 Uhr in gleicher Höhe zu gewähren wie für "Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit" im Sinne von § 5 Abs. 2 des Manteltarifvertrages.
36
Die Beklagte beantragt,
37
die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
38
Sie verteidigt die Entscheidung des Arbeitsgerichts. Sinn und Zweck der Zahlung von Zuschlägen für Nachtarbeit sei nicht nur der Ausgleich gesundheitlicher Belastungen, was ohnehin nur mittelbar möglich sei. Vielmehr diene der Zuschlag einem Ausgleich von Einschränkungen bei der Freizeitgestaltung. Zudem gehe es darum, die unregelmäßige Nachtarbeit zu verteuern, um einen Rückgriff hierauf für den Arbeitgeber unattraktiv zu machen. Der geringe Umfang an unregelmäßiger Nachtarbeit zeige, dass dieser Zweck in der Praxis erreicht werde, was nicht zuletzt dem gesundheitlichen Schutz der Beschäftigten diene.
39
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen, die Sitzungsprotokolle sowie das angegriffene arbeitsgerichtliche Urteil verwiesen.
Entscheidungsgründe
40
Die Berufung des Klägers ist zwar zulässig, aber nicht begründet. Das Arbeitsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen.
41
Der Kläger hat keinen Anspruch aus § 5 Abs. 2 MTV auf Zahlung eines Zuschlags in Höhe von 50 % für die im Zeitraum November 2018 bis April 2019 geleistete Nachtarbeit im Sinne des MTV (22:00 Uhr bis 6:00 Uhr) und auf Nachzahlung der entsprechenden Differenzbeträge. Die Beklagte ist nicht verpflichtet, dem Kläger gemäß § 5 Abs. 2 MTV Nachtarbeitszuschläge für "Schichtarbeit während der Nachtzeit" in derselben Höhe zu zahlen wie bei "Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit".
42
Der Kläger leistet keine "Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit" im Sinne des § 5 Abs. 2 Gliederungspunkt 2 MTV. Er arbeitet im Drei-Schicht-Wechsel und ist dementsprechend regelmäßig auch nachts tätig. Es handelt sich um "Schichtarbeit während der Nachtzeit". Die Nachtzeit im Sinne des § 5 Abs. 2 MTV ist – abweichend von der Definition des § 2 Abs. 3 ArbZG – die Zeit von 22:00 Uhr bis 6:00 Uhr. Die tarifliche Nachtzeit ist danach 1 Stunde länger als die gesetzliche.
43
Ein Anspruch ergibt sich auch nicht aus einer gleichheitswidrigen Schlechterstellung gegenüber denjenigen Arbeitnehmern, die Nachtarbeit außerhalb des Schichtsystems leisten. Die Differenzierung zwischen "Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit" einerseits und "Schichtarbeit während der Nachtzeit" andererseits verstößt nicht gegen höherrangiges Recht. Der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG ist nicht verletzt.
44
Die Tarifvertragsparteien als Normgeber sind bei der tariflichen Normsetzung zwar nicht unmittelbar, jedoch mittelbar grundrechtsgebunden. Der Schutzauftrag des Art. 1 Abs. 3 GG verpflichtet die staatlichen Arbeitsgerichte dazu, die Grundrechtsausübung durch die Tarifvertragsparteien zu beschränken, wenn diese mit den Freiheits- oder Gleichheitsrechten oder anderen Rechten mit Verfassungsrang der Normunterworfenen kollidiert. Sie müssen insoweit praktische Konkordanz herstellen. Der Schutzauftrag der Verfassung verpflichtet die Arbeitsgerichte auch dazu, gleichheitswidrige Differenzierungen in Tarifnormen zu unterbinden. Der Gleichheitssatz bildet als fundamentale Gerechtigkeitsnorm eine ungeschriebene Grenze der Tarifautonomie. Tarifnormen sind deshalb im Ausgangspunkt uneingeschränkt auch am Gleichheitssatz zu messen (BAG, Urteil vom 27. Mai 2020 – 5 AZR 258/19 – Rn. 37, juris = ZTR 2020, 534; BAG, Urteil vom 19. Dezember 2019 – 6 AZR 563/18 – Rn. 21 und 25, juris = NZA 2020, 734).
45
Bei der Erfüllung ihres verfassungsrechtlichen Schutzauftrags haben die Gerichte jedoch auch in den Blick zu nehmen, dass eine besondere Form der Grundrechtskollision bewältigt und die durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistete kollektive Koalitionsfreiheit mit den betroffenen Individualgrundrechten in einen angemessenen Ausgleich gebracht werden muss. Bei der Prüfung, ob Tarifnormen Grundrechte oder andere Rechte der Arbeitnehmer mit Verfassungsrang verletzen, müssen die Gerichte nicht nur die besondere Sachnähe der Tarifvertragsparteien, sondern außerdem beachten, dass sich die Arbeitnehmer im Regelfall durch den Beitritt zu ihrer Koalition oder durch die vertragliche Bezugnahme auf einen Tarifvertrag, die die Tarifnormen zum Vertragsinhalt macht, bewusst und freiwillig der Regelungsmacht der Tarifvertragsparteien auch für die Zukunft unterworfen haben. Die Tarifvertragsparteien haben bei der tariflichen Normsetzung u. a. den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG und die Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 GG zu beachten. Doch steht ihnen als selbständigen Grundrechtsträgern bei ihrer Normsetzung aufgrund der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie ein weiter Gestaltungsspielraum zu, über den Arbeitsvertrags- und Betriebsparteien nicht in gleichem Maß verfügen. Ihnen kommt eine Einschätzungsprärogative zu, soweit die tatsächlichen Gegebenheiten, die betroffenen Interessen und die Regelungsfolgen zu beurteilen sind. Sie verfügen über einen Beurteilungs- und Ermessensspielraum hinsichtlich der inhaltlichen Gestaltung der Regelung und sind nicht verpflichtet, die jeweils zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung zu wählen. Es genügt, wenn für die getroffene Regelung ein sachlich vertretbarer Grund vorliegt (BAG, Urteil vom 27. Mai 2020 – 5 AZR 258/19 – Rn. 38, juris = ZTR 2020, 534; BAG, Urteil vom 19. Dezember 2019 – 6 AZR 563/18 – Rn. 26, juris = NZA 2020, 734).
46
Ob, in welchem Umfang und in welcher Weise besondere Belastungen bestimmter Beschäftigtengruppen kompensiert werden sollen, unterliegt der Einschätzungsprärogative der Tarifvertragsparteien (BAG, Urteil vom 19. Dezember 2019 – 6 AZR 563/18 – Rn. 34, juris = NZA 2020, 734). Legen sie die Voraussetzungen für die Zahlung einer Zulage fest, steht es ihnen grundsätzlich frei, typisierend zu bestimmen, welche Erschwernisse sie in welcher Weise ausgleichen wollen (BAG, Urteil vom 17. Dezember 2015 – 6 AZR 768/14 – Rn. 16, juris = ZTR 2016, 197).
47
Eine Tarifnorm verletzt den Allgemeinen Gleichheitssatz, wenn die Tarifvertragsparteien es versäumt haben, tatsächliche Gleichheiten oder Ungleichheiten der zu ordnenden Lebensverhältnisse zu berücksichtigen, die so bedeutsam sind, dass sie bei einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise beachtet werden müssen. Die Tarifvertragsparteien dürfen jedoch im Interesse der Praktikabilität, der Verständlichkeit und der Übersichtlichkeit auch typisierende Regelungen treffen. Bei der Überprüfung von Tarifverträgen anhand des Allgemeinen Gleichheitssatzes ist deshalb nicht auf die Einzelfallgerechtigkeit abzustellen, sondern auf die generellen Auswirkungen der Regelungen. Die aus dem Gleichheitssatz folgenden Grenzen sind dann überschritten, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie eine Ungleichbehandlung rechtfertigen können (BAG, Urteil vom 12. November 2013 – 3 AZR 92/12 – Rn. 55, juris = NZA-RR 2014, 315; BAG, Urteil vom 21. August 2012 – 3 AZR 281/10 – Rn. 21, juris; BAG, Urteil vom 22. Dezember 2009 – 3 AZR 895/07 – Rn. 25, juris = NZA 2010, 521).
48
Die Prüfung der sachlichen Rechtfertigung der unterschiedlichen Behandlung hat sich am Zweck der Leistung zu orientieren (BAG, Urteil vom 23. März 2017 – 6 AZR 161/16 – Rn. 55, juris = ZTR 2017, 470). Die Tarifvertragsparteien sind grundsätzlich darin frei, in Ausübung ihrer durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten autonomen Regelungsmacht den Zweck einer tariflichen Leistung zu bestimmen. Dieser ist der von den Tarifvertragsparteien vorgenommenen ausdrücklichen Zweckbestimmung der Leistung zu entnehmen oder im Wege der Auslegung der Tarifnorm anhand von Anspruchsvoraussetzungen, Ausschließungs- und Kürzungsregelungen zu ermitteln (BAG, Urteil vom 28. Mai 2013 – 3 AZR 266/11 – Rn. 38, juris; BAG, Urteil vom 11. Dezember 2012 – 3 AZR 588/10 – Rn. 27, juris = NZA 2013, 572; BAG, Urteil vom 04. Mai 2010 – 9 AZR 181/09 – Rn. 29, juris = ZTR 2010, 583).
49
Zweck der zusätzlichen Leistungen, die an Nachtarbeit anknüpfen, ist es zum einen, die hiermit verbundenen besonderen Belastungen auszugleichen, und zum anderen, Nachtarbeit nach Möglichkeit einzudämmen.
50
Nach § 6 Abs. 5 ArbZG hat der Arbeitgeber, soweit keine tarifvertraglichen Ausgleichsregelungen bestehen, dem Nachtarbeitnehmer für die während der Nachtzeit geleisteten Arbeitsstunden eine angemessene Zahl bezahlter freier Tage oder einen angemessenen Zuschlag auf das ihm hierfür zustehende Bruttoarbeitsentgelt zu gewähren. Nachtzeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes ist die Zeit von 23:00 Uhr bis 6:00 Uhr, in Bäckereien und Konditoreien die Zeit von 22:00 Uhr bis 5:00 Uhr (§ 2 Abs. 3 ArbZG). Nachtarbeitnehmer im Sinne des Arbeitszeitgesetzes sind Arbeitnehmer, die aufgrund ihrer Arbeitszeitgestaltung normalerweise Nachtarbeit in Wechselschicht zu leisten haben oder Nachtarbeit an mindestens 48 Tagen im Kalenderjahr leisten (§ 2 Abs. 5 ArbZG).
51
Lange Nachtarbeitszeiträume sind für die Gesundheit der Arbeitnehmer nachteilig und können ihre Sicherheit bei der Arbeit beeinträchtigen; infolgedessen ist die Dauer der Nachtarbeit, auch in Bezug auf die Mehrarbeit, einzuschränken und vorzusehen, dass der Arbeitgeber im Fall regelmäßiger Inanspruchnahme von Nachtarbeitern die zuständigen Behörden auf Ersuchen davon in Kenntnis setzt (Erwägungsgründe 7 und 8 zur Richtlinie 2003/88/EG vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung).
52
Nachtarbeit ist grundsätzlich für jeden Menschen schädlich und mit negativen gesundheitlichen Auswirkungen verbunden (BVerfG, Urteil vom 28. Januar 1992 – 1 BvR 1025/82 u. a. – Rn. 56, juris = NZA 1992, 270). Die Belastung und Beanspruchung der Beschäftigten steigt nach dem bisherigen Kenntnisstand in der Arbeitsmedizin durch die Anzahl der Nächte pro Monat und die Anzahl der Nächte hintereinander, in denen Nachtarbeit geleistet wird. Insgesamt ist anerkannt, dass Nachtarbeit umso schädlicher ist, in umso größerem Umfang sie geleistet wird (BAG, Urteil vom 21. März 2018 – 10 AZR 34/17 – Rn. 49, juris = NZA 2019, 622; BAG, Urteil vom 09. Dezember 2015 – 10 AZR 423/14 – Rn. 17, juris = NZA 2016, 426).
53
Die Verteuerung der Nachtarbeit durch Zuschlagsregelungen wirkt sich zwar nicht unmittelbar, aber zumindest mittelbar auf die Gesundheit der Nachtarbeit leistenden Arbeitnehmer aus. Zugleich entschädigt der Zuschlag in gewissem Umfang für die erschwerte Teilhabe am sozialen Leben (BAG, Urteil vom 21. März 2018 – 10 AZR 34/17 – Rn. 49, juris = NZA 2019, 622; BAG, Urteil vom 23. August 2017 – 10 AZR 859/16 – Rn. 43, juris = NJW 2017, 3675).
54
Angemessen ist der nach § 6 Abs. 5 ArbZG zu gewährende Zuschlag für Nachtarbeit regelmäßig, wenn er eine Höhe von 25 % erreicht, sei es als Zuschlag zum Bruttostundenlohn oder in Form einer entsprechenden Anzahl von bezahlten freien Tagen (BAG, Urteil vom 13. Dezember 2018 – 6 AZR 549/17 – Rn. 28, juris = NZA 2019, 935; BAG, Urteil vom 25. April 2018 – 5 AZR 25/17 – Rn. 43, juris = NZA 2018, 1145). Ein geringerer als der regelmäßige Zuschlag von 25 % auf das dem Arbeitnehmer zustehende Bruttoarbeitsentgelt kann nach § 6 Abs. 5 ArbZG nur ausreichend sein, wenn die Belastung durch die geleistete Nachtarbeit im Vergleich zum Üblichen geringer ist, weil z. B. in diese Zeit in nicht unerheblichem Umfang Arbeitsbereitschaft fällt oder es sich um nächtlichen Bereitschaftsdienst handelt, bei dem von vornherein von einer geringeren Arbeitsbelastung auszugehen ist (BAG, Urteil vom 23. August 2017 – 10 AZR 859/16 – Rn. 44, juris = NJW 2017, 3675). Ein höherer als der regelmäßige Zuschlag von 25 % ist zu gewähren, wenn die Belastung durch die Nachtarbeit unter qualitativen (Art der Tätigkeit) oder quantitativen (Umfang der Nachtarbeit) Aspekten die normalerweise mit der Nachtarbeit verbundene Belastung übersteigt, insbesondere bei einem dauerhaften Einsatz in der Nachtzeit, sog. Dauernachtarbeit. Bei der Erbringung der regulären Arbeitsleistung in Dauernachtarbeit ist deshalb regelmäßig ein Nachtarbeitszuschlag von 30 % auf den Bruttostundenlohn (bzw. die Gewährung einer entsprechenden Anzahl freier Tage) als angemessen anzusehen (BAG, Urteil vom 23. August 2017 – 10 AZR 859/16 – Rn. 50, juris = NJW 2017, 3675).
55
Die Tarifvertragsparteien des MTV durften unter Berücksichtigung ihrer Einschätzungsprärogative sowohl dem Grunde nach als auch in der festgelegten Bandbreite zwischen "Schichtarbeit während der Nachtzeit" und "Nachtarbeit außerhalb der Schichtarbeit" unterscheiden. Maßgeblich ist eine gebiets- und branchenbezogene Betrachtung, da der Tarifvertrag nicht nur für die Beklagte gilt.
56
Der Leistungszweck rechtfertigt es, Nachtarbeit innerhalb und außerhalb der Schichtarbeit unterschiedlich zu behandeln. Der Zuschlag hat ebenso wie die Gewährung bezahlter Freizeit den Zweck, die besonderen Belastungen der Nachtarbeit durch den erhöhten physischen und psychischen Kraftaufwand sowie die erschwerte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zumindest teilweise auszugleichen. Diese Belastungen können ein unterschiedliches Gewicht haben. Unabhängig von der individuellen körperlichen und seelischen Disposition und dem bevorzugten Freizeitverhalten richtet sich das Ausmaß der Belastung auch nach der Planbarkeit von Nachtarbeit. Je längerfristiger sich ein Arbeitnehmer auf die Arbeit zur Nachtzeit einrichten kann, desto eher ist es ihm möglich, die persönlichen Belange, z. B. die Betreuung von Kindern, die Teilnahme an sportlichen und kulturellen Veranstaltungen, gemeinsame Aktivitäten in der Familie oder im Freundeskreis etc., soweit wie möglich auf die weniger günstigen Arbeitszeiten abzustimmen. Nachtarbeit außerhalb eines Schichtsystems wird zwar nicht in jedem Fall kurzfristig angeordnet und muss nicht stets zur Folge haben, dass es für den Arbeitnehmer schwierig ist, private Belange hiermit in Einklang zu bringen. Dennoch ist der Planungszeitraum üblicherweise deutlich kürzer, als es bei einem Schichtplan der Fall ist. Unregelmäßige Nachtarbeit ist jedenfalls für den Arbeitnehmer deutlich schlechter planbar. Das gilt erst recht im Vergleich zu einem langfristig feststehenden Schichtplan, wie er beispielsweise bei der Beklagten besteht. Wenn auch nicht in allen Unternehmen der obst- und gemüseverarbeitenden Industrie Schichtpläne derart langfristig gelten, so ist der Einsatz nach einem Schichtplan für den Arbeitnehmer in der Regel besser planbar als eine Heranziehung zu Nachtarbeit außerhalb eines Schichtsystems. Es mag im Einzelfall Ausnahmen geben. Angesichts der zulässigen typisierenden Betrachtungsweise durften die Tarifvertragsparteien jedoch davon ausgehen, dass sich die Arbeitnehmer in dem einen Fall grundsätzlich besser auf die Arbeit zur Nachtzeit einstellen können als in dem anderen.
57
Ein weiterer Zweck des höheren Zuschlags bei Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit besteht darin, diese Art der Nachtarbeit deutlich zu verteuern und damit für den Arbeitgeber weniger attraktiv zu machen. Das ergibt sich insbesondere aus der Regelung in § 5 Abs. 3 Unterabs. 3 MTV, nach der bei Nachtarbeit außerhalb eines Zwei- bzw. Drei-Schicht-Wechsels ausnahmsweise keine Anrechnung des Nachtarbeitszuschlags auf andere Zuschläge stattfindet. Wenn sich schon Nachtarbeit im Rahmen eines Schichtsystems nicht vermeiden lässt, so soll jedenfalls jegliche weitere Nachtarbeit nach Möglichkeit vermieden und zurückgedrängt werden. Die Nachtarbeit im Bereich der obst- und gemüseverarbeitenden Industrie ist zwar nicht zum Schutz von Leib und Leben, wie beispielsweise im Rettungsdienst und im Krankenhaus, zwingend erforderlich, sondern folgt vorrangig wirtschaftlichen Erwägungen. Unzulässig ist die Nachtarbeit deshalb aber nicht. Den Tarifvertragsparteien erschien dieser Sachverhalt regelungsbedürftig, um die ökonomischen Interessen einerseits und den Schutz der Arbeitnehmer andererseits zu einem Ausgleich zu bringen. Die Tarifvertragsparteien haben Zuschlag- und Freizeitregelungen geschaffen, die zum einen besondere Belastungen ausgleichen sollen und zum anderen eine Steuerungsfunktion haben.
58
Die gesundheitlichen Gefahren, die mit Nachtarbeit verbunden sind, mögen bei Nachtarbeit innerhalb und außerhalb eines Schichtsystems vergleichbar sein. Diesen Gefahren kann nicht mit einem finanziellen Zuschlag entgegengewirkt werden, der je nach Höhe ggf. sogar noch einen finanziellen Anreiz zur Nachtarbeit bieten kann. Dem Schutz der Gesundheit dient vor allem ein entsprechender Freizeitausgleich, um ausreichend Zeit für die körperliche Erholung und die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben bereitzustellen. Vor allem aber sind die Schichtmodelle so zu gestalten und anzupassen, dass die mit Nachtarbeit verbundenen gesundheitlichen Belastungen so weit wie möglich gesenkt werden. Dies kann z. B. durch eine Verringerung der aufeinanderfolgenden Nachtschichten geschehen.
59
Die Tarifvertragsparteien des MTV haben den ihnen zustehenden Regelungsspielraum auch nicht dadurch überschritten, dass sie die vorhandenen Unterschiede durch die Spannbreite der Leistungen überproportional gewichtet haben, ohne hierfür einen sachlich vertretbaren Grund zu haben. Der Gleichheitsgrundsatz kann nicht nur dadurch verletzt sein, dass überhaupt eine Unterscheidung vorgenommen wurde. Stehen die jeweils gewährten Leistungen in einem auffälligen Missverhältnis zu den vorhandenen Unterschieden und dem Leistungszweck, kann sich daraus ebenfalls eine sachwidrige Ungleichbehandlung ergeben.
60
Bei einem Vergleich der für "Schichtarbeit während der Nachtzeit" gewährten Leistungen mit denen für "Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit" sind alle Vergünstigungen einzubeziehen, die demselben Leistungszweck dienen, also dem angemessenen Ausgleich für die Mehrbelastungen und der Verteuerung von Arbeit zur Nachtzeit. Arbeitnehmer in der Schichtarbeit erhalten für Arbeiten während der Nachtzeit nicht nur einen Zuschlag von 25 %, sondern zudem für je 25 geleistete Nachtschichten eine Freischicht (§ 4 Satz 1 MTV). Die Tarifvertragsparteien haben als Ausgleich für die Nachtarbeit eine Kombination aus Zuschlag und Freizeit gewählt. Rechnerisch ergibt sich danach ein Ausgleich in Höhe von 25 % + 4 % = 29 %. Die Freischicht ist an einen ständigen Einsatz im Drei-Schicht-Wechsel gebunden. Arbeitnehmer, die Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit leisten, kommen somit nicht in den Genuss einer Freischicht. Demgegenüber ist jedoch zu berücksichtigen, dass bei Nachtarbeit außerhalb des Schichtdienstes eine Sonderregelung für den Fall des Zusammentreffens mehrerer Zuschläge gilt. Nach § 5 Abs. 3 Unterabs. 3 MTV ist beim Zusammentreffen mehrerer Zuschläge nur der jeweils höhere zu zahlen. Ausgenommen davon ist der Zuschlag für Nachtarbeit außerhalb eines Zwei- bzw. Drei-Schicht-Wechsels. Dieser Zuschlag tritt jeweils zu den anderen Zuschlägen hinzu. Bei Mehrarbeit sowie Sonn- und Feiertagsarbeit kann sich daraus im Einzelfall ein Gesamtzuschlag von 75 %, 100 % bis hin zu maximal 210 % ergeben. Diese Additionsregel kann den Vorteil der zusätzlichen Freischichten bei Schicht-Nachtarbeit durchaus aufwiegen.
61
Ein im Vergleich zur Schicht-Nachtarbeit in etwa doppelt so hoher Zuschlag für sonstige Nachtarbeit erscheint im Hinblick auf die Einschätzungsprärogative der Tarifvertragsparteien noch sachlich vertretbar. Das gilt insbesondere unter Berücksichtigung des Ziels, sonstige Nachtarbeit außerhalb eines Schichtsystems zu verteuern und diese Form der Nachtarbeit dadurch nach Möglichkeit zu verhindern bzw. einzudämmen. Dieser Ansatz erweist sich in der Praxis als wirksam. Ein in etwa doppelt so hoher Zuschlag ist auch angesichts der zusätzlichen Erschwernisse durch unregelmäßige Nachtarbeit nicht unverhältnismäßig. Die Tarifvertragsparteien durften diese mit nochmals 25 % bewerten. Kurzfristige Umplanungen im persönlichen Bereich verursachen häufig einen erheblichen Zeitaufwand und können zusätzliche Kosten mit sich bringen. Das kann beispielsweise für die Organisation der Kinderbetreuung gelten oder vergebliche Aufwendungen für Freizeitaktivitäten. Solche zusätzlichen Belastungen werden bei typisierender Betrachtung durch den Zuschlag von 50 % jedenfalls nicht offensichtlich übermäßig entschädigt. Den Tarifvertragsparteien ist es aufgrund ihrer Sachnähe vorbehalten, diese Erschwernisse zu gewichten und zu bewerten. Die von Ihnen vorgenommene Bewertung widerspricht nicht den tatsächlichen Lebensverhältnissen. Die Tarifvertragsparteien haben die praktische Situation der Arbeitnehmer im Zusammenhang mit Nachtarbeit nicht falsch eingeschätzt und aufgrund dessen die Erschwernisse von Nachtarbeit außerhalb der Schichtarbeit fehlerhaft bewertet.
62
Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO, die Zulassung der Revision aus § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG.
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Tenor
1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Schwerin vom 05.12.2019 – 5 Ca 1010/19 – wird auf seine Kosten zurückgewiesen.
2. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über die Höhe des tarifvertraglichen Nachtarbeitszuschlags, insbesondere über die Rechtmäßigkeit der Differenzierung zwischen "Schichtarbeit während der Nachtzeit" und "Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit" im Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der obst- und gemüseverarbeitenden Industrie in Mecklenburg-Vorpommern vom 02.06.2009 (im Folgenden nur MTV).
2
Die Beklagte verarbeitet im Werk A-Stadt Kaffeebohnen zu frisch geröstetem und gemahlenem Kaffee, der sodann in Kaffeekapseln abgefüllt wird. Von den insgesamt rund 400 Arbeitnehmern sind etwa 300 Beschäftigte im vollkontinuierlichen Schichtbetrieb, also 7 Tage x 24 Stunden, nach einem starren, dauerhaften Schichtplan tätig. Schichtwechsel ist nach jeweils 6 Tagen. Es gibt 4 Schichtgruppen.
3
Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit der Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der obst- und gemüseverarbeitenden Industrie in Mecklenburg-Vorpommern vom 02.06.2009, abgeschlossen zwischen der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) und dem Arbeitgeberverband Nordernährung, in Kraft getreten zum 01.01.2009, Anwendung. Der MTV enthält folgende Bestimmungen:
4
"…
5
§ 4 Schichtfreizeit
6
Arbeitnehmer, die ständig im Drei-Schicht-Wechsel arbeiten, erhalten für je 25 geleistete Nachtschichten in diesem System eine Freischicht.
7
Arbeitnehmer, die im Zwei-Schicht-Wechsel arbeiten, erhalten nach diesem System für je 60 geleistete Spätschichten eine Freischicht.
8
Wechselschichtarbeit liegt vor, wenn ein regelmäßiger Wechsel des Schichtbeginns und damit der zeitlichen Lage der Schicht erfolgt und die Spätschicht mindestens bis 22 Uhr dauert.
9
§ 5 Mehr-, Nacht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit
10
(1) Begriffsbestimmung
11
Zuschlagspflichtige Mehrarbeit ist die über die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit … hinausgehende Arbeitszeit.
12
…
13
Nachtarbeit ist die in der Zeit von 22 Uhr bis 6 Uhr geleistete Arbeit.
14
…
15
(2) Zuschläge
16
Für Mehr-, Nacht-, Schichtarbeit sowie Sonn- und Feiertagsarbeit sind folgende Zuschläge zu zahlen:
17
-Mehrarbeit (§ 5 Abs. 1 MTV)
25 %
-Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit
50 %
-Schichtarbeit während der Nachtzeit (22 Uhr – 6 Uhr)
25 %
-Sonntagsarbeit
50 %
-Arbeit an gesetzlichen Feiertagen
160 %
18
(3) Berechnung der Zuschläge
19
…
20
Beim Zusammentreffen mehrerer Zuschläge ist nur der jeweils höhere zu zahlen. Hiervon ausgenommen ist der Zuschlag für Nachtarbeit außerhalb eines Zwei- bzw. Drei-Schicht-Wechsels, dieser tritt jeweils zu den anderen Zuschlägen hinzu.
21
…"
22
Im Jahr 2018 leisteten die 293 Schichtarbeitnehmer der Beklagten insgesamt 99.374 Stunden "Schichtarbeit während der Nachtzeit", während "Nachtarbeit außerhalb der Schichtarbeit" einen Umfang von 120 Stunden erreichte, verteilt auf 32 Arbeitnehmer. "Nachtarbeit außerhalb der Schichtarbeit" betrifft bei der Beklagten im Wesentlichen Automatisierer, die während der Rufbereitschaft Störungen beheben.
23
Der Kläger ist im Wechselschichtdienst tätig. Im Zeitraum November 2018 bis April 2019 leistete er insgesamt 199,08 Stunden Nachtarbeit im Sinne des § 5 Abs. 1 Unterabs. 3 MTV, d. h. von 22:00 Uhr bis 6:00 Uhr, für die er einen Zuschlag von 25 % erhielt. Sein Stundenlohn betrug € 16,24 brutto bei einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 39 Stunden.
24
Der Kläger hat erstinstanzlich die Ansicht vertreten, dass die unterschiedlichen Sätze für "Schichtarbeit während der Nachtzeit" und "Nachtarbeit außerhalb der Schichtarbeit" nicht mit dem Gleichheitssatz vereinbar seien. Für eine solche Differenzierung gebe es keinen sachlichen Grund, wie sich dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 21. März 2018 – 10 AZR 34/17 – entnehmen lasse. Arbeit zur Nachtzeit sei unabhängig davon, ob diese innerhalb oder außerhalb von Schichten geleistet werde, für jeden Menschen schädlich und wirke sich negativ auf seine Gesundheit aus. Die frühere Annahme, der Mensch könne sich mit der Zeit an Nachtarbeit gewöhnen, sei überholt. Die biologische Uhr, die sich an den Lichtverhältnissen orientiere, lasse sich nicht umstellen. Darüber hinaus erschwere Nachtarbeit die Teilhabe am sozialen Leben, das üblicherweise in der Feierabendzeit bzw. am Wochenende stattfinde. Nachtarbeit führe sowohl zu einer biologischen als auch zu einer sozialen Desynchronisation. Eine möglicherweise vorhandene Planbarkeit der Nachtarbeit im Schichtdienst ändere daran nichts. Die Belastung und der Kompensationsbedarf sei in beiden Fällen gleich. Zudem sei es nicht zwingend, dass Nachtarbeit außerhalb des Schichtdienstes stets kurzfristig angeordnet werde. Unterschiedliche Zuschlagshöhen seien deshalb grundsätzlich nicht gerechtfertigt. Die Schichtfreizeit nach 25 Nachtschichten (§ 4 Satz 1 MTV) gleiche die 25-prozentige Differenz zwischen den beiden Nachtarbeitszuschlägen nicht aus.
25
Dementsprechend stehe dem Kläger im Ergebnis ein Zuschlag für Nachtarbeit in der Zeit von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr in Höhe von 50 % zu, also ein Zahlungsanspruch von weiteren 25 % auf die geleisteten Nachtarbeitsstunden. Auf andere Art und Weise als durch eine Anpassung nach oben sei der Verstoß gegen den Gleichheitssatz nicht auszugleichen.
26
Der Kläger hat erstinstanzlich beantragt,
27
1. die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger weitere Nachtarbeitszuschläge für den Zeitraum November 2018 bis April 2019 in Höhe von € 808,26 brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.05.2019 zu zahlen, und
28
2. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger Nachtarbeitszuschläge nach dem Manteltarifvertrag für die obst- und gemüseverarbeitende Industrie in Mecklenburg-Vorpommern in der Fassung vom 02.06.2009 für "Schichtarbeit während der Nachtzeit" von 22:00 Uhr bis 6:00 Uhr in gleicher Höhe zu gewähren wie für "Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit" im Sinne von § 5 Abs. 2 des Manteltarifvertrages.
29
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Zunächst sei zu berücksichtigen, dass den Tarifvertragsparteien bei der Regelung der Arbeitsbedingungen eine sogenannte Einschätzungsprärogative zustehe. Den Tarifvertragsparteien stehe es frei einzuschätzen, für welche Belastungen in welcher Höhe ein Ausgleich erfolgen solle. Von den Arbeitsgerichten sei nicht zu prüfen, ob dies die zweckmäßigste, vernünftigste und gerechteste Lösung sei. Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 21.03.2018 – 10 AZR 34/17 – zu einem Tarifvertrag der nordrheinischen Textilindustrie lasse sich auf den Manteltarifvertrag der obst- und gemüseverarbeitende Industrie nicht übertragen. Die Spannbreite zwischen den jeweiligen Zusatzleistungen für Nachtarbeit sei im MTV deutlich geringer als in dem Tarifvertrag, über den das Bundesarbeitsgericht entschieden habe. Bei der Gegenüberstellung der unterschiedlichen Prozentsätze sei zudem zu berücksichtigen, dass es bei Schichtarbeit während der Nachtzeit eine Freischicht je 25 geleisteter Nachtschichten gebe. Das entspreche einem Wert von 4 % in Form von Freizeit. Die Differenzierung zwischen "Schichtarbeit während der Nachtzeit" und „Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit" sei sachlich gerechtfertigt. Der höhere Zuschlag für unregelmäßige Nachtarbeit solle insbesondere die Einbuße der Dispositionsmöglichkeit über die Freizeit ausgleichen und zugleich den Arbeitgeber vor Eingriffen in den geschützten Freizeitbereich abhalten. Ein Arbeitnehmer, der regelmäßig Nachtarbeit leiste, könne sich besser hierauf einstellen als ein Arbeitnehmer, der kurzfristig zu Nachtarbeiten herangezogen werde. Im Falle der kurzfristigen Heranziehung zu Nachtarbeiten handele es sich zudem regelmäßig um Mehrarbeit. Selbst wenn die Differenzierung gleichheitswidrig wäre, könne dies nicht zu einer Anpassung an den höheren Prozentsatz führen. Es sei nicht anzunehmen, dass die Tarifvertragsparteien diese Lücke durch einen Rückgriff auf den höheren Wert geschlossen hätten, da ein Zuschlag von 50 % gerade nicht der Regelsatz sei. Vielmehr sei Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit in der betrieblichen Realität die absolute Ausnahme, da diese bei der Beklagten nur einen Anteil von etwa 0,1 % habe. Eine Anhebung des Zuschlags bei Schichtarbeit während der Nachtzeit auf 50 % würde diese Arbeitnehmer sogar besserstellen gegenüber den unregelmäßig in der Nacht tätigen Arbeitnehmern, da letzteren keine Schichtfreizeit zustehe.
30
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, dass unter Berücksichtigung der Einschätzungsprärogative der Tarifvertragsparteien ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz nicht vorliege. Der Nachtzuschlag dürfe bei Schichtarbeit niedriger bemessen werden als bei Arbeitsleistungen außerhalb des Schichtsystems. Ungeplante Nachtarbeit erschwere die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben stärker als bei einem längerfristig geplanten Einsatz. Ausgehend von dem 25-prozentigen Zuschlag bei Schichtarbeit sei jedenfalls eine Differenz zulässig, die weniger als das Doppelte betrage. Da der in Freizeit gewährte Ausgleich einzurechnen sei, werde diese Grenze nicht überschritten.
31
Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner fristgerecht eingelegten und begründeten Berufung. Entgegen der Auffassung des Arbeitsgerichts sei die Differenz der Zuschlaghöhe zwischen Schichtarbeit während der Nachtzeit und sonstiger Nachtarbeit eben nicht so geringfügig, dass sie sich noch im Rahmen des Gestaltungsspielraums der Tarifvertragsparteien halte. Das Arbeitsgericht habe zudem die Ziele der Richtlinie 2003/88/EG nicht berücksichtigt.
32
Der Kläger beantragt,
33
das Urteil des Arbeitsgerichts Schwerin vom 05.12.2019 – 5 Ca 1010/19 – abzuändern und
34
1. die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger weitere Nachtarbeitszuschläge für den Zeitraum November 2018 bis April 2019 in Höhe von € 808,26 brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.05.2019 zu zahlen, und
35
2. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger Nachtarbeitszuschläge nach dem Manteltarifvertrag für die obst- und gemüseverarbeitende Industrie in Mecklenburg-Vorpommern in der Fassung vom 02.06.2009 für "Schichtarbeit während der Nachtzeit" von 22:00 Uhr bis 6:00 Uhr in gleicher Höhe zu gewähren wie für "Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit" im Sinne von § 5 Abs. 2 des Manteltarifvertrages.
36
Die Beklagte beantragt,
37
die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
38
Sie verteidigt die Entscheidung des Arbeitsgerichts. Sinn und Zweck der Zahlung von Zuschlägen für Nachtarbeit sei nicht nur der Ausgleich gesundheitlicher Belastungen, was ohnehin nur mittelbar möglich sei. Vielmehr diene der Zuschlag einem Ausgleich von Einschränkungen bei der Freizeitgestaltung. Zudem gehe es darum, die unregelmäßige Nachtarbeit zu verteuern, um einen Rückgriff hierauf für den Arbeitgeber unattraktiv zu machen. Der geringe Umfang an unregelmäßiger Nachtarbeit zeige, dass dieser Zweck in der Praxis erreicht werde, was nicht zuletzt dem gesundheitlichen Schutz der Beschäftigten diene.
39
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen, die Sitzungsprotokolle sowie das angegriffene arbeitsgerichtliche Urteil verwiesen.
Entscheidungsgründe
40
Die Berufung des Klägers ist zwar zulässig, aber nicht begründet. Das Arbeitsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen.
41
Der Kläger hat keinen Anspruch aus § 5 Abs. 2 MTV auf Zahlung eines Zuschlags in Höhe von 50 % für die im Zeitraum November 2018 bis April 2019 geleistete Nachtarbeit im Sinne des MTV (22:00 Uhr bis 6:00 Uhr) und auf Nachzahlung der entsprechenden Differenzbeträge. Die Beklagte ist nicht verpflichtet, dem Kläger gemäß § 5 Abs. 2 MTV Nachtarbeitszuschläge für "Schichtarbeit während der Nachtzeit" in derselben Höhe zu zahlen wie bei "Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit".
42
Der Kläger leistet keine "Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit" im Sinne des § 5 Abs. 2 Gliederungspunkt 2 MTV. Er arbeitet im Drei-Schicht-Wechsel und ist dementsprechend regelmäßig auch nachts tätig. Es handelt sich um "Schichtarbeit während der Nachtzeit". Die Nachtzeit im Sinne des § 5 Abs. 2 MTV ist – abweichend von der Definition des § 2 Abs. 3 ArbZG – die Zeit von 22:00 Uhr bis 6:00 Uhr. Die tarifliche Nachtzeit ist danach 1 Stunde länger als die gesetzliche.
43
Ein Anspruch ergibt sich auch nicht aus einer gleichheitswidrigen Schlechterstellung gegenüber denjenigen Arbeitnehmern, die Nachtarbeit außerhalb des Schichtsystems leisten. Die Differenzierung zwischen "Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit" einerseits und "Schichtarbeit während der Nachtzeit" andererseits verstößt nicht gegen höherrangiges Recht. Der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG ist nicht verletzt.
44
Die Tarifvertragsparteien als Normgeber sind bei der tariflichen Normsetzung zwar nicht unmittelbar, jedoch mittelbar grundrechtsgebunden. Der Schutzauftrag des Art. 1 Abs. 3 GG verpflichtet die staatlichen Arbeitsgerichte dazu, die Grundrechtsausübung durch die Tarifvertragsparteien zu beschränken, wenn diese mit den Freiheits- oder Gleichheitsrechten oder anderen Rechten mit Verfassungsrang der Normunterworfenen kollidiert. Sie müssen insoweit praktische Konkordanz herstellen. Der Schutzauftrag der Verfassung verpflichtet die Arbeitsgerichte auch dazu, gleichheitswidrige Differenzierungen in Tarifnormen zu unterbinden. Der Gleichheitssatz bildet als fundamentale Gerechtigkeitsnorm eine ungeschriebene Grenze der Tarifautonomie. Tarifnormen sind deshalb im Ausgangspunkt uneingeschränkt auch am Gleichheitssatz zu messen (BAG, Urteil vom 27. Mai 2020 – 5 AZR 258/19 – Rn. 37, juris = ZTR 2020, 534; BAG, Urteil vom 19. Dezember 2019 – 6 AZR 563/18 – Rn. 21 und 25, juris = NZA 2020, 734).
45
Bei der Erfüllung ihres verfassungsrechtlichen Schutzauftrags haben die Gerichte jedoch auch in den Blick zu nehmen, dass eine besondere Form der Grundrechtskollision bewältigt und die durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistete kollektive Koalitionsfreiheit mit den betroffenen Individualgrundrechten in einen angemessenen Ausgleich gebracht werden muss. Bei der Prüfung, ob Tarifnormen Grundrechte oder andere Rechte der Arbeitnehmer mit Verfassungsrang verletzen, müssen die Gerichte nicht nur die besondere Sachnähe der Tarifvertragsparteien, sondern außerdem beachten, dass sich die Arbeitnehmer im Regelfall durch den Beitritt zu ihrer Koalition oder durch die vertragliche Bezugnahme auf einen Tarifvertrag, die die Tarifnormen zum Vertragsinhalt macht, bewusst und freiwillig der Regelungsmacht der Tarifvertragsparteien auch für die Zukunft unterworfen haben. Die Tarifvertragsparteien haben bei der tariflichen Normsetzung u. a. den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG und die Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 GG zu beachten. Doch steht ihnen als selbständigen Grundrechtsträgern bei ihrer Normsetzung aufgrund der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie ein weiter Gestaltungsspielraum zu, über den Arbeitsvertrags- und Betriebsparteien nicht in gleichem Maß verfügen. Ihnen kommt eine Einschätzungsprärogative zu, soweit die tatsächlichen Gegebenheiten, die betroffenen Interessen und die Regelungsfolgen zu beurteilen sind. Sie verfügen über einen Beurteilungs- und Ermessensspielraum hinsichtlich der inhaltlichen Gestaltung der Regelung und sind nicht verpflichtet, die jeweils zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung zu wählen. Es genügt, wenn für die getroffene Regelung ein sachlich vertretbarer Grund vorliegt (BAG, Urteil vom 27. Mai 2020 – 5 AZR 258/19 – Rn. 38, juris = ZTR 2020, 534; BAG, Urteil vom 19. Dezember 2019 – 6 AZR 563/18 – Rn. 26, juris = NZA 2020, 734).
46
Ob, in welchem Umfang und in welcher Weise besondere Belastungen bestimmter Beschäftigtengruppen kompensiert werden sollen, unterliegt der Einschätzungsprärogative der Tarifvertragsparteien (BAG, Urteil vom 19. Dezember 2019 – 6 AZR 563/18 – Rn. 34, juris = NZA 2020, 734). Legen sie die Voraussetzungen für die Zahlung einer Zulage fest, steht es ihnen grundsätzlich frei, typisierend zu bestimmen, welche Erschwernisse sie in welcher Weise ausgleichen wollen (BAG, Urteil vom 17. Dezember 2015 – 6 AZR 768/14 – Rn. 16, juris = ZTR 2016, 197).
47
Eine Tarifnorm verletzt den Allgemeinen Gleichheitssatz, wenn die Tarifvertragsparteien es versäumt haben, tatsächliche Gleichheiten oder Ungleichheiten der zu ordnenden Lebensverhältnisse zu berücksichtigen, die so bedeutsam sind, dass sie bei einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise beachtet werden müssen. Die Tarifvertragsparteien dürfen jedoch im Interesse der Praktikabilität, der Verständlichkeit und der Übersichtlichkeit auch typisierende Regelungen treffen. Bei der Überprüfung von Tarifverträgen anhand des Allgemeinen Gleichheitssatzes ist deshalb nicht auf die Einzelfallgerechtigkeit abzustellen, sondern auf die generellen Auswirkungen der Regelungen. Die aus dem Gleichheitssatz folgenden Grenzen sind dann überschritten, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie eine Ungleichbehandlung rechtfertigen können (BAG, Urteil vom 12. November 2013 – 3 AZR 92/12 – Rn. 55, juris = NZA-RR 2014, 315; BAG, Urteil vom 21. August 2012 – 3 AZR 281/10 – Rn. 21, juris; BAG, Urteil vom 22. Dezember 2009 – 3 AZR 895/07 – Rn. 25, juris = NZA 2010, 521).
48
Die Prüfung der sachlichen Rechtfertigung der unterschiedlichen Behandlung hat sich am Zweck der Leistung zu orientieren (BAG, Urteil vom 23. März 2017 – 6 AZR 161/16 – Rn. 55, juris = ZTR 2017, 470). Die Tarifvertragsparteien sind grundsätzlich darin frei, in Ausübung ihrer durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten autonomen Regelungsmacht den Zweck einer tariflichen Leistung zu bestimmen. Dieser ist der von den Tarifvertragsparteien vorgenommenen ausdrücklichen Zweckbestimmung der Leistung zu entnehmen oder im Wege der Auslegung der Tarifnorm anhand von Anspruchsvoraussetzungen, Ausschließungs- und Kürzungsregelungen zu ermitteln (BAG, Urteil vom 28. Mai 2013 – 3 AZR 266/11 – Rn. 38, juris; BAG, Urteil vom 11. Dezember 2012 – 3 AZR 588/10 – Rn. 27, juris = NZA 2013, 572; BAG, Urteil vom 04. Mai 2010 – 9 AZR 181/09 – Rn. 29, juris = ZTR 2010, 583).
49
Zweck der zusätzlichen Leistungen, die an Nachtarbeit anknüpfen, ist es zum einen, die hiermit verbundenen besonderen Belastungen auszugleichen, und zum anderen, Nachtarbeit nach Möglichkeit einzudämmen.
50
Nach § 6 Abs. 5 ArbZG hat der Arbeitgeber, soweit keine tarifvertraglichen Ausgleichsregelungen bestehen, dem Nachtarbeitnehmer für die während der Nachtzeit geleisteten Arbeitsstunden eine angemessene Zahl bezahlter freier Tage oder einen angemessenen Zuschlag auf das ihm hierfür zustehende Bruttoarbeitsentgelt zu gewähren. Nachtzeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes ist die Zeit von 23:00 Uhr bis 6:00 Uhr, in Bäckereien und Konditoreien die Zeit von 22:00 Uhr bis 5:00 Uhr (§ 2 Abs. 3 ArbZG). Nachtarbeitnehmer im Sinne des Arbeitszeitgesetzes sind Arbeitnehmer, die aufgrund ihrer Arbeitszeitgestaltung normalerweise Nachtarbeit in Wechselschicht zu leisten haben oder Nachtarbeit an mindestens 48 Tagen im Kalenderjahr leisten (§ 2 Abs. 5 ArbZG).
51
Lange Nachtarbeitszeiträume sind für die Gesundheit der Arbeitnehmer nachteilig und können ihre Sicherheit bei der Arbeit beeinträchtigen; infolgedessen ist die Dauer der Nachtarbeit, auch in Bezug auf die Mehrarbeit, einzuschränken und vorzusehen, dass der Arbeitgeber im Fall regelmäßiger Inanspruchnahme von Nachtarbeitern die zuständigen Behörden auf Ersuchen davon in Kenntnis setzt (Erwägungsgründe 7 und 8 zur Richtlinie 2003/88/EG vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung).
52
Nachtarbeit ist grundsätzlich für jeden Menschen schädlich und mit negativen gesundheitlichen Auswirkungen verbunden (BVerfG, Urteil vom 28. Januar 1992 – 1 BvR 1025/82 u. a. – Rn. 56, juris = NZA 1992, 270). Die Belastung und Beanspruchung der Beschäftigten steigt nach dem bisherigen Kenntnisstand in der Arbeitsmedizin durch die Anzahl der Nächte pro Monat und die Anzahl der Nächte hintereinander, in denen Nachtarbeit geleistet wird. Insgesamt ist anerkannt, dass Nachtarbeit umso schädlicher ist, in umso größerem Umfang sie geleistet wird (BAG, Urteil vom 21. März 2018 – 10 AZR 34/17 – Rn. 49, juris = NZA 2019, 622; BAG, Urteil vom 09. Dezember 2015 – 10 AZR 423/14 – Rn. 17, juris = NZA 2016, 426).
53
Die Verteuerung der Nachtarbeit durch Zuschlagsregelungen wirkt sich zwar nicht unmittelbar, aber zumindest mittelbar auf die Gesundheit der Nachtarbeit leistenden Arbeitnehmer aus. Zugleich entschädigt der Zuschlag in gewissem Umfang für die erschwerte Teilhabe am sozialen Leben (BAG, Urteil vom 21. März 2018 – 10 AZR 34/17 – Rn. 49, juris = NZA 2019, 622; BAG, Urteil vom 23. August 2017 – 10 AZR 859/16 – Rn. 43, juris = NJW 2017, 3675).
54
Angemessen ist der nach § 6 Abs. 5 ArbZG zu gewährende Zuschlag für Nachtarbeit regelmäßig, wenn er eine Höhe von 25 % erreicht, sei es als Zuschlag zum Bruttostundenlohn oder in Form einer entsprechenden Anzahl von bezahlten freien Tagen (BAG, Urteil vom 13. Dezember 2018 – 6 AZR 549/17 – Rn. 28, juris = NZA 2019, 935; BAG, Urteil vom 25. April 2018 – 5 AZR 25/17 – Rn. 43, juris = NZA 2018, 1145). Ein geringerer als der regelmäßige Zuschlag von 25 % auf das dem Arbeitnehmer zustehende Bruttoarbeitsentgelt kann nach § 6 Abs. 5 ArbZG nur ausreichend sein, wenn die Belastung durch die geleistete Nachtarbeit im Vergleich zum Üblichen geringer ist, weil z. B. in diese Zeit in nicht unerheblichem Umfang Arbeitsbereitschaft fällt oder es sich um nächtlichen Bereitschaftsdienst handelt, bei dem von vornherein von einer geringeren Arbeitsbelastung auszugehen ist (BAG, Urteil vom 23. August 2017 – 10 AZR 859/16 – Rn. 44, juris = NJW 2017, 3675). Ein höherer als der regelmäßige Zuschlag von 25 % ist zu gewähren, wenn die Belastung durch die Nachtarbeit unter qualitativen (Art der Tätigkeit) oder quantitativen (Umfang der Nachtarbeit) Aspekten die normalerweise mit der Nachtarbeit verbundene Belastung übersteigt, insbesondere bei einem dauerhaften Einsatz in der Nachtzeit, sog. Dauernachtarbeit. Bei der Erbringung der regulären Arbeitsleistung in Dauernachtarbeit ist deshalb regelmäßig ein Nachtarbeitszuschlag von 30 % auf den Bruttostundenlohn (bzw. die Gewährung einer entsprechenden Anzahl freier Tage) als angemessen anzusehen (BAG, Urteil vom 23. August 2017 – 10 AZR 859/16 – Rn. 50, juris = NJW 2017, 3675).
55
Die Tarifvertragsparteien des MTV durften unter Berücksichtigung ihrer Einschätzungsprärogative sowohl dem Grunde nach als auch in der festgelegten Bandbreite zwischen "Schichtarbeit während der Nachtzeit" und "Nachtarbeit außerhalb der Schichtarbeit" unterscheiden. Maßgeblich ist eine gebiets- und branchenbezogene Betrachtung, da der Tarifvertrag nicht nur für die Beklagte gilt.
56
Der Leistungszweck rechtfertigt es, Nachtarbeit innerhalb und außerhalb der Schichtarbeit unterschiedlich zu behandeln. Der Zuschlag hat ebenso wie die Gewährung bezahlter Freizeit den Zweck, die besonderen Belastungen der Nachtarbeit durch den erhöhten physischen und psychischen Kraftaufwand sowie die erschwerte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zumindest teilweise auszugleichen. Diese Belastungen können ein unterschiedliches Gewicht haben. Unabhängig von der individuellen körperlichen und seelischen Disposition und dem bevorzugten Freizeitverhalten richtet sich das Ausmaß der Belastung auch nach der Planbarkeit von Nachtarbeit. Je längerfristiger sich ein Arbeitnehmer auf die Arbeit zur Nachtzeit einrichten kann, desto eher ist es ihm möglich, die persönlichen Belange, z. B. die Betreuung von Kindern, die Teilnahme an sportlichen und kulturellen Veranstaltungen, gemeinsame Aktivitäten in der Familie oder im Freundeskreis etc., soweit wie möglich auf die weniger günstigen Arbeitszeiten abzustimmen. Nachtarbeit außerhalb eines Schichtsystems wird zwar nicht in jedem Fall kurzfristig angeordnet und muss nicht stets zur Folge haben, dass es für den Arbeitnehmer schwierig ist, private Belange hiermit in Einklang zu bringen. Dennoch ist der Planungszeitraum üblicherweise deutlich kürzer, als es bei einem Schichtplan der Fall ist. Unregelmäßige Nachtarbeit ist jedenfalls für den Arbeitnehmer deutlich schlechter planbar. Das gilt erst recht im Vergleich zu einem langfristig feststehenden Schichtplan, wie er beispielsweise bei der Beklagten besteht. Wenn auch nicht in allen Unternehmen der obst- und gemüseverarbeitenden Industrie Schichtpläne derart langfristig gelten, so ist der Einsatz nach einem Schichtplan für den Arbeitnehmer in der Regel besser planbar als eine Heranziehung zu Nachtarbeit außerhalb eines Schichtsystems. Es mag im Einzelfall Ausnahmen geben. Angesichts der zulässigen typisierenden Betrachtungsweise durften die Tarifvertragsparteien jedoch davon ausgehen, dass sich die Arbeitnehmer in dem einen Fall grundsätzlich besser auf die Arbeit zur Nachtzeit einstellen können als in dem anderen.
57
Ein weiterer Zweck des höheren Zuschlags bei Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit besteht darin, diese Art der Nachtarbeit deutlich zu verteuern und damit für den Arbeitgeber weniger attraktiv zu machen. Das ergibt sich insbesondere aus der Regelung in § 5 Abs. 3 Unterabs. 3 MTV, nach der bei Nachtarbeit außerhalb eines Zwei- bzw. Drei-Schicht-Wechsels ausnahmsweise keine Anrechnung des Nachtarbeitszuschlags auf andere Zuschläge stattfindet. Wenn sich schon Nachtarbeit im Rahmen eines Schichtsystems nicht vermeiden lässt, so soll jedenfalls jegliche weitere Nachtarbeit nach Möglichkeit vermieden und zurückgedrängt werden. Die Nachtarbeit im Bereich der obst- und gemüseverarbeitenden Industrie ist zwar nicht zum Schutz von Leib und Leben, wie beispielsweise im Rettungsdienst und im Krankenhaus, zwingend erforderlich, sondern folgt vorrangig wirtschaftlichen Erwägungen. Unzulässig ist die Nachtarbeit deshalb aber nicht. Den Tarifvertragsparteien erschien dieser Sachverhalt regelungsbedürftig, um die ökonomischen Interessen einerseits und den Schutz der Arbeitnehmer andererseits zu einem Ausgleich zu bringen. Die Tarifvertragsparteien haben Zuschlag- und Freizeitregelungen geschaffen, die zum einen besondere Belastungen ausgleichen sollen und zum anderen eine Steuerungsfunktion haben.
58
Die gesundheitlichen Gefahren, die mit Nachtarbeit verbunden sind, mögen bei Nachtarbeit innerhalb und außerhalb eines Schichtsystems vergleichbar sein. Diesen Gefahren kann nicht mit einem finanziellen Zuschlag entgegengewirkt werden, der je nach Höhe ggf. sogar noch einen finanziellen Anreiz zur Nachtarbeit bieten kann. Dem Schutz der Gesundheit dient vor allem ein entsprechender Freizeitausgleich, um ausreichend Zeit für die körperliche Erholung und die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben bereitzustellen. Vor allem aber sind die Schichtmodelle so zu gestalten und anzupassen, dass die mit Nachtarbeit verbundenen gesundheitlichen Belastungen so weit wie möglich gesenkt werden. Dies kann z. B. durch eine Verringerung der aufeinanderfolgenden Nachtschichten geschehen.
59
Die Tarifvertragsparteien des MTV haben den ihnen zustehenden Regelungsspielraum auch nicht dadurch überschritten, dass sie die vorhandenen Unterschiede durch die Spannbreite der Leistungen überproportional gewichtet haben, ohne hierfür einen sachlich vertretbaren Grund zu haben. Der Gleichheitsgrundsatz kann nicht nur dadurch verletzt sein, dass überhaupt eine Unterscheidung vorgenommen wurde. Stehen die jeweils gewährten Leistungen in einem auffälligen Missverhältnis zu den vorhandenen Unterschieden und dem Leistungszweck, kann sich daraus ebenfalls eine sachwidrige Ungleichbehandlung ergeben.
60
Bei einem Vergleich der für "Schichtarbeit während der Nachtzeit" gewährten Leistungen mit denen für "Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit" sind alle Vergünstigungen einzubeziehen, die demselben Leistungszweck dienen, also dem angemessenen Ausgleich für die Mehrbelastungen und der Verteuerung von Arbeit zur Nachtzeit. Arbeitnehmer in der Schichtarbeit erhalten für Arbeiten während der Nachtzeit nicht nur einen Zuschlag von 25 %, sondern zudem für je 25 geleistete Nachtschichten eine Freischicht (§ 4 Satz 1 MTV). Die Tarifvertragsparteien haben als Ausgleich für die Nachtarbeit eine Kombination aus Zuschlag und Freizeit gewählt. Rechnerisch ergibt sich danach ein Ausgleich in Höhe von 25 % + 4 % = 29 %. Die Freischicht ist an einen ständigen Einsatz im Drei-Schicht-Wechsel gebunden. Arbeitnehmer, die Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit leisten, kommen somit nicht in den Genuss einer Freischicht. Demgegenüber ist jedoch zu berücksichtigen, dass bei Nachtarbeit außerhalb des Schichtdienstes eine Sonderregelung für den Fall des Zusammentreffens mehrerer Zuschläge gilt. Nach § 5 Abs. 3 Unterabs. 3 MTV ist beim Zusammentreffen mehrerer Zuschläge nur der jeweils höhere zu zahlen. Ausgenommen davon ist der Zuschlag für Nachtarbeit außerhalb eines Zwei- bzw. Drei-Schicht-Wechsels. Dieser Zuschlag tritt jeweils zu den anderen Zuschlägen hinzu. Bei Mehrarbeit sowie Sonn- und Feiertagsarbeit kann sich daraus im Einzelfall ein Gesamtzuschlag von 75 %, 100 % bis hin zu maximal 210 % ergeben. Diese Additionsregel kann den Vorteil der zusätzlichen Freischichten bei Schicht-Nachtarbeit durchaus aufwiegen.
61
Ein im Vergleich zur Schicht-Nachtarbeit in etwa doppelt so hoher Zuschlag für sonstige Nachtarbeit erscheint im Hinblick auf die Einschätzungsprärogative der Tarifvertragsparteien noch sachlich vertretbar. Das gilt insbesondere unter Berücksichtigung des Ziels, sonstige Nachtarbeit außerhalb eines Schichtsystems zu verteuern und diese Form der Nachtarbeit dadurch nach Möglichkeit zu verhindern bzw. einzudämmen. Dieser Ansatz erweist sich in der Praxis als wirksam. Ein in etwa doppelt so hoher Zuschlag ist auch angesichts der zusätzlichen Erschwernisse durch unregelmäßige Nachtarbeit nicht unverhältnismäßig. Die Tarifvertragsparteien durften diese mit nochmals 25 % bewerten. Kurzfristige Umplanungen im persönlichen Bereich verursachen häufig einen erheblichen Zeitaufwand und können zusätzliche Kosten mit sich bringen. Das kann beispielsweise für die Organisation der Kinderbetreuung gelten oder vergebliche Aufwendungen für Freizeitaktivitäten. Solche zusätzlichen Belastungen werden bei typisierender Betrachtung durch den Zuschlag von 50 % jedenfalls nicht offensichtlich übermäßig entschädigt. Den Tarifvertragsparteien ist es aufgrund ihrer Sachnähe vorbehalten, diese Erschwernisse zu gewichten und zu bewerten. Die von Ihnen vorgenommene Bewertung widerspricht nicht den tatsächlichen Lebensverhältnissen. Die Tarifvertragsparteien haben die praktische Situation der Arbeitnehmer im Zusammenhang mit Nachtarbeit nicht falsch eingeschätzt und aufgrund dessen die Erschwernisse von Nachtarbeit außerhalb der Schichtarbeit fehlerhaft bewertet.
62
Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO, die Zulassung der Revision aus § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG.
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Tenor
1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Schwerin vom 05.12.2019 – 5 Ca 999/19 – wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
2. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über die Höhe des tarifvertraglichen Nachtarbeitszuschlags, insbesondere über die Rechtmäßigkeit der Differenzierung zwischen "Schichtarbeit während der Nachtzeit" und "Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit" im Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der obst- und gemüseverarbeitenden Industrie in Mecklenburg-Vorpommern vom 02.06.2009 (im Folgenden nur MTV).
2
Die Beklagte verarbeitet im Werk B-Stadt Kaffeebohnen zu frisch geröstetem und gemahlenem Kaffee, der sodann in Kaffeekapseln abgefüllt wird. Von den insgesamt rund 400 Arbeitnehmern sind etwa 300 Beschäftigte im vollkontinuierlichen Schichtbetrieb, also 7 Tage x 24 Stunden, nach einem starren, dauerhaften Schichtplan tätig. Schichtwechsel ist nach jeweils 6 Tagen. Es gibt 4 Schichtgruppen.
3
Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit der Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der obst- und gemüseverarbeitenden Industrie in Mecklenburg-Vorpommern vom 02.06.2009, abgeschlossen zwischen der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) und dem Arbeitgeberverband Nordernährung, in Kraft getreten zum 01.01.2009, Anwendung. Der MTV enthält folgende Bestimmungen:
4
"…
5
§ 4 Schichtfreizeit
6
Arbeitnehmer, die ständig im Drei-Schicht-Wechsel arbeiten, erhalten für je 25 geleistete Nachtschichten in diesem System eine Freischicht.
7
Arbeitnehmer, die im Zwei-Schicht-Wechsel arbeiten, erhalten nach diesem System für je 60 geleistete Spätschichten eine Freischicht.
8
Wechselschichtarbeit liegt vor, wenn ein regelmäßiger Wechsel des Schichtbeginns und damit der zeitlichen Lage der Schicht erfolgt und die Spätschicht mindestens bis 22 Uhr dauert.
9
§ 5 Mehr-, Nacht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit
10
(1) Begriffsbestimmung
11
Zuschlagspflichtige Mehrarbeit ist die über die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit … hinausgehende Arbeitszeit.
12
…
13
Nachtarbeit ist die in der Zeit von 22 Uhr bis 6 Uhr geleistete Arbeit.
14
…
15
(2) Zuschläge
16
Für Mehr-, Nacht-, Schichtarbeit sowie Sonn- und Feiertagsarbeit sind folgende Zuschläge zu zahlen:
17
- Mehrarbeit (§ 5 Abs. 1 MTV)
25 %
- Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit
50 %
- Schichtarbeit während der Nachtzeit (22 Uhr – 6 Uhr)
25 %
- Sonntagsarbeit
50 %
- Arbeit an gesetzlichen Feiertagen
160 %
18
(3) Berechnung der Zuschläge
19
…
20
Beim Zusammentreffen mehrerer Zuschläge ist nur der jeweils höhere zu zahlen. Hiervon ausgenommen ist der Zuschlag für Nachtarbeit außerhalb eines Zwei- bzw. Drei-Schicht-Wechsels, dieser tritt jeweils zu den anderen Zuschlägen hinzu.
21
…"
22
Im Jahr 2018 leisteten die 293 Schichtarbeitnehmer der Beklagten insgesamt 99.374 Stunden "Schichtarbeit während der Nachtzeit", während "Nachtarbeit außerhalb der Schichtarbeit" einen Umfang von 120 Stunden erreichte, verteilt auf 32 Arbeitnehmer. "Nachtarbeit außerhalb der Schichtarbeit" betrifft bei der Beklagten im Wesentlichen Automatisierer, die während der Rufbereitschaft Störungen beheben.
23
Die Klägerin ist im Wechselschichtdienst tätig. Im Zeitraum November 2018 bis Mai 2019 leistete sie insgesamt 288,08 Stunden Nachtarbeit im Sinne des § 5 Abs. 1 Unterabs. 3 MTV, d. h. von 22:00 Uhr bis 6:00 Uhr, für die sie einen Zuschlag von 25 % erhielt. Ihr Stundenlohn betrug € 13,85 brutto bei einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 39 Stunden.
24
Die Klägerin hat erstinstanzlich die Ansicht vertreten, dass die unterschiedlichen Sätze für "Schichtarbeit während der Nachtzeit" und "Nachtarbeit außerhalb der Schichtarbeit" nicht mit dem Gleichheitssatz vereinbar seien. Für eine solche Differenzierung gebe es keinen sachlichen Grund, wie sich dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 21. März 2018 – 10 AZR 34/17 – entnehmen lasse. Arbeit zur Nachtzeit sei unabhängig davon, ob diese innerhalb oder außerhalb von Schichten geleistet werde, für jeden Menschen schädlich und wirke sich negativ auf seine Gesundheit aus. Die frühere Annahme, der Mensch könne sich mit der Zeit an Nachtarbeit gewöhnen, sei überholt. Die biologische Uhr, die sich an den Lichtverhältnissen orientiere, lasse sich nicht umstellen. Darüber hinaus erschwere Nachtarbeit die Teilhabe am sozialen Leben, das üblicherweise in der Feierabendzeit bzw. am Wochenende stattfinde. Nachtarbeit führe sowohl zu einer biologischen als auch zu einer sozialen Desynchronisation. Eine möglicherweise vorhandene Planbarkeit der Nachtarbeit im Schichtdienst ändere daran nichts. Die Belastung und der Kompensationsbedarf sei in beiden Fällen gleich. Zudem sei es nicht zwingend, dass Nachtarbeit außerhalb des Schichtdienstes stets kurzfristig angeordnet werde. Unterschiedliche Zuschlagshöhen seien deshalb grundsätzlich nicht gerechtfertigt. Die Schichtfreizeit nach 25 Nachtschichten (§ 4 Satz 1 MTV) gleiche die 25-prozentige Differenz zwischen den beiden Nachtarbeitszuschlägen nicht aus.
25
Dementsprechend stehe der Klägerin im Ergebnis ein Zuschlag für Nachtarbeit in der Zeit von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr in Höhe von 50 % zu, also ein Zahlungsanspruch von weiteren 25 % auf die geleisteten Nachtarbeitsstunden. Auf andere Art und Weise als durch eine Anpassung nach oben sei der Verstoß gegen den Gleichheitssatz nicht auszugleichen.
26
Die Klägerin hat erstinstanzlich beantragt,
27
1. die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin weitere Nachtarbeitszuschläge für den Zeitraum November 2018 bis Mai 2019 in Höhe von € 997,48 brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.06.2019 zu zahlen, und
28
2. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin Nachtarbeitszuschläge nach dem Manteltarifvertrag für die obst- und gemüseverarbeitende Industrie in Mecklenburg-Vorpommern in der Fassung vom 02.06.2009 für "Schichtarbeit während der Nachtzeit" von 22:00 Uhr bis 6:00 Uhr in gleicher Höhe zu gewähren wie für "Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit" im Sinne von § 5 Abs. 2 des Manteltarifvertrages.
29
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Zunächst sei zu berücksichtigen, dass den Tarifvertragsparteien bei der Regelung der Arbeitsbedingungen eine sogenannte Einschätzungsprärogative zustehe. Den Tarifvertragsparteien stehe es frei einzuschätzen, für welche Belastungen in welcher Höhe ein Ausgleich erfolgen solle. Von den Arbeitsgerichten sei nicht zu prüfen, ob dies die zweckmäßigste, vernünftigste und gerechteste Lösung sei. Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 21.03.2018 – 10 AZR 34/17 – zu einem Tarifvertrag der nordrheinischen Textilindustrie lasse sich auf den Manteltarifvertrag der obst- und gemüseverarbeitende Industrie nicht übertragen. Die Spannbreite zwischen den jeweiligen Zusatzleistungen für Nachtarbeit sei im MTV deutlich geringer als in dem Tarifvertrag, über den das Bundesarbeitsgericht entschieden habe. Bei der Gegenüberstellung der unterschiedlichen Prozentsätze sei zudem zu berücksichtigen, dass es bei Schichtarbeit während der Nachtzeit eine Freischicht je 25 geleisteter Nachtschichten gebe. Das entspreche einem Wert von 4 % in Form von Freizeit. Die Differenzierung zwischen "Schichtarbeit während der Nachtzeit" und „Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit" sei sachlich gerechtfertigt. Der höhere Zuschlag für unregelmäßige Nachtarbeit solle insbesondere die Einbuße der Dispositionsmöglichkeit über die Freizeit ausgleichen und zugleich den Arbeitgeber vor Eingriffen in den geschützten Freizeitbereich abhalten. Ein Arbeitnehmer, der regelmäßig Nachtarbeit leiste, könne sich besser hierauf einstellen als ein Arbeitnehmer, der kurzfristig zu Nachtarbeiten herangezogen werde. Im Falle der kurzfristigen Heranziehung zu Nachtarbeiten handele es sich zudem regelmäßig um Mehrarbeit. Selbst wenn die Differenzierung gleichheitswidrig wäre, könne dies nicht zu einer Anpassung an den höheren Prozentsatz führen. Es sei nicht anzunehmen, dass die Tarifvertragsparteien diese Lücke durch einen Rückgriff auf den höheren Wert geschlossen hätten, da ein Zuschlag von 50 % gerade nicht der Regelsatz sei. Vielmehr sei Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit in der betrieblichen Realität die absolute Ausnahme, da diese bei der Beklagten nur einen Anteil von etwa 0,1 % habe. Eine Anhebung des Zuschlags bei Schichtarbeit während der Nachtzeit auf 50 % würde diese Arbeitnehmer sogar besserstellen gegenüber den unregelmäßig in der Nacht tätigen Arbeitnehmern, da letzteren keine Schichtfreizeit zustehe.
30
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, dass unter Berücksichtigung der Einschätzungsprärogative der Tarifvertragsparteien ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz nicht vorliege. Der Nachtzuschlag dürfe bei Schichtarbeit niedriger bemessen werden als bei Arbeitsleistungen außerhalb des Schichtsystems. Ungeplante Nachtarbeit erschwere die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben stärker als bei einem längerfristig geplanten Einsatz. Ausgehend von dem 25-prozentigen Zuschlag bei Schichtarbeit sei jedenfalls eine Differenz zulässig, die weniger als das Doppelte betrage. Da der in Freizeit gewährte Ausgleich einzurechnen sei, werde diese Grenze nicht überschritten.
31
Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer fristgerecht eingelegten und begründeten Berufung. Entgegen der Auffassung des Arbeitsgerichts sei die Differenz der Zuschlaghöhe zwischen Schichtarbeit während der Nachtzeit und sonstiger Nachtarbeit eben nicht so geringfügig, dass sie sich noch im Rahmen des Gestaltungsspielraums der Tarifvertragsparteien halte. Das Arbeitsgericht habe zudem die Ziele der Richtlinie 2003/88/EG nicht berücksichtigt.
32
Die Klägerin beantragt,
33
das Urteil des Arbeitsgerichts Schwerin vom 05.12.2019 – 5 Ca 999/19 – abzuändern und
34
1. die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin weitere Nachtarbeitszuschläge für den Zeitraum November 2018 bis Mai 2019 in Höhe von € 997,48 brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.06.2019 zu zahlen, und
35
2. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin Nachtarbeitszuschläge nach dem Manteltarifvertrag für die obst- und gemüseverarbeitende Industrie in Mecklenburg-Vorpommern in der Fassung vom 02.06.2009 für "Schichtarbeit während der Nachtzeit" von 22:00 Uhr bis 6:00 Uhr in gleicher Höhe zu gewähren wie für "Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit" im Sinne von § 5 Abs. 2 des Manteltarifvertrages.
36
Die Beklagte beantragt,
37
die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.
38
Sie verteidigt die Entscheidung des Arbeitsgerichts. Sinn und Zweck der Zahlung von Zuschlägen für Nachtarbeit sei nicht nur der Ausgleich gesundheitlicher Belastungen, was ohnehin nur mittelbar möglich sei. Vielmehr diene der Zuschlag einem Ausgleich von Einschränkungen bei der Freizeitgestaltung. Zudem gehe es darum, die unregelmäßige Nachtarbeit zu verteuern, um einen Rückgriff hierauf für den Arbeitgeber unattraktiv zu machen. Der geringe Umfang an unregelmäßiger Nachtarbeit zeige, dass dieser Zweck in der Praxis erreicht werde, was nicht zuletzt dem gesundheitlichen Schutz der Beschäftigten diene.
39
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen, die Sitzungsprotokolle sowie das angegriffene arbeitsgerichtliche Urteil verwiesen.
Entscheidungsgründe
40
Die Berufung der Klägerin ist zwar zulässig, aber nicht begründet. Das Arbeitsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen.
41
Die Klägerin hat keinen Anspruch aus § 5 Abs. 2 MTV auf Zahlung eines Zuschlags in Höhe von 50 % für die im Zeitraum November 2018 bis Mai 2019 geleistete Nachtarbeit im Sinne des MTV (22:00 Uhr bis 6:00 Uhr) und auf Nachzahlung der entsprechenden Differenzbeträge. Die Beklagte ist nicht verpflichtet, der Klägerin gemäß § 5 Abs. 2 MTV Nachtarbeitszuschläge für "Schichtarbeit während der Nachtzeit" in derselben Höhe zu zahlen wie bei "Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit".
42
Die Klägerin leistet keine "Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit" im Sinne des § 5 Abs. 2 Gliederungspunkt 2 MTV. Sie arbeitet im Drei-Schicht-Wechsel und ist dementsprechend regelmäßig auch nachts tätig. Es handelt sich um "Schichtarbeit während der Nachtzeit". Die Nachtzeit im Sinne des § 5 Abs. 2 MTV ist – abweichend von der Definition des § 2 Abs. 3 ArbZG – die Zeit von 22:00 Uhr bis 6:00 Uhr. Die tarifliche Nachtzeit ist danach 1 Stunde länger als die gesetzliche.
43
Ein Anspruch ergibt sich auch nicht aus einer gleichheitswidrigen Schlechterstellung gegenüber denjenigen Arbeitnehmern, die Nachtarbeit außerhalb des Schichtsystems leisten. Die Differenzierung zwischen "Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit" einerseits und "Schichtarbeit während der Nachtzeit" andererseits verstößt nicht gegen höherrangiges Recht. Der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG ist nicht verletzt.
44
Die Tarifvertragsparteien als Normgeber sind bei der tariflichen Normsetzung zwar nicht unmittelbar, jedoch mittelbar grundrechtsgebunden. Der Schutzauftrag des Art. 1 Abs. 3 GG verpflichtet die staatlichen Arbeitsgerichte dazu, die Grundrechtsausübung durch die Tarifvertragsparteien zu beschränken, wenn diese mit den Freiheits- oder Gleichheitsrechten oder anderen Rechten mit Verfassungsrang der Normunterworfenen kollidiert. Sie müssen insoweit praktische Konkordanz herstellen. Der Schutzauftrag der Verfassung verpflichtet die Arbeitsgerichte auch dazu, gleichheitswidrige Differenzierungen in Tarifnormen zu unterbinden. Der Gleichheitssatz bildet als fundamentale Gerechtigkeitsnorm eine ungeschriebene Grenze der Tarifautonomie. Tarifnormen sind deshalb im Ausgangspunkt uneingeschränkt auch am Gleichheitssatz zu messen (BAG, Urteil vom 27. Mai 2020 – 5 AZR 258/19 – Rn. 37, juris = ZTR 2020, 534; BAG, Urteil vom 19. Dezember 2019 – 6 AZR 563/18 – Rn. 21 und 25, juris = NZA 2020, 734).
45
Bei der Erfüllung ihres verfassungsrechtlichen Schutzauftrags haben die Gerichte jedoch auch in den Blick zu nehmen, dass eine besondere Form der Grundrechtskollision bewältigt und die durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistete kollektive Koalitionsfreiheit mit den betroffenen Individualgrundrechten in einen angemessenen Ausgleich gebracht werden muss. Bei der Prüfung, ob Tarifnormen Grundrechte oder andere Rechte der Arbeitnehmer mit Verfassungsrang verletzen, müssen die Gerichte nicht nur die besondere Sachnähe der Tarifvertragsparteien, sondern außerdem beachten, dass sich die Arbeitnehmer im Regelfall durch den Beitritt zu ihrer Koalition oder durch die vertragliche Bezugnahme auf einen Tarifvertrag, die die Tarifnormen zum Vertragsinhalt macht, bewusst und freiwillig der Regelungsmacht der Tarifvertragsparteien auch für die Zukunft unterworfen haben. Die Tarifvertragsparteien haben bei der tariflichen Normsetzung u. a. den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG und die Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 GG zu beachten. Doch steht ihnen als selbständigen Grundrechtsträgern bei ihrer Normsetzung aufgrund der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie ein weiter Gestaltungsspielraum zu, über den Arbeitsvertrags- und Betriebsparteien nicht in gleichem Maß verfügen. Ihnen kommt eine Einschätzungsprärogative zu, soweit die tatsächlichen Gegebenheiten, die betroffenen Interessen und die Regelungsfolgen zu beurteilen sind. Sie verfügen über einen Beurteilungs- und Ermessensspielraum hinsichtlich der inhaltlichen Gestaltung der Regelung und sind nicht verpflichtet, die jeweils zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung zu wählen. Es genügt, wenn für die getroffene Regelung ein sachlich vertretbarer Grund vorliegt (BAG, Urteil vom 27. Mai 2020 – 5 AZR 258/19 – Rn. 38, juris = ZTR 2020, 534; BAG, Urteil vom 19. Dezember 2019 – 6 AZR 563/18 – Rn. 26, juris = NZA 2020, 734).
46
Ob, in welchem Umfang und in welcher Weise besondere Belastungen bestimmter Beschäftigtengruppen kompensiert werden sollen, unterliegt der Einschätzungsprärogative der Tarifvertragsparteien (BAG, Urteil vom 19. Dezember 2019 – 6 AZR 563/18 – Rn. 34, juris = NZA 2020, 734). Legen sie die Voraussetzungen für die Zahlung einer Zulage fest, steht es ihnen grundsätzlich frei, typisierend zu bestimmen, welche Erschwernisse sie in welcher Weise ausgleichen wollen (BAG, Urteil vom 17. Dezember 2015 – 6 AZR 768/14 – Rn. 16, juris = ZTR 2016, 197).
47
Eine Tarifnorm verletzt den Allgemeinen Gleichheitssatz, wenn die Tarifvertragsparteien es versäumt haben, tatsächliche Gleichheiten oder Ungleichheiten der zu ordnenden Lebensverhältnisse zu berücksichtigen, die so bedeutsam sind, dass sie bei einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise beachtet werden müssen. Die Tarifvertragsparteien dürfen jedoch im Interesse der Praktikabilität, der Verständlichkeit und der Übersichtlichkeit auch typisierende Regelungen treffen. Bei der Überprüfung von Tarifverträgen anhand des Allgemeinen Gleichheitssatzes ist deshalb nicht auf die Einzelfallgerechtigkeit abzustellen, sondern auf die generellen Auswirkungen der Regelungen. Die aus dem Gleichheitssatz folgenden Grenzen sind dann überschritten, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie eine Ungleichbehandlung rechtfertigen können (BAG, Urteil vom 12. November 2013 – 3 AZR 92/12 – Rn. 55, juris = NZA-RR 2014, 315; BAG, Urteil vom 21. August 2012 – 3 AZR 281/10 – Rn. 21, juris; BAG, Urteil vom 22. Dezember 2009 – 3 AZR 895/07 – Rn. 25, juris = NZA 2010, 521).
48
Die Prüfung der sachlichen Rechtfertigung der unterschiedlichen Behandlung hat sich am Zweck der Leistung zu orientieren (BAG, Urteil vom 23. März 2017 – 6 AZR 161/16 – Rn. 55, juris = ZTR 2017, 470). Die Tarifvertragsparteien sind grundsätzlich darin frei, in Ausübung ihrer durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten autonomen Regelungsmacht den Zweck einer tariflichen Leistung zu bestimmen. Dieser ist der von den Tarifvertragsparteien vorgenommenen ausdrücklichen Zweckbestimmung der Leistung zu entnehmen oder im Wege der Auslegung der Tarifnorm anhand von Anspruchsvoraussetzungen, Ausschließungs- und Kürzungsregelungen zu ermitteln (BAG, Urteil vom 28. Mai 2013 – 3 AZR 266/11 – Rn. 38, juris; BAG, Urteil vom 11. Dezember 2012 – 3 AZR 588/10 – Rn. 27, juris = NZA 2013, 572; BAG, Urteil vom 04. Mai 2010 – 9 AZR 181/09 – Rn. 29, juris = ZTR 2010, 583).
49
Zweck der zusätzlichen Leistungen, die an Nachtarbeit anknüpfen, ist es zum einen, die hiermit verbundenen besonderen Belastungen auszugleichen, und zum anderen, Nachtarbeit nach Möglichkeit einzudämmen.
50
Nach § 6 Abs. 5 ArbZG hat der Arbeitgeber, soweit keine tarifvertraglichen Ausgleichsregelungen bestehen, dem Nachtarbeitnehmer für die während der Nachtzeit geleisteten Arbeitsstunden eine angemessene Zahl bezahlter freier Tage oder einen angemessenen Zuschlag auf das ihm hierfür zustehende Bruttoarbeitsentgelt zu gewähren. Nachtzeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes ist die Zeit von 23:00 Uhr bis 6:00 Uhr, in Bäckereien und Konditoreien die Zeit von 22:00 Uhr bis 5:00 Uhr (§ 2 Abs. 3 ArbZG). Nachtarbeitnehmer im Sinne des Arbeitszeitgesetzes sind Arbeitnehmer, die aufgrund ihrer Arbeitszeitgestaltung normalerweise Nachtarbeit in Wechselschicht zu leisten haben oder Nachtarbeit an mindestens 48 Tagen im Kalenderjahr leisten (§ 2 Abs. 5 ArbZG).
51
Lange Nachtarbeitszeiträume sind für die Gesundheit der Arbeitnehmer nachteilig und können ihre Sicherheit bei der Arbeit beeinträchtigen; infolgedessen ist die Dauer der Nachtarbeit, auch in Bezug auf die Mehrarbeit, einzuschränken und vorzusehen, dass der Arbeitgeber im Fall regelmäßiger Inanspruchnahme von Nachtarbeitern die zuständigen Behörden auf Ersuchen davon in Kenntnis setzt (Erwägungsgründe 7 und 8 zur Richtlinie 2003/88/EG vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung).
52
Nachtarbeit ist grundsätzlich für jeden Menschen schädlich und mit negativen gesundheitlichen Auswirkungen verbunden (BVerfG, Urteil vom 28. Januar 1992 – 1 BvR 1025/82 u. a. – Rn. 56, juris = NZA 1992, 270). Die Belastung und Beanspruchung der Beschäftigten steigt nach dem bisherigen Kenntnisstand in der Arbeitsmedizin durch die Anzahl der Nächte pro Monat und die Anzahl der Nächte hintereinander, in denen Nachtarbeit geleistet wird. Insgesamt ist anerkannt, dass Nachtarbeit umso schädlicher ist, in umso größerem Umfang sie geleistet wird (BAG, Urteil vom 21. März 2018 – 10 AZR 34/17 – Rn. 49, juris = NZA 2019, 622; BAG, Urteil vom 09. Dezember 2015 – 10 AZR 423/14 – Rn. 17, juris = NZA 2016, 426).
53
Die Verteuerung der Nachtarbeit durch Zuschlagsregelungen wirkt sich zwar nicht unmittelbar, aber zumindest mittelbar auf die Gesundheit der Nachtarbeit leistenden Arbeitnehmer aus. Zugleich entschädigt der Zuschlag in gewissem Umfang für die erschwerte Teilhabe am sozialen Leben (BAG, Urteil vom 21. März 2018 – 10 AZR 34/17 – Rn. 49, juris = NZA 2019, 622; BAG, Urteil vom 23. August 2017 – 10 AZR 859/16 – Rn. 43, juris = NJW 2017, 3675).
54
Angemessen ist der nach § 6 Abs. 5 ArbZG zu gewährende Zuschlag für Nachtarbeit regelmäßig, wenn er eine Höhe von 25 % erreicht, sei es als Zuschlag zum Bruttostundenlohn oder in Form einer entsprechenden Anzahl von bezahlten freien Tagen (BAG, Urteil vom 13. Dezember 2018 – 6 AZR 549/17 – Rn. 28, juris = NZA 2019, 935; BAG, Urteil vom 25. April 2018 – 5 AZR 25/17 – Rn. 43, juris = NZA 2018, 1145). Ein geringerer als der regelmäßige Zuschlag von 25 % auf das dem Arbeitnehmer zustehende Bruttoarbeitsentgelt kann nach § 6 Abs. 5 ArbZG nur ausreichend sein, wenn die Belastung durch die geleistete Nachtarbeit im Vergleich zum Üblichen geringer ist, weil z. B. in diese Zeit in nicht unerheblichem Umfang Arbeitsbereitschaft fällt oder es sich um nächtlichen Bereitschaftsdienst handelt, bei dem von vornherein von einer geringeren Arbeitsbelastung auszugehen ist (BAG, Urteil vom 23. August 2017 – 10 AZR 859/16 – Rn. 44, juris = NJW 2017, 3675). Ein höherer als der regelmäßige Zuschlag von 25 % ist zu gewähren, wenn die Belastung durch die Nachtarbeit unter qualitativen (Art der Tätigkeit) oder quantitativen (Umfang der Nachtarbeit) Aspekten die normalerweise mit der Nachtarbeit verbundene Belastung übersteigt, insbesondere bei einem dauerhaften Einsatz in der Nachtzeit, sog. Dauernachtarbeit. Bei der Erbringung der regulären Arbeitsleistung in Dauernachtarbeit ist deshalb regelmäßig ein Nachtarbeitszuschlag von 30 % auf den Bruttostundenlohn (bzw. die Gewährung einer entsprechenden Anzahl freier Tage) als angemessen anzusehen (BAG, Urteil vom 23. August 2017 – 10 AZR 859/16 – Rn. 50, juris = NJW 2017, 3675).
55
Die Tarifvertragsparteien des MTV durften unter Berücksichtigung ihrer Einschätzungsprärogative sowohl dem Grunde nach als auch in der festgelegten Bandbreite zwischen "Schichtarbeit während der Nachtzeit" und "Nachtarbeit außerhalb der Schichtarbeit" unterscheiden. Maßgeblich ist eine gebiets- und branchenbezogene Betrachtung, da der Tarifvertrag nicht nur für die Beklagte gilt.
56
Der Leistungszweck rechtfertigt es, Nachtarbeit innerhalb und außerhalb der Schichtarbeit unterschiedlich zu behandeln. Der Zuschlag hat ebenso wie die Gewährung bezahlter Freizeit den Zweck, die besonderen Belastungen der Nachtarbeit durch den erhöhten physischen und psychischen Kraftaufwand sowie die erschwerte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zumindest teilweise auszugleichen. Diese Belastungen können ein unterschiedliches Gewicht haben. Unabhängig von der individuellen körperlichen und seelischen Disposition und dem bevorzugten Freizeitverhalten richtet sich das Ausmaß der Belastung auch nach der Planbarkeit von Nachtarbeit. Je längerfristiger sich ein Arbeitnehmer auf die Arbeit zur Nachtzeit einrichten kann, desto eher ist es ihm möglich, die persönlichen Belange, z. B. die Betreuung von Kindern, die Teilnahme an sportlichen und kulturellen Veranstaltungen, gemeinsame Aktivitäten in der Familie oder im Freundeskreis etc., soweit wie möglich auf die weniger günstigen Arbeitszeiten abzustimmen. Nachtarbeit außerhalb eines Schichtsystems wird zwar nicht in jedem Fall kurzfristig angeordnet und muss nicht stets zur Folge haben, dass es für den Arbeitnehmer schwierig ist, private Belange hiermit in Einklang zu bringen. Dennoch ist der Planungszeitraum üblicherweise deutlich kürzer, als es bei einem Schichtplan der Fall ist. Unregelmäßige Nachtarbeit ist jedenfalls für den Arbeitnehmer deutlich schlechter planbar. Das gilt erst recht im Vergleich zu einem langfristig feststehenden Schichtplan, wie er beispielsweise bei der Beklagten besteht. Wenn auch nicht in allen Unternehmen der obst- und gemüseverarbeitenden Industrie Schichtpläne derart langfristig gelten, so ist der Einsatz nach einem Schichtplan für den Arbeitnehmer in der Regel besser planbar als eine Heranziehung zu Nachtarbeit außerhalb eines Schichtsystems. Es mag im Einzelfall Ausnahmen geben. Angesichts der zulässigen typisierenden Betrachtungsweise durften die Tarifvertragsparteien jedoch davon ausgehen, dass sich die Arbeitnehmer in dem einen Fall grundsätzlich besser auf die Arbeit zur Nachtzeit einstellen können als in dem anderen.
57
Ein weiterer Zweck des höheren Zuschlags bei Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit besteht darin, diese Art der Nachtarbeit deutlich zu verteuern und damit für den Arbeitgeber weniger attraktiv zu machen. Das ergibt sich insbesondere aus der Regelung in § 5 Abs. 3 Unterabs. 3 MTV, nach der bei Nachtarbeit außerhalb eines Zwei- bzw. Drei-Schicht-Wechsels ausnahmsweise keine Anrechnung des Nachtarbeitszuschlags auf andere Zuschläge stattfindet. Wenn sich schon Nachtarbeit im Rahmen eines Schichtsystems nicht vermeiden lässt, so soll jedenfalls jegliche weitere Nachtarbeit nach Möglichkeit vermieden und zurückgedrängt werden. Die Nachtarbeit im Bereich der obst- und gemüseverarbeitenden Industrie ist zwar nicht zum Schutz von Leib und Leben, wie beispielsweise im Rettungsdienst und im Krankenhaus, zwingend erforderlich, sondern folgt vorrangig wirtschaftlichen Erwägungen. Unzulässig ist die Nachtarbeit deshalb aber nicht. Den Tarifvertragsparteien erschien dieser Sachverhalt regelungsbedürftig, um die ökonomischen Interessen einerseits und den Schutz der Arbeitnehmer andererseits zu einem Ausgleich zu bringen. Die Tarifvertragsparteien haben Zuschlag- und Freizeitregelungen geschaffen, die zum einen besondere Belastungen ausgleichen sollen und zum anderen eine Steuerungsfunktion haben.
58
Die gesundheitlichen Gefahren, die mit Nachtarbeit verbunden sind, mögen bei Nachtarbeit innerhalb und außerhalb eines Schichtsystems vergleichbar sein. Diesen Gefahren kann nicht mit einem finanziellen Zuschlag entgegengewirkt werden, der je nach Höhe ggf. sogar noch einen finanziellen Anreiz zur Nachtarbeit bieten kann. Dem Schutz der Gesundheit dient vor allem ein entsprechender Freizeitausgleich, um ausreichend Zeit für die körperliche Erholung und die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben bereitzustellen. Vor allem aber sind die Schichtmodelle so zu gestalten und anzupassen, dass die mit Nachtarbeit verbundenen gesundheitlichen Belastungen so weit wie möglich gesenkt werden. Dies kann z. B. durch eine Verringerung der aufeinanderfolgenden Nachtschichten geschehen.
59
Die Tarifvertragsparteien des MTV haben den ihnen zustehenden Regelungsspielraum auch nicht dadurch überschritten, dass sie die vorhandenen Unterschiede durch die Spannbreite der Leistungen überproportional gewichtet haben, ohne hierfür einen sachlich vertretbaren Grund zu haben. Der Gleichheitsgrundsatz kann nicht nur dadurch verletzt sein, dass überhaupt eine Unterscheidung vorgenommen wurde. Stehen die jeweils gewährten Leistungen in einem auffälligen Missverhältnis zu den vorhandenen Unterschieden und dem Leistungszweck, kann sich daraus ebenfalls eine sachwidrige Ungleichbehandlung ergeben.
60
Bei einem Vergleich der für "Schichtarbeit während der Nachtzeit" gewährten Leistungen mit denen für "Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit" sind alle Vergünstigungen einzubeziehen, die demselben Leistungszweck dienen, also dem angemessenen Ausgleich für die Mehrbelastungen und der Verteuerung von Arbeit zur Nachtzeit. Arbeitnehmer in der Schichtarbeit erhalten für Arbeiten während der Nachtzeit nicht nur einen Zuschlag von 25 %, sondern zudem für je 25 geleistete Nachtschichten eine Freischicht (§ 4 Satz 1 MTV). Die Tarifvertragsparteien haben als Ausgleich für die Nachtarbeit eine Kombination aus Zuschlag und Freizeit gewählt. Rechnerisch ergibt sich danach ein Ausgleich in Höhe von 25 % + 4 % = 29 %. Die Freischicht ist an einen ständigen Einsatz im Drei-Schicht-Wechsel gebunden. Arbeitnehmer, die Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit leisten, kommen somit nicht in den Genuss einer Freischicht. Demgegenüber ist jedoch zu berücksichtigen, dass bei Nachtarbeit außerhalb des Schichtdienstes eine Sonderregelung für den Fall des Zusammentreffens mehrerer Zuschläge gilt. Nach § 5 Abs. 3 Unterabs. 3 MTV ist beim Zusammentreffen mehrerer Zuschläge nur der jeweils höhere zu zahlen. Ausgenommen davon ist der Zuschlag für Nachtarbeit außerhalb eines Zwei- bzw. Drei-Schicht-Wechsels. Dieser Zuschlag tritt jeweils zu den anderen Zuschlägen hinzu. Bei Mehrarbeit sowie Sonn- und Feiertagsarbeit kann sich daraus im Einzelfall ein Gesamtzuschlag von 75 %, 100 % bis hin zu maximal 210 % ergeben. Diese Additionsregel kann den Vorteil der zusätzlichen Freischichten bei Schicht-Nachtarbeit durchaus aufwiegen.
61
Ein im Vergleich zur Schicht-Nachtarbeit in etwa doppelt so hoher Zuschlag für sonstige Nachtarbeit erscheint im Hinblick auf die Einschätzungsprärogative der Tarifvertragsparteien noch sachlich vertretbar. Das gilt insbesondere unter Berücksichtigung des Ziels, sonstige Nachtarbeit außerhalb eines Schichtsystems zu verteuern und diese Form der Nachtarbeit dadurch nach Möglichkeit zu verhindern bzw. einzudämmen. Dieser Ansatz erweist sich in der Praxis als wirksam. Ein in etwa doppelt so hoher Zuschlag ist auch angesichts der zusätzlichen Erschwernisse durch unregelmäßige Nachtarbeit nicht unverhältnismäßig. Die Tarifvertragsparteien durften diese mit nochmals 25 % bewerten. Kurzfristige Umplanungen im persönlichen Bereich verursachen häufig einen erheblichen Zeitaufwand und können zusätzliche Kosten mit sich bringen. Das kann beispielsweise für die Organisation der Kinderbetreuung gelten oder vergebliche Aufwendungen für Freizeitaktivitäten. Solche zusätzlichen Belastungen werden bei typisierender Betrachtung durch den Zuschlag von 50 % jedenfalls nicht offensichtlich übermäßig entschädigt. Den Tarifvertragsparteien ist es aufgrund ihrer Sachnähe vorbehalten, diese Erschwernisse zu gewichten und zu bewerten. Die von Ihnen vorgenommene Bewertung widerspricht nicht den tatsächlichen Lebensverhältnissen. Die Tarifvertragsparteien haben die praktische Situation der Arbeitnehmer im Zusammenhang mit Nachtarbeit nicht falsch eingeschätzt und aufgrund dessen die Erschwernisse von Nachtarbeit außerhalb der Schichtarbeit fehlerhaft bewertet.
62
Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO, die Zulassung der Revision aus § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG.
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Tenor
1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Schwerin vom 05.12.2019 – 5 Ca 969/19 – wird auf seine Kosten zurückgewiesen.
2. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über die Höhe des tarifvertraglichen Nachtarbeitszuschlags, insbesondere über die Rechtmäßigkeit der Differenzierung zwischen "Schichtarbeit während der Nachtzeit" und "Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit" im Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der obst- und gemüseverarbeitenden Industrie in Mecklenburg-Vorpommern vom 02.06.2009 (im Folgenden nur MTV).
2
Die Beklagte verarbeitet im Werk A-Stadt Kaffeebohnen zu frisch geröstetem und gemahlenem Kaffee, der sodann in Kaffeekapseln abgefüllt wird. Von den insgesamt rund 400 Arbeitnehmern sind etwa 300 Beschäftigte im vollkontinuierlichen Schichtbetrieb, also 7 Tage x 24 Stunden, nach einem starren, dauerhaften Schichtplan tätig. Schichtwechsel ist nach jeweils 6 Tagen. Es gibt 4 Schichtgruppen.
3
Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit der Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der obst- und gemüseverarbeitenden Industrie in Mecklenburg-Vorpommern vom 02.06.2009, abgeschlossen zwischen der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) und dem Arbeitgeberverband Nordernährung, in Kraft getreten zum 01.01.2009, Anwendung. Der MTV enthält folgende Bestimmungen:
4
"…
5
§ 4 Schichtfreizeit
6
Arbeitnehmer, die ständig im Drei-Schicht-Wechsel arbeiten, erhalten für je 25 geleistete Nachtschichten in diesem System eine Freischicht.
7
Arbeitnehmer, die im Zwei-Schicht-Wechsel arbeiten, erhalten nach diesem System für je 60 geleistete Spätschichten eine Freischicht.
8
Wechselschichtarbeit liegt vor, wenn ein regelmäßiger Wechsel des Schichtbeginns und damit der zeitlichen Lage der Schicht erfolgt und die Spätschicht mindestens bis 22 Uhr dauert.
9
§ 5 Mehr-, Nacht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit
10
(1) Begriffsbestimmung
11
Zuschlagspflichtige Mehrarbeit ist die über die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit … hinausgehende Arbeitszeit.
12
…
13
Nachtarbeit ist die in der Zeit von 22 Uhr bis 6 Uhr geleistete Arbeit.
14
…
15
(2) Zuschläge
16
Für Mehr-, Nacht-, Schichtarbeit sowie Sonn- und Feiertagsarbeit sind folgende Zuschläge zu zahlen:
17
-Mehrarbeit (§ 5 Abs. 1 MTV)
25 %
-Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit
50 %
-Schichtarbeit während der Nachtzeit (22 Uhr – 6 Uhr)
25 %
-Sonntagsarbeit
50 %
-Arbeit an gesetzlichen Feiertagen
160 %
18
(3) Berechnung der Zuschläge
19
…
20
Beim Zusammentreffen mehrerer Zuschläge ist nur der jeweils höhere zu zahlen. Hiervon ausgenommen ist der Zuschlag für Nachtarbeit außerhalb eines Zwei- bzw. Drei-Schicht-Wechsels, dieser tritt jeweils zu den anderen Zuschlägen hinzu.
21
…"
22
Im Jahr 2018 leisteten die 293 Schichtarbeitnehmer der Beklagten insgesamt 99.374 Stunden "Schichtarbeit während der Nachtzeit", während "Nachtarbeit außerhalb der Schichtarbeit" einen Umfang von 120 Stunden erreichte, verteilt auf 32 Arbeitnehmer. "Nachtarbeit außerhalb der Schichtarbeit" betrifft bei der Beklagten im Wesentlichen Automatisierer, die während der Rufbereitschaft Störungen beheben.
23
Der Kläger ist im Wechselschichtdienst tätig. Im Zeitraum November 2018 bis Juni 2019 leistete er insgesamt 267,6 Stunden Nachtarbeit im Sinne des § 5 Abs. 1 Unterabs. 3 MTV, d. h. von 22:00 Uhr bis 6:00 Uhr, für die er einen Zuschlag von 25 % erhielt. Sein Stundenlohn betrug € 17,73 brutto bei einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 39 Stunden.
24
Der Kläger hat erstinstanzlich die Ansicht vertreten, dass die unterschiedlichen Sätze für "Schichtarbeit während der Nachtzeit" und "Nachtarbeit außerhalb der Schichtarbeit" nicht mit dem Gleichheitssatz vereinbar seien. Für eine solche Differenzierung gebe es keinen sachlichen Grund, wie sich dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 21. März 2018 – 10 AZR 34/17 – entnehmen lasse. Arbeit zur Nachtzeit sei unabhängig davon, ob diese innerhalb oder außerhalb von Schichten geleistet werde, für jeden Menschen schädlich und wirke sich negativ auf seine Gesundheit aus. Die frühere Annahme, der Mensch könne sich mit der Zeit an Nachtarbeit gewöhnen, sei überholt. Die biologische Uhr, die sich an den Lichtverhältnissen orientiere, lasse sich nicht umstellen. Darüber hinaus erschwere Nachtarbeit die Teilhabe am sozialen Leben, das üblicherweise in der Feierabendzeit bzw. am Wochenende stattfinde. Nachtarbeit führe sowohl zu einer biologischen als auch zu einer sozialen Desynchronisation. Eine möglicherweise vorhandene Planbarkeit der Nachtarbeit im Schichtdienst ändere daran nichts. Die Belastung und der Kompensationsbedarf sei in beiden Fällen gleich. Zudem sei es nicht zwingend, dass Nachtarbeit außerhalb des Schichtdienstes stets kurzfristig angeordnet werde. Unterschiedliche Zuschlagshöhen seien deshalb grundsätzlich nicht gerechtfertigt. Die Schichtfreizeit nach 25 Nachtschichten (§ 4 Satz 1 MTV) gleiche die 25-prozentige Differenz zwischen den beiden Nachtarbeitszuschlägen nicht aus.
25
Dementsprechend stehe dem Kläger im Ergebnis ein Zuschlag für Nachtarbeit in der Zeit von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr in Höhe von 50 % zu, also ein Zahlungsanspruch von weiteren 25 % auf die geleisteten Nachtarbeitsstunden. Auf andere Art und Weise als durch eine Anpassung nach oben sei der Verstoß gegen den Gleichheitssatz nicht auszugleichen.
26
Der Kläger hat erstinstanzlich beantragt,
27
1. die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger weitere Nachtarbeitszuschläge für den Zeitraum November 2018 bis Juni 2019 in Höhe von € 1.186,14 brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.06.2019 zu zahlen, und
28
2. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger Nachtarbeitszuschläge nach dem Manteltarifvertrag für die obst- und gemüseverarbeitende Industrie in Mecklenburg-Vorpommern in der Fassung vom 02.06.2009 für "Schichtarbeit während der Nachtzeit" von 22:00 Uhr bis 6:00 Uhr in gleicher Höhe zu gewähren wie für "Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit" im Sinne von § 5 Abs. 2 des Manteltarifvertrages.
29
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Zunächst sei zu berücksichtigen, dass den Tarifvertragsparteien bei der Regelung der Arbeitsbedingungen eine sogenannte Einschätzungsprärogative zustehe. Den Tarifvertragsparteien stehe es frei einzuschätzen, für welche Belastungen in welcher Höhe ein Ausgleich erfolgen solle. Von den Arbeitsgerichten sei nicht zu prüfen, ob dies die zweckmäßigste, vernünftigste und gerechteste Lösung sei. Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 21.03.2018 – 10 AZR 34/17 – zu einem Tarifvertrag der nordrheinischen Textilindustrie lasse sich auf den Manteltarifvertrag der obst- und gemüseverarbeitende Industrie nicht übertragen. Die Spannbreite zwischen den jeweiligen Zusatzleistungen für Nachtarbeit sei im MTV deutlich geringer als in dem Tarifvertrag, über den das Bundesarbeitsgericht entschieden habe. Bei der Gegenüberstellung der unterschiedlichen Prozentsätze sei zudem zu berücksichtigen, dass es bei Schichtarbeit während der Nachtzeit eine Freischicht je 25 geleisteter Nachtschichten gebe. Das entspreche einem Wert von 4 % in Form von Freizeit. Die Differenzierung zwischen "Schichtarbeit während der Nachtzeit" und „Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit" sei sachlich gerechtfertigt. Der höhere Zuschlag für unregelmäßige Nachtarbeit solle insbesondere die Einbuße der Dispositionsmöglichkeit über die Freizeit ausgleichen und zugleich den Arbeitgeber vor Eingriffen in den geschützten Freizeitbereich abhalten. Ein Arbeitnehmer, der regelmäßig Nachtarbeit leiste, könne sich besser hierauf einstellen als ein Arbeitnehmer, der kurzfristig zu Nachtarbeiten herangezogen werde. Im Falle der kurzfristigen Heranziehung zu Nachtarbeiten handele es sich zudem regelmäßig um Mehrarbeit. Selbst wenn die Differenzierung gleichheitswidrig wäre, könne dies nicht zu einer Anpassung an den höheren Prozentsatz führen. Es sei nicht anzunehmen, dass die Tarifvertragsparteien diese Lücke durch einen Rückgriff auf den höheren Wert geschlossen hätten, da ein Zuschlag von 50 % gerade nicht der Regelsatz sei. Vielmehr sei Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit in der betrieblichen Realität die absolute Ausnahme, da diese bei der Beklagten nur einen Anteil von etwa 0,1 % habe. Eine Anhebung des Zuschlags bei Schichtarbeit während der Nachtzeit auf 50 % würde diese Arbeitnehmer sogar besserstellen gegenüber den unregelmäßig in der Nacht tätigen Arbeitnehmern, da letzteren keine Schichtfreizeit zustehe.
30
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, dass unter Berücksichtigung der Einschätzungsprärogative der Tarifvertragsparteien ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz nicht vorliege. Der Nachtzuschlag dürfe bei Schichtarbeit niedriger bemessen werden als bei Arbeitsleistungen außerhalb des Schichtsystems. Ungeplante Nachtarbeit erschwere die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben stärker als bei einem längerfristig geplanten Einsatz. Ausgehend von dem 25-prozentigen Zuschlag bei Schichtarbeit sei jedenfalls eine Differenz zulässig, die weniger als das Doppelte betrage. Da der in Freizeit gewährte Ausgleich einzurechnen sei, werde diese Grenze nicht überschritten.
31
Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner fristgerecht eingelegten und begründeten Berufung. Entgegen der Auffassung des Arbeitsgerichts sei die Differenz der Zuschlaghöhe zwischen Schichtarbeit während der Nachtzeit und sonstiger Nachtarbeit eben nicht so geringfügig, dass sie sich noch im Rahmen des Gestaltungsspielraums der Tarifvertragsparteien halte. Das Arbeitsgericht habe zudem die Ziele der Richtlinie 2003/88/EG nicht berücksichtigt.
32
Der Kläger beantragt,
33
das Urteil des Arbeitsgerichts Schwerin vom 05.12.2019 – 5 Ca 969/19 – abzuändern und
34
1. die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger weitere Nachtarbeitszuschläge für den Zeitraum November 2018 bis Juni 2019 in Höhe von € 1.186,14 brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.06.2019 zu zahlen, und
35
2. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger Nachtarbeitszuschläge nach dem Manteltarifvertrag für die obst- und gemüseverarbeitende Industrie in Mecklenburg-Vorpommern in der Fassung vom 02.06.2009 für "Schichtarbeit während der Nachtzeit" von 22:00 Uhr bis 6:00 Uhr in gleicher Höhe zu gewähren wie für "Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit" im Sinne von § 5 Abs. 2 des Manteltarifvertrages.
36
Die Beklagte beantragt,
37
die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
38
Sie verteidigt die Entscheidung des Arbeitsgerichts. Sinn und Zweck der Zahlung von Zuschlägen für Nachtarbeit sei nicht nur der Ausgleich gesundheitlicher Belastungen, was ohnehin nur mittelbar möglich sei. Vielmehr diene der Zuschlag einem Ausgleich von Einschränkungen bei der Freizeitgestaltung. Zudem gehe es darum, die unregelmäßige Nachtarbeit zu verteuern, um einen Rückgriff hierauf für den Arbeitgeber unattraktiv zu machen. Der geringe Umfang an unregelmäßiger Nachtarbeit zeige, dass dieser Zweck in der Praxis erreicht werde, was nicht zuletzt dem gesundheitlichen Schutz der Beschäftigten diene.
39
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen, die Sitzungsprotokolle sowie das angegriffene arbeitsgerichtliche Urteil verwiesen.
Entscheidungsgründe
40
Die Berufung des Klägers ist zwar zulässig, aber nicht begründet. Das Arbeitsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen.
41
Der Kläger hat keinen Anspruch aus § 5 Abs. 2 MTV auf Zahlung eines Zuschlags in Höhe von 50 % für die im Zeitraum November 2018 bis Juni 2019 geleistete Nachtarbeit im Sinne des MTV (22:00 Uhr bis 6:00 Uhr) und auf Nachzahlung der entsprechenden Differenzbeträge. Die Beklagte ist nicht verpflichtet, dem Kläger gemäß § 5 Abs. 2 MTV Nachtarbeitszuschläge für "Schichtarbeit während der Nachtzeit" in derselben Höhe zu zahlen wie bei "Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit".
42
Der Kläger leistet keine "Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit" im Sinne des § 5 Abs. 2 Gliederungspunkt 2 MTV. Er arbeitet im Drei-Schicht-Wechsel und ist dementsprechend regelmäßig auch nachts tätig. Es handelt sich um "Schichtarbeit während der Nachtzeit". Die Nachtzeit im Sinne des § 5 Abs. 2 MTV ist – abweichend von der Definition des § 2 Abs. 3 ArbZG – die Zeit von 22:00 Uhr bis 6:00 Uhr. Die tarifliche Nachtzeit ist danach 1 Stunde länger als die gesetzliche.
43
Ein Anspruch ergibt sich auch nicht aus einer gleichheitswidrigen Schlechterstellung gegenüber denjenigen Arbeitnehmern, die Nachtarbeit außerhalb des Schichtsystems leisten. Die Differenzierung zwischen "Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit" einerseits und "Schichtarbeit während der Nachtzeit" andererseits verstößt nicht gegen höherrangiges Recht. Der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG ist nicht verletzt.
44
Die Tarifvertragsparteien als Normgeber sind bei der tariflichen Normsetzung zwar nicht unmittelbar, jedoch mittelbar grundrechtsgebunden. Der Schutzauftrag des Art. 1 Abs. 3 GG verpflichtet die staatlichen Arbeitsgerichte dazu, die Grundrechtsausübung durch die Tarifvertragsparteien zu beschränken, wenn diese mit den Freiheits- oder Gleichheitsrechten oder anderen Rechten mit Verfassungsrang der Normunterworfenen kollidiert. Sie müssen insoweit praktische Konkordanz herstellen. Der Schutzauftrag der Verfassung verpflichtet die Arbeitsgerichte auch dazu, gleichheitswidrige Differenzierungen in Tarifnormen zu unterbinden. Der Gleichheitssatz bildet als fundamentale Gerechtigkeitsnorm eine ungeschriebene Grenze der Tarifautonomie. Tarifnormen sind deshalb im Ausgangspunkt uneingeschränkt auch am Gleichheitssatz zu messen (BAG, Urteil vom 27. Mai 2020 – 5 AZR 258/19 – Rn. 37, juris = ZTR 2020, 534; BAG, Urteil vom 19. Dezember 2019 – 6 AZR 563/18 – Rn. 21 und 25, juris = NZA 2020, 734).
45
Bei der Erfüllung ihres verfassungsrechtlichen Schutzauftrags haben die Gerichte jedoch auch in den Blick zu nehmen, dass eine besondere Form der Grundrechtskollision bewältigt und die durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistete kollektive Koalitionsfreiheit mit den betroffenen Individualgrundrechten in einen angemessenen Ausgleich gebracht werden muss. Bei der Prüfung, ob Tarifnormen Grundrechte oder andere Rechte der Arbeitnehmer mit Verfassungsrang verletzen, müssen die Gerichte nicht nur die besondere Sachnähe der Tarifvertragsparteien, sondern außerdem beachten, dass sich die Arbeitnehmer im Regelfall durch den Beitritt zu ihrer Koalition oder durch die vertragliche Bezugnahme auf einen Tarifvertrag, die die Tarifnormen zum Vertragsinhalt macht, bewusst und freiwillig der Regelungsmacht der Tarifvertragsparteien auch für die Zukunft unterworfen haben. Die Tarifvertragsparteien haben bei der tariflichen Normsetzung u. a. den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG und die Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 GG zu beachten. Doch steht ihnen als selbständigen Grundrechtsträgern bei ihrer Normsetzung aufgrund der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie ein weiter Gestaltungsspielraum zu, über den Arbeitsvertrags- und Betriebsparteien nicht in gleichem Maß verfügen. Ihnen kommt eine Einschätzungsprärogative zu, soweit die tatsächlichen Gegebenheiten, die betroffenen Interessen und die Regelungsfolgen zu beurteilen sind. Sie verfügen über einen Beurteilungs- und Ermessensspielraum hinsichtlich der inhaltlichen Gestaltung der Regelung und sind nicht verpflichtet, die jeweils zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung zu wählen. Es genügt, wenn für die getroffene Regelung ein sachlich vertretbarer Grund vorliegt (BAG, Urteil vom 27. Mai 2020 – 5 AZR 258/19 – Rn. 38, juris = ZTR 2020, 534; BAG, Urteil vom 19. Dezember 2019 – 6 AZR 563/18 – Rn. 26, juris = NZA 2020, 734).
46
Ob, in welchem Umfang und in welcher Weise besondere Belastungen bestimmter Beschäftigtengruppen kompensiert werden sollen, unterliegt der Einschätzungsprärogative der Tarifvertragsparteien (BAG, Urteil vom 19. Dezember 2019 – 6 AZR 563/18 – Rn. 34, juris = NZA 2020, 734). Legen sie die Voraussetzungen für die Zahlung einer Zulage fest, steht es ihnen grundsätzlich frei, typisierend zu bestimmen, welche Erschwernisse sie in welcher Weise ausgleichen wollen (BAG, Urteil vom 17. Dezember 2015 – 6 AZR 768/14 – Rn. 16, juris = ZTR 2016, 197).
47
Eine Tarifnorm verletzt den Allgemeinen Gleichheitssatz, wenn die Tarifvertragsparteien es versäumt haben, tatsächliche Gleichheiten oder Ungleichheiten der zu ordnenden Lebensverhältnisse zu berücksichtigen, die so bedeutsam sind, dass sie bei einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise beachtet werden müssen. Die Tarifvertragsparteien dürfen jedoch im Interesse der Praktikabilität, der Verständlichkeit und der Übersichtlichkeit auch typisierende Regelungen treffen. Bei der Überprüfung von Tarifverträgen anhand des Allgemeinen Gleichheitssatzes ist deshalb nicht auf die Einzelfallgerechtigkeit abzustellen, sondern auf die generellen Auswirkungen der Regelungen. Die aus dem Gleichheitssatz folgenden Grenzen sind dann überschritten, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie eine Ungleichbehandlung rechtfertigen können (BAG, Urteil vom 12. November 2013 – 3 AZR 92/12 – Rn. 55, juris = NZA-RR 2014, 315; BAG, Urteil vom 21. August 2012 – 3 AZR 281/10 – Rn. 21, juris; BAG, Urteil vom 22. Dezember 2009 – 3 AZR 895/07 – Rn. 25, juris = NZA 2010, 521).
48
Die Prüfung der sachlichen Rechtfertigung der unterschiedlichen Behandlung hat sich am Zweck der Leistung zu orientieren (BAG, Urteil vom 23. März 2017 – 6 AZR 161/16 – Rn. 55, juris = ZTR 2017, 470). Die Tarifvertragsparteien sind grundsätzlich darin frei, in Ausübung ihrer durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten autonomen Regelungsmacht den Zweck einer tariflichen Leistung zu bestimmen. Dieser ist der von den Tarifvertragsparteien vorgenommenen ausdrücklichen Zweckbestimmung der Leistung zu entnehmen oder im Wege der Auslegung der Tarifnorm anhand von Anspruchsvoraussetzungen, Ausschließungs- und Kürzungsregelungen zu ermitteln (BAG, Urteil vom 28. Mai 2013 – 3 AZR 266/11 – Rn. 38, juris; BAG, Urteil vom 11. Dezember 2012 – 3 AZR 588/10 – Rn. 27, juris = NZA 2013, 572; BAG, Urteil vom 04. Mai 2010 – 9 AZR 181/09 – Rn. 29, juris = ZTR 2010, 583).
49
Zweck der zusätzlichen Leistungen, die an Nachtarbeit anknüpfen, ist es zum einen, die hiermit verbundenen besonderen Belastungen auszugleichen, und zum anderen, Nachtarbeit nach Möglichkeit einzudämmen.
50
Nach § 6 Abs. 5 ArbZG hat der Arbeitgeber, soweit keine tarifvertraglichen Ausgleichsregelungen bestehen, dem Nachtarbeitnehmer für die während der Nachtzeit geleisteten Arbeitsstunden eine angemessene Zahl bezahlter freier Tage oder einen angemessenen Zuschlag auf das ihm hierfür zustehende Bruttoarbeitsentgelt zu gewähren. Nachtzeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes ist die Zeit von 23:00 Uhr bis 6:00 Uhr, in Bäckereien und Konditoreien die Zeit von 22:00 Uhr bis 5:00 Uhr (§ 2 Abs. 3 ArbZG). Nachtarbeitnehmer im Sinne des Arbeitszeitgesetzes sind Arbeitnehmer, die aufgrund ihrer Arbeitszeitgestaltung normalerweise Nachtarbeit in Wechselschicht zu leisten haben oder Nachtarbeit an mindestens 48 Tagen im Kalenderjahr leisten (§ 2 Abs. 5 ArbZG).
51
Lange Nachtarbeitszeiträume sind für die Gesundheit der Arbeitnehmer nachteilig und können ihre Sicherheit bei der Arbeit beeinträchtigen; infolgedessen ist die Dauer der Nachtarbeit, auch in Bezug auf die Mehrarbeit, einzuschränken und vorzusehen, dass der Arbeitgeber im Fall regelmäßiger Inanspruchnahme von Nachtarbeitern die zuständigen Behörden auf Ersuchen davon in Kenntnis setzt (Erwägungsgründe 7 und 8 zur Richtlinie 2003/88/EG vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung).
52
Nachtarbeit ist grundsätzlich für jeden Menschen schädlich und mit negativen gesundheitlichen Auswirkungen verbunden (BVerfG, Urteil vom 28. Januar 1992 – 1 BvR 1025/82 u. a. – Rn. 56, juris = NZA 1992, 270). Die Belastung und Beanspruchung der Beschäftigten steigt nach dem bisherigen Kenntnisstand in der Arbeitsmedizin durch die Anzahl der Nächte pro Monat und die Anzahl der Nächte hintereinander, in denen Nachtarbeit geleistet wird. Insgesamt ist anerkannt, dass Nachtarbeit umso schädlicher ist, in umso größerem Umfang sie geleistet wird (BAG, Urteil vom 21. März 2018 – 10 AZR 34/17 – Rn. 49, juris = NZA 2019, 622; BAG, Urteil vom 09. Dezember 2015 – 10 AZR 423/14 – Rn. 17, juris = NZA 2016, 426).
53
Die Verteuerung der Nachtarbeit durch Zuschlagsregelungen wirkt sich zwar nicht unmittelbar, aber zumindest mittelbar auf die Gesundheit der Nachtarbeit leistenden Arbeitnehmer aus. Zugleich entschädigt der Zuschlag in gewissem Umfang für die erschwerte Teilhabe am sozialen Leben (BAG, Urteil vom 21. März 2018 – 10 AZR 34/17 – Rn. 49, juris = NZA 2019, 622; BAG, Urteil vom 23. August 2017 – 10 AZR 859/16 – Rn. 43, juris = NJW 2017, 3675).
54
Angemessen ist der nach § 6 Abs. 5 ArbZG zu gewährende Zuschlag für Nachtarbeit regelmäßig, wenn er eine Höhe von 25 % erreicht, sei es als Zuschlag zum Bruttostundenlohn oder in Form einer entsprechenden Anzahl von bezahlten freien Tagen (BAG, Urteil vom 13. Dezember 2018 – 6 AZR 549/17 – Rn. 28, juris = NZA 2019, 935; BAG, Urteil vom 25. April 2018 – 5 AZR 25/17 – Rn. 43, juris = NZA 2018, 1145). Ein geringerer als der regelmäßige Zuschlag von 25 % auf das dem Arbeitnehmer zustehende Bruttoarbeitsentgelt kann nach § 6 Abs. 5 ArbZG nur ausreichend sein, wenn die Belastung durch die geleistete Nachtarbeit im Vergleich zum Üblichen geringer ist, weil z. B. in diese Zeit in nicht unerheblichem Umfang Arbeitsbereitschaft fällt oder es sich um nächtlichen Bereitschaftsdienst handelt, bei dem von vornherein von einer geringeren Arbeitsbelastung auszugehen ist (BAG, Urteil vom 23. August 2017 – 10 AZR 859/16 – Rn. 44, juris = NJW 2017, 3675). Ein höherer als der regelmäßige Zuschlag von 25 % ist zu gewähren, wenn die Belastung durch die Nachtarbeit unter qualitativen (Art der Tätigkeit) oder quantitativen (Umfang der Nachtarbeit) Aspekten die normalerweise mit der Nachtarbeit verbundene Belastung übersteigt, insbesondere bei einem dauerhaften Einsatz in der Nachtzeit, sog. Dauernachtarbeit. Bei der Erbringung der regulären Arbeitsleistung in Dauernachtarbeit ist deshalb regelmäßig ein Nachtarbeitszuschlag von 30 % auf den Bruttostundenlohn (bzw. die Gewährung einer entsprechenden Anzahl freier Tage) als angemessen anzusehen (BAG, Urteil vom 23. August 2017 – 10 AZR 859/16 – Rn. 50, juris = NJW 2017, 3675).
55
Die Tarifvertragsparteien des MTV durften unter Berücksichtigung ihrer Einschätzungsprärogative sowohl dem Grunde nach als auch in der festgelegten Bandbreite zwischen "Schichtarbeit während der Nachtzeit" und "Nachtarbeit außerhalb der Schichtarbeit" unterscheiden. Maßgeblich ist eine gebiets- und branchenbezogene Betrachtung, da der Tarifvertrag nicht nur für die Beklagte gilt.
56
Der Leistungszweck rechtfertigt es, Nachtarbeit innerhalb und außerhalb der Schichtarbeit unterschiedlich zu behandeln. Der Zuschlag hat ebenso wie die Gewährung bezahlter Freizeit den Zweck, die besonderen Belastungen der Nachtarbeit durch den erhöhten physischen und psychischen Kraftaufwand sowie die erschwerte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zumindest teilweise auszugleichen. Diese Belastungen können ein unterschiedliches Gewicht haben. Unabhängig von der individuellen körperlichen und seelischen Disposition und dem bevorzugten Freizeitverhalten richtet sich das Ausmaß der Belastung auch nach der Planbarkeit von Nachtarbeit. Je längerfristiger sich ein Arbeitnehmer auf die Arbeit zur Nachtzeit einrichten kann, desto eher ist es ihm möglich, die persönlichen Belange, z. B. die Betreuung von Kindern, die Teilnahme an sportlichen und kulturellen Veranstaltungen, gemeinsame Aktivitäten in der Familie oder im Freundeskreis etc., soweit wie möglich auf die weniger günstigen Arbeitszeiten abzustimmen. Nachtarbeit außerhalb eines Schichtsystems wird zwar nicht in jedem Fall kurzfristig angeordnet und muss nicht stets zur Folge haben, dass es für den Arbeitnehmer schwierig ist, private Belange hiermit in Einklang zu bringen. Dennoch ist der Planungszeitraum üblicherweise deutlich kürzer, als es bei einem Schichtplan der Fall ist. Unregelmäßige Nachtarbeit ist jedenfalls für den Arbeitnehmer deutlich schlechter planbar. Das gilt erst recht im Vergleich zu einem langfristig feststehenden Schichtplan, wie er beispielsweise bei der Beklagten besteht. Wenn auch nicht in allen Unternehmen der obst- und gemüseverarbeitenden Industrie Schichtpläne derart langfristig gelten, so ist der Einsatz nach einem Schichtplan für den Arbeitnehmer in der Regel besser planbar als eine Heranziehung zu Nachtarbeit außerhalb eines Schichtsystems. Es mag im Einzelfall Ausnahmen geben. Angesichts der zulässigen typisierenden Betrachtungsweise durften die Tarifvertragsparteien jedoch davon ausgehen, dass sich die Arbeitnehmer in dem einen Fall grundsätzlich besser auf die Arbeit zur Nachtzeit einstellen können als in dem anderen.
57
Ein weiterer Zweck des höheren Zuschlags bei Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit besteht darin, diese Art der Nachtarbeit deutlich zu verteuern und damit für den Arbeitgeber weniger attraktiv zu machen. Das ergibt sich insbesondere aus der Regelung in § 5 Abs. 3 Unterabs. 3 MTV, nach der bei Nachtarbeit außerhalb eines Zwei- bzw. Drei-Schicht-Wechsels ausnahmsweise keine Anrechnung des Nachtarbeitszuschlags auf andere Zuschläge stattfindet. Wenn sich schon Nachtarbeit im Rahmen eines Schichtsystems nicht vermeiden lässt, so soll jedenfalls jegliche weitere Nachtarbeit nach Möglichkeit vermieden und zurückgedrängt werden. Die Nachtarbeit im Bereich der obst- und gemüseverarbeitenden Industrie ist zwar nicht zum Schutz von Leib und Leben, wie beispielsweise im Rettungsdienst und im Krankenhaus, zwingend erforderlich, sondern folgt vorrangig wirtschaftlichen Erwägungen. Unzulässig ist die Nachtarbeit deshalb aber nicht. Den Tarifvertragsparteien erschien dieser Sachverhalt regelungsbedürftig, um die ökonomischen Interessen einerseits und den Schutz der Arbeitnehmer andererseits zu einem Ausgleich zu bringen. Die Tarifvertragsparteien haben Zuschlag- und Freizeitregelungen geschaffen, die zum einen besondere Belastungen ausgleichen sollen und zum anderen eine Steuerungsfunktion haben.
58
Die gesundheitlichen Gefahren, die mit Nachtarbeit verbunden sind, mögen bei Nachtarbeit innerhalb und außerhalb eines Schichtsystems vergleichbar sein. Diesen Gefahren kann nicht mit einem finanziellen Zuschlag entgegengewirkt werden, der je nach Höhe ggf. sogar noch einen finanziellen Anreiz zur Nachtarbeit bieten kann. Dem Schutz der Gesundheit dient vor allem ein entsprechender Freizeitausgleich, um ausreichend Zeit für die körperliche Erholung und die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben bereitzustellen. Vor allem aber sind die Schichtmodelle so zu gestalten und anzupassen, dass die mit Nachtarbeit verbundenen gesundheitlichen Belastungen so weit wie möglich gesenkt werden. Dies kann z. B. durch eine Verringerung der aufeinanderfolgenden Nachtschichten geschehen.
59
Die Tarifvertragsparteien des MTV haben den ihnen zustehenden Regelungsspielraum auch nicht dadurch überschritten, dass sie die vorhandenen Unterschiede durch die Spannbreite der Leistungen überproportional gewichtet haben, ohne hierfür einen sachlich vertretbaren Grund zu haben. Der Gleichheitsgrundsatz kann nicht nur dadurch verletzt sein, dass überhaupt eine Unterscheidung vorgenommen wurde. Stehen die jeweils gewährten Leistungen in einem auffälligen Missverhältnis zu den vorhandenen Unterschieden und dem Leistungszweck, kann sich daraus ebenfalls eine sachwidrige Ungleichbehandlung ergeben.
60
Bei einem Vergleich der für "Schichtarbeit während der Nachtzeit" gewährten Leistungen mit denen für "Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit" sind alle Vergünstigungen einzubeziehen, die demselben Leistungszweck dienen, also dem angemessenen Ausgleich für die Mehrbelastungen und der Verteuerung von Arbeit zur Nachtzeit. Arbeitnehmer in der Schichtarbeit erhalten für Arbeiten während der Nachtzeit nicht nur einen Zuschlag von 25 %, sondern zudem für je 25 geleistete Nachtschichten eine Freischicht (§ 4 Satz 1 MTV). Die Tarifvertragsparteien haben als Ausgleich für die Nachtarbeit eine Kombination aus Zuschlag und Freizeit gewählt. Rechnerisch ergibt sich danach ein Ausgleich in Höhe von 25 % + 4 % = 29 %. Die Freischicht ist an einen ständigen Einsatz im Drei-Schicht-Wechsel gebunden. Arbeitnehmer, die Nachtarbeit außerhalb von Schichtarbeit leisten, kommen somit nicht in den Genuss einer Freischicht. Demgegenüber ist jedoch zu berücksichtigen, dass bei Nachtarbeit außerhalb des Schichtdienstes eine Sonderregelung für den Fall des Zusammentreffens mehrerer Zuschläge gilt. Nach § 5 Abs. 3 Unterabs. 3 MTV ist beim Zusammentreffen mehrerer Zuschläge nur der jeweils höhere zu zahlen. Ausgenommen davon ist der Zuschlag für Nachtarbeit außerhalb eines Zwei- bzw. Drei-Schicht-Wechsels. Dieser Zuschlag tritt jeweils zu den anderen Zuschlägen hinzu. Bei Mehrarbeit sowie Sonn- und Feiertagsarbeit kann sich daraus im Einzelfall ein Gesamtzuschlag von 75 %, 100 % bis hin zu maximal 210 % ergeben. Diese Additionsregel kann den Vorteil der zusätzlichen Freischichten bei Schicht-Nachtarbeit durchaus aufwiegen.
61
Ein im Vergleich zur Schicht-Nachtarbeit in etwa doppelt so hoher Zuschlag für sonstige Nachtarbeit erscheint im Hinblick auf die Einschätzungsprärogative der Tarifvertragsparteien noch sachlich vertretbar. Das gilt insbesondere unter Berücksichtigung des Ziels, sonstige Nachtarbeit außerhalb eines Schichtsystems zu verteuern und diese Form der Nachtarbeit dadurch nach Möglichkeit zu verhindern bzw. einzudämmen. Dieser Ansatz erweist sich in der Praxis als wirksam. Ein in etwa doppelt so hoher Zuschlag ist auch angesichts der zusätzlichen Erschwernisse durch unregelmäßige Nachtarbeit nicht unverhältnismäßig. Die Tarifvertragsparteien durften diese mit nochmals 25 % bewerten. Kurzfristige Umplanungen im persönlichen Bereich verursachen häufig einen erheblichen Zeitaufwand und können zusätzliche Kosten mit sich bringen. Das kann beispielsweise für die Organisation der Kinderbetreuung gelten oder vergebliche Aufwendungen für Freizeitaktivitäten. Solche zusätzlichen Belastungen werden bei typisierender Betrachtung durch den Zuschlag von 50 % jedenfalls nicht offensichtlich übermäßig entschädigt. Den Tarifvertragsparteien ist es aufgrund ihrer Sachnähe vorbehalten, diese Erschwernisse zu gewichten und zu bewerten. Die von Ihnen vorgenommene Bewertung widerspricht nicht den tatsächlichen Lebensverhältnissen. Die Tarifvertragsparteien haben die praktische Situation der Arbeitnehmer im Zusammenhang mit Nachtarbeit nicht falsch eingeschätzt und aufgrund dessen die Erschwernisse von Nachtarbeit außerhalb der Schichtarbeit fehlerhaft bewertet.
62
Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO, die Zulassung der Revision aus § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG.
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Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Leistung einer Sicherheit in Höhe von 110 % des Vollstreckungsbetrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
1T a t b e s t a n d
2Der am 00.00.1967 geborene Kläger ist ausgebildeter Maschinenbautechniker und war seit dem 01.04.1989 (unter Berücksichtigung seiner Wehrdienstzeit seit dem 01.04.1988) bei der Beigeladenen als Arbeitnehmer beschäftigt, zuletzt aufgrund eines Arbeitsvertrages vom 01.12.2000 als „Kaufmännische Fachkraft I“. Der Kläger war zunächst im Kraftwerk F. , später in den KKW L. und D. tätig. Ab dem 01.07.2004 erfolgte die Beschäftigung als Sicherheitstechniker in der Zentrale der Beigeladenen in M. (Abteilung Arbeitssicherung), seit November 2005 als Sicherheitsfachkraft mit Fachkundenachweis. Im Jahre 2006 erfolgte eine vorübergehende Beschäftigung im KKW O. -N. .
3Mit Schreiben vom 06.09.2007 entpflichtete die Beigeladene den Kläger von der Funktion als Fachkraft für Arbeitssicherheit.
4Mit Wirkung vom 07.12.2007 ist der Kläger als Schwerbehinderter mit dem Grad einer Behinderung von 50 anerkannt. Als Gründe nennt der Bescheid: Persönlichkeitsstörung, Refluxkrankheit, Wirbelsäulensyndrom, Allergisches Asthma bronchiale, Veränderung des Vestibularisorgans.
5Im Zeitraum vom 20.10.2008 bis zum 23.03.2009 suspendierte die Beigeladene den Kläger vom Dienst. Mit Datum vom 27.10.2008 beantragte die Beigeladene erstmals die Zustimmung zur ordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses.
6In der Zeit vom 24.03.2009 bis zum 25.05.2009 erfolgte eine teilstationäre Behandlung des Klägers in der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Beklagten mit der Diagnose „rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode, kombinierte Persönlichkeitsstörung, Störung der Impulskontrolle“, an die sich eine Behandlung durch den Facharzt für Psychiatrie Dr. A. anschloss. Nach sozialmedizinischem Gutachten vom 30.09.2009 des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) Nordrhein (Dr. med. X. ) lauteten die Diagnosen: „F 60.3 Persönlichkeitsakzentuierung, PS mit emotional instabilen und impulsiven Verhaltensweisen; F 33.8 überwiegend remittierte depressive Störung.“ Der Gutachter empfahl eine stufenweise Wiedereingliederung, wobei die Beschäftigung in einem möglichst konfliktfreien Klima, möglichst in einer anderen Abteilung und mit anderen Vorgesetzen erfolgen sollte.
7In der Zeit von Oktober bis Dezember 2009 erfolgte eine stufenweise Wiedereingliederung am alten Arbeitsplatz. Das zwischenzeitlich wegen einer Reha-Maßnahme ausgesetzte Zustimmungsverfahren endete nach Rücknahme des Antrags durch die Beigeladene im Oktober 2010. Seit dem 04.11.2010 war der Kläger durchgehend arbeitsunfähig erkrankt.
8Unter dem 17.02.2011 beantragte die Beigeladende beim Integrationsamt des Beklagten erneut die Zustimmung zur fristgerechten Kündigung des Klägers nach §§ 85 ff. SGB IX. Sie verwies auf weit überdurchschnittliche krankheitsbedingte Ausfallzeiten, die für die betroffene Abteilung nicht mehr hinnehmbar seien. Personelle und aufgabenbezogene Planungen und Dispositionen seien durch die häufigen Fehlzeiten nur schwer möglich. Die Beigeladene errechnete unter Zugrundelegung der effektiv möglichen Arbeitstage (exkl. Urlaub und Suspendierung) folgende Werte:
92006 97 Ausfalltage
102007 183 Ausfalltage
112008 55 Ausfalltage
122009 188 Ausfalltage
132010 65 Ausfalltage
14und verwies zudem auf die weitere Krankschreibung ab dem 04.11.2010. Die Fehlzeiten führten zu erheblichen zusätzlichen Belastungen der anderen Mitarbeiter und hätten seit Mitte 2010 die befristete Einstellung eines zusätzlichen Mitarbeiters nach sich gezogen. Nur ein Teil der Aufgaben des Klägers könne auf diese Weise jedoch aufgefangen werden, da die Stelle neben dem Fachwissen Erfahrungen und Kenntnisse der komplexen organisatorischen Abläufe in den sehr unterschiedlich geprägten Betrieben und Fachbereichen des Unternehmens erfordere. Eingliederungsmaßnahmen seien erfolglos geblieben. Die Klägerin verwies in diesem Zusammenhang auf BEM-Gespräche am 29.08.2007, 25.07.2008, 22.12.2009. Bei dem Gespräch am 22.12.2009 habe der Kläger angegeben, dass er keine weiteren Maßnahmen wünsche. Auf ein Gesprächsangebot vom 24.11.2010 habe der Kläger nicht reagiert. Es habe mehrere Gesprächskreise mit Vertretern des Integrationsfachdienstes und der örtlichen Fürsorgestelle der Stadt M. gegeben. Diese seien ebenso erfolglos geblieben wie Gespräche des Leiters der Abteilung Arbeitssicherheit, Herr Y. , mit dem Integrationsfachdienst. Seit Oktober begleite neben dem Betriebsrat auch die Schwerbehindertenvertretung die Integrationsbemühungen. Seit mindestens zehn Jahren stehe der Kläger auch in Kontakt zur hauptberuflichen Sozialberaterin; in den letzten Jahren auch zu einem der ehrenamtlichen Sozialberater. Aus Sicht des Unternehmens sei die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses jetzt nicht mehr vertretbar.
15Der Beklagte holte im Juli 2011 eine Stellungnahme des Integrationsfachdienstes (IFD-P. ) ein (Bl. 43 ff. BA 1). Ferner liegt eine arbeitsmedizinische Stellungnahme Dr. med. K. vom 26.07.2011 vor (Bl. 113 f. BA 1). Am 21.09.2011 fand auftrags des Beklagten durch die örtliche Fürsorgestelle der Stadt M. eine Kündigungsschutzverhandlung statt (Bl. 177 ff. BA 2). Eine gütliche Einigung kam nicht zustande.
16Mit Bescheid vom 12.10.2011 erteilte das Integrationsamt des Beklagten die Zustimmung zur Kündigung gemäß § 85 SGB IX. Nach einer Gesamtabwägung des Einzelfalls überwiege das Interesse der Beigeladenen an einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses das Interesse des Klägers an dessen Aufrechterhaltung. Zwar seien die Grenzen dessen, was der Arbeitgeber hinnehmen müsse, hoch anzusetzen, wenn die Kündigung auf Gründe gestützt sei, die ihre Ursache in der Behinderung selbst fänden. Die angefallenen Krankheitszeiten rechtfertigten jedoch die Kündigung. Hierbei seien auch solche Zeiten berücksichtigungsfähig, die bereits im ersten Zustimmungsantrag angegeben worden seien. Allein der später zurückgenommene Zustimmungsantrag führe nicht zum Verbrauch des Kündigungsgrundes, da keine Kündigung ausgesprochen und arbeitsrechtlich abschließend festgestellt worden sei. Die Gesundheitsprognose sei negativ. Nach den Feststellungen des IFD sei mit erheblichen krankheitsbedingten Ausfallzeiten zu rechnen, da der Kläger nach therapiebedingten leichten Fortschritten immer wieder in alte Verhaltensweisen zurückfalle. Es liege eine erhebliche Beeinträchtigung betrieblicher Belange der Beigeladenen vor, weil andere Mitarbeiter die Arbeit bis an die Belastungsgrenze übernehmen müssten und 2010 ein Mitarbeiter über die Soll-Stärke hinaus habe befristet eingestellt werden müssen. Auch eine innerbetriebliche Umsetzung des Klägers lasse keine Verbesserung erwarten.
17Die Beigeladene kündigte daraufhin das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger unter dem 24.10.2011 fristgerecht zum 30.06.2012.
18Der Kläger erhob gegen den Bescheid des Beklagten am 31.10.2011 Widerspruch.
19Zur Begründung des Widerspruchs führte er u.a. aus: Die Entscheidung berücksichtige einseitig die Interessen der Beigeladenen und beruhe auf einer unvollständigen Ermittlung des Sachverhalts. Eine negative Gesundheitsprognose sei nicht gerechtfertigt. Der Beklagte stütze sich einseitig auf die Stellungnahmen der Sozialbetreuerin, des IFD und des Betriebsrates. Auch sei zu bestreiten, dass es durch die Ausfallzeiten zu personellen Engpässen bei der Beigeladenen gekommen sei. Auch bestritt der Kläger die von der Beigeladenen geltend gemachten arbeitsrechtlichen Verfehlungen. Formell fehle es an der vorherigen Durchführung eines Wiedereingliederungsmanagements. Eine stufenweise Wiedereingliederung sei auch im Gutachten Dr. X. angezeigt, wobei die Arbeitsumgebung möglichst konfliktfrei sein sollte. Die Entscheidung des Beklagten erkläre nicht, weshalb ein Arbeitsplatzwechsel nicht in Betracht komme. Im Unternehmen bestünden zahlreiche andere Beschäftigungsmöglichkeiten. Der Kläger verwies in diesem Zusammenhang auf Stellenanzeigen der Beigeladenen und entsprechende Bewerbungen seinerseits. Angesichts der Erfahrungen aus vorangegangen Eingliederungsgesprächen habe der Kläger die neuerliche Einladung per Formbrief unbeachtet lassen können.
20Im Widerspruchsverfahren holte der Beklagte ein Gutachten des Facharztes für Psychotherapeutische Medizin Dr. Dr. C. S. vom 06.06.2012 (Bl. 349 ff. BA 2) ein. Der Kläger und die Beigeladene äußerten sich zum Ergebnis der Begutachtung schriftsätzlich.
21Mit Widerspruchsbescheid vom 31.10.2012 wies der Beklagte - Widerspruchsausschuss - den Widerspruch des Klägers als unbegründet zurück. Es bestehe ein Zusammenhang zwischen den Fehlzeiten sowie den immer wieder auftretenden Konflikten am Arbeitsplatz und der festgestellten Behinderung. Auch mit Blick auf die hiernach hohen Anforderungen an die Voraussetzungen einer Zustimmung sei die Entscheidung des Ausgangsbescheides jedoch zu bestätigen. Die hohen krankheitsbedingten Ausfallzeiten hätten Indizwirkung für die erforderliche Prognose. Nach der Rechtsprechung des BAG obliege es in einem solchen Fall dem Arbeitnehmer darzulegen, dass sich die zukünftige gesundheitliche Entwicklung positiv darstelle. Den vorliegenden Gutachten sei nichts in dieser Hinsicht zu entnehmen. Die Behinderung des Klägers, eine spezifische Persönlichkeitsstörung im Sinne des Kapitels V der ICD 10 GM, lasse erwarten, dass auch in Zukunft Konflikte am Arbeitsplatz nicht ausgeschlossen werden könnten. Die Beigeladene sei ihren Verpflichtungen aus Fürsorgegesichtspunkten gegenüber dem Kläger nachgekommen, indem sie in den vergangenen Jahren Maßnahmen der Wiedereingliederung durchgeführt bzw. angeboten habe. Dies sei von Personalgesprächen, auch unter Beteiligung des Betriebsrates und der Schwerbehindertenvertretung, begleitet worden. Schließlich habe es einen Versuch der Wiedereingliederung unter längerfristiger Beteiligung des IFD gegeben. Vor diesem Hintergrund könne dahinstehen, ob die Beigeladene ihrer Verpflichtung aus § 84 Abs. 2 SGB IX vollständig nachgekommen sei, da aufgrund des gesamten Sachverhalts davon auszugehen sei, dass auch dies keinen Erfolg gehabt hätte. Die Beigeladene habe dargelegt, dass der weitere Einsatz des Arbeitsnehmers auf dem bisherigen Arbeitsplatz ebensowenig möglich sei wie dessen leidensgerechte Veränderung und dass der Arbeitnehmer auch nicht auf einem anderen Arbeitsplatz bei geänderter Tätigkeit eingesetzt werden könne.
22Die Zustellung des Widerspruchsbescheides erfolgte am 05.11.2012.
23Zuvor erhob der Kläger am 14.11.2011 beim Arbeitsgericht M. Kündigungsschutzklage (00 XX 0000/00). Mit Urteil vom 02.09.2014 wies das Arbeitsgericht M. die Kündigungsschutzklage ab. Es ging davon aus, dass der Kläger an einer nicht mehr therapierbaren Persönlichkeitsstörung leide und nicht mehr in der Lage sei, seine vertraglich geschuldete Arbeitsleistung zu erbringen. Eine leidensgerechte andere Beschäftigungsmöglichkeit bestehe nicht. Es stützte sich hierbei auf ein gerichtliches psychiatrisch-psychosomatisches Gutachten der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie H. I. vom 11.01.2013, das zu folgender Zusammenfassung gelangt:
24„Der 45-jährige Herr X. X. leidet an einer Persönlichkeitsstörung, die nach psychodynamischem Theorieverständnis als eine defizitäre intrapsychische Struktur aufgefasst und diagnostisch am ehesten als progressiv-aggressive Persönlichkeitsstörung, ICD-10 F 60.81, klassifiziert werden kann. Die strukturellen Defizite führen im Konfliktfall neben der akuten impulsiven Erregung immer wieder zu einer chronischen physiologischen Stressbelastung mit Krankheitsfolgen an verschiedenen Körperorganen und Organsystemen, aber auch zu wechselnden psychischen Störungen wie rezidivierenden Depressionen, ICD-10 F 33.1. Die Störung stellt ein tief in der Kindheit verwurzeltes Verhaltensmuster dar, das sich in starren Reaktionen auf unterschiedliche persönliche und soziale Lebenslagen zeigt, prognostisch ist nur mit kleinen therapeutischen Teilerfolgen zu rechnen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird der Betroffene in der bisher ausgeübten Tätigkeit mit der Qualifikation als Fachkraft für Arbeitssicherheit/kaufmännische Fachkraft bzw. staatlich geprüfter Techniker (allgemeiner Maschinenbau) auch weiterhin im Konfliktfall so reagieren, wie in den Jahren zuvor, nämlich mit unterschiedlichen stressbedingten Krankheiten, Depressionen und anderen Krankheiten, unabhängig vom konkreten Arbeitsbereich. Aus psychiatrischer Sicht ist er (ihm) aufgrund seiner gesundheitlichen Verfassung abgestellt auf den Kündigungszeitpunkt 24.10.11 und der bisher ausgeübten Tätigkeit kein Einsatz mehr bei seinem Arbeitgeber X. X. AG möglich.“
25Auf die Berufung des Klägers änderte das LAG M. das Urteil der Vorinstanz und stellte fest, dass das Arbeitsverhältnis nicht durch die Kündigung vom 24.10.2011 beendet worden ist. Auf den Auflösungsantrag der Beigeladenen löste es das Arbeitsverhältnis zum 30.06.2012 gegen Zahlung einer Abfindung von 30.000,00 Euro auf. Die andauernde Leistungsunfähigkeit des Klägers unter Bezugnahme auf das erstinstanzliche Sachverständigengutachten habe die Beigeladene dem Betriebsrat erstmals am 18.08.2015 mitgeteilt. Mangels vorheriger Kenntnisnahme des Betriebsrates hätten sie im arbeitsgerichtlichen Verfahren nicht nachgeschoben werden können. Sie könnten bei der Überprüfung der sozialen Rechtfertigung der Kündigung vom 24.10.2011 nicht berücksichtigt werden. In Bezug auf das Aufhebungsbegehren stellte das LAG indes fest:
26„Zur Überzeugung der Berufungskammer steht zum einen fest, dass der Kläger wiederholt versucht hat, auf sein Arbeitsumfeld und in einem Fall auf Dritte zur Durchsetzung seiner persönlichen Interessen mit der Androhung eines Suizides einzuwirken. Zum anderen hat der Kläger bewusst hartnäckig und wahrheitswidrig sein Fehlverhalten prozessual verleugnet. Beide Gründe sind für sich genommen und erst recht in ihrer Kombination geeignet, die Prognose zu rechtfertigen, dass künftig eine den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit zwischen den Parteien nicht zu erwarten ist.“
27Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision verwarf das BAG mit Beschluss vom 16.10.2019 als unzulässig.
28Wegen der weiteren Einzelheiten des arbeitsgerichtlichen Verfahrens einschließlich seiner Fortsetzung vor dem Landesarbeitsgericht und dem Bundesarbeitsgericht wird auf den Inhalt der beigezogenen Verfahrensakten des ArbG M. (BA 6-13) Bezug genommen.
29Die vorliegende Klage hat der Kläger am 05.12.2012 erhoben.
30Er ist der Ansicht, dass ein Rechtsschutzinteresse auch nach der Entscheidung des Landesarbeitsgerichts fortbestehe, weil eine stattgebende verwaltungsgerichtliche Entscheidung Grundlage einer arbeitsrechtlichen Restitutionsklage sein könne.
31Die Zustimmung zur Kündigung sei auf der Grundlage des maßgeblichen seinerzeitigen Sachstandes ermessensfehlerhaft. Der Beklagte habe keine zureichende Begründung für die ungünstige Zukunftsprognose in Bezug auf krankheitsbedingte Fehlzeiten geliefert. Vielmehr seien schlicht arbeitsrechtliche Grundsätze übernommen worden. Deren Prüfung obliege dem Beklagten jedoch nicht. Die arbeitsrechtliche Zulässigkeit einer Kündigung spiele nur dann eine Rolle, wenn die Kündigung offensichtlich rechtswidrig sei. Die Gesundheitsprognose leite der Beklagte aus häufigen Kurzerkrankungen in der Vergangenheit her, die i.Ü. auch arbeitsrechtlich nicht ohne weiteres zur Kündigung berechtigten. Der Beklagte berücksichtige nicht, dass die Prognose in einem veränderten Arbeitsumfeld positiv gewesen sei. Der Kläger bezieht sich in diesem Zusammenhang auf die Stellungnahmen des behandelnden Arztes Dr. A. und des Gutachters Dr. K. . Der Beklagte stütze sich einseitig auf die Angaben des IFD und von Frau X. als Sozialarbeiterin. Mit den Ausführungen der Fachgutachter habe sich der Beklagte nicht weiter auseinandergesetzt. Der Beklagte habe seine Verpflichtung zur Sachverhaltsaufklärung verletzt. Es werde nur davon ausgegangen, dass es auch weiterhin zu Konflikten am Arbeitsplatz kommen werde. Die Entscheidung des Beklagten verkenne den Behindertenschutz. Der Betroffene habe einen Anspruch darauf, das Arbeitsverhältnis mit einer leidensgerechten und behindertengerechten Beschäftigung fortzuführen. Das Arbeitsverhältnis solle, soweit zumutbar möglich, erhalten werden. Dies sei bei der Beigeladenen in technisch geprägten Arbeitsfeldern möglich, die keine überwiegenden Anforderungen an die soziale Kompetenz stellten. Auf derartige Tätigkeiten habe er sich auch intern beworben. Die Beeinträchtigung betrieblicher Belange sei nicht konkret dargelegt; auch insoweit fehle es an einer Zukunftsprognose. Die für den Kläger sprechenden Gesichtspunkte seien nur pauschal in die Abwägung eingestellt worden.
32Da die Kündigung des Arbeitsverhältnisses auf Gründe gestützt sei, die in der Behinderung selbst ihre Ursache hätten, seien die Anforderungen an die Zustimmungsentscheidung besonders hoch anzusetzen. Dem werde die Entscheidung nicht gerecht. Es sei unberücksichtigt geblieben, dass er vor dem Wechsel in die fragliche Abteilung 2006 keinen nennenswerten Fehlzeiten gehabt habe und dass die krankheitsbedingten Fehlzeiten in der nachfolgenden Zeit stark geschwankt hätten. Eine positive Prognose sei durch den Umstand nachträglich bestätigt worden, dass er nach dem 31.08.2011 keine Krankheitszeiten mehr aufgewiesen habe. Unberücksichtigt geblieben sei auch, dass die Beigeladene die Regelungen des BEM nicht eingehalten habe und im Konzern über ein umfangreiches Regelungssystem mit Betriebsvereinbarungen zum Eingliederungsmanagement verfüge. Der Beklagte habe sich auf eine Schlüssigkeitsprüfung beschränkt und auch nicht berücksichtigt, dass die in 2010 nach längerer Pause aufgetretene Ausfallzeit auf eine möglicherweise unangemessene Reaktion eines Vorgesetzten auf seine – des Klägers – Kandidatur zur Schwerbehindertenvertretung gewesen sein könnte.
33Als milderes Mittel sei es zumindest geboten gewesen, ihn auf einen anderen Arbeitsplatz zu versetzen.
34Auch sei ein Präventionsverfahren auf betrieblicher Ebene nach § 84 Abs. 1 SGB IX nicht durchgeführt worden. Zudem habe ein BEM nicht stattgefunden, sondern nur Eingliederungsgespräche und eine Eingliederung nach dem Hamburger Modell.
35Der Kläger beantragt,
36den Bescheid des Beklagten vom 12.10.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31.10.2012 aufzuheben und den Antrag der Beigeladenen auf Zustimmung zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses zurückzuweisen.
37Der Beklagte beantragt,
38 die Klage abzuweisen.
39Er bezieht sich auf die Begründung des Widerspruchsbescheides und verteidigt das Gutachten I. .
40Die Beigeladene beantragt ebenfalls,
41 die Klage abzuweisen.
42Sie tritt dem Vorbringen des Klägers entgegen und setzt sich u.a. mit den Einwänden des Klägers gegen das Gutachten I. auseinander.
43Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte nebst Anlagen, die beigezogenen Verwaltungsvorgänge (3 Bände) und die beigezogenen Gerichtsakten des Arbeitsgerichts M. (8 Bände) Bezug genommen.
44E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
45Die Klage ist weiterhin zulässig, obwohl durch das inzwischen rechtskräftige Urteil des Landesarbeitsgerichts vom 23.11.2018 das Arbeitsverhältnis zum 30.06.2012 gegen Zahlung einer Abfindung in Höhe von 30.000,00 Euro aufgelöst ist. Dem liegt die Möglichkeit des Arbeitgebers zugrunde, in einem Kündigungsschutzprozess nach § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG die Auflösung des Arbeitsverhältnisses hilfsweise für den Fall zu beantragen, dass das Gericht nicht feststellt, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung aufgelöst ist. Voraussetzung ist, dass „eine den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht (zu) erwarten (ist)“. Dies hat das Landesarbeitsgericht bejaht, da der Kläger durch wiederholte Suizidandrohungen versucht habe, Vorgesetzte unter Druck zu setzen und ebenso wiederholt gelogen habe.
46Dem Rechtsschutzinteresse im vorliegenden Verfahren steht dies nicht entgegen. Denn ein rechtlich schützenswertes Interesse an der Fortführung des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens besteht dann, wenn die spätere Aufhebung der Zustimmung des Integrationsamtes nach § 85 SGB IX (heute wortgleich § 168 SGB IX) zur Grundlage eines arbeitsgerichtlichen Restitutionsverfahrens nach § 79 Satz 1 ArbGG i.V.m. § 580 Nr. 6 ZPO gemacht werden kann. Vorliegend besteht allerdings die Besonderheit, dass eine Kündigung gar nicht mehr für unwirksam erklärt werden kann, weil dies bereits durch das Landesarbeitsgericht aus arbeitsrechtlichen Gründen geschehen ist. Die dem zugrunde liegende Gestaltungsmacht des § 9 KSchG knüpft indes an die Kündigung und den Kündigungsrechtsstreit an. Aus Sicht des Arbeitgebers ist sie ein weniger belastendes Minus gegenüber der Stattgabe der Kündigungsschutzklage. Ein arbeitsgerichtliches Restitutionsverfahren nach Aufhebung einer Zustimmung des Integrationsamtes kann folglich auch diesen gestaltenden Teil des arbeitsgerichtlichen Urteils erfassen,
47vgl. BayVGH, Urteil vom 27.11.2006 - 9 BV 05.2467 -; VG Stade, Urteil vom 12.12.2017 - 4 A 2438/16 -.
48Die Klage ist jedoch nicht begründet.
49Der Bescheid des Beklagten vom 12.10.2011 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 31.10.2012 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
50Nach dem im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten behördlichen Entscheidung,
51 vgl. hierzu BVerwG, Beschluss vom 10.11.2008 - 5 B 79.08 -,
52anzuwendenden § 85 SGB IX bedarf die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen durch den Arbeitgeber der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes. Die Entscheidung über die Zustimmung trifft das Integrationsamt im Grundsatz nach freiem, pflichtgemäßem Ermessen. Ihr liegt eine Abwägung zwischen dem Interesse des Arbeitgebers am Erhalt seiner wirtschaftlichen Gestaltungsmöglichkeiten und dem des schwerbehinderten Arbeitnehmers am Erhalt seines Arbeitsplatzes zugrunde. Auf Seiten des Arbeitnehmers sind hierbei namentlich Sinn und Zweck des Schwerbehindertenschutzes zu berücksichtigen. Der Schwerbehinderte soll vor den besonderen Gefahren, denen er auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gerade wegen seiner Behinderung ausgesetzt ist, bewahrt werden. Da das Zustimmungserfordernis neben den allgemeinen Schutz des Arbeitsverhältnisses durch die arbeitsrechtliche Regelungen und die Arbeitsgerichte tritt, dürfen – sofern nicht arbeitsrechtlich evident unzulässige Kündigungen in Rede stehen – bei der Entscheidung, ob die Zustimmung versagt oder erteilt wird, nur Erwägungen eine Rolle spielen, die sich speziell aus dem Schwerbehindertenschutz herleiten. Aus der schwerbehindertenrechtlichen Zweckbindung der Entscheidung folgt auch, dass zu Lasten des Arbeitgebers an die Unzumutbarkeit der Fortsetzung eines Arbeitsverhältnisses dann hohe Anforderungen zu stellen sind, wenn die Kündigung auf Gründe gestützt ist, die in der Schwerbehinderung selbst ihre Ursache haben.
53Vgl. BVerwG, Urteil vom 02.07.1992 - 5 C 51.90 -, BVerwGE 90, 287; Urteil vom 19.10.1995 – 5 C 24.93 -, NZA-RR 1996, 288; Kreitner in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IX, 3. Auflage (Stand 30.07.2020), § 171 SGB IX, Rn. 12-13.
54Die Ermessensentscheidung des Integrationsamtes kann gemäß § 114 Satz 1 VwGO durch das Verwaltungsgericht nur dahin überprüft werden, ob die angefochtene Entscheidung ohne Verletzung von Verfahrensvorschriften zustande gekommen ist, die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist.
55Vor diesem Hintergrund begegnet die Zustimmungsentscheidung des Beklagten zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses des schwerbehinderten Klägers keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
56Die Kammer geht hierbei davon aus, dass kein Fall eines arbeitsrechtlich evident unzulässigen Kündigungsverlangens vorliegt, dessen Berücksichtigung bei der verwaltungsgerichtlichen Prüfung überwiegend bejaht wird. Diese Evidenz besteht nur, wenn die Rechtswidrigkeit ohne jeden vernünftigen Zweifel und ohne Beweiserhebung in rechtlicher oder tatsächlicher Hinsicht zutage tritt und sich jedem Kundigen aufdrängt,
57vgl. OVG NRW, Beschluss vom 29.01.2015 - 12 A 412/14 -, Beschluss vom 22.01.2008 - 12 A 2094/08 -, Beschluss vom 31.10.2006 - 12 A 3554/06 -; kritisch: Düwell in: LPK-SGB IX, 4. Auflage 2014, § 89 Rn. 7.
58Hiervon kann bei der mit krankheitsbedingten Fehlzeiten begründeten Kündigung des Klägers keine Rede sein. Die dargestellten und auch von Klägerseite nicht bestrittenen Fehlzeiten überschritten in den Jahren 2006 bis 2010 die in arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung angenommenen Zumutbarkeitsgrenzen deutlich und wurden auch seitens des Arbeitsgerichts im Urteil vom 02.09.2014 zugrunde gelegt. Die abweichende Entscheidung des Landesarbeitsgerichts beruht demgegenüber auf einer unzureichenden Beteiligung des Betriebsrates nach § 102 Abs. 1 BetrVG. Diese ist ebensowenig offenkundig wie die ebenfalls problematisierte erhebliche Beeinträchtigung betrieblicher Interessen der Beigeladenen. Auch die Frage, ob im Vorfeld der Kündigung die Vorgaben des betrieblichen Eingliederungsmanagements vollständig erfüllt wurden, ist hiernach ohne Bedeutung.
59Die Entscheidung des Integrationsamtes leidet nicht an Ermessensfehlern. Sie beruht auf einer nachvollziehbaren Abwägung der wechselseitigen Interessen und berücksichtigt den Schutzgedanken des SGB IX in hinreichendem Umfang. Bereits die Begründung des Ausgangsbescheides ging in nachvollziehbarer Weise bei einer Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses von weiteren krankheitsbedingten Fehlzeiten aus. Die dem zugrunde liegende negative Gesundheitsprognose hat der Beklagte im Widerspruchsbescheid bekräftigt und vertiefend begründet. Die getroffene Bewertung beruht auf einer sorgfältigen Erfassung des Sachverhalts, die in zeitlicher Hinsicht rückschauend das gesamte Arbeitsverhältnis erfasst. Der Beklagte war dabei nicht an die Einschränkungen gebunden, die das Arbeitsrecht dem Arbeitgeber bei der Berücksichtigung zurückliegender Tatsachen im Kündigungsfall auferlegt. Denn die Frage, ob die Fortsetzung eines Arbeitsverhältnisses mit einem schwerbehinderten Arbeitnehmer in Zukunft zumutbar ist, kann notwendigerweise nur auf der Grundlage einer Bewertung aller im Zeitpunkt der Entscheidung bekannter Umstände getroffen werden. Die Abwägung der widerstreitenden Interessen im Schwerbehindertenrecht gebietet insoweit keine Einschränkungen. Vorgegeben ist insoweit nur die Verpflichtung des Integrationsamtes zu einer vollständigen Sachverhaltsermittlung.
60Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 22.03.2012 - 12 A 1871/11 -; BVerwG, Beschluss vom 10.11.2008 - 5 B 79.08 -.
61Der Beklagte hat seine Bewertung maßgeblich darauf gestützt, dass es bereits seit 2001 nach dem Wechsel des Klägers vom Versuchskraftwerk L. in das KKW D. zu Konflikten mit den dortigen Vorgesetzten kam, nachdem die Arbeitsmoral nicht seinen Vorstellungen entsprochen habe und sich diese Konflikte nach der Versetzung in die Zentrale nach M. fortsetzten und verschärften. Eine Änderung ergab sich hiernach auch im Rahmen der Ausbildung des Klägers zur Sicherheitsfachkraft in externen Seminaren nicht. Vielmehr zeigte der Kläger auch dort ein vergleichbares Verhalten. Die erheblichen Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit mit Kollegen und Vorgesetzten setzten sich auch danach fort. Sinnfällig wird dies in der auch von Klägerseite nicht substantiiert bestrittenen Darstellung, in M. habe der Kläger nur zu einem einzigen Mitarbeiter der Beigeladenen ein halbwegs kollegiales Verhältnis zu pflegen vermocht. Auch dieser habe aber mehrfach entnervt den Arbeitsplatz verlassen.
62Es wird zugunsten des Klägers unterstellt, dass sein Verhalten in den Jahren ab 2001, das hier nicht erneut im Einzelnen dargestellt werden muss, vollständig auf die von ihm nicht zu verantwortende Persönlichkeitsstörung zurückzuführen ist, die nunmehr attestiert ist und maßgeblich zur Anerkennung als Schwerbehinderter im Jahre 2007 geführt hat. Eine Zustimmung zur Kündigung unterliegt daher gesteigerten Voraussetzungen. Das Integrationsamt hat bei seiner Entscheidung indes berücksichtigt, dass die Beigeladene nach dem ersten Zustimmungsantrag im Herbst 2008, der mit einer Suspendierung des Klägers vom Dienst einherging, durchaus Bemühungen zum Erhalt des Arbeitsverhältnisses entfaltete. Angesprochen sind damit nicht nur der Versuch einer stufenweisen Wiedereingliederung am alten Arbeitsplatz ab Oktober 2009 nach einer teilstationären Behandlung des Klägers in einer Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Beklagten, sondern auch die BEM-Gespräche 2007 bis 2009 – das Gesprächsangebot vom 24.11.2010 wurde vom Kläger nicht mehr wahrgenommen, nachdem der Kläger bereits 2009 zu verstehen gegeben hatte, weitere Gesprächsangebote abzulehnen – und die gemeinsamen Gespräche bei der örtlichen Fürsorgestelle der Stadt M. sowie die Betreuung durch den Integrationsfachdienst des Beklagten. Sämtliche Bemühungen blieben jedoch erfolglos und mündeten in zwei weiteren Abmahnungen im Oktober und im Dezember 2010.
63Hinsichtlich der Fehlzeiten ist in der Gesamtschau der Jahre 2006 bis 2010 eine positive Entwicklung nicht zu erkennen. Die Ausfalltage schwanken durchgängig auf einem weit überdurchschnittlichen Niveau.
64Vor diesem Hintergrund ist die negative Zukunftsprognose aus der zeitlich maßgeblichen Sicht der Widerspruchsentscheidung nicht zu beanstanden. Sie wird durch sachkundige Stellungnahmen gestützt. So hat der Integrationsfachdienst (IFD) die Persönlichkeitsstörung des Klägers umfassend im Hinblick auf das bestehende Arbeitsverhältnis gewürdigt. Das Verhalten des Klägers schwanke krankheitsbedingt zwischen Überanpassung und absoluter Kompromisslosigkeit. Zwar verfüge der Kläger infolge der durchgeführten Therapie und der hohen Toleranzgrenze des unmittelbaren Vorgesetzten über eine verbesserte Impulskontrolle. Es sei jedoch nicht erwarten, dass die Therapie so durchschlagenden Erfolg habe, dass sich eine vollständige Verhaltensänderung einstelle. Der IFD beschrieb die Behandlung als einen Prozess, der weitergeführt werden müsse und Höhen und Tiefen durchlaufe und hielt eine Rückkehr an den bisherigen Arbeitsplatz nicht mehr für möglich. In diese Bewertung fügt sich die ebenfalls herangezogene Stellungnahme des M. Zentrums für Arbeitsmedizin vom 26.07.2011, die den Kläger als besonders konfliktanfällig beschreibt. Letztlich bestätigen diese Befunde die Diagnose schon in dem sozialmedizinischen Gutachten vom 30.09.2009 des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherungen Nordrhein gestellte Diagnose „Persönlichkeitsakzentuierung, PS mit emotional instabilen und impulsiven Verhaltensweisen“, womit auch die Einwände des Klägers gegen die Fachkompetenz der beteiligten Stellen ins Leere gehen.
65Eine positive Zukunftsprognose hat der Beklagte auch mit Blick auf Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten an einem anderen Arbeitsplatz im Betrieb der Beigeladenen ermessensfehlerfrei verneint. Zwar mutet es der Schwerbehindertenschutz dem Arbeitgeber in geeigneten Fällen zu, einen schwerbehinderten Arbeitnehmer in Ausnahmefällen auch dann weiter zu beschäftigten, wenn dies betrieblichen Belangen widerspricht,
66 BVerwG, Beschluss vom 16.06.1990 - 5 B 127.89 -.
67Dies kann namentlich dann geboten sein, wenn die Kündigung letztlich auf die Schwerbehinderung zurückzuführen ist. In einem solchen Fall kann auch die Umsetzung auf einen anderen leidensgerechten Arbeitsplatz geboten sein. Es ist jedoch folgerichtig, dass der Beklagte die Möglichkeit eines solchen Arbeitsplatzwechsels verworfen hat. Auch aus den fachlichen Stellungnahmen, die der Kläger für sich in Anspruch nimmt, lässt sich eine solche Alternative nicht realistisch entnehmen. Soweit der behandelnde Arzt Dr. A. und Dr. X. (MDK Nordrhein) auf eine Wiedereingliederung in einer anderen Abteilung resp. mit einem anderen Vorgesetzten verweisen, ist es für die Kammer nicht nachvollziehbar, wie dies im Unternehmen der Beigeladenen realisierbar gewesen wäre. Der IFD hat sich in seiner Stellungnahme vom 05.07.2011 nicht in der Lage gesehen, eine langfristig positive Prognose zu den Fehlzeiten abzugeben. Insbesondere nachvollziehbar ist die Aussage des IFD, dass es auch in einem großen Unternehmen keinen Arbeitsplatz gibt, der in dem geforderten Maß konfliktfrei ist. Diese auch von der Kammer geteilte Aussage relativiert auch das Ergebnis des Gutachtens Dr. Dr. S. vom 06.06.2012, wonach es als wahrscheinlich erwartet werden könne, dass bei einem neuen Arbeitsumfeld mit neuen unvorbelasteten Vorgesetzen und Kollegen ein konzentriertes und störungsfreieres Zusammenarbeiten und Kommunizieren erfolge, insbesondere wenn sich der Kläger auf technische Arbeiten konzentriere. Derartige Anforderungen an die Arbeitsplatzgestaltung überstiegen die Anforderungen des Schwerbehindertenschutzes. Er gebietet einen leidensgerechten Arbeitsplatz; dies aber nur unter den betrieblichen Bedingungen des Unternehmens. Eine Umgestaltung des Arbeitsplatzes kann nur im Rahmen des Zumutbaren gefordert werden. Nach der jahrelangen Vorgeschichte der Zustimmungsentscheidung drängte sich für den Beklagten hingegen das Bild eines Arbeitgebers auf, der im Rahmen des Möglichen zahlreiche Versuche der Eingliederung des Klägers erfolglos unternommen hatte. Eine erfolgreiche Weiterbeschäftigung an einem anderen Arbeitsplatz lag eher fern. Dies entsprach auch der seinerzeitigen Bewertung des Betriebsrates im Einvernehmen mit der Schwerbehindertenvertretung. Es ist zudem nicht schlüssig, wenn der Gutachter die Persönlichkeitsstörung auf das Verhalten der Vorgesetzten und Kollegen sowie auf „nicht professionell reflektierte Verhaltensmuster“ auf der Vorgesetztenebene zurückführt, gleichzeitig aber eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit im gleichen Betrieb sieht. Ungeachtet des Umstandes, dass der Sachverhalt keine Anhaltspunkte für eine „psycho-sozial unreflektierte Vorgesetztenstruktur“ (Seite 15 des Gutachtens) bietet, wird auch an kaum einem anderen, gerade auch technisch geprägten, Arbeitsplatz ein Vorgesetzter zur Verfügung stehen, der diesen Anforderungen genügt. Eine umfassende Betreuung kann nicht gefordert werden. Die Bewertung des Integrationsamtes, es könne nicht nachvollziehen, weshalb die Versetzung des Klägers an einen neuen Arbeitsplatz etwas an dem behinderungsbedingten Verhalten ändern sollte, ist damit nicht zu beanstanden.
68Sie wird rückblickend bestätigt durch das gerichtliche psychiatrisch-psychosomatische Gutachten I. vom 11.01.2013, das eine passiv-aggressive Persönlichkeitsstörung attestiert, die sich in starren Reaktionen auf unterschiedliche persönliche und soziale Lebenslagen zeige und nur kleine therapeutische Teilerfolge für möglich hält. Hinsichtlich der Frage nach einem leidensgerechten alternativen Arbeitsplatz äußert sich die Gutachterin in ihrer ergänzenden Stellungnahme an das Arbeitsgericht vom 16.12.2013 wie folgt:
69„Ein leidensgerechter Arbeitsplatz für einen Menschen mit einem solchen Störungsprofil müsste sehr klare und starre Strukturen haben, ohne alternative Wahlmöglichkeiten und Einflussnahme, es dürfte kein Zeitdruck geben, der Proband dürfte keine Verantwortung übernehmen, er sollte sich jederzeit vergewissern können, ob sein Vorgehen korrekt ist, er dürfte aber nicht kritisiert werden. Da der Proband über eine gute Intelligenz verfügt, ist damit zu rechnen, dass ihm die Arbeitsbereiche, die ihm genügend Sicherheit geben könnten und keine flexiblen Entscheidungen erforderten, rasch als zu anspruchslos erscheinen und deshalb wieder zu Spannungen führen würden. Gerade weil der Proband schon in sehr vielen Bereichen des Konzerns eingesetzt wurde und bekannt ist, ist damit zu rechnen, dass er jeden neuen Einsatzbereich ohne Verantwortung als Kränkung empfinden würde. Die emotionale Kränkung würde ein erhöhtes vegetatives Erregungsniveau mit sich bringen und im weiteren Verlauf zu verschiedenen Krankheiten führen. Diese ungünstige prognostische Einschätzung beruht auf einer sorgfältigen Zusammenfassung aller Einzelheiten, die persönlich in der Untersuchung festgestellt werden konnten und die aus den einzelnen Berichten in den Gerichtsakten zusammengetragen werden konnten.“
70Insgesamt bot sich damit das Bild eines Arbeitnehmers, dessen Weiterbeschäftigung im Betrieb der Beigeladenen behinderungsbedingt weder am bestehenden, noch an einem anderen Arbeitsplatz realistisch war. Ein weiteres „Durchschleppen“ des Arbeitnehmers am bestehenden Arbeitsplatz,
71 vgl. BVerwG, Beschluss vom 16.06.1990 - 5 B 127.89 -,
72war der Beigeladenen angesichts der zuvor gescheiterten Bemühungen um den Erhalt des Arbeitsverhältnisses und der geringen Heilungschancen nicht zumutbar. Diese schuldet eine Weiterbeschäftigung auch bei einer behinderungsbedingten Kündigung eben nur im Rahmen der betrieblichen Möglichkeiten. Dass diese nicht bestanden, wird an der Stellungnahme des Betriebsrates deutlich, der einer Weiterbeschäftigung des Klägers mit Blick auf den notwendigen Schutz der übrigen Beschäftigten der Beigeladenen widersprach.
73Angesichts dessen ist das Abwägungsergebnis zu Lasten des Klägers rechtlich nicht zu beanstanden.
74Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 und 3, 162 Abs. 3 VwGO. Es entspricht der Billigkeit, dem Kläger die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen aufzuerlegen, weil diese einen Antrag gestellt und sich damit einem Kostenrisiko ausgesetzt hat. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 188 Satz 2 VwGO.
75Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
76Rechtsmittelbelehrung
77Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zu, wenn sie von diesem zugelassen wird. Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn
78791. ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,
802. die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,
813. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
824. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
835. ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.
84Die Zulassung der Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, schriftlich zu beantragen. Der Antrag auf Zulassung der Berufung muss das angefochtene Urteil bezeichnen.
85Statt in Schriftform kann die Einlegung des Antrags auf Zulassung der Berufung auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) erfolgen.
86Die Gründe, aus denen die Berufung zugelassen werden soll, sind innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils darzulegen. Die Begründung ist schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, einzureichen, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist.
87Vor dem Oberverwaltungsgericht und bei Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht eingeleitet wird, muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung im Übrigen bezeichneten ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.
88Die Antragsschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.
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Tenor
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 1.250 Euro festgesetzt.
1Gründe:
2Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Die dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigen keine Änderung des angefochtenen Beschlusses.
3Art. 6 GG gewährt keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt. Allerdings verpflichtet die in Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, das heißt entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dieser verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz der Familie entspricht ein Anspruch des Trägers des Grundrechts aus Art. 6 GG darauf, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über das Aufenthaltsbegehren seine familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen angemessen berücksichtigen. Dabei ist grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalles geboten, bei der auf der einen Seite die familiären Bindungen zu berücksichtigen sind, auf der anderen Seite aber auch die sonstigen Umstände des Einzelfalles.
4Vgl. BVerfG, stattgebende Kammerbeschlüsse vom 5. Juni 2013 - 2 BvR 586/13 -, juris, Rn. 12, und vom 1. Dezember 2008 - 2 BvR 1830/08 -, juris, Rn. 25 f.; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 28. März 2019 - 11 S 623/19 -, juris, Rn.13.
5Ausländerrechtliche Schutzwirkungen entfaltet Art. 6 GG allerdings nicht schon aufgrund formal-rechtlicher familiärer Bindungen. Entscheidend ist vielmehr die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern, wobei - auch insofern - grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalls geboten ist.
6Vgl. BVerfG, stattgebende Kammerbeschlüsse vom 1. Dezember 2008 - 2 BvR 1830/08 -, juris, Rn. 28, und vom 8. Dezember 2005 - 2 BvR 1001/04 -, juris, Rn. 18.
7Es kommt dabei nicht darauf an, ob eine Hausgemeinschaft vorliegt und ob die von einem Familienmitglied tatsächlich erbrachte Lebenshilfe auch von anderen Personen erbracht werden könnte.
8Vgl. BVerfG, stattgebende Kammerbeschlüsse vom 5. Juni 2013 - 2 BvR 586/13 -, juris, Rn. 13, und vom 8. Dezember 2005 - 2 BvR 1001/04 -, juris, Rn. 20.
9Dies gilt auch für den Fall einer Beistandsgemeinschaft unter volljährigen Familienmitgliedern.
10BVerfG, stattgebende Kammerbeschlüsse vom 27. August 2010 - 2 BvR 130/10 -, juris, Rn. 44, und vom 25. Oktober 1995 - 2 BvR 901/95 -, juris, Rn. 8.
11Für das Entstehen aufenthaltsrechtlicher Schutzwirkungen aus Art. 6 Abs. 1 GG ist ferner von Belang, ob sich die Lebenshilfe des anderen Familienmitglieds nur in der Bundesrepublik Deutschland erbringen lässt. Kann der Beistand nur in der Bundesrepublik Deutschland geleistet werden, weil einem beteiligten Familienmitglied ein Verlassen der Bundesrepublik nicht zumutbar ist, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, regelmäßig einwanderungspolitische Belange zurück.
12Vgl. BVerfG, stattgebende Kammerbeschlüsse vom 17. Mai 2011 - 2 BvR 1367/10 -, juris, Rn. 16, und vom 25. Oktober 1995 - 2 BvR 901/95 -, juris, Rn. 8; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 28. März 2019 - 11 S 623/19 -, juris, Rn. 14.
13Insbesondere bei Beziehungen zwischen volljährigen Familienmitgliedern entstehen aufenthaltsrechtliche Schutzwirkungen - dies gilt auch mit Blick auf Art. 8 EMRK - jedoch nur unter der Voraussetzung, dass ein Familienmitglied auf die Lebenshilfe eines anderen Familienmitglieds auch angewiesen ist, bzw. wenn über die sonst üblichen Bindungen hinaus zusätzliche Merkmale einer Abhängigkeit vorhanden sind.
14Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 8. Juli 2019- 18 B 1274/18 - sowie Urteil vom 12. Juli 2017- 18 A 2735/15 -, juris, Rn. 90, jeweils m. w. N. zur Rechtsprechung des EGMR.
15Gerade dann, wenn bei Beziehungen zwischen volljährigen Familienmitgliedern mehrere Personen versuchen, sich durch Aufteilung der Beistandsleistungen ein Aufenthaltsrecht zu verschaffen, kann die erforderliche Abwägung mit den öffentlichen Belangen indes ergeben, dass das Interesse an der Aufrechterhaltung des familiären Beistandes (teilweise) zurückzutreten hat.
16Vgl. BVerfG, stattgebender Kammerbeschluss vom 27. August 2010 - 2 BvR 130/10 -, juris, Rn. 44.
17Damit einhergehend hat ein betreuungsbedürftiger Ausländer auch kein uneingeschränktes Wahlrecht zwischen mehreren betreuungsfähigen- und bereiten erwachsenen Familienangehörigen. Stattdessen ist neben dem Auswahlinteresse des betreuungsbedürftigen Ausländers und dem Bleibeinteresse des zur Betreuung bestimmten Familienangehörigen auch und gerade das öffentliche Interesse an der Ausreise einzelner Familienmitglieder in die Abwägung einzustellen.
18Vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 28. März 2019 - 11 S 623/19 -, juris, Rn. 16.
19Ferner bedarf es im konkreten Einzelfall der substantiierten Darlegung und - soweit prozessual erforderlich - Glaubhaftmachung, welcher konkrete Hilfebedarf bei dem betreuungsbedürftigen Ausländer jeweils anfällt. Überdies muss substantiiert dargetan und (ggfls.) glaubhaft gemacht werden, welche etwaigen Hilfeleistungen der betreuungsfähige- und bereite Familienangehörige erbringt bzw. erbringen wird.
20Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 8. April 2016- 18 B 320/16 - und vom 23. Juni 2015- 18 B 170/15 -.
21Gemessen an diesen Maßstäben zeigt das Beschwerdevorbringen nicht auf, dass eine Abschiebung der Antragstellerin - entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts - nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG mit Blick auf die Gewährleistungen nach Art. 6 Abs. 1 GG auszusetzen wäre. Die Ausführungen in der Bescheinigung der Katholischen Pfarrgemeinde St. N. N1. und D. B. vom 14. September 2020, wonach die Anwesenheit auch der Antragstellerin erforderlich sei, da beide Elternteile sehr viel Hilfe bräuchten, der gesundheitliche Zustand der Mutter der Antragstellerin absehbar schlechter werde, ein besonderes Nähe- und Vertrauensverhältnis der Antragstellerin zu ihrem Vater bestehe und der Bruder der Antragstellerin die Pflege der Eltern nicht allein wahrnehmen und bewältigen könne, genügt bereits den obigen Substantiierungsanforderungen nicht. Die - nicht unterschriebene - Erklärung von Herrn L. , bei dem es sich um den „Vermieter und Nachbar der Familie“ handeln soll, besitzt bereits deshalb keine Aussagekraft, weil nicht ersichtlich ist, wie und auf welche Weise dieser vertiefte Einblicke in den Lebensalltag der Antragstellerin, ihres Bruders und der gemeinsamen Eltern erlangt haben könnte. Der Hinweis in der Beschwerde, es werde derzeit „eine rechtliche Betreuung des Vaters durch die Geschwister eingeleitet“, ist ohne Belang. Das Betreuungsverhältnis ist, wie schon die Überschrift vor §§ 1896 ff. BGB ausdrücklich klarstellt, vom Gesetzgeber als eine ausschließlich rechtliche Betreuung konzipiert und nicht als eine auch die tatsächliche Fürsorge- und Betreuung umfassende Form der Lebenshilfe ausgestaltet worden.
22Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 10. März 2015- 18 B 1316/14 -, juris, Rn. 16.
23Die weiteren Ausführungen zur Frage der Wohnsitznahme der Antragstellerin und ihres Bruders sind für das vorliegende Verfahren unerheblich. Ebenso kann die Antragstellerin aus dem Umstand, dass sie seit dem 3. August 2020 am Projekt „T. Q. - berufliche Integration von Geflüchteten in die Altenpflege“ teilnimmt, nichts Tragfähiges herleiten.
24Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO; die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 1 und 2, 53 Abs. 2 GKG.
25Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
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Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 29. Dezember 2016 - 5 K 1994/14 - wird zurückgewiesen.Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst tragen.Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1 Der Kläger begehrt die Feststellung der Zugehörigkeit von in seinem Eigentum stehenden Grundstücken zu einem bestimmten Jagdbezirk. Er hat unter anderem die Grundstücke mit den im Zuge einer Flurbereinigungsmaßnahme neu zugeteilten Flurstücknummern ..., ..., ..., ... und ..., Gemarkung O..., Gemeinde Z..., mit einer Gesamtfläche von etwa 10,5 ha in den Jahren 2009 bis 2014 erworben. Am 20. Dezember 2019 ordnete das Landratsamt Heilbronn die Ausführung des Flurbereinigungsplans als Grundlage für die Neuordnung an und setzte als Zeitpunkt des Eintritts des neuen Rechtszustands den 15. Januar 2020 fest.
2 Die Gemeinde Z... beruht auf einem Zusammenschluss der früheren Gemeinden O..., L... und Z.... Die damaligen Gemeinden O... und L... vereinbarten am 17. November 1970 mit Wirkung vom 1. Januar 1971 und mit Genehmigung des Regierungspräsidiums Nordwürttemberg vom 30. November 1970 (GABl. 1971, 38) ihre Vereinigung zur neuen Gemeinde B.... Diese verlor wiederum im Zuge der kommunalen Gebietsreform mit Wirkung vom 1. Januar 1975 (§ 28 Nr. 2 des Gesetzes zum Abschluss der Neuordnung der Gemeinden [GBl. 1974, 248]) ihre Selbständigkeit durch Bildung der neuen Gemeinde Z... aus den Gemeinden B...-... und Z....
3 Die Grundstücke des Klägers liegen - zwischen den Beteiligten unstreitig - im Geltungsbereich eines zwischen der Jagdgenossenschaft des gemeinschaftlichen Jagdbezirks O... und der Jagdgenossenschaft des gemeinschaftlichen Jagdbezirks K... am 9. Juli 1974 geschlossenen und vom Landratsamt Karlsruhe am 5. Februar 1975 genehmigten Jagdangliederungsvertrags, mit dem dem Jagdbezirk K... insgesamt etwa 54,9 ha Fläche angegliedert wurden. Unterzeichnet ist der Vertrag von den damaligen Bürgermeistern der Gemeinde B... und der Gemeinde K....
4 Zur Vorgeschichte dieses Vertrages ist Folgendes festzustellen: Bereits am 29. September 1935 hatten die Jagdvorsteher der Jagdgenossenschaften O...-... und K... einen vom Kreisjägermeister am 18. Oktober 1935 genehmigten Jagdangliederungsvertrag geschlossen, mit dem etwa 90 Hektar Feldfläche, darunter (wohl) auch die vom Vertrag aus dem Jahr 1974 umfassten Flächen, vom Jagdbezirk O... an den Jagdbezirk K... angegliedert worden waren. Ausweislich der Regelung in § 6 dieses Vertrages war der Vertrag zeitlich nicht begrenzt. Die damalige Gemeinde O... hatte sich in der Folgezeit ab dem Jahr 1948 erfolglos um eine Aufhebung der Abrundung durch das Kreisjagdamt Heilbronn oder um eine Kündigung des Vertrages im Einverständnis mit der Gemeinde K... oder eine vertragliche Neuregelung bemüht. Auf eine Klage der Jagdgenossenschaft K..., die sich auf Unsicherheiten wegen einer im Jahr 1953 einseitig ausgesprochen Kündigung der Gemeinde O... stützte, hatte das Verwaltungsgericht Stuttgart mit Urteil vom 11. Februar 1972 festgestellt, dass die dem Jagdbezirk K... vertraglich angegliederte, 90 Hektar große Feldfläche des (früheren) Jagdbezirks O... weiterhin zum Jagdbezirk K... gehört. Vor dem Hintergrund dieses Urteils kam es schließlich zum Abschluss des Angliederungsvertrags im Jahr 1974, der seitdem von den Beteiligten umgesetzt wird.
5 Mit Schreiben vom 11. Februar 2014 wandte sich der Kläger an die Beklagte und beantragte die Prüfung der Angliederungsfrage und der Durchführung einer Versammlung zwecks Beschlusses über eine Neugliederung des Jagdbezirks. Die begehrte Rückgliederung lehnte die Beklagte mit Schreiben vom 28. Februar 2014 mit Hinweis auf die Wirksamkeit des Vertrags aus dem Jahr 1974 ab.
6 Am 13. März 2014 hat der Kläger Klage erhoben und beantragt festzustellen, dass der Westteil der zur Jagdgenossenschaft Z... gehörenden Teilgemarkung O... nicht wirksam in den Jagdbezirk der angrenzenden Jagdgenossenschaft K... angegliedert ist, sondern zur Jagdgenossenschaft Z... gehört. Zur Begründung führte er aus, sein Feststellungsinteresse folge aus dem Umstand der erheblich erschwerten Verpachtbarkeit und dem Wertverlust seiner Eigentumsflächen im Bereich der Abrundung und in Bezug auf seine weiterhin im Bezirk der Jagdgenossenschaft L.../O... gelegenen Grundstücke. Der Jagdangliederungsvertrag aus dem Jahr 1974 sei nicht zwischen den richtigen Parteien geschlossen worden, denn mit der kommunalen Neugliederung im Jahr 1972 sei die Zuständigkeit für jagdrechtliche Vereinbarungen von der Gemeinde O... an die Gesamtgemeinde Z... übergegangen. Die notwendige Besprechung mit den Jagdgenossen sei zum damaligen Zeitpunkt unterblieben, er habe deshalb als betroffener Grundbesitzer ein Anfechtungsrecht. Zudem mangele es auch am Vorliegen der Voraussetzungen für die großflächige Angliederung, da eine solche mit Blick auf Erfordernisse der Jagdpflege und der Jagdausübung nicht erforderlich sei. Das Areal umfasse annähernd die notwendige Größe für einen Eigenjagdbezirk, die Jagdausübung in K... werde nicht wesentlich betroffen, wenn auf der Fläche von einem anderen Jäger gejagt werde. Insoweit handele es sich auch nicht um eine bloße Grenzkorrektur. Im Zuge der Unwirksamkeit des Vertrags aus dem Jahr 1974 lebe auch nicht die Vereinbarung aus dem Jahr 1948 wieder auf, da es eindeutiger Wille auch der Beklagten gewesen sei, diesen alten Vertrag aufzuheben und es an der rechtfertigenden Grundlage mangele. Gleiches gelte für den Vertrag aus dem Jahr 1935.
7 Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit Urteil vom 29. Dezember 2016, zugestellt am 16. Januar 2017, abgewiesen. Der Verwaltungsrechtweg sei eröffnet, da das Klagebegehren auf die Feststellung der Mitgliedschaft in einer Jagdgenossenschaft und damit einer Körperschaft des öffentlichen Rechts gerichtet sei. Die daraus folgenden Rechtsbeziehungen seien öffentlich-rechtlicher Natur. Die Klage sei als Feststellungsklage statthaft, der Kläger habe auch ein berechtigtes Interesse an der Feststellung, welcher Jagdgenossenschaft seine Grundstücke zugehörig seien. Die Klagebefugnis folge aus Art. 14 Abs. 1 GG. Die Klage sei jedoch unzulässig wegen des in gleicher Sache ergangenen Urteils des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 11. Februar 1972.
8 Der Wirksamkeit des Vertrags aus dem Jahr 1974 stehe entgegen, dass die Jagdgenossenschaft O... zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses bereits nicht mehr existiert habe. Denn Rechtsnachfolgerin sei bereits am 1. Januar 1971 die Jagdgenossenschaft B... geworden. Die Genehmigung des Landratsamts Karlsruhe vom 5. Februar 1975 habe nicht zu einer Heilung des Fehlers geführt. Auch wenn davon ausgegangen werde, dass die neue Jagdgenossenschaft B... Vertragspartnerin habe werden sollen, sei der Vertrag unwirksam, da der unterzeichnende Bürgermeister weder gesetzlich noch durch Auftrag oder Bevollmächtigung befugt gewesen sei. Für einen entsprechenden Beschluss in einer Versammlung der Jagdgenossen gebe es keine Anhaltspunkte. Auch sei zum damaligen Zeitpunkt noch nicht die Wahl eines Jagdvorstandes erfolgt mit der Folge, dass der Gemeindevorstand, mithin der Gemeinderat zuständig gewesen sei. Dieser habe jedoch ausweislich der Akten nicht durch einen entsprechenden Beschluss an der Entscheidung mitgewirkt. Auch für eine nachträgliche Genehmigung des demnach schwebend unwirksamen Vertrags sei nichts ersichtlich.
9 In der Folge der Unwirksamkeit des im Jahr 1974 geschlossenen Vertrages habe der Vertrag aus dem Jahr 1935 weitergegolten. Die Wirksamkeit dieses Vertrages habe das Verwaltungsgericht Stuttgart mit dem Urteil vom 11. Februar 1972 festgestellt. Die Rechtskraft dieses Urteils erstrecke sich auch auf den Kläger, da die Zugehörigkeit der entsprechenden Grundstücke zu einem bestimmten Jagdbezirk gegenüber der Jagdgenossenschaft, deren Mitglied der Kläger sei, rechtskräftig festgestellt worden sei. Gründe für eine Durchbrechung der Rechtskraft seien nicht ersichtlich, die Aufrechterhaltung des durch den Jagdangliederungsvertrag geschaffenen Zustands sei nicht schlechthin unerträglich.
10 Am 13. Februar 2017 stellte der Kläger einen Antrag auf Zulassung der Berufung.
11 Mit Beschluss vom 7. Mai 2018 hat der Senat die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 29. Dezember 2016 - 5 K 1994/14 - zugelassen. Der Kläger habe ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) in einer den Anforderungen des § 124a Abs. 4 VwGO genügenden Weise dargelegt und diese lägen auch in der Sache vor.
12 Am 28. Juni 2018 hat der Kläger die Berufung begründet. Die Klage sei zulässig. Er habe ein berechtigtes Interesse an der Feststellung, zu welcher Jagdgenossenschaft seine Grundstücke gehören. Denn die Mitgliedschaft in der Jagdgenossenschaft stelle eine Zwangsmitgliedschaft in einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft dar und habe erhebliche Auswirkungen auf die Ausübung des Eigentums. Andere Rechtsschutzmöglichkeiten außer einer Klage gegen die Jagdgenossenschaft, die seine Grundstücke als ihrem Jagdbezirk zugehörig ansehe, habe er nicht. Die Feststellung des Verwaltungsgerichts, die vertragliche Vereinbarung aus dem Jahr 1974 sei aus formellen Gründen unwirksam, sei zutreffend. Allerdings sei entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts der alte Vertrag aus dem Jahr 1935 mit der Vereinbarung im Jahr 1974 konkludent aufgehoben worden und lebe auch nicht wieder auf. Zu dem Angliederungsvertrag aus dem Jahr 1935 finde sich keine Karte zu den Grenzen der Abrundung, auch der Vertragstext enthalte keine Beschreibung. Insoweit sei der Bestimmtheitsgrundsatz verletzt, zumal auch heute der Grenzverlauf - wegen Flurbereinigungen und einer geänderten Bewirtschaftung - nicht mehr festzustellen sei. Die Grenzen verliefen auch nicht mehr entlang von Flurstücken, sondern würden diese durchschneiden. Der unklare Grenzverlauf sei auch vor dem Hintergrund möglicher strafbarer Jagdwilderei nicht hinzunehmen. Die Jagdgrenze aus dem Jahr 1935 werde tatsächlich auch nicht mehr praktiziert. Schließlich seien die Beteiligten auch selbst zwischen 1953 bis zur Entscheidung des Verwaltungsgerichts im Jahr 1972 davon ausgegangen, dass die Vereinbarung aus dem Jahr 1935 mit einer letztmalig 1953 unwidersprochen ausgesprochenen Kündigung beendet werden konnte. Dass diese Annahme falsch gewesen sei, habe sich erst mit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts erwiesen. Die Annahme, dass die Grenzen aus dem Jahr 1935 wieder auflebten mit der Folge einer im Vergleich zur vertraglichen Vereinbarung aus dem Jahr 1974 noch großflächigeren Abgliederung von insgesamt 90 Hektar führe im Übrigen dazu, dass das Jagdrevier O..., das der Kläger gepachtet habe, in seiner Substanz betroffen werde, damit nicht mehr verpachtbar sei und er im Übrigen Jagdwilderei auf den Flächen begangen habe, die von dem Vertrag aus dem Jahr 1974 nicht erfasst worden seien. Er habe darüber hinaus auch ohnehin ein Recht auf Anpassung des alten öffentlich-rechtlichen Angliederungsvertrags aus § 60 VwVfG, da eine jagdpflegerische Notwendigkeit für die Abgliederung nicht bestehe. Eine solche folge auch nicht daraus, dass die Flächen fingerartig in das Gebiet der Jagdgenossenschaft K... hineinragten, denn es handele sich um selbständige Flächengebilde, die selbständig bejagbar seien. Seit 1935 sei der Bezirk der Jagdgenossenschaft K... mehrmals erheblich verändert worden - so beispielsweise in Bezug auf den Hessenwald -, ohne dass im Zuge dieser Veränderungen eine Anpassung an die Bedürfnisse der Jagdgenossenschaft O... erfolgt sei. Auch entspreche das 1935 vereinbarte Entgelt für die Abgliederung nicht mehr heute üblichen Maßstäben. Bei einer Anpassung der neuen Jagdgrenzen müssten auch nach Maßgabe des Jagd- und Wildtiermanagementgesetzes die Erfordernisse der Jagdpflege und der Jagdausübung Berücksichtigung finden. Dass sich danach die im Streit stehende Abrundung nicht aufdränge, ergebe sich auch aus einem Gutachten des Forstwissenschaftlers und Jägers Prof. B., Rottenburg am Neckar, vom 3. Mai 2017. Hinzu komme, dass die Jagdbezirke K... und Z... durch den staatlichen Eigenjagdbezirk Hessenwald getrennt seien und erst dessen Pacht durch K... die räumliche Verbindung herstelle. Es sei zudem zwischenzeitlich zu einem schlechthin unerträglichen Zustand gekommen, nachdem sich seit der Zeit des Dritten Reichs auch die Motivation der Hege generell geändert habe. Schließlich habe auch die Jagdgenossenschaft Z... in der Vergangenheit mehrfach zum Ausdruck gebracht, die Verhältnisse neu ordnen zu wollen und entsprechende Kündigungen ausgesprochen. An das Urteil aus dem Jahr 1972 sei er als Kläger nicht gebunden, da es in diesem Fall um die Verpachtungsbefugnis zweier Jagdgenossenschaften gegangen und die Eigentümerinteressen der einzelnen Jagdgenossen nicht vertreten worden seien.
13 Der Kläger beantragt,
14 unter Änderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 29. Dezember 2016 - 5 K 1994/14 - festzustellen, dass die im Eigentum des Klägers stehenden Grundstücke Flst. Nr. ... und ..., Gemarkung O..., Gemeinde Z..., zum Jagdbezirk Z... gehören.
15 Die Beklagte beantragt,
16 die Berufung zurückzuweisen.
17 Die Berufung sei bereits unzulässig, denn dem Kläger mangele es an der Klagebefugnis. Seine Mitwirkungsrechte gingen in den Beteiligungsrechten an den Willensbildungsprozessen der Jagdgenossenschaften auf. Das geltend gemachte Recht auf Anpassung oder Kündigung des Vertrages stehe allein den Jagdgenossenschaften zu, über eine eigene Rechtsposition verfüge der Kläger nicht. Zudem erwachse dem Kläger durch seine Mitgliedschaft in der beklagten Jagdgenossenschaft kein Nachteil, da sich hieraus ein höherer Auskehranspruch in Bezug auf die erwirtschafteten Jagdpachten ergebe. Auch mangele es dem Kläger am Feststellungsinteresse hinsichtlich der Unwirksamkeit der Vereinbarung aus dem Jahr 1974, da die Abrundung aus dem Jahr 1935 jedenfalls rechtlich irreversibel sei. Jedenfalls sei die Klage unbegründet, denn bereits die Jagdabrundungsvereinbarung aus dem Jahr 1974 sei wirksam. Auf die vom Kläger geltend gemachten Zweckmäßigkeitserwägungen bei der Gestaltung des Jagdbezirks komme es nicht an.
18 Der Beigeladene zu 1 hat keinen Antrag gestellt. Zur Sache trägt er vor, mit der erstmals im Berufungsverfahren erfolgten Geltendmachung der Unwirksamkeit des Vertrags aus dem Jahr 1935 liege eine unzulässige Klageänderung vor. Die Klage sei auch mangels Feststellungsinteresse unzulässig; dem Kläger, der nicht Vertragspartner sei, mangele es auch an der Klagebefugnis. Stichhaltige Gründe gegen die Wirksamkeit des Vertrags aus dem Jahr 1935 bringe der Kläger nicht vor. Ein etwaiges Anpassungsrecht hätten allein die beteiligten Jagdgenossenschaften. Zudem sei die im Jahr 1974 vorgenommene Angliederung in weiten Teilen jagdhegerisch sinnvoll. In einer Karte aus dem Jahr 1935 sei die damals angegliederte Fläche von 90 Hektar erkennbar, denn sie werde abgegrenzt durch einen heute noch existierenden Feldweg.
19 Die Beigeladene zu 2 hat keinen Antrag gestellt. Sie nimmt zur Sache Stellung und teilt mit, dass sie in der Vergangenheit mehrere Versuche unternommen habe, eine Neuordnung der Flächen zu erreichen. Eine solche sei unabdingbar. Insoweit unterstütze man das Vorgehen des Klägers. Die Grenzen der mit dem Vertrag aus dem Jahr 1935 angegliederten Flächen seien nicht mehr eindeutig bestimmt. Eine gemeinsame Lösung unter Einbeziehung der Jagdbehörden sei sicherlich sinnvoll.
20 Dem Senat liegen die Akten des Ausgangsverfahrens vor dem Verwaltungsgericht (ein Band), drei Bände Akten der Gemeinde Z..., zwei Bände Akten des Landratsamts Karlsruhe sowie 10 Bände Akten des Landratsamts Heilbronn vor. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf deren Inhalt und den der gewechselten Schriftsätze verwiesen.
Entscheidungsgründe
21 Die Berufung hat keinen Erfolg.
A.
22 Sie ist zwar zulässig. Die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 29. Dezember 2016 - 5 K 1994/14 - ist mit Senatsbeschluss vom 7. Mai 2018 zugelassen worden. Sie wurde am 28. Juni 2018 nach entsprechend gewährter Fristverlängerung (§ 124a Abs. 6 i. V. m. Abs. 3 Satz 3 VwGO) fristgerecht begründet.
B.
23 Die Berufung ist jedoch unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen. Denn die Klage ist zulässig (dazu I.), aber unbegründet (dazu II.).
I.
24 Die Klage ist zulässig.
25 1. Über die jedenfalls im erstinstanzlichen Verfahren zwischen den Beteiligten umstrittene Frage der Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs ist in der Rechtsmittelinstanz (§ 17a Abs. 5 GVG) nicht zu befinden.
26 2. Die Klage ist als Feststellungsklage nach § 43 Abs. 1 VwGO statthaft. Das berechtigte rechtliche und wirtschaftliche Interesse des Klägers an der Feststellung, dass seine Grundstücke nicht dem Jagdbezirk K... angehören, sondern dem Jagdbezirk O..., folgt aus den mit der Mitgliedschaft nach Maßgabe der §§ 8 ff. BJagdG, § 11 und §§ 15 ff. JWMG verbundenen Rechten und Pflichten, insbesondere der (Zwangs-)Mitgliedschaft in einer Jagdgenossenschaft, der Unterwerfung unter den Willensbildungsprozess innerhalb dieser Jagdgenossenschaft und dem damit verbundenen Verlust des Verpachtungsrechts und der Verwendung des Reinertrags (§ 9 Abs. 3 Satz 1 BJagdG). Auf die Frage, ob die Zugehörigkeit der Grundstücke zum Jagdbezirk K... für den Kläger mit positiven oder negativen wirtschaftlichen Auswirkungen verbunden ist, kommt es angesichts der hiervon unabhängig eintretenden unmittelbaren rechtlichen Folgen nicht an.
27 Mit Blick darauf, dass die Klage bereits erstinstanzlich auf die Feststellung der Zugehörigkeit (auch) der Grundstücke des Klägers zum Jagdbezirk Z... gerichtet war, liegt - anders als vom Beigeladenen zu 1 angenommen - keine Klageänderung (§ 91 VwGO) vor. Im Übrigen wäre eine solche nach § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 91 VwGO zum einen wegen Sachdienlichkeit zulässig; zum anderen wäre von einer Einwilligung jedenfalls der über den Verfahrensgegenstand dispositionsbefugten übrigen Beteiligten auszugehen, die sich ohne Widerspruch in der mündlichen Verhandlung auf die Klage eingelassen haben.
28 3. Der Feststellungsfähigkeit des Rechtsverhältnisses steht nicht entgegen, dass nach § 12 Abs. 2 JWMG das Recht zu schriftlichen Vereinbarungen zur Abrundung, insbesondere zur Abtrennung und Angliederung, allein den Jagdgenossenschaften zusteht und diese damit allein Vertragspartner auch der streitgegenständlichen Verträge - deren Wirksamkeit unterstellt - sind. Zwar ist die Frage, ob der Kläger mit seinen Grundstücken noch dem Jagdbezirk Z... ... angehört, nur unter Einbeziehung der Wirksamkeit der Angliederungsverträge und damit von Drittrechtsverhältnissen zu beantworten. Das Rechtsverhältnis im Sinne des § 43 VwGO, dessen Feststellung der Kläger begehrt - hier mithin der Wirksamkeit von Verträgen - muss indes nicht zwischen dem Kläger und dem Beklagten bestehen. Gegenstand kann auch ein Rechtsverhältnis zwischen dem Beklagten und einem Dritten sein, sofern von dem Rechtsverhältnis (analog § 42 Abs. 2 VwGO) auch eigene Rechte des Klägers abhängen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 30.7.1990 - 7 B 71/90 - juris Rn. 4 m. w. N; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 4.11.1997 - 1 S 1946/96 - juris Rn. 17; Pietzcker in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, 38. EL Januar 2020, § 43 Rn. 22; Happ in Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, § 43 Rn. 22, jeweils m. w. N.).
29 Die insoweit erforderliche mögliche Rechtsverletzung folgt hier für den Kläger aus der mit der (Zwangs-)Mitgliedschaft verbundenen Beeinträchtigung und möglichen Störung des Jagdausübungsrechts als Teil des Jagdrechts, das nach § 3 Abs. 1 Satz 1 und 2 BJagdG untrennbar mit dem Eigentum verbunden ist und den Schutz des Art. 14 GG genießt (vgl. Schuck in Schuck, BJagdG, 3. Auflage 2019, § 3 Rn. 17). Jedenfalls in Bezug auf die im Eigentum des Klägers stehenden Grundstücke bestehen vor diesem Hintergrund keine Zweifel an der hinreichenden Rechtsbetroffenheit.
30 4. Entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts steht der Zulässigkeit auch nicht entgegen, dass in gleicher Sache bereits eine rechtskräftige Entscheidung ergangen ist mit der Folge, dass eine nochmalige Verhandlung und Entscheidung über denselben Streitgegenstand zwischen den Beteiligten ausgeschlossen wäre („ne bis in idem“; vgl. Rennert in Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, § 121 Rn. 9). Denn das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 11. Februar 1972 - VRS III/7/71 - betrifft zum einen die im vorliegenden Verfahren streitgegenständliche Frage der Wirksamkeit des Vertrages aus dem Jahr 1974 nicht. Zum anderen war der Kläger auch nicht im Sinne von § 121 Nr. 1 VwGO Beteiligter des damaligen Verfahrens und ist auch nicht dessen Rechtsnachfolger. Auch wirkt die damalige Entscheidung nicht mit Rechtskraft auf den Kläger als Mitglied einer Jagdgenossenschaft oder als dessen Rechtsnachfolger. Vielmehr bindet eine Entscheidung, sofern - wie im damaligen Verfahren - zwei Körperschaften des öffentlichen Rechts (vgl. § 15 Abs. 2 JWMG) Verfahrensbeteiligte sind, eine Entscheidung (nur) alle diesem Rechtsträger zugeordneten Organe und Behörden (vgl. Clausing in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, 38. EL Januar 2020, § 121 Rn. 96.; Rennert in Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, § 121 Rn. 38, jeweils m. w. N.) und damit nicht den Kläger als bloßes Mitglied. Die bloße inter-partes-Wirkung der Rechtskraft der Entscheidung aus dem Jahr 1972 hat ihren Grund darin, dass nur die Beteiligten des Rechtsstreits auf das Klageverfahren einwirken und dort rechtlich gehört werden können (Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 103 Abs. 1 GG). Die mit der eingeschränkten Bindungswirkung in persönlicher Hinsicht verbleibende Rechtsunsicherheit ist vor diesem Hintergrund hinzunehmen.
II.
31 Die Klage ist jedoch nicht begründet. Denn die Grundstücke des Klägers gehören - wie die sie umgebenden Grundstücke - auf Grundlage des Angliederungsvertrags aus dem Jahr 1974 dem Jagdbezirk K... an. Zwar zählen die Grundstücke des Klägers grundsätzlich nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften zum Jagdbezirk Z... (dazu 1.). Der Angliederungsvertrag an den Jagdbezirk K... aus dem Jahr 1974 ist jedoch weiterhin wirksam (dazu 2.), die Wirksamkeit des Vertrags aus dem Jahr 1935 kann damit dahinstehen (dazu 3.). Ein Anspruch auf Neugliederung der Abrundung gegen die untere Jagdbehörde ist nicht streitgegenständlich (dazu 4.).
32 1. Nach § 8 Abs. 1 BJagdG und § 11 Abs. 1 JWMG bilden alle Grundflächen einer Gemeinde, die nicht zu einem Eigenjagdbezirk gehören, einen gemeinschaftlichen Jagdbezirk, wenn sie im Zusammenhang mindestens 150 Hektar umfassen. Ein Eigenjagdbezirk liegt nach § 7 Abs. 1 BJagdG, § 10 Abs. 1 JWMG nur vor bei zusammenhängenden Grundflächen mit einer land-, forst- oder fischereiwirtschaftlich nutzbaren Fläche von mindestens 75 Hektar.
33 Nach dieser Maßgabe zählen die im Eigentum des Klägers stehenden Grundstücke grundsätzlich zum Jagdbezirk Z..., da sie auf der Gemarkung der auf Grundlage von § 28 Nr. 2 des Gesetzes zum Abschluss der Neuordnung der Gemeinden (Besonderes Gemeindereformgesetz vom 9.7.1974 [GBl. 1974, 248]) zum 1. Januar 1975 neu geschaffenen Gemeinde Z... liegen und nicht zu einem Eigenjagdbezirk gehören.
34 2. Mit dem von den damaligen Bürgermeistern der Gemeinden Z... und K... am 9. Juli 1974 unterzeichneten und am 5. Februar 1975 vom Landratsamt Karlsruhe genehmigten Vertrag wurden die Grundstücke des Klägers und die sie umgebenden Grundstücke jedoch wirksam an den Jagdbezirk K...-... angegliedert.
35 a) Nach § 5 Abs. 1 BJagdG können Jagdbezirke durch Abtrennung, Angliederung oder Austausch von Grundflächen abgerundet werden, wenn dies aus Erfordernissen der Jagdpflege und Jagdausübung notwendig ist. Nach § 2 Abs. 1 LJagdG (in der Fassung vom 15. März 1954 [GBl. S. 35], jetzt § 12 Abs. 2 JWMG) setzt eine solche Abrundung eine schriftliche Vereinbarung der Beteiligten (Jagdgenossenschaften, Eigenjagdbesitzer) voraus. Die Vereinbarung bedarf zudem der Genehmigung der unteren Jagdbehörde und wird erst mit deren Erteilung rechtswirksam. Bei einer Abrundungsvereinbarung handelt es sich um einen öffentlich-rechtlichen Vertrag (vgl. zur aktuellen Rechtslage Brenner/Bürner/Kurz, Jagdrecht in Baden-Württemberg, 12. Auflage 2015, § 12 JWMG Rn. 7).
36 b) Der auf dieser Grundlage geschlossene Vertrag aus dem Jahr 1974 erweist sich als wirksam. Unerheblich ist, dass er im Namen der Jagdgenossenschaft O... geschlossen wurde (dazu aa)). Zwar hat der damalige Bürgermeister als Vertreter ohne Vertretungsmacht gehandelt. Jedoch ist der schwebend unwirksame Vertrag genehmigt und damit vollwirksam geworden. Zudem würde eine Berufung auf die Unwirksamkeit gegen Treu und Glauben verstoßen (dazu bb)). Einen Anspruch auf Vertragsanpassung oder ein Kündigungsrecht hat der Kläger nicht (dazu cc)). Andere Gründe für die Unwirksamkeit werden nicht vorgetragen (dazu dd)).
37 aa) Der Wirksamkeit des Vertrages steht nicht entgegen, dass dieser im Namen des gemeinschaftlichen Jagdbezirks O... geschlossen wurde.
38 (1) Zwar war die Gemeinde O... bereits mit Wirkung vom 1. Januar 1971 auf Grundlage der entsprechenden Vereinbarung mit der Gemeinde Lx-... in der Gemeinde B... aufgegangen. Die Vereinbarung vom 17. November 1970 wurde vom damaligen Regierungspräsidium Nordwürttemberg am 30. November 1971 genehmigt (GABl. 1971, 38). Durch diese kommunale Neugliederung war die frühere Jagdgenossenschaft O... grundsätzlich untergegangen (vgl. Mitschke/Schäfer, BJagdG, 4. Auflage 1982, § 8 Rn. 9).
39 (2) Dies schloss aber zum einen nicht von vornherein aus, dass der mehr als 250 Hektar und damit hinreichend große Jagdbezirk O... als selbständiger Jagdbezirk erhalten geblieben war. Auch zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses war nach § 8 Abs. 3 BJagdG, § 5 Abs. 2 LJagdG in den damals gültigen Fassungen auf Grundlage eines Beschlusses der Jagdgenossenschaft die Teilung eines gemeinschaftlichen Jagdbezirks möglich. Für einen Teilungsbeschluss und das Entstehen selbständiger Jagdgenossenschaften (vgl. § 8 Abs. 3 BJagdG; Mitzschke/Schäfer, BJagdG, 4. Auflage 1982, § 8 Rn. 29) mangelt es indes an Anhaltspunkten. Gegen eine Teilung spricht vielmehr, dass der Gesamtgemeinderat der Gemeinde B... am 15. März 1974 der Verpachtung aller auf dem Gemeindegebiet befindlichen Jagdbezirke, mithin der Jagdbezirke O... und L..., zugestimmt hat (siehe dazu die Akte der Gemeinde Z... Az. 787.21). Mithin ist keine rechtliche Trennung der Jagdbezirke erfolgt, sondern (lediglich) eine Verpachtung des Gesamtjagdbezirks in Teilen (vgl. § 8 LJagdG, jetzt § 17 Abs. 2 JWMG).
40 (3) Zum anderen ist nach § 133 BGB (vgl. zur Anwendbarkeit der allgemeinen Vorschriften des bürgerlichen Rechts über Rechtsgeschäfte auf öffentlich-rechtliche Verträge in der Zeit vor dem Inkrafttreten des VwVfG zum 1.1.1977 [BGBl 1976, 1253]: VGH Bad.-Württ., Entscheidung vom 19.3.1959 - 2 S 66/58 und 2 S 129/57 - ESVGH 9, 121, 127 m. w. N., juris LS; vgl. zur Anwendbarkeit der Vorschriften über Willenserklärungen für das Zustandekommen eines öffentlich-rechtlichen Vertrages nach aktuellem Recht: Bonk/Neumann/Siegel in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Auflage 2018, § 62 Rn. 25 m. w. N.) bei der Auslegung von Willenserklärungen und damit auch für die Beantwortung der Frage, wer Vertragspartner werden soll, der wirkliche Wille zu erforschen und nicht an dem buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften. Das übereinstimmend Gewollte hat den Vorrang vor einer irrtümlichen oder absichtlichen Falschbezeichnung („falsa demonstratio non nocet“ [vgl. Ellenberger in Palandt, BGB, 79. Auflage 2020, § 133 Rn. 8 m. w. N.]). Dieser Grundsatz findet auch auf die Frage der Erkennbarkeit des Vertretenen bei einem - wie hier vorliegenden - Handeln im fremden Namen Anwendung. Sofern Vertreter und Geschäftspartner die Person des Vertretenen mit dem falschen Namen bezeichnen, aber beide gleiche Vorstellungen von der Person des Vertretenen haben, ist die Falschbezeichnung unschädlich (vgl. Schubert in Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2018, § 164 Rn. 114).
41 So liegt der Fall hier, denn beide Vertragsparteien gingen bei lebensnaher Betrachtung davon aus, dass Vertragspartner die für das Abrundungsgebiet auf Seiten der Gemarkung O... zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses verantwortliche Jagdgenossenschaft und damit die zu diesem Zeitpunkt auf Grundlage der gesetzlichen Bedingungen allein bestehende Jagdgenossenschaft der Gemeinde B... wird, deren Bürgermeister auch gehandelt hat.
42 bb) Der Wirksamkeit des Vertrages steht auch nicht das etwaige Fehlen einer hinreichenden Vertretungsmacht des vertragsunterzeichnenden Bürgermeisters nach § 164 Abs. 1 BGB, im Namen und mit Wirkung für und gegen die damalige Jagdgenossenschaft B... zu handeln, entgegen. Zwar hat der damalige Bürgermeister ohne Vertretungsmacht gehandelt (dazu (1)). Der danach schwebend unwirksame Vertrag ist jedoch vom Vertretenen genehmigt worden (dazu (2)). Zudem wäre eine Berufung auf die Unwirksamkeit treuwidrig (dazu (3)).
43 (1) Der damalige Bürgermeister hat ohne Vertretungsmacht gehandelt.
44 (a) Nach der zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses bereits gültigen und bis heute unveränderten Regelung des § 9 Abs. 2 Satz 1 BJagdG (in der Fassung vom 29.11.1952 [BGBl. I. S. 780]) wird die Jagdgenossenschaft durch den Jagdvorstand gerichtlich und außergerichtlich vertreten. Der Jagdvorstand ist nach § 9 Abs. 2 Satz 2 BJagdG von der Jagdgenossenschaft zu wählen. Solange die Jagdgenossenschaft keinen Jagdvorstand gewählt hat, werden die Geschäfte des Jagdvorstandes nach § 9 Abs. 2 Satz 3 BJagdG vom Gemeindevorstand wahrgenommen. Gemeindevorstand in diesem Sinn ist nach § 6 Abs. 6 LJagdG (jetzt § 15 Abs. 3 Satz 3 JWMG) der Gemeinderat. Der Gemeinderat als Jagdvorstand ist mithin ein Kollegialorgan, bei dem eine Gesamtvertretung durch alle Gemeinderatsmitglieder die Regel wäre, sofern die Vertretung nicht anderweitig geregelt ist (vgl. Heckert, Landesjagdgesetz Baden-Württemberg, 2. Auflage 1975, S. 44 f.). Anders als in anderen Bundesländern (vgl. den Überblick bei Munte in Schuck, BJagdG, 3. Auflage 2019, § 9 Rn. 110) wird in Baden-Württemberg gerade nicht der Bürgermeister mit der Wahrnehmung der Aufgaben des Notjagdvorstandes betraut.
45 (b) Vorliegend mangelt es an der danach erforderlichen Entscheidung des von einer Jagdgenossenschaft legitimierten Jagdvorstandes oder an seiner Stelle des Gemeinderats der damaligen Gemeinde B... als Notvorstand, den Abrundungsvertrag mit der Jagdgenossenschaft des Jagdbezirks K... zu schließen.
46 (aa) Aus den beigezogenen Akten des Landratsamts Karlsruhe, der Gemeinde K..., des Landratsamts Heilbronn und der Gemeinde Z... geht zum einen nicht hervor, dass zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses bereits durch die Jagdgenossenschaft ein Jagdvorstand gewählt worden, ein Beschluss zur Abrundung gefasst worden und der Bürgermeister zum Abschluss der Vereinbarung bevollmächtigt worden wäre. Vielmehr werden Anhaltspunkte für den Zusammentritt einer Jagdgenossenschaft erstmals im Juni 1984 im Zusammenhang mit der Teilung des gemeinschaftlichen Jagdbezirks Z... aktenkundig, wobei auch zu diesem Zeitpunkt ein Jagdvorstand nicht gewählt wurde, sondern einzelne Jagdgenossen beauftragt wurden (Bl. 2 ff. der Akten des Landratsamts Heilbronn betreffend die „Jagdgenossenschaft Z..., Jagdvorstand: Gemeinderat; Satzung“). Eine Satzung einer Jagdgenossenschaft im Sinne von § 6 Abs. 2 LJagdG (jetzt § 15 Abs. 4 JWMG) befindet sich weiterhin nicht in den Akten. Die Bürgermeisterin der Gemeinde Z... hat in der mündlichen Verhandlung für die Beigeladene zu 2 das Fehlen entsprechender Regelungen bestätigt.
47 (bb) Auch liegen keine Hinweise dafür vor, dass der Gemeinderat der damaligen Gemeinde B... als Notvorstand im Sinne von § 9 Abs. 2 Satz 3 BJagdG einen Beschluss zum Abschluss des Abrundungsvertrages gefasst hätte. Die Gemeinde Z... hat auf entsprechende Anfrage des Verwaltungsgerichts im erstinstanzlichen Verfahren mit Schreiben vom 22. April 2016 mitgeteilt, dass der damalige Gemeinderat ausweislich der Protokolle den Jagdbezirk O... nicht behandelt habe. Jedenfalls mit Bezug auf die Frage der Abrundung und den Abschluss des Vertrages mit der Gemeinde K... liegen keine gegenteiligen Anhaltspunkte vor (siehe zur Befassung des Gemeinderats in Bezug auf die Verpachtung des Jagdbezirks O... aber nachfolgend (2)). Auch auf weitere Anforderung des Senats wurden keine entsprechenden Aufzeichnungen vorgelegt. Schließlich behauptet auch keiner der Beteiligten substantiiert, dass es eine entsprechende Beschlussfassung gegeben hätte. Demgegenüber finden sich allerdings bezogen auf den Abschluss von Pachtverträgen zum Bezirk O... auch in der Zeit vor 1974 Beschlüsse des Gemeinderats. Insoweit spricht einiges dafür, dass auch ein entsprechender Beschluss zur Abrundung in die Akten aufgenommen worden wäre. Der Gemeinderat war zwar ausweislich der Gemeinderatsprotokolle vom 15. März 1974 damit vertraut, dass der Abrundungsvertrag mit der Gemeinde K... diskutiert wurde. Für eine ausdrückliche Beteiligung an den eigentlichen Vertragsverhandlungen und dem Vertragsschluss liegen jedoch keine Hinweise vor.
48 (cc) Eine Vertretungsmacht des damaligen Bürgermeisters folgt auch nicht aus § 42 Abs. 1 Satz 2 GemO (in der bereits zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses gültigen Fassung vom 25. Juli 1955 [GBl. S. 129]). Danach vertritt der Bürgermeister die Gemeinde. Diese Vorschrift wird dahingehend ausgelegt, dass jedenfalls koordinationsrechtliche öffentlich-rechtliche Verträge, die der Bürgermeister in Überschreitung seiner im Innenverhältnis beschränkten Vertretungsbefugnis - mithin auch in Fällen eines fehlenden Gemeinderatsbeschlusses - schließt, dennoch von seiner unbeschränkten Vertretungsmacht nach außen erfasst sind und wirksam bleiben (vgl. Behrend in Dietlein/Pautsch, BeckOK Kommunalrecht Baden-Württemberg, § 42 GemO, Stand 1.7.2020, Rn. 6, 10; Engel/Heilshorn, Kommunalrecht Baden-Württemberg, 10. Auflage 2015, § 15 Rn. 40 m. w. N.; vgl. zur zivilrechtlichen Vertretungsmacht auch BGH, Urteil vom 1.6.2017 - VII ZR 49/16 - juris Rn. 11). Diese Grundsätze können indes vorliegend nicht zur Anwendung kommen, weil nicht die Vertretung der Gemeinde, sondern die Vertretung der Jagdgenossenschaft im Streit steht und eine gesetzliche Vorschrift, die dem Bürgermeister die Vertretung der Jagdgenossenschaften zuweist und damit einen Rechtsschein schafft, in Baden-Württemberg - wie gezeigt - gerade nicht existiert. Vielmehr weist die Gesetzeslage die Vertretungsmacht und Vertretungsbefugnis allein dem Jagdvorstand und bei dessen Fehlen dem Gemeinderat zu.
49 (2) Der Gemeinderat der Gemeinde B... bzw. in der Rechtsnachfolge der Gemeinderat der Gemeinde Z... als Notvorstand im Sinne von § 9 Abs. 2 Satz 3 BJagdG, § 6 Abs. 6 LJagdG hat den danach schwebend unwirksamen Vertrag (vgl. Ellenberger in Palandt, BGB, 79. Auflage 2020, vor § 104 Rn. 31) jedoch nach § 177 Abs. 1 BGB genehmigt und mit der Genehmigung vollwirksam gemacht. Eine solche Genehmigung ist eine einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung und kann nach § 182 Abs. 1 BGB gegenüber dem Vertreter oder dem Geschäftsgegner des Vertretergeschäfts erklärt werden. Dies kann auch durch schlüssiges Verhalten erfolgen. Eine Genehmigung schwebend unwirksamer Geschäfte durch schlüssiges Verhalten setzt dabei regelmäßig voraus, dass der Genehmigende die Unwirksamkeit kennt oder zumindest mit ihr rechnet und dass in seinem Verhalten der Ausdruck des Willens zu sehen ist, das bisher als unverbindlich angesehene Geschäft verbindlich zu machen (vgl. BGH, Urteil vom 22.2.2005 - XI ZR 41/04 - juris Rn. 24 m. w. N.). Ausreichend für eine Willenserklärung ist dabei, dass der Erklärende bei sorgfältigem Handeln nach Treu und Glauben hätte erkennen können, dass sein Agieren aus der Sicht eines objektiven Dritten als rechtserhebliche Erklärung verstanden werden durfte (vgl. BGH, Urteil vom 2.11.1989 - IX ZR 197/88 - juris Rn. 17 m. w. N.; vgl. zum Ganzen Schubert in Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2018, § 177 Rn. 33 ff. m. w. N.).
50 Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Dabei ist, da ein gegenteiliger Vorgang den Akten - wie dargestellt - nicht hinreichend sicher zu entnehmen ist, davon auszugehen, dass eine wirksame Beschlussfassung des Gemeinderats der Gemeinde B... zum Angliederungsvertrag nicht erfolgt ist. Dies vorausgesetzt, hat der Gemeinderat mit seinen Zustimmungen zur Verpachtung des Jagdbezirks O... sein - bis dahin fehlendes - Einverständnis mit der Abrundung gegenüber dem Bürgermeister als Vertreter hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht. So hat er im zeitlichen Zusammenhang mit der Verpachtung am 15. März 1974 beschlossen, den gemeinschaftlichen Jagdbezirk O... zu vergeben. In diesen Jagdpachtvertrag war unter § 11 Abs. 3 die Klausel aufgenommen, dass dem Jagdpächter bekannt war, dass die Jagdgenossenschaft B... zur damaligen Zeit noch Verhandlungen mit der Jagdgenossenschaft K... wegen einer Jagdabrundung führte und der Jagdpächter sich verpflichte, das Verhandlungsergebnis anzunehmen. Zu diesem Vertrag hat der Gemeinderat der Gemeinde Z... am 10. März 1975 - mithin nach Abschluss des Jagdangliederungsvertrags im Juli 1974 - beschlossen, einen weiteren Mitpächter aufzunehmen und einen entsprechenden Nachtragsvertrag vorzulegen. Bei lebensnaher Betrachtung ist davon auszugehen, dass dem Gemeinderat im Zeitpunkt dieser Zustimmung zur nachträglichen Aufnahme eines Mitpächters bekannt war, dass der Jagdbezirk durch die Abrundung - dann ohne seine Zustimmung - vertraglich verkleinert worden war mit der Folge, dass er mit der Billigung des Nachtragsvertrages auch den neuen Zuschnitt des Jagdbezirks gebilligt hat. Jedenfalls mit der Billigung der Neuverpachtung des Jagdbezirks mit Beschluss des Gemeinderats der Gemeinde Z... am 25. September 1984 kam das Einverständnis mit dem Neuzuschnitt des Bezirks O... ohne den an K... angegliederten Bereich hinreichend deutlich zum Ausdruck. Dem Gemeinderat lag dabei zu diesem Zeitpunkt das Angebotsschreiben des späteren Jagdpächters Z. vom 23. August 1984 und eine Zusammenstellung und Ermittlung der Jagdflächen einschließlich der ermittelten Pachtzinsen vor. Aus dieser Zusammenstellung ging eindeutig hervor, dass der Bereich O... um eine Abrundung in einer Größe von 54,9 Hektar verkleinert war. Ein entsprechender Plan, aus dem der abgegliederte Bereich eindeutig ersichtlich ist, war beigefügt. Spätestens den Beschluss vom 25. September 1984 musste der Bürgermeister - sofern nicht vorher bereits ein Einverständnis erklärt worden sein und damit weiterhin Unsicherheit über das Einverständnis mit dem Jagdangliederungsvertrag aus dem Jahr 1974 bestanden haben sollte - als Genehmigung dieses Vertrags verstehen. Anhaltspunkte für einen gegenteiligen Vorbehalt des Gemeinderates ergeben sich aus den Akten nicht. In keiner Form hat der Gemeinderat zum Ausdruck gebracht, dass auch der an den Jagdbezirk K... angegliederte Bereich zum Gegenstand eines Pachtvertrags gemacht werden soll (siehe zum Ganzen die Akte der Gemeinde Z... zu den einzelnen Jagdverpachtungen - O... - Az. 787.21). Sofern - wie vom Kläger vorgetragen - Teile des Gemeinderats in der jüngeren Zeit eine Nachverhandlung des Abrundungsvertrags angestrebt haben sollten, stellt dies das Vorliegen einer ursprünglichen Genehmigung nicht infrage, sondern unterstreicht demgegenüber, dass alle Beteiligten von der Wirksamkeit der Vereinbarung ausgegangen sind.
51 (3) Selbst wenn man das Vorliegen einer Genehmigung mit der Begründung verneinte, dass der Gemeinderat - obwohl das Fehlen eines Beschlusses zum Angliederungsvertrag zu unterstellen ist - potentiell nichts von der Unwirksamkeit wusste, so wäre mit Blick darauf, dass sowohl der Bürgermeister der Gemeinde Z... als Vertreter bzw. dessen Rechtsnachfolger als auch die Gemeinde K... als Vertragspartner und schließlich der Gemeinderat der Gemeinde Z... als Vertretener selbst das Vertretergeschäft über Jahrzehnte als wirksam behandelt und erfüllt haben, eine Berufung auf den Mangel an Vertretungsmacht treuwidrig („venire contra factum proprium“; § 242 BGB); bei allen Beteiligten ist durch entsprechende Vertragseinhaltung Vertrauen auf die Gültigkeit des Vertrags entstanden (vgl. BGH, Urteil vom 29.4.2003 - XI ZR 201/02 - juris Rn. 31 ff.; Schubert in Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2018, § 177 Rn. 38 m. w. N.). Auch insoweit wäre ein innerer Vorbehalt des Gemeinderates der Gemeinde Z... bei gleichzeitiger fortgesetzter Erfüllung des Vertrages unbeachtlich.
52 cc) Eine (teilweise) Unwirksamkeit des Vertrages ergibt sich auch nicht aus einem Anspruch des Klägers auf Anpassung oder Kündigung aus § 60 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG. Danach kann eine Vertragspartei eine Anpassung des Vertragsinhaltes an die geänderten Verhältnisse verlangen, oder, sofern eine Anpassung nicht möglich oder einer Vertragspartei nicht zuzumuten ist, den Vertrag kündigen, wenn die Verhältnisse, die für die Festsetzung des Vertragsinhalts maßgebend gewesen sind, sich seit Abschluss des Vertrags so wesentlich geändert haben, dass einer Vertragspartei das Festhalten an der ursprünglichen vertraglichen Regelung nicht zuzumuten ist.
53 § 60 VwVfG wurzelt im allgemeinen Rechtsgedanken von Treu und Glauben und entspricht inhaltlich den Vorschriften der §§ 313 und 314 BGB (vgl. Bonk/Neumann/Siegel in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Auflage 2018, § 60 Rn. 1 f.; Mann in ders./Sennekamp/Uechtritz, VwVfG, 2. Auflage 2019, § 60 Rn. 1). Die Regelung des § 313 BGB wird insoweit aus Spezialitätsgründen verdrängt (vgl. NdsOVG, Beschluss vom 14.2.2003 - 7 LA 130/02 - juris Rn. 2). In zeitlicher Hinsicht ist § 60 LVwVfG auch auf solche Verträge anzuwenden, die vor dem Inkrafttreten des Verwaltungsverfahrensgesetzes am 1. Januar 1977 abgeschlossen wurden, sofern sie zu diesem Zeitpunkt - etwa als noch nicht abgewickelte Dauerschuldverhältnisse - noch nicht vollständig erfüllt worden sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 5.2.2009 - 7 C 11.08 - juris Rn. 55; Senatsurteil vom 26.1.2005 - 5 S 1662/03 - juris Rn. 55, jeweils m. w. N.). Die Anpassung eines öffentlich-rechtlichen Vertrags an wesentlich geänderte (zugrunde gelegte) Verhältnisse nach § 60 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG erfolgt nicht automatisch. Vielmehr erwächst dem - vermeintlich benachteiligten - Vertragspartner ein eigenständiger Anpassungsanspruch, der durch (Leistungs-)Klage geltend zu machen ist, gerichtet auf Abgabe einer Willenserklärung, nämlich auf Zustimmung zu der verlangten Vertragsanpassung. Durch deren Erklärung bzw. durch ein diese Erklärung ersetzendes rechtskräftiges Urteil (§ 173 VwGO i.V.m. § 894 Abs. 1 Satz 1 ZPO) - zusammen mit dem Änderungsverlangen - kommt die (begehrte) Vertragsanpassung zustande (vgl. BVerwG, Urteil vom 26.1.1995 - 3 C 21.93 - juris Rn. 50 ff.; Senatsurteil vom 26.1.2005 - 5 S 1662/03 - juris Rn. 51).
54 Nach dieser Maßgabe kann eine Berufung auf § 60 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG der Klage nicht zum Erfolg verhelfen. Zum einen ist ein entsprechender Leistungsantrag nicht streitgegenständlich und vom Klageantrag nicht mehr gedeckt (§ 88 VwGO). Zum anderen ist der Kläger nicht Vertragspartei des Angliederungsvertrags aus dem Jahr 1974 und auch nicht Rechtsnachfolger einer der Vertragsparteien oder auf anderer Grundlage ermächtigt, einen Anpassungsanspruch geltend zu machen und durchzusetzen. Vertragsparteien sind vielmehr allein die beteiligten Jagdgenossenschaften und deren Rechtsnachfolgerinnen, mithin die Beklagte und die Beigeladene zu 2. Insoweit ist der Kläger darauf zu verweisen, auf die Willensbildungsprozesse innerhalb der beteiligten Jagdgenossenschaften nach Maßgabe der Satzungen (vgl. § 15 Abs. 3 ff. JWMG) Einfluss zu nehmen und die Geltendmachung eines etwaigen Anpassungsrechts zu verlangen. Die Beigeladene zu 2 hat ihre Bereitschaft hierzu bereits zum Ausdruck gebracht.
55 Damit kann im vorliegenden Verfahren dahinstehen, ob und in welchem Rahmen die Abrundung in ihrem bisherigen Umfang den Erfordernissen der Jagdpflege und Jagdausübung entspricht und ob sich - unter anderem durch Flurbereinigungen - die tatsächlichen örtlichen Gegebenheiten wie etwa Feldwege und Grundstücksgrenzen derart fundamental verändert haben, dass ein schlechthin unerträglicher Zustand eingetreten wäre.
56 dd) Andere Gründe für eine Unwirksamkeit des Angliederungsvertrags aus dem Jahr 1974 sind nicht ersichtlich und werden auch vom Kläger nicht vorgetragen.
57 3. Damit kann auch dahinstehen, ob für den Fall der Unwirksamkeit der Jagdangliederungsvertrag aus dem Jahr 1935 wieder aufleben würde, dessen Wirksamkeit das Verwaltungsgericht Stuttgart mit Urteil vom 11. Februar 1972 (VRS III/7/71) festgestellt hat und an dessen Stelle der Vertrag aus dem Jahr 1974 getreten ist. Insbesondere bedarf es keiner Klärung, ob der Vertragsgegenstand in der damaligen Vereinbarung mit der Formulierung „90.Hektar Feld“ ohne Beifügung einer Karte - der vom Beigeladenen zu 1 in der mündlichen vorgelegte Plan war insoweit nicht weiterführend - oder weitere Umschreibung hinreichend bestimmt war und welche Folgen - etwa eine Nichtigkeit oder nur ein Anpassungs- oder Kündigungsrecht der Vertragsparteien - eine mögliche Unbestimmtheit nach sich ziehen würde.
58 4. Eine Abrundung von Amts wegen durch die untere Jagdbehörde nach § 5 Abs. 1 BJagdG, § 12 Abs. 3 und 4 JWMG oder ein etwaiger Anspruch des Klägers hierauf (vgl. zum Rechtsschutz bei Ablehnung eines entsprechenden Antrags Mitzschke/Schäfer, BJagdG, 4. Auflage 1982, § 5 Rn. 36 m. w. N.; HessVGH, Beschluss vom 23.7.2017 - 4 B 2984/16 - juris) sind nicht streitgegenständlich.
C.
59 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 und 3, § 162 Abs. 3 VwGO.
60 Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.
61 Beschluss vom 6. Oktober 2020
62 Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 5.000 Euro festgesetzt.
63 Gründe
64 Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 Satz 1 GKG in Verbindung mit § 52 Abs. 2 GKG.
65 Der Beschluss ist unanfechtbar.
Gründe
21 Die Berufung hat keinen Erfolg.
A.
22 Sie ist zwar zulässig. Die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 29. Dezember 2016 - 5 K 1994/14 - ist mit Senatsbeschluss vom 7. Mai 2018 zugelassen worden. Sie wurde am 28. Juni 2018 nach entsprechend gewährter Fristverlängerung (§ 124a Abs. 6 i. V. m. Abs. 3 Satz 3 VwGO) fristgerecht begründet.
B.
23 Die Berufung ist jedoch unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen. Denn die Klage ist zulässig (dazu I.), aber unbegründet (dazu II.).
I.
24 Die Klage ist zulässig.
25 1. Über die jedenfalls im erstinstanzlichen Verfahren zwischen den Beteiligten umstrittene Frage der Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs ist in der Rechtsmittelinstanz (§ 17a Abs. 5 GVG) nicht zu befinden.
26 2. Die Klage ist als Feststellungsklage nach § 43 Abs. 1 VwGO statthaft. Das berechtigte rechtliche und wirtschaftliche Interesse des Klägers an der Feststellung, dass seine Grundstücke nicht dem Jagdbezirk K... angehören, sondern dem Jagdbezirk O..., folgt aus den mit der Mitgliedschaft nach Maßgabe der §§ 8 ff. BJagdG, § 11 und §§ 15 ff. JWMG verbundenen Rechten und Pflichten, insbesondere der (Zwangs-)Mitgliedschaft in einer Jagdgenossenschaft, der Unterwerfung unter den Willensbildungsprozess innerhalb dieser Jagdgenossenschaft und dem damit verbundenen Verlust des Verpachtungsrechts und der Verwendung des Reinertrags (§ 9 Abs. 3 Satz 1 BJagdG). Auf die Frage, ob die Zugehörigkeit der Grundstücke zum Jagdbezirk K... für den Kläger mit positiven oder negativen wirtschaftlichen Auswirkungen verbunden ist, kommt es angesichts der hiervon unabhängig eintretenden unmittelbaren rechtlichen Folgen nicht an.
27 Mit Blick darauf, dass die Klage bereits erstinstanzlich auf die Feststellung der Zugehörigkeit (auch) der Grundstücke des Klägers zum Jagdbezirk Z... gerichtet war, liegt - anders als vom Beigeladenen zu 1 angenommen - keine Klageänderung (§ 91 VwGO) vor. Im Übrigen wäre eine solche nach § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 91 VwGO zum einen wegen Sachdienlichkeit zulässig; zum anderen wäre von einer Einwilligung jedenfalls der über den Verfahrensgegenstand dispositionsbefugten übrigen Beteiligten auszugehen, die sich ohne Widerspruch in der mündlichen Verhandlung auf die Klage eingelassen haben.
28 3. Der Feststellungsfähigkeit des Rechtsverhältnisses steht nicht entgegen, dass nach § 12 Abs. 2 JWMG das Recht zu schriftlichen Vereinbarungen zur Abrundung, insbesondere zur Abtrennung und Angliederung, allein den Jagdgenossenschaften zusteht und diese damit allein Vertragspartner auch der streitgegenständlichen Verträge - deren Wirksamkeit unterstellt - sind. Zwar ist die Frage, ob der Kläger mit seinen Grundstücken noch dem Jagdbezirk Z... ... angehört, nur unter Einbeziehung der Wirksamkeit der Angliederungsverträge und damit von Drittrechtsverhältnissen zu beantworten. Das Rechtsverhältnis im Sinne des § 43 VwGO, dessen Feststellung der Kläger begehrt - hier mithin der Wirksamkeit von Verträgen - muss indes nicht zwischen dem Kläger und dem Beklagten bestehen. Gegenstand kann auch ein Rechtsverhältnis zwischen dem Beklagten und einem Dritten sein, sofern von dem Rechtsverhältnis (analog § 42 Abs. 2 VwGO) auch eigene Rechte des Klägers abhängen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 30.7.1990 - 7 B 71/90 - juris Rn. 4 m. w. N; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 4.11.1997 - 1 S 1946/96 - juris Rn. 17; Pietzcker in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, 38. EL Januar 2020, § 43 Rn. 22; Happ in Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, § 43 Rn. 22, jeweils m. w. N.).
29 Die insoweit erforderliche mögliche Rechtsverletzung folgt hier für den Kläger aus der mit der (Zwangs-)Mitgliedschaft verbundenen Beeinträchtigung und möglichen Störung des Jagdausübungsrechts als Teil des Jagdrechts, das nach § 3 Abs. 1 Satz 1 und 2 BJagdG untrennbar mit dem Eigentum verbunden ist und den Schutz des Art. 14 GG genießt (vgl. Schuck in Schuck, BJagdG, 3. Auflage 2019, § 3 Rn. 17). Jedenfalls in Bezug auf die im Eigentum des Klägers stehenden Grundstücke bestehen vor diesem Hintergrund keine Zweifel an der hinreichenden Rechtsbetroffenheit.
30 4. Entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts steht der Zulässigkeit auch nicht entgegen, dass in gleicher Sache bereits eine rechtskräftige Entscheidung ergangen ist mit der Folge, dass eine nochmalige Verhandlung und Entscheidung über denselben Streitgegenstand zwischen den Beteiligten ausgeschlossen wäre („ne bis in idem“; vgl. Rennert in Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, § 121 Rn. 9). Denn das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 11. Februar 1972 - VRS III/7/71 - betrifft zum einen die im vorliegenden Verfahren streitgegenständliche Frage der Wirksamkeit des Vertrages aus dem Jahr 1974 nicht. Zum anderen war der Kläger auch nicht im Sinne von § 121 Nr. 1 VwGO Beteiligter des damaligen Verfahrens und ist auch nicht dessen Rechtsnachfolger. Auch wirkt die damalige Entscheidung nicht mit Rechtskraft auf den Kläger als Mitglied einer Jagdgenossenschaft oder als dessen Rechtsnachfolger. Vielmehr bindet eine Entscheidung, sofern - wie im damaligen Verfahren - zwei Körperschaften des öffentlichen Rechts (vgl. § 15 Abs. 2 JWMG) Verfahrensbeteiligte sind, eine Entscheidung (nur) alle diesem Rechtsträger zugeordneten Organe und Behörden (vgl. Clausing in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, 38. EL Januar 2020, § 121 Rn. 96.; Rennert in Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, § 121 Rn. 38, jeweils m. w. N.) und damit nicht den Kläger als bloßes Mitglied. Die bloße inter-partes-Wirkung der Rechtskraft der Entscheidung aus dem Jahr 1972 hat ihren Grund darin, dass nur die Beteiligten des Rechtsstreits auf das Klageverfahren einwirken und dort rechtlich gehört werden können (Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 103 Abs. 1 GG). Die mit der eingeschränkten Bindungswirkung in persönlicher Hinsicht verbleibende Rechtsunsicherheit ist vor diesem Hintergrund hinzunehmen.
II.
31 Die Klage ist jedoch nicht begründet. Denn die Grundstücke des Klägers gehören - wie die sie umgebenden Grundstücke - auf Grundlage des Angliederungsvertrags aus dem Jahr 1974 dem Jagdbezirk K... an. Zwar zählen die Grundstücke des Klägers grundsätzlich nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften zum Jagdbezirk Z... (dazu 1.). Der Angliederungsvertrag an den Jagdbezirk K... aus dem Jahr 1974 ist jedoch weiterhin wirksam (dazu 2.), die Wirksamkeit des Vertrags aus dem Jahr 1935 kann damit dahinstehen (dazu 3.). Ein Anspruch auf Neugliederung der Abrundung gegen die untere Jagdbehörde ist nicht streitgegenständlich (dazu 4.).
32 1. Nach § 8 Abs. 1 BJagdG und § 11 Abs. 1 JWMG bilden alle Grundflächen einer Gemeinde, die nicht zu einem Eigenjagdbezirk gehören, einen gemeinschaftlichen Jagdbezirk, wenn sie im Zusammenhang mindestens 150 Hektar umfassen. Ein Eigenjagdbezirk liegt nach § 7 Abs. 1 BJagdG, § 10 Abs. 1 JWMG nur vor bei zusammenhängenden Grundflächen mit einer land-, forst- oder fischereiwirtschaftlich nutzbaren Fläche von mindestens 75 Hektar.
33 Nach dieser Maßgabe zählen die im Eigentum des Klägers stehenden Grundstücke grundsätzlich zum Jagdbezirk Z..., da sie auf der Gemarkung der auf Grundlage von § 28 Nr. 2 des Gesetzes zum Abschluss der Neuordnung der Gemeinden (Besonderes Gemeindereformgesetz vom 9.7.1974 [GBl. 1974, 248]) zum 1. Januar 1975 neu geschaffenen Gemeinde Z... liegen und nicht zu einem Eigenjagdbezirk gehören.
34 2. Mit dem von den damaligen Bürgermeistern der Gemeinden Z... und K... am 9. Juli 1974 unterzeichneten und am 5. Februar 1975 vom Landratsamt Karlsruhe genehmigten Vertrag wurden die Grundstücke des Klägers und die sie umgebenden Grundstücke jedoch wirksam an den Jagdbezirk K...-... angegliedert.
35 a) Nach § 5 Abs. 1 BJagdG können Jagdbezirke durch Abtrennung, Angliederung oder Austausch von Grundflächen abgerundet werden, wenn dies aus Erfordernissen der Jagdpflege und Jagdausübung notwendig ist. Nach § 2 Abs. 1 LJagdG (in der Fassung vom 15. März 1954 [GBl. S. 35], jetzt § 12 Abs. 2 JWMG) setzt eine solche Abrundung eine schriftliche Vereinbarung der Beteiligten (Jagdgenossenschaften, Eigenjagdbesitzer) voraus. Die Vereinbarung bedarf zudem der Genehmigung der unteren Jagdbehörde und wird erst mit deren Erteilung rechtswirksam. Bei einer Abrundungsvereinbarung handelt es sich um einen öffentlich-rechtlichen Vertrag (vgl. zur aktuellen Rechtslage Brenner/Bürner/Kurz, Jagdrecht in Baden-Württemberg, 12. Auflage 2015, § 12 JWMG Rn. 7).
36 b) Der auf dieser Grundlage geschlossene Vertrag aus dem Jahr 1974 erweist sich als wirksam. Unerheblich ist, dass er im Namen der Jagdgenossenschaft O... geschlossen wurde (dazu aa)). Zwar hat der damalige Bürgermeister als Vertreter ohne Vertretungsmacht gehandelt. Jedoch ist der schwebend unwirksame Vertrag genehmigt und damit vollwirksam geworden. Zudem würde eine Berufung auf die Unwirksamkeit gegen Treu und Glauben verstoßen (dazu bb)). Einen Anspruch auf Vertragsanpassung oder ein Kündigungsrecht hat der Kläger nicht (dazu cc)). Andere Gründe für die Unwirksamkeit werden nicht vorgetragen (dazu dd)).
37 aa) Der Wirksamkeit des Vertrages steht nicht entgegen, dass dieser im Namen des gemeinschaftlichen Jagdbezirks O... geschlossen wurde.
38 (1) Zwar war die Gemeinde O... bereits mit Wirkung vom 1. Januar 1971 auf Grundlage der entsprechenden Vereinbarung mit der Gemeinde Lx-... in der Gemeinde B... aufgegangen. Die Vereinbarung vom 17. November 1970 wurde vom damaligen Regierungspräsidium Nordwürttemberg am 30. November 1971 genehmigt (GABl. 1971, 38). Durch diese kommunale Neugliederung war die frühere Jagdgenossenschaft O... grundsätzlich untergegangen (vgl. Mitschke/Schäfer, BJagdG, 4. Auflage 1982, § 8 Rn. 9).
39 (2) Dies schloss aber zum einen nicht von vornherein aus, dass der mehr als 250 Hektar und damit hinreichend große Jagdbezirk O... als selbständiger Jagdbezirk erhalten geblieben war. Auch zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses war nach § 8 Abs. 3 BJagdG, § 5 Abs. 2 LJagdG in den damals gültigen Fassungen auf Grundlage eines Beschlusses der Jagdgenossenschaft die Teilung eines gemeinschaftlichen Jagdbezirks möglich. Für einen Teilungsbeschluss und das Entstehen selbständiger Jagdgenossenschaften (vgl. § 8 Abs. 3 BJagdG; Mitzschke/Schäfer, BJagdG, 4. Auflage 1982, § 8 Rn. 29) mangelt es indes an Anhaltspunkten. Gegen eine Teilung spricht vielmehr, dass der Gesamtgemeinderat der Gemeinde B... am 15. März 1974 der Verpachtung aller auf dem Gemeindegebiet befindlichen Jagdbezirke, mithin der Jagdbezirke O... und L..., zugestimmt hat (siehe dazu die Akte der Gemeinde Z... Az. 787.21). Mithin ist keine rechtliche Trennung der Jagdbezirke erfolgt, sondern (lediglich) eine Verpachtung des Gesamtjagdbezirks in Teilen (vgl. § 8 LJagdG, jetzt § 17 Abs. 2 JWMG).
40 (3) Zum anderen ist nach § 133 BGB (vgl. zur Anwendbarkeit der allgemeinen Vorschriften des bürgerlichen Rechts über Rechtsgeschäfte auf öffentlich-rechtliche Verträge in der Zeit vor dem Inkrafttreten des VwVfG zum 1.1.1977 [BGBl 1976, 1253]: VGH Bad.-Württ., Entscheidung vom 19.3.1959 - 2 S 66/58 und 2 S 129/57 - ESVGH 9, 121, 127 m. w. N., juris LS; vgl. zur Anwendbarkeit der Vorschriften über Willenserklärungen für das Zustandekommen eines öffentlich-rechtlichen Vertrages nach aktuellem Recht: Bonk/Neumann/Siegel in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Auflage 2018, § 62 Rn. 25 m. w. N.) bei der Auslegung von Willenserklärungen und damit auch für die Beantwortung der Frage, wer Vertragspartner werden soll, der wirkliche Wille zu erforschen und nicht an dem buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften. Das übereinstimmend Gewollte hat den Vorrang vor einer irrtümlichen oder absichtlichen Falschbezeichnung („falsa demonstratio non nocet“ [vgl. Ellenberger in Palandt, BGB, 79. Auflage 2020, § 133 Rn. 8 m. w. N.]). Dieser Grundsatz findet auch auf die Frage der Erkennbarkeit des Vertretenen bei einem - wie hier vorliegenden - Handeln im fremden Namen Anwendung. Sofern Vertreter und Geschäftspartner die Person des Vertretenen mit dem falschen Namen bezeichnen, aber beide gleiche Vorstellungen von der Person des Vertretenen haben, ist die Falschbezeichnung unschädlich (vgl. Schubert in Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2018, § 164 Rn. 114).
41 So liegt der Fall hier, denn beide Vertragsparteien gingen bei lebensnaher Betrachtung davon aus, dass Vertragspartner die für das Abrundungsgebiet auf Seiten der Gemarkung O... zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses verantwortliche Jagdgenossenschaft und damit die zu diesem Zeitpunkt auf Grundlage der gesetzlichen Bedingungen allein bestehende Jagdgenossenschaft der Gemeinde B... wird, deren Bürgermeister auch gehandelt hat.
42 bb) Der Wirksamkeit des Vertrages steht auch nicht das etwaige Fehlen einer hinreichenden Vertretungsmacht des vertragsunterzeichnenden Bürgermeisters nach § 164 Abs. 1 BGB, im Namen und mit Wirkung für und gegen die damalige Jagdgenossenschaft B... zu handeln, entgegen. Zwar hat der damalige Bürgermeister ohne Vertretungsmacht gehandelt (dazu (1)). Der danach schwebend unwirksame Vertrag ist jedoch vom Vertretenen genehmigt worden (dazu (2)). Zudem wäre eine Berufung auf die Unwirksamkeit treuwidrig (dazu (3)).
43 (1) Der damalige Bürgermeister hat ohne Vertretungsmacht gehandelt.
44 (a) Nach der zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses bereits gültigen und bis heute unveränderten Regelung des § 9 Abs. 2 Satz 1 BJagdG (in der Fassung vom 29.11.1952 [BGBl. I. S. 780]) wird die Jagdgenossenschaft durch den Jagdvorstand gerichtlich und außergerichtlich vertreten. Der Jagdvorstand ist nach § 9 Abs. 2 Satz 2 BJagdG von der Jagdgenossenschaft zu wählen. Solange die Jagdgenossenschaft keinen Jagdvorstand gewählt hat, werden die Geschäfte des Jagdvorstandes nach § 9 Abs. 2 Satz 3 BJagdG vom Gemeindevorstand wahrgenommen. Gemeindevorstand in diesem Sinn ist nach § 6 Abs. 6 LJagdG (jetzt § 15 Abs. 3 Satz 3 JWMG) der Gemeinderat. Der Gemeinderat als Jagdvorstand ist mithin ein Kollegialorgan, bei dem eine Gesamtvertretung durch alle Gemeinderatsmitglieder die Regel wäre, sofern die Vertretung nicht anderweitig geregelt ist (vgl. Heckert, Landesjagdgesetz Baden-Württemberg, 2. Auflage 1975, S. 44 f.). Anders als in anderen Bundesländern (vgl. den Überblick bei Munte in Schuck, BJagdG, 3. Auflage 2019, § 9 Rn. 110) wird in Baden-Württemberg gerade nicht der Bürgermeister mit der Wahrnehmung der Aufgaben des Notjagdvorstandes betraut.
45 (b) Vorliegend mangelt es an der danach erforderlichen Entscheidung des von einer Jagdgenossenschaft legitimierten Jagdvorstandes oder an seiner Stelle des Gemeinderats der damaligen Gemeinde B... als Notvorstand, den Abrundungsvertrag mit der Jagdgenossenschaft des Jagdbezirks K... zu schließen.
46 (aa) Aus den beigezogenen Akten des Landratsamts Karlsruhe, der Gemeinde K..., des Landratsamts Heilbronn und der Gemeinde Z... geht zum einen nicht hervor, dass zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses bereits durch die Jagdgenossenschaft ein Jagdvorstand gewählt worden, ein Beschluss zur Abrundung gefasst worden und der Bürgermeister zum Abschluss der Vereinbarung bevollmächtigt worden wäre. Vielmehr werden Anhaltspunkte für den Zusammentritt einer Jagdgenossenschaft erstmals im Juni 1984 im Zusammenhang mit der Teilung des gemeinschaftlichen Jagdbezirks Z... aktenkundig, wobei auch zu diesem Zeitpunkt ein Jagdvorstand nicht gewählt wurde, sondern einzelne Jagdgenossen beauftragt wurden (Bl. 2 ff. der Akten des Landratsamts Heilbronn betreffend die „Jagdgenossenschaft Z..., Jagdvorstand: Gemeinderat; Satzung“). Eine Satzung einer Jagdgenossenschaft im Sinne von § 6 Abs. 2 LJagdG (jetzt § 15 Abs. 4 JWMG) befindet sich weiterhin nicht in den Akten. Die Bürgermeisterin der Gemeinde Z... hat in der mündlichen Verhandlung für die Beigeladene zu 2 das Fehlen entsprechender Regelungen bestätigt.
47 (bb) Auch liegen keine Hinweise dafür vor, dass der Gemeinderat der damaligen Gemeinde B... als Notvorstand im Sinne von § 9 Abs. 2 Satz 3 BJagdG einen Beschluss zum Abschluss des Abrundungsvertrages gefasst hätte. Die Gemeinde Z... hat auf entsprechende Anfrage des Verwaltungsgerichts im erstinstanzlichen Verfahren mit Schreiben vom 22. April 2016 mitgeteilt, dass der damalige Gemeinderat ausweislich der Protokolle den Jagdbezirk O... nicht behandelt habe. Jedenfalls mit Bezug auf die Frage der Abrundung und den Abschluss des Vertrages mit der Gemeinde K... liegen keine gegenteiligen Anhaltspunkte vor (siehe zur Befassung des Gemeinderats in Bezug auf die Verpachtung des Jagdbezirks O... aber nachfolgend (2)). Auch auf weitere Anforderung des Senats wurden keine entsprechenden Aufzeichnungen vorgelegt. Schließlich behauptet auch keiner der Beteiligten substantiiert, dass es eine entsprechende Beschlussfassung gegeben hätte. Demgegenüber finden sich allerdings bezogen auf den Abschluss von Pachtverträgen zum Bezirk O... auch in der Zeit vor 1974 Beschlüsse des Gemeinderats. Insoweit spricht einiges dafür, dass auch ein entsprechender Beschluss zur Abrundung in die Akten aufgenommen worden wäre. Der Gemeinderat war zwar ausweislich der Gemeinderatsprotokolle vom 15. März 1974 damit vertraut, dass der Abrundungsvertrag mit der Gemeinde K... diskutiert wurde. Für eine ausdrückliche Beteiligung an den eigentlichen Vertragsverhandlungen und dem Vertragsschluss liegen jedoch keine Hinweise vor.
48 (cc) Eine Vertretungsmacht des damaligen Bürgermeisters folgt auch nicht aus § 42 Abs. 1 Satz 2 GemO (in der bereits zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses gültigen Fassung vom 25. Juli 1955 [GBl. S. 129]). Danach vertritt der Bürgermeister die Gemeinde. Diese Vorschrift wird dahingehend ausgelegt, dass jedenfalls koordinationsrechtliche öffentlich-rechtliche Verträge, die der Bürgermeister in Überschreitung seiner im Innenverhältnis beschränkten Vertretungsbefugnis - mithin auch in Fällen eines fehlenden Gemeinderatsbeschlusses - schließt, dennoch von seiner unbeschränkten Vertretungsmacht nach außen erfasst sind und wirksam bleiben (vgl. Behrend in Dietlein/Pautsch, BeckOK Kommunalrecht Baden-Württemberg, § 42 GemO, Stand 1.7.2020, Rn. 6, 10; Engel/Heilshorn, Kommunalrecht Baden-Württemberg, 10. Auflage 2015, § 15 Rn. 40 m. w. N.; vgl. zur zivilrechtlichen Vertretungsmacht auch BGH, Urteil vom 1.6.2017 - VII ZR 49/16 - juris Rn. 11). Diese Grundsätze können indes vorliegend nicht zur Anwendung kommen, weil nicht die Vertretung der Gemeinde, sondern die Vertretung der Jagdgenossenschaft im Streit steht und eine gesetzliche Vorschrift, die dem Bürgermeister die Vertretung der Jagdgenossenschaften zuweist und damit einen Rechtsschein schafft, in Baden-Württemberg - wie gezeigt - gerade nicht existiert. Vielmehr weist die Gesetzeslage die Vertretungsmacht und Vertretungsbefugnis allein dem Jagdvorstand und bei dessen Fehlen dem Gemeinderat zu.
49 (2) Der Gemeinderat der Gemeinde B... bzw. in der Rechtsnachfolge der Gemeinderat der Gemeinde Z... als Notvorstand im Sinne von § 9 Abs. 2 Satz 3 BJagdG, § 6 Abs. 6 LJagdG hat den danach schwebend unwirksamen Vertrag (vgl. Ellenberger in Palandt, BGB, 79. Auflage 2020, vor § 104 Rn. 31) jedoch nach § 177 Abs. 1 BGB genehmigt und mit der Genehmigung vollwirksam gemacht. Eine solche Genehmigung ist eine einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung und kann nach § 182 Abs. 1 BGB gegenüber dem Vertreter oder dem Geschäftsgegner des Vertretergeschäfts erklärt werden. Dies kann auch durch schlüssiges Verhalten erfolgen. Eine Genehmigung schwebend unwirksamer Geschäfte durch schlüssiges Verhalten setzt dabei regelmäßig voraus, dass der Genehmigende die Unwirksamkeit kennt oder zumindest mit ihr rechnet und dass in seinem Verhalten der Ausdruck des Willens zu sehen ist, das bisher als unverbindlich angesehene Geschäft verbindlich zu machen (vgl. BGH, Urteil vom 22.2.2005 - XI ZR 41/04 - juris Rn. 24 m. w. N.). Ausreichend für eine Willenserklärung ist dabei, dass der Erklärende bei sorgfältigem Handeln nach Treu und Glauben hätte erkennen können, dass sein Agieren aus der Sicht eines objektiven Dritten als rechtserhebliche Erklärung verstanden werden durfte (vgl. BGH, Urteil vom 2.11.1989 - IX ZR 197/88 - juris Rn. 17 m. w. N.; vgl. zum Ganzen Schubert in Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2018, § 177 Rn. 33 ff. m. w. N.).
50 Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Dabei ist, da ein gegenteiliger Vorgang den Akten - wie dargestellt - nicht hinreichend sicher zu entnehmen ist, davon auszugehen, dass eine wirksame Beschlussfassung des Gemeinderats der Gemeinde B... zum Angliederungsvertrag nicht erfolgt ist. Dies vorausgesetzt, hat der Gemeinderat mit seinen Zustimmungen zur Verpachtung des Jagdbezirks O... sein - bis dahin fehlendes - Einverständnis mit der Abrundung gegenüber dem Bürgermeister als Vertreter hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht. So hat er im zeitlichen Zusammenhang mit der Verpachtung am 15. März 1974 beschlossen, den gemeinschaftlichen Jagdbezirk O... zu vergeben. In diesen Jagdpachtvertrag war unter § 11 Abs. 3 die Klausel aufgenommen, dass dem Jagdpächter bekannt war, dass die Jagdgenossenschaft B... zur damaligen Zeit noch Verhandlungen mit der Jagdgenossenschaft K... wegen einer Jagdabrundung führte und der Jagdpächter sich verpflichte, das Verhandlungsergebnis anzunehmen. Zu diesem Vertrag hat der Gemeinderat der Gemeinde Z... am 10. März 1975 - mithin nach Abschluss des Jagdangliederungsvertrags im Juli 1974 - beschlossen, einen weiteren Mitpächter aufzunehmen und einen entsprechenden Nachtragsvertrag vorzulegen. Bei lebensnaher Betrachtung ist davon auszugehen, dass dem Gemeinderat im Zeitpunkt dieser Zustimmung zur nachträglichen Aufnahme eines Mitpächters bekannt war, dass der Jagdbezirk durch die Abrundung - dann ohne seine Zustimmung - vertraglich verkleinert worden war mit der Folge, dass er mit der Billigung des Nachtragsvertrages auch den neuen Zuschnitt des Jagdbezirks gebilligt hat. Jedenfalls mit der Billigung der Neuverpachtung des Jagdbezirks mit Beschluss des Gemeinderats der Gemeinde Z... am 25. September 1984 kam das Einverständnis mit dem Neuzuschnitt des Bezirks O... ohne den an K... angegliederten Bereich hinreichend deutlich zum Ausdruck. Dem Gemeinderat lag dabei zu diesem Zeitpunkt das Angebotsschreiben des späteren Jagdpächters Z. vom 23. August 1984 und eine Zusammenstellung und Ermittlung der Jagdflächen einschließlich der ermittelten Pachtzinsen vor. Aus dieser Zusammenstellung ging eindeutig hervor, dass der Bereich O... um eine Abrundung in einer Größe von 54,9 Hektar verkleinert war. Ein entsprechender Plan, aus dem der abgegliederte Bereich eindeutig ersichtlich ist, war beigefügt. Spätestens den Beschluss vom 25. September 1984 musste der Bürgermeister - sofern nicht vorher bereits ein Einverständnis erklärt worden sein und damit weiterhin Unsicherheit über das Einverständnis mit dem Jagdangliederungsvertrag aus dem Jahr 1974 bestanden haben sollte - als Genehmigung dieses Vertrags verstehen. Anhaltspunkte für einen gegenteiligen Vorbehalt des Gemeinderates ergeben sich aus den Akten nicht. In keiner Form hat der Gemeinderat zum Ausdruck gebracht, dass auch der an den Jagdbezirk K... angegliederte Bereich zum Gegenstand eines Pachtvertrags gemacht werden soll (siehe zum Ganzen die Akte der Gemeinde Z... zu den einzelnen Jagdverpachtungen - O... - Az. 787.21). Sofern - wie vom Kläger vorgetragen - Teile des Gemeinderats in der jüngeren Zeit eine Nachverhandlung des Abrundungsvertrags angestrebt haben sollten, stellt dies das Vorliegen einer ursprünglichen Genehmigung nicht infrage, sondern unterstreicht demgegenüber, dass alle Beteiligten von der Wirksamkeit der Vereinbarung ausgegangen sind.
51 (3) Selbst wenn man das Vorliegen einer Genehmigung mit der Begründung verneinte, dass der Gemeinderat - obwohl das Fehlen eines Beschlusses zum Angliederungsvertrag zu unterstellen ist - potentiell nichts von der Unwirksamkeit wusste, so wäre mit Blick darauf, dass sowohl der Bürgermeister der Gemeinde Z... als Vertreter bzw. dessen Rechtsnachfolger als auch die Gemeinde K... als Vertragspartner und schließlich der Gemeinderat der Gemeinde Z... als Vertretener selbst das Vertretergeschäft über Jahrzehnte als wirksam behandelt und erfüllt haben, eine Berufung auf den Mangel an Vertretungsmacht treuwidrig („venire contra factum proprium“; § 242 BGB); bei allen Beteiligten ist durch entsprechende Vertragseinhaltung Vertrauen auf die Gültigkeit des Vertrags entstanden (vgl. BGH, Urteil vom 29.4.2003 - XI ZR 201/02 - juris Rn. 31 ff.; Schubert in Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2018, § 177 Rn. 38 m. w. N.). Auch insoweit wäre ein innerer Vorbehalt des Gemeinderates der Gemeinde Z... bei gleichzeitiger fortgesetzter Erfüllung des Vertrages unbeachtlich.
52 cc) Eine (teilweise) Unwirksamkeit des Vertrages ergibt sich auch nicht aus einem Anspruch des Klägers auf Anpassung oder Kündigung aus § 60 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG. Danach kann eine Vertragspartei eine Anpassung des Vertragsinhaltes an die geänderten Verhältnisse verlangen, oder, sofern eine Anpassung nicht möglich oder einer Vertragspartei nicht zuzumuten ist, den Vertrag kündigen, wenn die Verhältnisse, die für die Festsetzung des Vertragsinhalts maßgebend gewesen sind, sich seit Abschluss des Vertrags so wesentlich geändert haben, dass einer Vertragspartei das Festhalten an der ursprünglichen vertraglichen Regelung nicht zuzumuten ist.
53 § 60 VwVfG wurzelt im allgemeinen Rechtsgedanken von Treu und Glauben und entspricht inhaltlich den Vorschriften der §§ 313 und 314 BGB (vgl. Bonk/Neumann/Siegel in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Auflage 2018, § 60 Rn. 1 f.; Mann in ders./Sennekamp/Uechtritz, VwVfG, 2. Auflage 2019, § 60 Rn. 1). Die Regelung des § 313 BGB wird insoweit aus Spezialitätsgründen verdrängt (vgl. NdsOVG, Beschluss vom 14.2.2003 - 7 LA 130/02 - juris Rn. 2). In zeitlicher Hinsicht ist § 60 LVwVfG auch auf solche Verträge anzuwenden, die vor dem Inkrafttreten des Verwaltungsverfahrensgesetzes am 1. Januar 1977 abgeschlossen wurden, sofern sie zu diesem Zeitpunkt - etwa als noch nicht abgewickelte Dauerschuldverhältnisse - noch nicht vollständig erfüllt worden sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 5.2.2009 - 7 C 11.08 - juris Rn. 55; Senatsurteil vom 26.1.2005 - 5 S 1662/03 - juris Rn. 55, jeweils m. w. N.). Die Anpassung eines öffentlich-rechtlichen Vertrags an wesentlich geänderte (zugrunde gelegte) Verhältnisse nach § 60 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG erfolgt nicht automatisch. Vielmehr erwächst dem - vermeintlich benachteiligten - Vertragspartner ein eigenständiger Anpassungsanspruch, der durch (Leistungs-)Klage geltend zu machen ist, gerichtet auf Abgabe einer Willenserklärung, nämlich auf Zustimmung zu der verlangten Vertragsanpassung. Durch deren Erklärung bzw. durch ein diese Erklärung ersetzendes rechtskräftiges Urteil (§ 173 VwGO i.V.m. § 894 Abs. 1 Satz 1 ZPO) - zusammen mit dem Änderungsverlangen - kommt die (begehrte) Vertragsanpassung zustande (vgl. BVerwG, Urteil vom 26.1.1995 - 3 C 21.93 - juris Rn. 50 ff.; Senatsurteil vom 26.1.2005 - 5 S 1662/03 - juris Rn. 51).
54 Nach dieser Maßgabe kann eine Berufung auf § 60 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG der Klage nicht zum Erfolg verhelfen. Zum einen ist ein entsprechender Leistungsantrag nicht streitgegenständlich und vom Klageantrag nicht mehr gedeckt (§ 88 VwGO). Zum anderen ist der Kläger nicht Vertragspartei des Angliederungsvertrags aus dem Jahr 1974 und auch nicht Rechtsnachfolger einer der Vertragsparteien oder auf anderer Grundlage ermächtigt, einen Anpassungsanspruch geltend zu machen und durchzusetzen. Vertragsparteien sind vielmehr allein die beteiligten Jagdgenossenschaften und deren Rechtsnachfolgerinnen, mithin die Beklagte und die Beigeladene zu 2. Insoweit ist der Kläger darauf zu verweisen, auf die Willensbildungsprozesse innerhalb der beteiligten Jagdgenossenschaften nach Maßgabe der Satzungen (vgl. § 15 Abs. 3 ff. JWMG) Einfluss zu nehmen und die Geltendmachung eines etwaigen Anpassungsrechts zu verlangen. Die Beigeladene zu 2 hat ihre Bereitschaft hierzu bereits zum Ausdruck gebracht.
55 Damit kann im vorliegenden Verfahren dahinstehen, ob und in welchem Rahmen die Abrundung in ihrem bisherigen Umfang den Erfordernissen der Jagdpflege und Jagdausübung entspricht und ob sich - unter anderem durch Flurbereinigungen - die tatsächlichen örtlichen Gegebenheiten wie etwa Feldwege und Grundstücksgrenzen derart fundamental verändert haben, dass ein schlechthin unerträglicher Zustand eingetreten wäre.
56 dd) Andere Gründe für eine Unwirksamkeit des Angliederungsvertrags aus dem Jahr 1974 sind nicht ersichtlich und werden auch vom Kläger nicht vorgetragen.
57 3. Damit kann auch dahinstehen, ob für den Fall der Unwirksamkeit der Jagdangliederungsvertrag aus dem Jahr 1935 wieder aufleben würde, dessen Wirksamkeit das Verwaltungsgericht Stuttgart mit Urteil vom 11. Februar 1972 (VRS III/7/71) festgestellt hat und an dessen Stelle der Vertrag aus dem Jahr 1974 getreten ist. Insbesondere bedarf es keiner Klärung, ob der Vertragsgegenstand in der damaligen Vereinbarung mit der Formulierung „90.Hektar Feld“ ohne Beifügung einer Karte - der vom Beigeladenen zu 1 in der mündlichen vorgelegte Plan war insoweit nicht weiterführend - oder weitere Umschreibung hinreichend bestimmt war und welche Folgen - etwa eine Nichtigkeit oder nur ein Anpassungs- oder Kündigungsrecht der Vertragsparteien - eine mögliche Unbestimmtheit nach sich ziehen würde.
58 4. Eine Abrundung von Amts wegen durch die untere Jagdbehörde nach § 5 Abs. 1 BJagdG, § 12 Abs. 3 und 4 JWMG oder ein etwaiger Anspruch des Klägers hierauf (vgl. zum Rechtsschutz bei Ablehnung eines entsprechenden Antrags Mitzschke/Schäfer, BJagdG, 4. Auflage 1982, § 5 Rn. 36 m. w. N.; HessVGH, Beschluss vom 23.7.2017 - 4 B 2984/16 - juris) sind nicht streitgegenständlich.
C.
59 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 und 3, § 162 Abs. 3 VwGO.
60 Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.
61 Beschluss vom 6. Oktober 2020
62 Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 5.000 Euro festgesetzt.
63 Gründe
64 Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 Satz 1 GKG in Verbindung mit § 52 Abs. 2 GKG.
65 Der Beschluss ist unanfechtbar.
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Tenor
1. Der Antrag wird abgelehnt.
Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens, einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die für erstattungsfähig erklärt werden.
2. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt.
1Gründe
2Der Antrag der Antragsteller,
3die aufschiebende Wirkung ihrer Klage (8 K 1402/20) gegen die der Beigeladenen von der Antragsgegnerin erteilte Baugenehmigung vom 29. Januar 2020 anzuordnen,
4hat keinen Erfolg.
5Das Gericht ordnet gemäß § 80a Abs. 3 Satz 2, § 80 Abs. 5 VwGO die aufschiebende Wirkung der Klage an, wenn das Interesse des Antragstellers, von der Baumaßnahme vorerst verschont zu bleiben, schwerer wiegt, als betroffene öffentliche Interessen und das Interesse des Bauherrn, die Baugenehmigung sofort auszunutzen. Diese Entscheidung bestimmt sich im Wesentlichen nach den Erfolgsaussichten der Klage, unter Berücksichtigung der gesetzlichen Wertung in § 212a BauGB, dass Drittanfechtungsklagen gegen die bauaufsichtliche Zulassung eines Vorhabens kraft Gesetzes keine aufschiebende Wirkung haben.
6Danach war die aufschiebende Wirkung hier nicht anzuordnen. Die Klage der Antragsteller wird bei summarischer Prüfung keinen Erfolg haben, weil die streitige Baugenehmigung sie nicht in eigenen Rechten verletzt.
7Vgl. zu diesem Maßstab OVG NRW, Urteil vom 30.05.2017 – 2 A 130/16 –, juris, Rn. 26.
8Soweit die Antragsteller geltend machen, durch die genehmigten Umbaumaßnahmen verliere das Haus die Eigenschaft als Doppelhaus, dringen sie bei summarischer Prüfung nicht durch.
9Ein Nachbar, der sich – wie vorliegend – auf der Grundlage des § 34 Abs. 1 BauGB gegen ein Vorhaben im unbeplanten Innenbereich wendet, kann mit seiner Klage nur durchdringen, wenn die angefochtene Baugenehmigung gegen das im Tatbestandsmerkmal des Einfügens enthaltene Gebot der Rücksichtnahme verstößt.
10Vgl. BVerwG, Beschluss vom 13.11.1997 – 4 B 195.97 –, juris, Rn. 6.
11Ein derartiger Verstoß kann sich aus einer unzulässigen Veränderung eines Doppelhauses ergeben.
12Ist ein unbeplanter Innenbereich in offener Bauweise bebaut, weil dort nur Einzelhäuser, Doppelhäuser und Hausgruppen im Sinne von § 22 Abs. 2 BauNVO den maßgeblichen Rahmen bilden, so fügt sich ein grenzständiges Vorhaben im Sinne des § 34 Abs. 1 BauGB grundsätzlich nicht nach der Bauweise ein, das unter Beseitigung eines bestehenden Doppelhauses grenzständig errichtet wird, ohne mit dem verbleibenden Gebäude ein Doppelhaus zu bilden. Ein solches Vorhaben verstößt gegenüber dem Eigentümer der bisher bestehenden Doppelhaushälfte grundsätzlich gegen das drittschützende Gebot der Rücksichtnahme.
13Vgl. BVerwG, Urteil vom 19.03.2015 – 4 C 12.14 –, juris, Rn. 11.
14Grund hierfür ist die spezifische Wechselbeziehung, die ihren Ursprung in dem wechselseitigen Verzicht auf Grenzabstände an der gemeinsamen Grundstücksgrenze hat. Die Möglichkeit des Grenzanbaus erweitert für beide Grundstückseigentümer die bauliche Nutzbarkeit des Grundstücks unter gleichzeitigem Verlust der sonst erforderlichen Grenzabstände. Diese für beide Grundstückseigentümer vor- wie nachteiligen Umstände begründen ein nachbarliches Austauschverhältnis, das nicht einseitig aufgehoben oder aus dem Gleichgewicht gebracht werden darf.
15Vgl. BVerwG, Urteil vom 24.02.2000 – 4 C 12.98 –, juris, Rn. 21.
16Diese Interessenlage rechtfertigt es, dem Bauherrn eine Rücksichtnahmeverpflichtung aufzuerlegen, die eine grenzständige Bebauung ausschließt, wenn er den bisher durch das Doppelhaus gezogenen Rahmen überschreitet. Sie ist im beplanten und unbeplanten Bereich identisch. Allerdings treffen den Nachbarn größere Hinnahmepflichten, wenn die maßgebliche Umgebungsbebauung eine größere Wahlfreiheit als eine planerische Festsetzung eröffnet.
17Vgl. BVerwG, Urteil vom 05.12.2013 – 4 C 5.12 –, juris, Rn. 22 f.
18Im Sinne des § 22 Abs. 2 Satz 1 BauNVO ist ein Doppelhaus eine bauliche Anlage, die dadurch entsteht, dass zwei Gebäude auf benachbarten Grundstücken durch Aneinanderbauen an der gemeinsamen Grundstücksgrenze zu einer Einheit zusammengefügt werden. Kein Doppelhaus bilden dagegen zwei Gebäude, die sich zwar an der gemeinsamen Grundstücksgrenze noch berühren, aber als zwei selbständige Baukörper erscheinen. Ein Doppelhaus verlangt ferner, dass die beiden Haushälften in wechselseitig verträglicher und abgestimmter Weise aneinandergebaut werden. Diese Begriffsbestimmung bezeichnet den Begriff des Doppelhauses auch für den unbeplanten Innenbereich. Der Begriff des Doppelhauses darf bauordnungsrechtlich nicht überladen werden. In dem städtebaulichen Regelungszusammenhang beurteilt sich die Frage, ob zwei an der gemeinsamen Grundstücksgrenze errichtete Gebäude (noch) ein Doppelhaus bilden, allein nach dem Merkmal des wechselseitigen Verzichts auf seitliche Grenzabstände, mit dem eine spezifisch bauplanerische Gestaltung des Orts- und Stadtbildes verfolgt wird. Letztere liegt darin, dass das Doppelhaus den Gesamteindruck einer offenen, aufgelockerten Bebauung nicht stört, eben weil es als ein Gebäude erscheint.
19Vgl. BVerwG, Urteile vom 05.12.2013 – 4 C 5.12 –, juris, Rn. 13, 16 und vom 19.03.2015 – 4 C 12.14 –, juris, Rn. 19, sowie vom 24.02.2000 – 4 C 12.98 –, juris, Rn. 24, jeweils m. w. N.
20Es lässt sich weder abstrakt-generell noch mathematisch-prozentual festlegen, in welchem Umfang die beiden Haushälften an der Grenze zusammengebaut sein müssen. Es ist vielmehr eine Gesamtwürdigung des Einzelfalles vorzunehmen. Qualitative und quantitative Kriterien dürfen nicht isoliert betrachtet werden. Denn es ist ebenso denkbar, dass größere quantitative Abweichungen bei deutlich einheitlicher Gestaltung hingenommen werden können, wie es vorstellbar ist, dass eine deutlich abweichende Gestaltung in ihrer Wirkung gemindert wird, weil die Gebäudeteile in quantitativer Hinsicht stark übereinstimmen. Eine isolierte Betrachtung vernachlässigt auch, dass Fälle denkbar sind, in denen das Zusammenwirken quantitativer und qualitativer Kriterien den Charakter eines Doppelhauses entfallen lässt.
21Vgl. OVG NRW, Urteil vom 03.09.2015 – 7 A 1276/13 –, juris, Rn. 40, m. w. N.
22Quantitativ sind dabei insbesondere die Geschosszahl, die Gebäudehöhe, die Bebauungstiefe und –breite sowie das durch diese Maße im Wesentlichen bestimmte oberirdische Brutto-Raumvolumen zu berücksichtigen. Qualitativ kommt es unter anderem auch auf die Dachgestaltung und die sonstige Kubatur des Gebäudes an.
23Vgl. Bay. VGH, Beschluss vom 15.09.2015 – 2 CS 15.1792 –, juris, Rn. 13.
24Die Anzahl der Wohnungen, der Hauseingänge, der erforderlichen Stellplätze und die städtebauliche Wirkung der Gesamtmasse eines Baukörpers sind für § 22 Abs. 2 BauNVO ebenso unerheblich wie die Fragen, ob bei aneinandergebauten Wohnungen etwa die Heizungsanlage gemeinsam betrieben wird oder einzelne Bauteile des Hauses gemeinsam genutzt werden.
25Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 14.08.1997 – 10 B 1869/97 –, juris, Rn. 16. Vgl. auch OVG Lüneburg, Urteil vom 08.12.1995 – 1 L 3209/94 –, juris, Rn. 10.
26Ohne Belang wird regelmäßig auch sein, auf welcher Gebäudeseite sich jeweils die Hauseingänge und Gärten befinden.
27Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 13.01.2020 – 10 B 1530/19 –, juris, Rn. 7.
28Das nachbarliche Austauschverhältnis, das nicht einseitig aufgehoben oder aus dem Gleichgewicht gebracht werden darf, bezieht sich auf die wechselseitige Grenzbebauung.
29Vgl. OVG NRW, Urteil vom 19.07.2010 – 7 A 44/09 –, juris, Rn. 44.
30Es ist – dem Grundgedanken dieser besonderen Form der Bauweise folgend – nur für den unmittelbar grenzständigen und zusätzlich einen gewissen, nicht abstrakt bestimmbaren grenznahen Bereich auf den benachbarten Baugrundstücken zu fordern. Hier dürfen die Abweichungen der aneinandergebauten Baukörper regelmäßig eine noch als „verträglich“ anzusehende Größenordnung nicht übersteigen. Solange sich aber ein Vorhaben in dem so abgesteckten Rahmen bewegt, kann ein Nachbar, auf dessen Grundstück zuerst eine „Hälfte“ errichtet wurde, die Genehmigung für die „zweite Hälfte“ nicht mit dem Argument erfolgreich abwehren, der Neubau stimme in grenzfernen Teilbereichen nicht hinlänglich mit den aus seinem Bestand angeblich auch dafür abzuleitenden Vorgaben überein, sei deswegen kein Doppelhaus und verletzte ihn aufgrund dessen in eigenen subjektiv-öffentlichen Rechten. Das muss jedenfalls gelten, wenn aufgrund planerischer Festsetzungen über die überbaubaren Grundstücksflächen die Bauräume auf den benachbarten Grundstücken sehr groß sind, sodass davon auszugehen ist, dass der kommunale Plangeber dem jeweiligen Eigentümer eine zunehmende Gestaltungsfreiheit im Sinne einer Lockerung von der Doppelhausbindung zuerkannt hat.
31Vgl. Bay. VGH, Beschluss vom 14.02.2018 – 15 CS 17.2549 –, juris, Rn. 11.
32Der Eindruck eines einseitigen Grenzanbaus kann aber nicht nur entstehen, wenn ein Gebäude gegen das andere an der gemeinsamen Grundstücksgrenze so stark versetzt wird, dass sein vorderer oder rückwärtiger Versprung den Rahmen einer wechselseitigen Grenzbebauung überschreitet, sondern auch, wenn ein nicht grenzständiger Anbau wegen seiner Abmessungen die bisherige Doppelhaushälfte so massiv verändert, dass die beiden Gebäude nicht mehr als bauliche Einheit erscheinen.
33Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 12.05.2011 – 10 A 2026/09 –, juris, Rn. 33 ff., 37, sowie dazu BVerwG, Beschluss vom 17.08.2011 – 4 B 25.11 –, juris, Rn. 5.
34Ein solcher Fall kann insbesondere dann gegeben sein, wenn der im Verhältnis zur bisherigen Kubatur massive Anbau grenznah errichtet wird und - in seiner Wirkung einem grenzständigen Anbau vergleichbar - die Freiflächen auf dem Grundstück der anderen Doppelhaushälfte abriegelt. Ob ein nicht grenzständiger Anbau die bisherige bauliche Einheit zweier Doppelhaushälften aufhebt, hängt daher maßgebend von den Umständen des Einzelfalls ab.
35Vgl. BVerwG, Beschluss vom 10.04.2012 – 4 B 42.11 –, juris, Rn. 9.
36Die Qualifizierung zweier Gebäude als Doppelhaus hängt aber nicht allein davon ab, in welchem Umfang die beiden Gebäude an der gemeinsamen Grundstücksgrenze aneinander gebaut sind. Es kann daher das Vorliegen eines Doppelhauses mit Blick auf die bauplanungsrechtlichen Ziele der Steuerung der Bebauungsdichte sowie der Gestaltung des Orts- und Stadtbildes geprüft und ein Mindestmaß an Übereinstimmung verlangt werden.
37Vgl. BVerwG, Urteil vom 19.03.2015 – 4 C 12.14 –, juris, Rn. 19, m. w. N. Vgl. ferner Bay. VGH, Beschluss vom 06.05.2019 – 2 CE 19.515 –, juris, Rn. 7.
38Aufeinander abgestimmt sind die Hälften eines Doppelhauses, wenn sie sich in ihrer Grenzbebauung noch als "gleichgewichtig" und "im richtigen Verhältnis zueinander" und daher als harmonisches Ganzes darstellen, ohne disproportional, also zufällig an der Grundstücksgrenze zusammengefügte Einzelhäuser ohne hinreichende räumliche Verbindung zu erscheinen. Denn kennzeichnend für die offene Bauweise ist der seitliche Grenzabstand der Gebäude; die Doppelhaushälften müssen folglich gemeinsam als ein Gebäude in Erscheinung treten. Dementsprechend muss eine Haushälfte, soll sie Teil eines Doppelhauses sein, ein Mindestmaß an Übereinstimmung mit der zugehörigen Haushälfte aufweisen, indem sie zumindest einzelne der ihr Proportionen und Gestalt gebenden baulichen Elemente aufgreift. Anderenfalls wäre der die Hausform kennzeichnende Begriff der baulichen Einheit sinnentleert. Insoweit erfährt ein geplantes Haus durch die bereits vorhandene Grenzbebauung eine das Baugeschehen beeinflussende Vorprägung.
39Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 12.05.2011 – 10 A 2026/09 –, juris, Rn. 33 f.
40Bauherren, die in Ausnutzung einer Doppelhaus-Festsetzung einen Grenzbau errichten, können allerdings nicht erwarten, dass die später errichtete Doppelhaushälfte die überbaubare Grundstücksfläche nur in demselben eingeschränkten Umfang wie die zuerst gebaute Haushälfte ausnutzt. Insoweit bleibt auch Raum für eine versetzte Anordnung der beiden Haushälften. Sie tragen - sozusagen als planerische Vorbelastung - das Risiko, dass die spätere Nachbarbebauung den planerisch eröffneten Freiraum stärker ausschöpft als sie selbst. Der spätere Bau an der Grenzstellung des früheren muss sich lediglich daran orientieren und in eine "harmonische Beziehung" zu diesem treten. Der frühere Grenzbau wirkt daher für den späteren als maßstabsbildende "Vorbelastung". Das kann im Einzelfall für den späteren Bau bedeuten, dass er die überbaubare Grundstücksfläche nicht voll ausschöpfen darf.
41Vgl. BVerwG, Urteil vom 24.02.2000 – 4 C 12.98 –, juris, Rn. 25.
42Ausgehend hiervon geht das Gericht – wie offenbar auch die Beteiligten – bei summarischer Prüfung davon aus, dass die dargestellte sog. Doppelhaus-Rechtsprechung vorliegend „anwendbar“ ist. Die betroffenen Grundstücke liegen im unbeplanten Innenbereich. Der maßgebliche Umgebungsrahmen ist – ebenfalls zwischen den Beteiligten nicht umstritten – in offener Bauweise bebaut, weil dort bei summarischer Prüfung Einzelhäuser, Doppelhäuser und Hausgruppen im Sinne von § 22 Abs. 2 BauNVO prägend vorhanden sind. Ob tatsächlich die nähere Umgebung alleine durch mit Grenzabstand errichtete Gebäude geprägt ist, bedarf allerdings ggf. der Überprüfung im Hauptsacheverfahren. Insoweit könnte dem Umstand Gewicht zukommen, dass immerhin die Hausgruppe N. . 000 bis 000 nach überschlägiger Abmessung bei „tim-online“ länger als 50 m sein dürfte und je nach betrachtetem prägendem Umgebungsrahmen auch weitere nicht in offener Bauweise bebaute Bereiche in der Nähe erkennbar sein könnten. Wäre aber hinsichtlich der Bauweise eine Gemengelage gegeben, käme mangels faktischer offener Bauweise eine Verletzung des Rücksichtnahmegebotes zu Lasten der Antragsteller durch das Vorhaben der Beigeladenen unter dem Gesichtspunkt der Verletzung des „Doppelhauscharakters“ nicht in Betracht.
43Unabhängig davon ergibt sich durch den nach Umsetzung des genehmigten Vorhabens entstehenden Baukörper keine Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme in seiner vorstehend erläuterten Ausprägung.
44Das Vorhaben verändert die Situation bezogen auf den wechselseitigen Verzicht auf seitliche Grenzabstände an der gemeinsamen Grundstücksgrenze nicht und ist auch im Übrigen so auf das Bestandsgebäude der Antragsteller abgestimmt, dass das auf beiden Grundstücken gebildete Gesamtgebäude – noch – als bauliche Einheit erscheint.
45Dies gilt zunächst einschränkungslos für den unmittelbar an die Doppelhaushälfte der Antragsteller angebauten Vorhabenteil: Dieser nimmt bei marginalen Abweichungen im hiesigen Zusammenhang wesentliche Merkmale der Doppelhaushälfte der Antragsteller auf. Dies gilt insbesondere für Gebäudeflucht, Firsthöhe, Oberkante Wandabschluss und Oberkante Gaube des Nachbarbestandsbaus im Vergleich zur Oberkante Attika des Vorhabens. Der ganz überwiegende Teil des Vorhabens übernimmt ferner Firstausrichtung und Satteldachgestaltung sowie die Dachneigung des Gebäudes der Antragsteller. Angesichts der vorgenannten, ausgeprägten Übereinstimmungen tritt der Umstand, dass statt der Geschosszahl II eine (optisch in der Fassade eher unauffällig gestaltete) Geschosszahl III geplant ist, in der Wahrnehmung der Gebäudeteile zurück und kommt es auf die Positionierung des Hauseingangs nicht an.
46Auch die Bebauungstiefe ist im Grenzbereich praktisch identisch. An der C. Straße reicht das Vorhaben – ähnlich dem Gebäude Nr. 000 – allerdings knapp 5 m weiter in den Garten hinein als das Haus der Antragsteller. Das darin zunächst angelegte Ungleichgewicht fällt allerdings infolgedessen erheblich geringer aus, als in dieser Tiefe nur im Erdgeschoss gebaut wird und die oberen Geschosse treppenartig zurücktreten. Zu Abstandsflächenverletzungen kommt es insoweit nicht.
47Hinsichtlich der Bebauungsbreite ergibt sich Folgendes: Es trifft zwar zu, dass das Vorhaben im Vergleich zum Gebäude der Antragsteller bezogen auf die N.------straße mit einer Breite von gut 16 m statt gut 10 m deutlich breiter ist, wobei das Vorhaben sich nach hinten „verjüngt“, so dass der Unterschied auf der Rückseite geringer ist. Es ist aber zu berücksichtigen, dass sich die Fassade an der N.------straße genauer betrachtet wie folgt darstellt: Grenzständig aneinandergebaut sind in einer Breite von beidseits der Grenze 8,81 m weitgehend ähnlich gestaltete Gebäudeteile. Auf der Seite der Antragsteller schließt sich auf einer Breite von 1,57 m ein nach hinten verspringender Teil an. Auf der Vorhabenseite schließt sich zwar ein insgesamt 7,21 m breiter Gebäudeteil an. Dieser besteht allerdings in einer Breite von 5,21 m aus einem Gebäudeteil, bei dem vor den weitgehend dem klägerischen Gebäudeteil angepassten Baukörper lediglich eine Art Vorbau tritt. Dieser Vorbau ist letztlich Teil eines den „angepassten Baukörper“ gleichsam umarmenden Flachdachanbaus, der wiederum jenseits der gedachten Giebelwand unter dem Satteldach des Vorhabens lediglich eine Breite von 2 m aufweist. „Unruhige“ Elemente in der Fassade zur N.------straße weist im Übrigen auch das Haus der Antragsteller mit einem Erker auf, womit für die – freilich deutlich ausgeprägteren – Vorbauten im Bereich des Vorhabens an dieser Stelle auch ein gewisses Vorbild vorhanden ist, zumal das Tiefenmaß abgestimmt ist.
48An diesem Ergebnis ändert bei summarischer Prüfung auch der sich anschließende, an die C. Straße angrenzende Gebäudeteil nichts. Das nachbarliche Austauschverhältnis sowie die harmonische Beziehung der Gebäude zueinander geraten auch durch den Flachdachanbau nicht aus dem Gleichgewicht.
49Auch dieser Gebäudeteil greift mit der Oberkante der Gauben ein besonders augenfälliges Elemente der vorhandenen Doppelhaushälfte auf. Der „Anbau“ wird im Übrigen nicht grenzständig, sondern an der den Antragstellern abgewandten Grundstückseite errichtet und an einen Gebäudeteil gebaut, der seinerseits in vertikaler und horizontaler Richtung sehr harmonisch an die antragstellerseitige Doppelhaushälfte angrenzt. Der an der den Antragstellern abgewandten Grundstücksseite geplante Flachdachanbau führt auch zu keiner spürbaren Beeinträchtigung gegenüber den Antragstellern; insbesondere fallen sämtliche Abstandsflächen auf das Grundstück der Beigeladenen. Ferner kommt es zu keiner die Freiflächen des antragstellerseitigen Grundstücks abriegelnden Wirkung. Allerdings entsteht durch den Anbau (einschließlich des „umarmenden“ Teiles) ein Vorhaben, das deutlich breiter ist als die verbleibende antragstellerseitige Doppelhaushälfte. Hierbei tritt der Flachdachanbau indes weniger gewichtig in Erscheinung. Zum einen, weil er eine deutlich geringere Höhe als der grenzständige Teil der Doppelhaushälfte aufweist. Zum anderen, weil er aufgrund seiner Ecklage nicht ausschließlich der Bebauung entlang der N.------straße zuzurechnen ist, sondern jedenfalls zusätzlich auch der Bebauung entlang der C. Straße. Das bei formaler Betrachtung gegebene Ungleichgewicht bildet also lediglich die vorgefundene Grundstückssituation ab und der Eindruck einer einseitigen Grenzbebauung in der N.------straße wird dadurch vermieden.
50Die vorgefundene Grundstückssituation ist dabei Teil der spezifischen Wechselbeziehung zwischen den benachbarten Grundstücken. Gerade der letztgenannte Umstand führt hier auch dazu, dass insgesamt kein disproportionaler, zufällig in grenzständiger Weise nebeneinander gestellter Baukörper wahrgenommen werden wird, bei dem die Doppelhaushälfte der Antragsteller als bloßes „Anhängsel“ im Verhältnis zum Neubau übrig bliebe. Zwar kann aufgrund der Baumassen eher nicht mehr angenommen werden, dass der Anbau als lediglich untergeordneter Gebäudeteil in Erscheinung tritt. Jedoch können die Antragsteller auch aus dem Umstand, dass sich eine getrennte Bewertung der beiden Gebäudeteile auf dem Vorhabengrundstück mit Blick auf den maßgeblichen Gesamtbaukörper verbietet und deshalb die Form des Hauses insgesamt massiv verändert wird, im Ergebnis nichts für sich herleiten. § 22 Abs. 2 BauNVO dient der Steuerung der Bebauungsdichte und der Gestaltung des Orts- oder Stadtbildes. Insoweit darf die geplante Bebauung der vorgefundenen Situation, dass es sich beim Vorhabengrundstück um ein Eckgrundstück handelt durchaus Rechnung tragen, solange Rechte der Nachbarn nicht verletzt werden.
51A.A. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 31.07.2015 – 2 S 29.15 –, juris, Rn. 8.
52So wie der kommunale Plangeber dem jeweiligen Eigentümer eine größere Gestaltungsfreiheit im Sinne einer Lockerung von der Doppelhausbindung zuerkennen kann, kann sich im unbeplanten Innenbereich eine solche daraus ergeben, dass sich ausgeprägtere Abweichungen des Vorhabens von der vorgefundenen Doppelhaushälfte aufgrund der örtlichen Gegebenheiten einfügen. Für den Nachbarn ergeben sich entsprechend größere Hinnahmepflichten. Ein auf zwei Grundstücken stehendes Gebäude kann demgemäß – wie hier – aus aufeinander abgestimmten Teilen bestehen, wenn die Gestaltung der Gebäudeteile, angepasst an die unterschiedliche Grundstückssituation, auch deutlicher voneinander abweicht, solange nicht ein Gebäudeteil dadurch „entwertet“ oder erdrückt wird. Insbesondere jenseits der gemeinsamen Grundstücksgrenze muss der Nachbar im Sinne der Steuerung der Bebauungsdichte und Gestaltung des Orts- oder Stadtbildes weniger „Uniformität“ hinnehmen, wenn diese sich erkennbar aus Besonderheiten der Örtlichkeit herleiten lässt und von daher in der Wahrnehmung des Gesamtbaukörpers nicht „zu Lasten“ des Gebäudeteils des betroffenen Nachbarn „gebucht“ werden kann.
53So liegen die Dinge bei summarischer Prüfung auch hier: Der unbefangene Betrachter wird den Gebäudeteil der Antragsteller nicht als „untergeordnetes Anhängsel“ des Vorhabens ansehen. Vielmehr wird er auf der N.------straße das Haus der Antragsteller, den dieses fortschreibenden Gebäudeteil des Vorhabens und dann – gleichsam mit „Scharnierfunktion“ – einen Gebäudeteil wahrnehmen, der über die Ecke zwischen N.------straße und C. Straße zur Bebauung der C. Straße überleitet. Umgekehrt, von der C. Straße aus kommend, ergibt sich Entsprechendes. Insgesamt ist nach alledem davon auszugehen, dass das Gesamtgebäude den Gesamteindruck einer offenen, aufgelockerten Bebauung nicht stört, eben weil es als ein Gebäude „auf der Ecke“ erscheint. Das Grundstück der Antragsteller trägt insoweit die planerische Vorbelastung, dass eine Nachbarbebauung die Ecksituation planerisch ausschöpft. Dies verletzt das Gebot der Rücksichtnahme solange nicht, wie der spätere Bau sich am bereits vorhandenen orientiert und in eine "harmonische Beziehung" zu diesem tritt, was vorliegend bei summarischer Prüfung der Fall ist, weil das Vorhaben erkennbar im Grenzbereich mit einer hinreichenden räumlichen Verbindung eng an den Nachbarbau angepasst und im weiter entfernten Bereich in Anlehnung an die örtlichen Gegebenheiten gestaltet ist.
54Je nach Bestimmung des maßgeblichen Einfügerahmens käme ggf. dazu, dass in der Umgebung offenbar weitere Ecksituationen vorhanden sind, in denen, wie sich aus den im Verwaltungsvorgang befindlichen Lichtbildern und den im Internet zugänglichen Quellen ergibt, stärker voneinander abweichende Gebäudeteile grenzständig aneinandergebaut sind. Einzelheiten hierzu und zu der Frage, inwieweit sich hieraus größere Hinnahmepflichten der Antragsteller ergeben könnten, müssen ggf. dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.
55Soweit die Antragsteller weiter geltend machen, es komme durch das Vorhaben zu einer unzumutbaren Verschattung ihrer Gebäuderückseite, dringen sie nicht durch. Auch insoweit kann ein Nachbar grundsätzlich keine Rücksichtnahme verlangen, die über den Schutz des Abstandsflächenrechts hinausgeht.
56Vgl. BVerwG, Beschluss vom 06.12.1996 – 4 B 215.96 –, juris, Rn. 9, sowie OVG NRW, Urteil vom 14.06.2019 – 7 A 2386/17 –, juris, Rn. 86.
57Hinsichtlich der behaupteten Lärmbelästigung durch den Aufzug ist das Vorbringen bereits zu unsubstantiiert. Der Aufzug wirkt zwar im rückwärtigen Grundstücksbereich auf die Antragsteller ein, ist aber straßenseitig gelegen. Angesichts der Entfernung der Anlage vom Grundstück der Antragsteller, den angesichts der Stellplatzzahl nur selten zu erwartenden Betriebsgeräuschen und dem Verweis in den Nebenbestimmungen auf die maßgeblichen technischen Regelwerke ist nicht erkennbar, warum gleichwohl von einer Unzumutbarkeit ausgegangen werden könnte.
58Für die Rügen in Bezug auf die vorgesehene Tiefgaragenlüftung gilt Entsprechendes: Als Quelle von Beeinträchtigungen kommt insoweit allein die Gittertür neben dem Autoaufzug in Betracht, die aber mehr als 5 Meter von der Grundstücksgrenze zum hinteren Gartenbereich der Antragsteller entfernt liegt. Die Lüftungen im Bereich der Stellplätze 2 und 4 sind noch weiter entfernt.
59Andere Gesichtspunkte, die für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung angeführt werden könnten, sind weder vorgetragen noch sonst bei summarischer Prüfung ersichtlich. Die Beigeladene sei allerdings darauf hingewiesen, dass sie die Realisierung des Bauvorhabens vor Bestandskraft der Baugenehmigung auf eigenes Risiko vornimmt, zumal das Vorhaben die Grenzen des nach der „Doppelhaus-Rechtsprechung“ Zulässigen zweifelsohne jedenfalls weitgehend „ausreizt“.
60Fragen des Abbruchs des Bestandsgebäudes auf dem Grundstück der Antragsteller sind Gegenstand eines anderen Verwaltungsverfahrens bei der Antragsgegnerin, nicht der hier streitgegenständlichen Baugenehmigung für den Neubau eines Wohnhauses.
61Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO. Es entsprach der Billigkeit, den Antragstellern die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen aufzuerlegen, weil die Beigeladene einen Antrag gestellt und sich somit auch selbst einem Kostenrisiko ausgesetzt hat (vgl. § 154 Abs. 3 VwGO).
62Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf den §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG. Im Hinblick auf die Vorläufigkeit dieses Verfahrens hält es die Kammer für angemessen, den für das Hauptsacheverfahren anzusetzenden Wert zu halbieren (vgl. auch Ziffer 7 Buchstabe a und Ziffer 14 Buchstabe a des Streitwertkataloges der Bausenate des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 22. Januar 2019, veröffentlicht in BauR 2019, 610).
63Rechtsmittelbelehrung
64Gegen Ziffer 1 dieses Beschlusses kann innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, Beschwerde eingelegt werden.
65Statt in Schriftform kann die Einlegung der Beschwerde auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) erfolgen.
66Die Beschwerdefrist wird auch gewahrt, wenn die Beschwerde innerhalb der Frist schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, eingeht.
67Die Beschwerde ist innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht bereits mit der Beschwerde vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV einzureichen. Sie muss einen bestimmten Antrag enthalten, die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinander setzen.
68Die Beteiligten müssen sich bei der Einlegung und der Begründung der Beschwerde durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung im Übrigen bezeichneten ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.
69Gegen Ziffer 2 dieses Beschlusses kann innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, Beschwerde eingelegt werden. Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.
70Die Beschwerde ist schriftlich, zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, einzulegen.
71Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.
72Die Beschwerdeschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.
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Tenor
1. Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wird abgelehnt.2. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.3. Der Streitwert wird auf 5.000 EUR festgesetzt.
Gründe
I.1 Die Antragstellerin begehrt im Wege der einstweiligen Anordnung die Anerkennung ihrer Durchschnittsverlaufsnote aus dem klinischen Studienabschnitt als Prüfungsnote für den coronabedingt von April 2020 auf das Frühjahr 2021 verschobenen Zweiten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung, hilfsweise einen angemessenen Ausgleich für die Verschiebung dieser Prüfung und für den damit verbundenen vorzeitigen Beginn des Praktischen Jahres.2 Die Antragstellerin studiert Humanmedizin an der Universität .... Mit Bescheid vom 05.03.2020 wurde sie zum Frühjahrstermin 2020 für den Zweiten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung zugelassen, der im Zeitraum vom 15.04.2020 bis zum 17.04.2020 am Prüfungsstandort ... stattfinden sollte.3 Der reguläre Ablauf des Medizinstudiums, wie er in § 1 Abs. 3 der Approbationsordnung für Ärzte vom 27.06.2002 – ÄApprO – (BGBl. I S. 2405) geregelt ist, sieht vor, dass die Studierenden nach einem Studium von zwei Jahren zunächst den Ersten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung ablegen. Nach einem Studium von drei weiteren Jahren folgt der Zweite Abschnitt der Ärztlichen Prüfung. Hieran schließt sich das Praktische Jahr an, an dessen Ende der Dritte Abschnitt der Ärztlichen Prüfung abgelegt wird.4 Am 31.03.2020 trat die vom Bundesministerium für Gesundheit erlassene Verordnung zur Abweichung von der Approbationsordnung für Ärzte bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 30.03.2020 (im Folgenden: Abweichungsverordnung – ÄApprOAbwVO) in Kraft. Nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 ÄApprOAbwVO soll der Zweite Abschnitt der Ärztlichen Prüfung in Abweichung von § 1 Abs. 3 ÄApprO erst nach Abschluss eines sog. vorzeitigen Praktischen Jahres stattfinden mit der Konsequenz, dass die Prüfung – nicht wie von der Approbationsordnung für Ärzte regulär vorgesehen – im April 2020, sondern erst im April 2021 abgelegt wird. Auch wurden die Ausbildungsabschnitte des vorzeitigen Praktischen Jahres von 16 Wochen auf 15 Wochen verkürzt. § 7 Abs. 4 ÄApprOAbwVO räumt den Ländern die Möglichkeit ein, abweichend vorzusehen, dass der Zweite Abschnitt der Ärztlichen Prüfung – wie bisher – nach den Regelungen der Approbationsordnung für Ärzte durchgeführt wird, wenn die ordnungsgemäße Durchführung des Prüfungsabschnitts trotz der epidemischen Lage von nationaler Tragweite gewährleistet ist.5 In Baden-Württemberg entschied das Sozialministerium in Rücksprache mit den medizinischen Fakultäten, von dieser Abweichungskompetenz keinen Gebrauch zu machen, da eine Durchführung der Prüfung ohne Ansteckungsrisiko für Teilnehmer und Aufsichtspersonal nicht gewährleistet werden könne.6 Die Information über das Nichtstattfinden der Prüfung wurde am 01.04.2020 auf der Internetseite des Landesprüfungsamtes für Medizin und Pharmazie eingestellt. Außerdem wurde der Antragstellerin die Absage der Prüfung seitens der Universität ... mitgeteilt. Zusätzlich erhielt die Antragstellerin ein Schreiben des Antragsgegners vom 08.04.2020, das sie darüber informierte, dass der Zweite Abschnitt der Ärztlichen Prüfung erst nach einem vorzeitigen Praktischen Jahr durchgeführt werde. Die Antragstellerin könne wie in der Abweichungsverordnung vorgesehen am 20.04.2020 mit dem vorzeitigen Praktischen Jahr beginnen und die Prüfung im Frühjahr 2021 ablegen. Daneben bestehe jedoch auch die Möglichkeit, nicht mit dem vorzeitigen Praktischen Jahr zu beginnen und die Prüfung stattdessen im Herbst 2020 abzulegen.7 Die Antragstellerin begann zum 20.04.2020 mit dem vorzeitigen Praktischen Jahr, womit für sie vorgesehen ist, dass sie den Zweiten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung im Zeitraum vom 13.04.2021 bis zum 15.04.2021 absolviert.8 Mit Schreiben vom 13.08.2020 wandte sich die Antragstellerin unter anderem mit Verweis auf die Verfassungswidrigkeit der Abweichungsverordnung an den Antragsgegner und begehrte die Anerkennung ihrer Durchschnittsverlaufsnote aus dem klinischen Studienabschnitt als Prüfungsnote im Zweiten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung bzw. die Gewährung angemessener Ausgleichsmaßnahmen für die ihrer Meinung nach rechtswidrig erfolgte Verschiebung der Prüfung im Frühjahr 2020 sowie der damit einhergehenden Durchführung eines vorzeitigen Praktischen Jahres.9 Der Antragsgegner nahm hierzu mit Schreiben vom 21.08.2020 Stellung und führte aus, dass aus seiner Sicht das Vorgehen im Hinblick auf die Verschiebung des Zweiten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung nicht zu beanstanden sei. Insbesondere enthalte die Abweichungsverordnung Regelungen, durch die etwaige Nachteile der Studierenden kompensiert würden. Daher sei ein zusätzlicher Nachteilsausgleich nicht erforderlich.10 Unter dem 07.09.2020 hat die Antragstellerin um die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nachgesucht und lässt zur Begründung zusammengefasst ausführen: Die Abweichungsverordnung sei im Lichte der Berufsfreiheit und des Gleichheitsgrundsatzes verfassungswidrig und im Übrigen nicht von der Ermächtigungsgrundlage des § 5 Abs. 2 Nr. 7 b) IfSG gedeckt. Die auf Grundlage dieser Verordnung vom Antragsgegner veranlasste Verschiebung des Zweiten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung und der damit verbundenen Durchführung eines vorzeitigen Praktischen Jahres durch die als Allgemeinverfügung zu qualifizierende Entscheidung vom 01.04.2020 sei demnach rechtswidrig. Deswegen stehe ihr wegen der durch dieses rechtswidrige Handeln verursachten Folgen ein Anspruch auf Folgenbeseitigung und Nachteilsausgleich, zumindest jedoch auf ermessenfehlerfreie Entscheidung, zu. Dabei sei zu berücksichtigen, dass die Verschiebung des Zweiten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung und das vorzeitige Praktische Jahr für sie diverse Nachteile mit sich bringe. Unter anderem sei Grundlage für die Prüfung im April 2021 ein anderer Gegenstandskatalog. Da die Abweichungsverordnung vorsehe, dass der Prüfungsstoff auch um Fragen zur Bekämpfung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite ergänzt werde, sei davon auszugehen, dass die Prüfung „coronalastig“ werde, obwohl hierfür keine ausreichende theoretische und Praktische Vorbereitung zur Verfügung stehe. Zudem blieben für die Vorbereitung auf die Prüfung im April 2021 lediglich 43 Tage, da das vorzeitige Praktische Jahr am 28.02.2021 ende und die Prüfungskampagne am 13.04.2021 beginne. Die Unterbrechung durch das vorzeitige Praktische Jahr erschwere zudem die Aufrechterhaltung von Faktenwissen für die Prüfung im Frühjahr 2021 erheblich. Durch den vorgezogenen Beginn des vorzeitigen Praktischen Jahres verbleibe außerdem weniger Zeit für Erholung, zur Fertigstellung der Dissertation sowie für Nebenerwerbstätigkeiten zur Finanzierung des Praktischen Jahres, in dem eine Vergütung bzw. eine coronabedingte Aufwandsentschädigung nur teilweise gezahlt werde. Auch die Urlaubstage im vorzeitigen Praktischen Jahr stünden hierfür nicht zur Verfügung, da sie zur Prüfungsvorbereitung auf den Zweiten Abschnitt und den Dritten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung im Frühjahr 2021 – dem sog. Hammerexamen – genutzt werden müssten. Ferner sei mit einem mehrmonatigen Verdienstausfall zu rechnen, da die Bewerbungsphase erst nach Ablegung des Dritten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung stattfinden könne. Das Fehlen einer Note im Zweiten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung erschwere auch Bewerbungen während des Praktischen Jahres, wobei zusätzlich eine Benachteiligung gegenüber Bewerbern aus anderen Bundesländern bestehe, in denen der Zweite Abschnitt der Ärztlichen Prüfung nicht verschoben worden sei. Hinzu komme, dass es wegen der durch die Abweichungsverordnung erzwungenen Zuteilung des Wahlfachs im vorzeitigen Praktischen Jahr keine hinreichende Neigungsorientierung mehr gebe. Auch sei die Mobilität eingeschränkt, da ein Wechsel in andere Bundesländer schwierig sei. Im Übrigen sei aufgrund der coronabedingen Einschränkungen des Unterrichts im vorzeitigen Praktischen Jahr in den Krankenhäusern keine ausreichende Vermittlung der notwendigen Kenntnisse und Routinen gewährleistet, weswegen auch keine hinreichende Vorbereitung auf den Dritten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung stattfinde.11 Die Antragstellerin beantragt schriftsätzlich,12 den Antragsgegner zu verpflichten, vorläufig bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache ihr den Zweiten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung anzuerkennen unter Rückgriff auf die Durchschnittsverlaufsnote des klinischen Studienabschnitts,13 hilfsweise den Antragsgegner zu verpflichten, vorläufig bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache ihr unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts einen angemessenen Ausgleich zu gewähren für erstens die Verschiebung des Zweiten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung Frühjahr 2020 aufgrund der Änderung der Zulassungsvoraussetzungen für diese Prüfung und zweitens den vorzeitigen Beginn des Praktischen Jahres mit einer Untergliederung in drei Ausbildungsabschnitte von 15 Wochen unter Vorgabe des klinischen-praktischen Fachgebiets für den dritten Ausbildungsabschnitt.14 Der Antragsgegner beantragt schriftsätzlich,15 den Antrag abzulehnen.16 Er führt zusammengefasst aus: Für die begehrte Anerkennung der Durchschnittsverlaufsnote als Note des Zweiten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung fehle es an einer gesetzlichen Grundlage. Im Übrigen sei die Rechtsgrundlage für das Vorgehen im vorliegenden Zusammenhang die auf § 5 Abs. 2 Nr. 7 b) IfSG beruhende Abweichungsverordnung vom 30.03.2020, die entgegen der Ansicht der Antragstellerin rechtmäßig sei. Es sei nicht zu beanstanden, dass von der den Ländern durch diese Verordnung eingeräumten Ausnahmemöglichkeit des § 7 Abs. 4 Satz 1 ÄApprOAbwVO – den Zweiten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung nach den bislang geltenden Regeln der Approbationsordnung für Ärzte durchzuführen – kein Gebrauch gemacht worden sei. Die für die Prüfung angemieteten Räumlichkeiten seien mit Blick auf die seinerzeit einzuhaltenden Abstandsregelungen für deren Durchführung ungeeignet gewesen, zumal aufgrund kommunaler Vorschriften die Anzahl von zulässigen Personen im Rahmen solcher Veranstaltungen sehr begrenzt gewesen sei. Es sei angesichts der hohen Teilnehmerzahl von rund 750 Prüfungskandidaten auch nicht möglich gewesen, kurzfristig andere Räumlichkeiten anzumieten und die Prüfung entsprechend der Vorgaben der damals geltenden Corona-Verordnung des Landes Baden-Württemberg durchzuführen. Im Übrigen sei zu berücksichtigen, dass die Entscheidung zu einem frühen Zeitpunkt der Corona-Pandemie getroffen worden sei, zu dem vieles noch unklar gewesen sei, weswegen insbesondere der Schutz der Prüflinge und eine „coronasichere“ Durchführung der Prüfung zu berücksichtigen gewesen seien. Ein Verstoß gegen das Grundrecht der Berufsfreiheit oder den Gleichheitsgrundsatz sei nicht zu erkennen. Die Abweichungsverordnung enthalte Regelungen, die den Studierenden weiterhin einen Abschluss des Medizinstudiums im Mai/Juni 2021 ermöglichten und gleichzeitig etwaige Nachteile kompensierten. Dies gelte etwa im Hinblick auf das verkürzte vorzeitige Praktische Jahr und die auf die Corona-Situation angepasste Fehlzeitregelung. Soweit auf Schwierigkeiten im Rahmen der Durchführung des vorzeitigen Praktischen Jahres verwiesen werde, seien diese – etwa mit Blick auf Auslandsaufenthalte – auch auf die allgemeine Corona-Situation zurückzuführen. Im Übrigen verblieben zur Vorbereitung auf die verschobene Prüfung im Frühjahr 2021 sechs Wochen. Bis zu dem danach stattfindenden Dritten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung liege ein Zeitraum von mindestens zweieinhalb Wochen. Keine Nachteile seien mit Blick auf die Inhalte der Prüfung im Frühjahr 2021 zu erwarten, da der Gegenstandskatalog für die verschobene Prüfung im Frühjahr 2020 unverändert auch für die Prüfung im Frühjahr 2021 gelte und bereits den Anforderungen der Abweichungsverordnung entsprochen habe. Im Übrigen sei eine Verschiebung des Zweiten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung etwa um drei Monate aus gesetzlichen und organisatorischen Gründen nicht möglich gewesen. Ebenso scheide das Ablegen der Prüfung während des vorzeitigen Praktischen Jahres im Herbst 2020 aus, da dies mit einer nicht zulässigen Unterbrechung des Praktischen Jahres einhergehen würde. Schließlich fehle es an der Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes, da sich das Studium der Antragstellerin durch die Verschiebung der Prüfung nicht verzögere.17 Das Gericht hat die Akte des Antragsgegners beigezogen. Auf diese sowie auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze samt Anlagen wird wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands ergänzend Bezug genommen.II.18 Der zulässige Antrag hat in der Sache keinen Erfolg.19 Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht auch schon vor Klageerhebung eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn die Gefahr besteht, dass durch die Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Sicherungsanordnung). Eine einstweilige Anordnung kann auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis getroffen werden, wenn diese Regelung nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus sonstigen Gründen geboten ist (Regelungsanordnung gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt voraus, dass ein Bedürfnis für die Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutzes besteht (Anordnungsgrund) und sich die Antragstellerin auf einen Anordnungsanspruch berufen kann. Das Vorliegen beider Voraussetzungen ist von der Antragstellerin glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO). Außerdem darf eine stattgebende Entscheidung die Hauptsache grundsätzlich nicht ‒ auch nicht zeitlich befristet ‒ vorwegnehmen, es sei denn, dass dies zur Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes unerlässlich ist.20 1. Der Hauptantrag ist unbegründet.21 a) Die Antragstellerin hat bereits einen Anordnungsgrund nach § 123 Abs. 3 VwGO, § 920 Abs. 2 ZPO nicht glaubhaft gemacht.22 Mit ihrem Vortrag zeigt die Antragstellerin nicht auf, dass sie solch wesentliche Nachteile dadurch erleidet, dass sie gegenwärtig über keine Prüfungsnote im Zweiten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung verfügt, dass die für den Erlass einer einstweiligen Anordnung notwendige Eilbedürftigkeit gegeben wäre. Der Antragstellerin wurde es ermöglicht, auch ohne dass sie den Zweiten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung abgelegt hat, das Praktische Jahr – wenngleich unter geänderten Bedingungen – zu absolvieren. Dadurch ist es der Antragstellerin weiterhin möglich, den Dritten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung Ende Mai bzw. Anfang Juni 2021 abzulegen und damit ihr Studium zu dem Zeitpunkt abschließen, zu dem sie ihr Studium auch ohne die Verschiebung des Zweiten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung abgeschlossen hätte. Einen Nachteil hat die Antragstellerin demnach im Hinblick auf die Studiendauer – auch gegenüber Studierenden aus anderen Bundesländern – nicht erlitten.23 Soweit es der Antragstellerin mit ihrem Antrag darum geht, im Frühjahr 2021 den Zweiten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung nicht in zeitlicher Nähe zum Dritten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung ablegen zu müssen, hat sie auch insoweit nicht glaubhaft gemacht, dass eine ihr – nur vorläufig zu bescheinigende – Prüfungsnote auf Grundlage ihrer Durchschnittsverlaufsnote ihres klinischen Studienabschnitts dringend erforderlich wäre, um ihr drohende wesentliche Nachteile zu verhindern. Denn nach dem Kern ihres Vorbringens befürchtet die Antragstellerin aufgrund der mit der Verschiebung des Zweiten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung in das Frühjahr 2021 einhergehenden Veränderung des Ablaufs ihres weiteren Studiums in den beiden von ihr noch abzulegenden Prüfungen schlechter abzuschneiden als dies bei regulärem Studien- und Prüfungsbetrieb gewesen wäre. Sie hat allerdings weder ausreichend konkrete Anhaltspunkte für die Annahme eines solchen Geschehensverlaufs dargelegt noch ist ersichtlich, auf welche Weise dem durch die vorläufige Anerkennung einer Prüfungsnote begegnet werden könnte. Da sich die tatsächlichen Auswirkungen ohnehin erst nach Abschluss der Prüfungen – etwa in Gestalt von möglicherweise erhöhten Durchfallquoten – feststellen lassen, dürfte insoweit zur Abwendung möglicher Nachteile die Inanspruchnahme nachträglichen Rechtsschutzes ausreichend sein.24 Auch im Übrigen lassen sich dem Vortrag der Antragstellerin unter Einbeziehung der Ausführungen in ihrer eidesstattlichen Versicherung vom 20.09.2020 keine hinreichend konkreten Anhaltspunkte für eine Eilbedürftigkeit der von ihr begehrten vorläufigen Anerkennung einer Prüfungsnote im Zweiten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung erkennen.25 b) Die Antragstellerin hat auch keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Denn die Antragstellerin hat keinen Anspruch gegen den Antragsgegner darauf, dass ihre Durchschnittsverlaufsnote des klinischen Studienabschnitts als Prüfungsnote des Zweiten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache vorläufig anerkannt wird.26 Ein solcher Anspruch lässt sich weder der Approbationsordnung für Ärzte vom 27.06.2002 noch der Abweichungsverordnung des Bundesgesundheitsministeriums vom 30.03.2020 entnehmen. Anders als die Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin meint, ergibt sich ein Anspruch darauf auch nicht in Gestalt eines Folgenbeseitigungsanspruchs aus einer möglichen Verfassungswidrigkeit der Abweichungsverordnung oder einer zu Unrecht erfolgten Prüfungsverschiebung durch den Antragsgegner.27 aa) Mit ihrem Antrag begehrt die Antragstellerin vom Antragsgegner die Bescheinigung einer Note für eine Prüfung, die nicht stattgefunden hat und für die die geforderte Prüfungsleistung nicht erbracht wurde, welche unter Berücksichtigung der im Hauptantrag in Bezug genommenen Hauptsache aus Sicht der Antragstellerin offenbar aber auch zu keinem späteren Zeitpunkt mehr erbracht werden soll. Als Grund für den – im Ergebnis vollständigen – Verzicht einer Leistungsermittlung im Rahmen des Zweiten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung führt die Antragstellerin im Wesentlichen nur an, dass die coronabedingte Verschiebung der Prüfung im Frühjahr 2020, zu der sie zugelassen war, rechtswidrig gewesen sei und ihr infolgedessen verschiedene Nachteile entstanden seien. Eine positive Leistungserbringung – wie sie auch im Rahmen des Zweiten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung verlangt wird – kann aber nicht fingiert werden (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 30.09.1991 – 9 S 1529/91 – Rn. 3, juris). Gegenstand einer im Rahmen einer Prüfung erfolgenden Leistungsbewertung ist stets nur eine wirklich erbrachte Leistung. Hat ein Prüfling eine Leistung tatsächlich nicht erbracht, scheidet die Anerkennung einer fiktiven Leistung selbst dann aus, wenn hinsichtlich der Nichterbringung den Prüfling kein Verschulden trifft (vgl. Niehues/Fischer/Jeremias, Prüfungsrecht, 7. Aufl. 2018, Rn. 226). Daher steht der Antragstellerin – unabhängig davon, ob die Verschiebung der Prüfung im Frühjahr 2020 rechtmäßig war und der Erlass der Abweichungsverordnung des Bundesgesundheitsministeriums verfassungskonform ist – ein Anspruch auf Anerkennung ihrer Durchschnittsverlaufsnote nicht zu.28 Abgesehen davon müsste, wenn man – entgegen diesen Ausführungen – die Möglichkeit der Vergabe einer Prüfungsnote ohne den Nachweis einer entsprechend erbrachten Prüfungsleistung annimmt, diese wegen des im Prüfungsrecht geltenden Grundsatzes der Chancengleichheit auf eng umgrenzte Ausnahmen beschränkt bleiben; außerdem würde sie mit Blick auf die grundrechtsrelevante Bedeutung eine Entscheidung durch den Gesetzgeber oder zumindest eine gesetzliche Grundlage erfordern, die die Voraussetzungen und die Grenzen für eine solche Notenfiktion im Einzelfall festlegt. Vorliegend hat sich der Bundesverordnungsgeber sowie daran anknüpfend der Antragsgegner jedoch dafür entschieden, dass den coronabedingten Auswirkungen auf das Prüfungsgeschehen im Frühjahr 2020 durch eine Verschiebung des Zweiten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung in Verbindung mit verschiedenen Ausgleichsmaßnahmen und gerade nicht durch die Anerkennung der Durchschnittsverlaufsnote des klinischen Studienabschnitts in Gestalt einer Notenfiktion begegnet wird. Sofern die Antragstellerin die Richtigkeit dieser gesetzgeberischen Entscheidung im Allgemeinen anzweifelt, kann sie deren Änderung jedenfalls nicht im vorliegenden einstweiligen Rechtsschutzverfahren nach § 123 VwGO erreichen.29 bb) Auch soweit die Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin in diesem Zusammenhang auf einen dieser zustehenden Folgenbeseitigungsanspruch verweist, vermag sie damit nicht durchzudringen. Denn es ist bereits nicht nur zweifelhaft, ob durch die Verschiebung der Prüfung im Frühjahr 2020 und die Anwendung der Abweichungsverordnung mit Blick auf das vorzeitige Praktische Jahr in das subjektive Recht der Antragstellerin – ihren durch die Zulassung vom 05.03.2020 erworbenen Prüfungsanspruch für diese Prüfung – rechtswidrig eingegriffen wurde (vgl. dazu auch VG Stuttgart, Beschl. v. 17.04.2020 – 12 K 1887/20, BeckRS 2020, 6557, Rn 11 ff.). Vielmehr könnte die Antragstellerin selbst dann, wenn man wie ihre Prozessbevollmächtigte davon ausgeht, dass die Verschiebung der Prüfung im Frühjahr 2020 wegen der Verfassungswidrigkeit der Abweichungsverordnung zu Unrecht erfolgt ist, auf Grundlage eines Folgenbeseitigungsanspruchs lediglich die Zulassung zum nächstmöglichen Prüfungstermin mit sich einer daran anschließenden üblichen Durchführung des Praktischen Jahres nach den Vorschriften der Approbationsordnung für Ärzte verlangen. Die von der Antragstellerin begehrte Anerkennung der Durchschnittsverlaufsnote ihres klinischen Studienabschnitts für den verschobenen Zweiten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung käme hingegen – da sie diese Prüfung tatsächlich nicht abgelegt hat – einer überschießenden Entschädigung für die allgemeinen Auswirkungen der im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie erforderlichen Einschränkungen gleich, ohne dass hierfür ein prüfungsrechtlich beachtlicher Grund gegeben wäre.30 2. Der Hilfsantrag der Antragstellerin bleibt ebenfalls in der Sache ohne Erfolg.31 a) Die Antragstellerin hat auch in Bezug auf den Hilfsantrag einen Anordnungsgrund nicht glaubhaft gemacht.32 Mit ihrem Hilfsantrag begehrt die Antragstellerin Ausgleichsmaßnahmen für die Verschiebung des Zweiten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung bzw. die Modalitäten des vorzeitigen Praktischen Jahres, etwa in Gestalt eines separaten Freiversuchs im Herbst 2020 während des Praktischen Jahres oder einer Erleichterung der Bedingungen für die im Frühjahr 2021 nacheinander stattfindenden Prüfungen des Zweiten und des Dritten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung, beispielsweise durch einen Freiversuch, eine ausreichende Vorbereitungszeit oder eine Anpassung des Prüfungsstoffs bzw. der Prüfungszeit. Aus dem Vorbringen der Antragstellerin ist jedoch nicht ersichtlich, dass ihr ohne die Gewährung solcher Maßnahmen wesentliche oder gar nicht wiedergutzumachende Nachteile im Rahmen ihres Prüfungs- und Ausbildungsverhältnisses drohen würden, die eine Eilbedürftigkeit begründen könnten. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass sich der Ablauf sowie die Benotung des Zweiten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung im Frühjahr 2021 zum gegenwärtigen Zeitpunkt überhaupt nicht vorhersehen lassen. Weder steht fest, dass sich der – im Vergleich zu früheren Prüfungskampagnen und möglicherweise zu anderen Bundesländern – veränderte Ablauf im Rahmen der Ausbildung im vorzeitigen Praktischen Jahr und bei der privaten Prüfungsvorbereitung negativ auf die Leistungsfähigkeit der Antragstellerin bei den Prüfungen im Frühjahr 2021 auswirken wird, noch ist dergleichen in Bezug auf die zeitliche Nähe des Zweiten und Dritten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung ersichtlich. Soweit die Antragstellerin in diesem Zusammenhang besondere Belastungen durch ein sog. „Hammerexamen“, eine unzureichende Vorbereitung auf den Dritten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung wegen des verkürzten Unterrichts im vorzeitigen Praktischen Jahr und mangels ausreichender Prüfungsvorbereitungszeit, die anders als sonst nicht 100 Tagen entspricht, auch auf den Zweiten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung sowie einen „coronalastigen“ Prüfungsstoff befürchtet, beruhen diese Annahmen im Wesentlichen lediglich auf Vermutungen. Abgesehen davon ist insoweit zu berücksichtigen, dass der Antragsgegner in seinem Schreiben vom 21.08.2020 der Antragstellerin bereits mitgeteilt hat, dass für den Fall, dass die Prüfungsergebnisse wider Erwarten schlechter ausfallen würden, geprüft werde, ob weitere Nachteilsausgleichsmaßahmen erforderlich seien. Hinzu kommt, dass der Antragstellerin mit Schreiben des Prüfungsamtes vom 08.04.2020 die Möglichkeit eröffnet worden ist, nicht mit dem vorzeitigen Praktischen Jahr zu beginnen, sondern stattdessen im Herbst 2020 den Zweiten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung zu absolvieren und anschließend das weitere Studium – insbesondere das Praktische Jahr – wie gewöhnlich fortzusetzen. Davon hat die Antragstellerin indes keinen Gebrauch gemacht, obwohl sie damit überwiegend die von ihr geltend gemachten Beeinträchtigungen – etwa mit Blick auf die Prüfungsvorbereitungszeit – hätte vermeiden können. Dass der Antragstellerin die Inanspruchnahme dieser Möglichkeit – beispielsweise aufgrund individueller Studien- und Berufsplanung – unzumutbar gewesen wäre und sie infolgedessen gewissermaßen gezwungen war, sich auf das vorzeitige Praktische Jahr und die Verschiebung des Zweiten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung nicht nur um ein halbes, sondern um ein ganzes Jahr einzulassen, hat sie nicht dargelegt. Für die vorzeitige und vorläufige Einräumung eines Nachteils-ausgleichs ist daher weder eine Notwendigkeit noch die nötige Dringlichkeit ersichtlich.33 b) Die Antragstellerin hat einen ihr gegen den Antragsgegner zustehenden Anspruch auf einen angemessenen Ausgleich für die Verschiebung des Zweiten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung im Frühjahr 2020 sowie für die Durchführung eines vorzeitigen Praktischen Jahres ebenfalls nicht glaubhaft gemacht.34 Die Antragstellerin hat keinen Anspruch auf die von ihr begehrten Ausgleichsmaßnahmen. Ein Anspruch hierauf ergibt sich insbesondere nicht auf Grundlage eines Folgenbeseitigungsanspruchs. Denn unabhängig von den sonstigen Voraussetzungen eines solchen Anspruchs, deren Vorliegen – wie ausgeführt – bereits zweifelhaft erscheinen, hat die Antragstellerin nicht ausreichend dargelegt, dass sie in ihrer konkreten Situation durch die Verschiebung der Prüfung und die damit einhergehende Durchführung eines vorzeitigen Praktischen Jahres Nachteile erleidet, die einen prüfungsrechtlichen Ausgleich in der von ihr vorgeschlagenen Form erfordern. Dies gilt zunächst für die angeführten allgemeinen Auswirkungen der Corona-Pandemie, wie etwa Planungsunsicherheit sowie zusätzliche mentale und finanzielle Belastungen. Insbesondere gilt es aber auch für die coronabedingten Auswirkungen auf Prüfungs- und Ausbildungsverhältnisse, die sich beispielsweise in Gestalt eines eingeschränkten Präsenz- und Praxisunterrichts, einer erforderlichen höheren Flexibilität sowie in veränderten Prüfungsvorbereitungsbedingungen manifestieren und die unter anderem auch von der Antragstellerin vorgebracht werden. Damit und auch mit den übrigen vorgetragenen Umständen macht die Antragstellerin als zu beseitigenden Folgen der Prüfungsverschiebung und der Durchführung des vorzeitigen Praktischen Jahres aber keine prüfungsrechtlich beachtlichen und einen entsprechenden Ausgleich erfordernden Nachteile geltend, sondern beruft sich nur auf allgemeine Veränderungen im Ablauf ihres Studiums und hinsichtlich der äußeren allgemeinen Rahmenbedingungen der von ihr noch abzulegenden Prüfungen. Die hiermit möglicherweise verbundenen Unannehmlichkeiten rechtfertigen – abgesehen davon, dass auch insoweit eine gesetzgeberische Entscheidung notwendig sein dürfte – weder die Einräumung eines Freiversuchs während des vorzeitigen Praktischen Jahres im Herbst 2020 oder für die Prüfung im Frühjahr 2021 noch die Reduzierung der Prüfungsfragen oder die Anpassung der Prüfungszeit noch die weiteren von der Antragstellerin vorgeschlagenen Maßnahmen.III.35 Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.36 Die Entscheidung über den Streitwert beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 1 und Abs. 2, 39, 45 Abs. 1 Satz 3 GKG. Sowohl Haupt- als auch Hilfsantrag zielen im Wesentlichen auf einen Ausgleich für die Verschiebung des Zweiten Ärztlichen Abschnitts und der damit verbundenen Durchführung eines vorzeitigen Praktischen Jahres und somit auf wirtschaftlich Identisches, sodass eine Erhöhung des Auffangstreitwerts nicht erfolgt. Da das Begehren der Antragstellerin jedoch auf eine Vorwegnahme der Hauptsache gerichtet ist, ist vorliegend der Auffangstreitwert nicht zu halbieren. | {
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Tenor
1. Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wird abgelehnt.2. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.3. Der Streitwert wird auf 5.000 EUR festgesetzt.
Gründe
I.1 Die Antragstellerin begehrt im Wege der einstweiligen Anordnung die Anerkennung ihrer Durchschnittsverlaufsnote aus dem klinischen Studienabschnitt als Prüfungsnote für den coronabedingt von April 2020 auf das Frühjahr 2021 verschobenen Zweiten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung, hilfsweise einen angemessenen Ausgleich für die Verschiebung dieser Prüfung und für den damit verbundenen vorzeitigen Beginn des Praktischen Jahres.2 Die Antragstellerin studiert Humanmedizin an der Universität .... Mit Bescheid vom 05.03.2020 wurde sie zum Frühjahrstermin 2020 für den Zweiten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung zugelassen, der im Zeitraum vom 15.04.2020 bis zum 17.04.2020 am Prüfungsstandort ... stattfinden sollte.3 Der reguläre Ablauf des Medizinstudiums, wie er in § 1 Abs. 3 der Approbationsordnung für Ärzte vom 27.06.2002 – ÄApprO – (BGBl. I S. 2405) geregelt ist, sieht vor, dass die Studierenden nach einem Studium von zwei Jahren zunächst den Ersten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung ablegen. Nach einem Studium von drei weiteren Jahren folgt der Zweite Abschnitt der Ärztlichen Prüfung. Hieran schließt sich das Praktische Jahr an, an dessen Ende der Dritte Abschnitt der Ärztlichen Prüfung abgelegt wird.4 Am 31.03.2020 trat die vom Bundesministerium für Gesundheit erlassene Verordnung zur Abweichung von der Approbationsordnung für Ärzte bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 30.03.2020 (im Folgenden: Abweichungsverordnung – ÄApprOAbwVO) in Kraft. Nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 ÄApprOAbwVO soll der Zweite Abschnitt der Ärztlichen Prüfung in Abweichung von § 1 Abs. 3 ÄApprO erst nach Abschluss eines sog. vorzeitigen Praktischen Jahres stattfinden mit der Konsequenz, dass die Prüfung – nicht wie von der Approbationsordnung für Ärzte regulär vorgesehen – im April 2020, sondern erst im April 2021 abgelegt wird. Auch wurden die Ausbildungsabschnitte des vorzeitigen Praktischen Jahres von 16 Wochen auf 15 Wochen verkürzt. § 7 Abs. 4 ÄApprOAbwVO räumt den Ländern die Möglichkeit ein, abweichend vorzusehen, dass der Zweite Abschnitt der Ärztlichen Prüfung – wie bisher – nach den Regelungen der Approbationsordnung für Ärzte durchgeführt wird, wenn die ordnungsgemäße Durchführung des Prüfungsabschnitts trotz der epidemischen Lage von nationaler Tragweite gewährleistet ist.5 In Baden-Württemberg entschied das Sozialministerium in Rücksprache mit den medizinischen Fakultäten, von dieser Abweichungskompetenz keinen Gebrauch zu machen, da eine Durchführung der Prüfung ohne Ansteckungsrisiko für Teilnehmer und Aufsichtspersonal nicht gewährleistet werden könne.6 Die Information über das Nichtstattfinden der Prüfung wurde am 01.04.2020 auf der Internetseite des Landesprüfungsamtes für Medizin und Pharmazie eingestellt. Außerdem wurde der Antragstellerin die Absage der Prüfung seitens der Universität ... mitgeteilt. Zusätzlich erhielt die Antragstellerin ein Schreiben des Antragsgegners vom 08.04.2020, das sie darüber informierte, dass der Zweite Abschnitt der Ärztlichen Prüfung erst nach einem vorzeitigen Praktischen Jahr durchgeführt werde. Die Antragstellerin könne wie in der Abweichungsverordnung vorgesehen am 20.04.2020 mit dem vorzeitigen Praktischen Jahr beginnen und die Prüfung im Frühjahr 2021 ablegen. Daneben bestehe jedoch auch die Möglichkeit, nicht mit dem vorzeitigen Praktischen Jahr zu beginnen und die Prüfung stattdessen im Herbst 2020 abzulegen.7 Die Antragstellerin begann zum 20.04.2020 mit dem vorzeitigen Praktischen Jahr, womit für sie vorgesehen ist, dass sie den Zweiten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung im Zeitraum vom 13.04.2021 bis zum 15.04.2021 absolviert.8 Mit Schreiben vom 13.08.2020 wandte sich die Antragstellerin unter anderem mit Verweis auf die Verfassungswidrigkeit der Abweichungsverordnung an den Antragsgegner und begehrte die Anerkennung ihrer Durchschnittsverlaufsnote aus dem klinischen Studienabschnitt als Prüfungsnote im Zweiten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung bzw. die Gewährung angemessener Ausgleichsmaßnahmen für die ihrer Meinung nach rechtswidrig erfolgte Verschiebung der Prüfung im Frühjahr 2020 sowie der damit einhergehenden Durchführung eines vorzeitigen Praktischen Jahres.9 Der Antragsgegner nahm hierzu mit Schreiben vom 21.08.2020 Stellung und führte aus, dass aus seiner Sicht das Vorgehen im Hinblick auf die Verschiebung des Zweiten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung nicht zu beanstanden sei. Insbesondere enthalte die Abweichungsverordnung Regelungen, durch die etwaige Nachteile der Studierenden kompensiert würden. Daher sei ein zusätzlicher Nachteilsausgleich nicht erforderlich.10 Unter dem 07.09.2020 hat die Antragstellerin um die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nachgesucht und lässt zur Begründung zusammengefasst ausführen: Die Abweichungsverordnung sei im Lichte der Berufsfreiheit und des Gleichheitsgrundsatzes verfassungswidrig und im Übrigen nicht von der Ermächtigungsgrundlage des § 5 Abs. 2 Nr. 7 b) IfSG gedeckt. Die auf Grundlage dieser Verordnung vom Antragsgegner veranlasste Verschiebung des Zweiten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung und der damit verbundenen Durchführung eines vorzeitigen Praktischen Jahres durch die als Allgemeinverfügung zu qualifizierende Entscheidung vom 01.04.2020 sei demnach rechtswidrig. Deswegen stehe ihr wegen der durch dieses rechtswidrige Handeln verursachten Folgen ein Anspruch auf Folgenbeseitigung und Nachteilsausgleich, zumindest jedoch auf ermessenfehlerfreie Entscheidung, zu. Dabei sei zu berücksichtigen, dass die Verschiebung des Zweiten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung und das vorzeitige Praktische Jahr für sie diverse Nachteile mit sich bringe. Unter anderem sei Grundlage für die Prüfung im April 2021 ein anderer Gegenstandskatalog. Da die Abweichungsverordnung vorsehe, dass der Prüfungsstoff auch um Fragen zur Bekämpfung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite ergänzt werde, sei davon auszugehen, dass die Prüfung „coronalastig“ werde, obwohl hierfür keine ausreichende theoretische und Praktische Vorbereitung zur Verfügung stehe. Zudem blieben für die Vorbereitung auf die Prüfung im April 2021 lediglich 43 Tage, da das vorzeitige Praktische Jahr am 28.02.2021 ende und die Prüfungskampagne am 13.04.2021 beginne. Die Unterbrechung durch das vorzeitige Praktische Jahr erschwere zudem die Aufrechterhaltung von Faktenwissen für die Prüfung im Frühjahr 2021 erheblich. Durch den vorgezogenen Beginn des vorzeitigen Praktischen Jahres verbleibe außerdem weniger Zeit für Erholung, zur Fertigstellung der Dissertation sowie für Nebenerwerbstätigkeiten zur Finanzierung des Praktischen Jahres, in dem eine Vergütung bzw. eine coronabedingte Aufwandsentschädigung nur teilweise gezahlt werde. Auch die Urlaubstage im vorzeitigen Praktischen Jahr stünden hierfür nicht zur Verfügung, da sie zur Prüfungsvorbereitung auf den Zweiten Abschnitt und den Dritten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung im Frühjahr 2021 – dem sog. Hammerexamen – genutzt werden müssten. Ferner sei mit einem mehrmonatigen Verdienstausfall zu rechnen, da die Bewerbungsphase erst nach Ablegung des Dritten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung stattfinden könne. Das Fehlen einer Note im Zweiten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung erschwere auch Bewerbungen während des Praktischen Jahres, wobei zusätzlich eine Benachteiligung gegenüber Bewerbern aus anderen Bundesländern bestehe, in denen der Zweite Abschnitt der Ärztlichen Prüfung nicht verschoben worden sei. Hinzu komme, dass es wegen der durch die Abweichungsverordnung erzwungenen Zuteilung des Wahlfachs im vorzeitigen Praktischen Jahr keine hinreichende Neigungsorientierung mehr gebe. Auch sei die Mobilität eingeschränkt, da ein Wechsel in andere Bundesländer schwierig sei. Im Übrigen sei aufgrund der coronabedingen Einschränkungen des Unterrichts im vorzeitigen Praktischen Jahr in den Krankenhäusern keine ausreichende Vermittlung der notwendigen Kenntnisse und Routinen gewährleistet, weswegen auch keine hinreichende Vorbereitung auf den Dritten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung stattfinde.11 Die Antragstellerin beantragt schriftsätzlich,12 den Antragsgegner zu verpflichten, vorläufig bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache ihr den Zweiten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung anzuerkennen unter Rückgriff auf die Durchschnittsverlaufsnote des klinischen Studienabschnitts,13 hilfsweise den Antragsgegner zu verpflichten, vorläufig bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache ihr unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts einen angemessenen Ausgleich zu gewähren für erstens die Verschiebung des Zweiten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung Frühjahr 2020 aufgrund der Änderung der Zulassungsvoraussetzungen für diese Prüfung und zweitens den vorzeitigen Beginn des Praktischen Jahres mit einer Untergliederung in drei Ausbildungsabschnitte von 15 Wochen unter Vorgabe des klinischen-praktischen Fachgebiets für den dritten Ausbildungsabschnitt.14 Der Antragsgegner beantragt schriftsätzlich,15 den Antrag abzulehnen.16 Er führt zusammengefasst aus: Für die begehrte Anerkennung der Durchschnittsverlaufsnote als Note des Zweiten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung fehle es an einer gesetzlichen Grundlage. Im Übrigen sei die Rechtsgrundlage für das Vorgehen im vorliegenden Zusammenhang die auf § 5 Abs. 2 Nr. 7 b) IfSG beruhende Abweichungsverordnung vom 30.03.2020, die entgegen der Ansicht der Antragstellerin rechtmäßig sei. Es sei nicht zu beanstanden, dass von der den Ländern durch diese Verordnung eingeräumten Ausnahmemöglichkeit des § 7 Abs. 4 Satz 1 ÄApprOAbwVO – den Zweiten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung nach den bislang geltenden Regeln der Approbationsordnung für Ärzte durchzuführen – kein Gebrauch gemacht worden sei. Die für die Prüfung angemieteten Räumlichkeiten seien mit Blick auf die seinerzeit einzuhaltenden Abstandsregelungen für deren Durchführung ungeeignet gewesen, zumal aufgrund kommunaler Vorschriften die Anzahl von zulässigen Personen im Rahmen solcher Veranstaltungen sehr begrenzt gewesen sei. Es sei angesichts der hohen Teilnehmerzahl von rund 750 Prüfungskandidaten auch nicht möglich gewesen, kurzfristig andere Räumlichkeiten anzumieten und die Prüfung entsprechend der Vorgaben der damals geltenden Corona-Verordnung des Landes Baden-Württemberg durchzuführen. Im Übrigen sei zu berücksichtigen, dass die Entscheidung zu einem frühen Zeitpunkt der Corona-Pandemie getroffen worden sei, zu dem vieles noch unklar gewesen sei, weswegen insbesondere der Schutz der Prüflinge und eine „coronasichere“ Durchführung der Prüfung zu berücksichtigen gewesen seien. Ein Verstoß gegen das Grundrecht der Berufsfreiheit oder den Gleichheitsgrundsatz sei nicht zu erkennen. Die Abweichungsverordnung enthalte Regelungen, die den Studierenden weiterhin einen Abschluss des Medizinstudiums im Mai/Juni 2021 ermöglichten und gleichzeitig etwaige Nachteile kompensierten. Dies gelte etwa im Hinblick auf das verkürzte vorzeitige Praktische Jahr und die auf die Corona-Situation angepasste Fehlzeitregelung. Soweit auf Schwierigkeiten im Rahmen der Durchführung des vorzeitigen Praktischen Jahres verwiesen werde, seien diese – etwa mit Blick auf Auslandsaufenthalte – auch auf die allgemeine Corona-Situation zurückzuführen. Im Übrigen verblieben zur Vorbereitung auf die verschobene Prüfung im Frühjahr 2021 sechs Wochen. Bis zu dem danach stattfindenden Dritten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung liege ein Zeitraum von mindestens zweieinhalb Wochen. Keine Nachteile seien mit Blick auf die Inhalte der Prüfung im Frühjahr 2021 zu erwarten, da der Gegenstandskatalog für die verschobene Prüfung im Frühjahr 2020 unverändert auch für die Prüfung im Frühjahr 2021 gelte und bereits den Anforderungen der Abweichungsverordnung entsprochen habe. Im Übrigen sei eine Verschiebung des Zweiten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung etwa um drei Monate aus gesetzlichen und organisatorischen Gründen nicht möglich gewesen. Ebenso scheide das Ablegen der Prüfung während des vorzeitigen Praktischen Jahres im Herbst 2020 aus, da dies mit einer nicht zulässigen Unterbrechung des Praktischen Jahres einhergehen würde. Schließlich fehle es an der Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes, da sich das Studium der Antragstellerin durch die Verschiebung der Prüfung nicht verzögere.17 Das Gericht hat die Akte des Antragsgegners beigezogen. Auf diese sowie auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze samt Anlagen wird wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands ergänzend Bezug genommen.II.18 Der zulässige Antrag hat in der Sache keinen Erfolg.19 Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht auch schon vor Klageerhebung eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn die Gefahr besteht, dass durch die Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Sicherungsanordnung). Eine einstweilige Anordnung kann auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis getroffen werden, wenn diese Regelung nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus sonstigen Gründen geboten ist (Regelungsanordnung gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt voraus, dass ein Bedürfnis für die Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutzes besteht (Anordnungsgrund) und sich die Antragstellerin auf einen Anordnungsanspruch berufen kann. Das Vorliegen beider Voraussetzungen ist von der Antragstellerin glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO). Außerdem darf eine stattgebende Entscheidung die Hauptsache grundsätzlich nicht ‒ auch nicht zeitlich befristet ‒ vorwegnehmen, es sei denn, dass dies zur Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes unerlässlich ist.20 1. Der Hauptantrag ist unbegründet.21 a) Die Antragstellerin hat bereits einen Anordnungsgrund nach § 123 Abs. 3 VwGO, § 920 Abs. 2 ZPO nicht glaubhaft gemacht.22 Mit ihrem Vortrag zeigt die Antragstellerin nicht auf, dass sie solch wesentliche Nachteile dadurch erleidet, dass sie gegenwärtig über keine Prüfungsnote im Zweiten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung verfügt, dass die für den Erlass einer einstweiligen Anordnung notwendige Eilbedürftigkeit gegeben wäre. Der Antragstellerin wurde es ermöglicht, auch ohne dass sie den Zweiten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung abgelegt hat, das Praktische Jahr – wenngleich unter geänderten Bedingungen – zu absolvieren. Dadurch ist es der Antragstellerin weiterhin möglich, den Dritten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung Ende Mai bzw. Anfang Juni 2021 abzulegen und damit ihr Studium zu dem Zeitpunkt abschließen, zu dem sie ihr Studium auch ohne die Verschiebung des Zweiten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung abgeschlossen hätte. Einen Nachteil hat die Antragstellerin demnach im Hinblick auf die Studiendauer – auch gegenüber Studierenden aus anderen Bundesländern – nicht erlitten.23 Soweit es der Antragstellerin mit ihrem Antrag darum geht, im Frühjahr 2021 den Zweiten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung nicht in zeitlicher Nähe zum Dritten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung ablegen zu müssen, hat sie auch insoweit nicht glaubhaft gemacht, dass eine ihr – nur vorläufig zu bescheinigende – Prüfungsnote auf Grundlage ihrer Durchschnittsverlaufsnote ihres klinischen Studienabschnitts dringend erforderlich wäre, um ihr drohende wesentliche Nachteile zu verhindern. Denn nach dem Kern ihres Vorbringens befürchtet die Antragstellerin aufgrund der mit der Verschiebung des Zweiten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung in das Frühjahr 2021 einhergehenden Veränderung des Ablaufs ihres weiteren Studiums in den beiden von ihr noch abzulegenden Prüfungen schlechter abzuschneiden als dies bei regulärem Studien- und Prüfungsbetrieb gewesen wäre. Sie hat allerdings weder ausreichend konkrete Anhaltspunkte für die Annahme eines solchen Geschehensverlaufs dargelegt noch ist ersichtlich, auf welche Weise dem durch die vorläufige Anerkennung einer Prüfungsnote begegnet werden könnte. Da sich die tatsächlichen Auswirkungen ohnehin erst nach Abschluss der Prüfungen – etwa in Gestalt von möglicherweise erhöhten Durchfallquoten – feststellen lassen, dürfte insoweit zur Abwendung möglicher Nachteile die Inanspruchnahme nachträglichen Rechtsschutzes ausreichend sein.24 Auch im Übrigen lassen sich dem Vortrag der Antragstellerin unter Einbeziehung der Ausführungen in ihrer eidesstattlichen Versicherung vom 16.09.2020 keine hinreichend konkreten Anhaltspunkte für eine Eilbedürftigkeit der von ihr begehrten vorläufigen Anerkennung einer Prüfungsnote im Zweiten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung erkennen.25 b) Die Antragstellerin hat auch keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Denn die Antragstellerin hat keinen Anspruch gegen den Antragsgegner darauf, dass ihre Durchschnittsverlaufsnote des klinischen Studienabschnitts als Prüfungsnote des Zweiten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache vorläufig anerkannt wird.26 Ein solcher Anspruch lässt sich weder der Approbationsordnung für Ärzte vom 27.06.2002 noch der Abweichungsverordnung des Bundesgesundheitsministeriums vom 30.03.2020 entnehmen. Anders als die Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin meint, ergibt sich ein Anspruch darauf auch nicht in Gestalt eines Folgenbeseitigungsanspruchs aus einer möglichen Verfassungswidrigkeit der Abweichungsverordnung oder einer zu Unrecht erfolgten Prüfungsverschiebung durch den Antragsgegner.27 aa) Mit ihrem Antrag begehrt die Antragstellerin vom Antragsgegner die Bescheinigung einer Note für eine Prüfung, die nicht stattgefunden hat und für die die geforderte Prüfungsleistung nicht erbracht wurde, welche unter Berücksichtigung der im Hauptantrag in Bezug genommenen Hauptsache aus Sicht der Antragstellerin offenbar aber auch zu keinem späteren Zeitpunkt mehr erbracht werden soll. Als Grund für den – im Ergebnis vollständigen – Verzicht einer Leistungsermittlung im Rahmen des Zweiten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung führt die Antragstellerin im Wesentlichen nur an, dass die coronabedingte Verschiebung der Prüfung im Frühjahr 2020, zu der sie zugelassen war, rechtswidrig gewesen sei und ihr infolgedessen verschiedene Nachteile entstanden seien. Eine positive Leistungserbringung – wie sie auch im Rahmen des Zweiten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung verlangt wird – kann aber nicht fingiert werden (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 30.09.1991 – 9 S 1529/91 – Rn. 3, juris). Gegenstand einer im Rahmen einer Prüfung erfolgenden Leistungsbewertung ist stets nur eine wirklich erbrachte Leistung. Hat ein Prüfling eine Leistung tatsächlich nicht erbracht, scheidet die Anerkennung einer fiktiven Leistung selbst dann aus, wenn hinsichtlich der Nichterbringung den Prüfling kein Verschulden trifft (vgl. Niehues/Fischer/Jeremias, Prüfungsrecht, 7. Aufl. 2018, Rn. 226). Daher steht der Antragstellerin – unabhängig davon, ob die Verschiebung der Prüfung im Frühjahr 2020 rechtmäßig war und der Erlass der Abweichungsverordnung des Bundesgesundheitsministeriums verfassungskonform ist – ein Anspruch auf Anerkennung ihrer Durchschnittsverlaufsnote nicht zu.28 Abgesehen davon müsste, wenn man – entgegen diesen Ausführungen – die Möglichkeit der Vergabe einer Prüfungsnote ohne den Nachweis einer entsprechend erbrachten Prüfungsleistung annimmt, diese wegen des im Prüfungsrecht geltenden Grundsatzes der Chancengleichheit auf eng umgrenzte Ausnahmen beschränkt bleiben; außerdem würde sie mit Blick auf die grundrechtsrelevante Bedeutung eine Entscheidung durch den Gesetzgeber oder zumindest eine gesetzliche Grundlage erfordern, die die Voraussetzungen und die Grenzen für eine solche Notenfiktion im Einzelfall festlegt. Vorliegend hat sich der Bundesverordnungsgeber sowie daran anknüpfend der Antragsgegner jedoch dafür entschieden, dass den coronabedingten Auswirkungen auf das Prüfungsgeschehen im Frühjahr 2020 durch eine Verschiebung des Zweiten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung in Verbindung mit verschiedenen Ausgleichsmaßnahmen und gerade nicht durch die Anerkennung der Durchschnittsverlaufsnote des klinischen Studienabschnitts in Gestalt einer Notenfiktion begegnet wird. Sofern die Antragstellerin die Richtigkeit dieser gesetzgeberischen Entscheidung im Allgemeinen anzweifelt, kann sie deren Änderung jedenfalls nicht im vorliegenden einstweiligen Rechtsschutzverfahren nach § 123 VwGO erreichen.29 bb) Auch soweit die Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin in diesem Zusammenhang auf einen dieser zustehenden Folgenbeseitigungsanspruch verweist, vermag sie damit nicht durchzudringen. Denn es ist bereits nicht nur zweifelhaft, ob durch die Verschiebung der Prüfung im Frühjahr 2020 und die Anwendung der Abweichungsverordnung mit Blick auf das vorzeitige Praktische Jahr in das subjektive Recht der Antragstellerin – ihren durch die Zulassung vom 05.03.2020 erworbenen Prüfungsanspruch für diese Prüfung – rechtswidrig eingegriffen wurde (vgl. dazu auch VG Stuttgart, Beschl. v. 17.04.2020 – 12 K 1887/20, BeckRS 2020, 6557, Rn 11 ff.). Vielmehr könnte die Antragstellerin selbst dann, wenn man wie ihre Prozessbevollmächtigte davon ausgeht, dass die Verschiebung der Prüfung im Frühjahr 2020 wegen der Verfassungswidrigkeit der Abweichungsverordnung zu Unrecht erfolgt ist, auf Grundlage eines Folgenbeseitigungsanspruchs lediglich die Zulassung zum nächstmöglichen Prüfungstermin mit sich einer daran anschließenden üblichen Durchführung des Praktischen Jahres nach den Vorschriften der Approbationsordnung für Ärzte verlangen. Die von der Antragstellerin begehrte Anerkennung der Durchschnittsverlaufsnote ihres klinischen Studienabschnitts für den verschobenen Zweiten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung käme hingegen – da sie diese Prüfung tatsächlich nicht abgelegt hat – einer überschießenden Entschädigung für die allgemeinen Auswirkungen der im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie erforderlichen Einschränkungen gleich, ohne dass hierfür ein prüfungsrechtlich beachtlicher Grund gegeben wäre.30 2. Der Hilfsantrag der Antragstellerin bleibt ebenfalls in der Sache ohne Erfolg.31 a) Die Antragstellerin hat auch in Bezug auf den Hilfsantrag einen Anordnungsgrund nicht glaubhaft gemacht.32 Mit ihrem Hilfsantrag begehrt die Antragstellerin Ausgleichsmaßnahmen für die Verschiebung des Zweiten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung bzw. die Modalitäten des vorzeitigen Praktischen Jahres, etwa in Gestalt eines separaten Freiversuchs im Herbst 2020 während des Praktischen Jahres oder einer Erleichterung der Bedingungen für die im Frühjahr 2021 nacheinander stattfindenden Prüfungen des Zweiten und des Dritten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung, beispielsweise durch einen Freiversuch, eine ausreichende Vorbereitungszeit oder eine Anpassung des Prüfungsstoffs bzw. der Prüfungszeit. Aus dem Vorbringen der Antragstellerin ist jedoch nicht ersichtlich, dass ihr ohne die Gewährung solcher Maßnahmen wesentliche oder gar nicht wiedergutzumachende Nachteile im Rahmen ihres Prüfungs- und Ausbildungsverhältnisses drohen würden, die eine Eilbedürftigkeit begründen könnten. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass sich der Ablauf sowie die Benotung des Zweiten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung im Frühjahr 2021 zum gegenwärtigen Zeitpunkt überhaupt nicht vorhersehen lassen. Weder steht fest, dass sich der – im Vergleich zu früheren Prüfungskampagnen und möglicherweise zu anderen Bundesländern – veränderte Ablauf im Rahmen der Ausbildung im vorzeitigen Praktischen Jahr und bei der privaten Prüfungsvorbereitung negativ auf die Leistungsfähigkeit der Antragstellerin bei den Prüfungen im Frühjahr 2021 auswirken wird, noch ist dergleichen in Bezug auf die zeitliche Nähe des Zweiten und Dritten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung ersichtlich. Soweit die Antragstellerin in diesem Zusammenhang besondere Belastungen durch ein sog. „Hammerexamen“, eine unzureichende Vorbereitung auf den Dritten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung wegen des verkürzten Unterrichts im vorzeitigen Praktischen Jahr und mangels ausreichender Prüfungsvorbereitungszeit, die anders als sonst nicht 100 Tagen entspricht, auch auf den Zweiten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung sowie einen „coronalastigen“ Prüfungsstoff befürchtet, beruhen diese Annahmen im Wesentlichen lediglich auf Vermutungen. Abgesehen davon ist insoweit zu berücksichtigen, dass der Antragsgegner in seinem Schreiben vom 21.08.2020 der Antragstellerin bereits mitgeteilt hat, dass für den Fall, dass die Prüfungsergebnisse wider Erwarten schlechter ausfallen würden, geprüft werde, ob weitere Nachteilsausgleichsmaßahmen erforderlich seien. Hinzu kommt, dass der Antragstellerin mit Schreiben des Prüfungsamtes vom 08.04.2020 die Möglichkeit eröffnet worden ist, nicht mit dem vorzeitigen Praktischen Jahr zu beginnen, sondern stattdessen im Herbst 2020 den Zweiten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung zu absolvieren und anschließend das weitere Studium – insbesondere das Praktische Jahr – wie gewöhnlich fortzusetzen. Davon hat die Antragstellerin indes keinen Gebrauch gemacht, obwohl sie damit überwiegend die von ihr geltend gemachten Beeinträchtigungen – etwa mit Blick auf die Prüfungsvorbereitungszeit – hätte vermeiden können. Dass der Antragstellerin die Inanspruchnahme dieser Möglichkeit – beispielsweise aufgrund individueller Studien- und Berufsplanung – unzumutbar gewesen wäre und sie infolgedessen gewissermaßen gezwungen war, sich auf das vorzeitige Praktische Jahr und die Verschiebung des Zweiten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung nicht nur um ein halbes, sondern um ein ganzes Jahr einzulassen, hat sie nicht dargelegt. Für die vorzeitige und vorläufige Einräumung eines Nachteils-ausgleichs ist daher weder eine Notwendigkeit noch die nötige Dringlichkeit ersichtlich.33 b) Die Antragstellerin hat einen ihr gegen den Antragsgegner zustehenden Anspruch auf einen angemessenen Ausgleich für die Verschiebung des Zweiten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung im Frühjahr 2020 sowie für die Durchführung eines vorzeitigen Praktischen Jahres ebenfalls nicht glaubhaft gemacht.34 Die Antragstellerin hat keinen Anspruch auf die von ihr begehrten Ausgleichsmaßnahmen. Ein Anspruch hierauf ergibt sich insbesondere nicht auf Grundlage eines Folgenbeseitigungsanspruchs. Denn unabhängig von den sonstigen Voraussetzungen eines solchen Anspruchs, deren Vorliegen – wie ausgeführt – bereits zweifelhaft erscheinen, hat die Antragstellerin nicht ausreichend dargelegt, dass sie in ihrer konkreten Situation durch die Verschiebung der Prüfung und die damit einhergehende Durchführung eines vorzeitigen Praktischen Jahres Nachteile erleidet, die einen prüfungsrechtlichen Ausgleich in der von ihr vorgeschlagenen Form erfordern. Dies gilt zunächst für die angeführten allgemeinen Auswirkungen der Corona-Pandemie, wie etwa Planungsunsicherheit sowie zusätzliche mentale und finanzielle Belastungen. Insbesondere gilt es aber auch für die coronabedingten Auswirkungen auf Prüfungs- und Ausbildungsverhältnisse, die sich beispielsweise in Gestalt eines eingeschränkten Präsenz- und Praxisunterrichts, einer erforderlichen höheren Flexibilität sowie in veränderten Prüfungsvorbereitungsbedingungen manifestieren und die unter anderem auch von der Antragstellerin vorgebracht werden. Damit und auch mit den übrigen vorgetragenen Umständen macht die Antragstellerin als zu beseitigenden Folgen der Prüfungsverschiebung und der Durchführung des vorzeitigen Praktischen Jahres aber keine prüfungsrechtlich beachtlichen und einen entsprechenden Ausgleich erfordernden Nachteile geltend, sondern beruft sich nur auf allgemeine Veränderungen im Ablauf ihres Studiums und hinsichtlich der äußeren allgemeinen Rahmenbedingungen der von ihr noch abzulegenden Prüfungen. Die hiermit möglicherweise verbundenen Unannehmlichkeiten rechtfertigen – abgesehen davon, dass auch insoweit eine gesetzgeberische Entscheidung notwendig sein dürfte – weder die Einräumung eines Freiversuchs während des vorzeitigen Praktischen Jahres im Herbst 2020 oder für die Prüfung im Frühjahr 2021 noch die Reduzierung der Prüfungsfragen oder die Anpassung der Prüfungszeit noch die weiteren von der Antragstellerin vorgeschlagenen Maßnahmen.III.35 Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.36 Die Entscheidung über den Streitwert beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 1 und Abs. 2, 39, 45 Abs. 1 Satz 3 GKG. Sowohl Haupt- als auch Hilfsantrag zielen im Wesentlichen auf einen Ausgleich für die Verschiebung des Zweiten Ärztlichen Abschnitts und der damit verbundenen Durchführung eines vorzeitigen Praktischen Jahres und somit auf wirtschaftlich Identisches, sodass eine Erhöhung des Auffangstreitwerts nicht erfolgt. 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Tenor
Das Verfahren wird eingestellt, soweit die Beteiligten den Rechtsstreit in Bezug auf die Unterlassungsklage des Klägers hinsichtlich der von dem Beklagten nicht mehr betriebenen Kamerastandorte (501-518, 520, 525-528, 534-536, 542-543, 545, 547-550, 552-561, 566, 568-573 und 575) übereinstimmend in der Hauptsache für erledigt erklärt haben. Insoweit ist das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - 10. Kammer - vom 9. Juni 2016 wirkungslos.
Hinsichtlich der Kamerastandorte 532, 533, 540, 576 und 580 wird die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - 10. Kammer - vom 9. Juni 2016 zurückgewiesen.
In Bezug auf die Kamerastandorte 520 und 566 wird festgestellt, dass der Betrieb dieser beiden Standorte rechtswidrig war.
Der Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor Sicherheit in derselben Höhe leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1
Der in A-Stadt wohnhafte Kläger wendet sich gegen die durch die Polizeidirektion A-Stadt an verschiedenen Standorten in A-Stadt durchgeführte Videobeobachtung öffentlich zugänglicher Orte.
2
Die Polizeidirektion A-Stadt betreibt seit über zehn Jahren die Videobeobachtung öffentlich zugänglicher Orte. Die Kameras verfügen über eine Aufzeichnungstechnik, eine Zoom-Funktion und sind schwenkbar. Die Bildsignale der Kameras werden in die Lage- und Führungszentrale der Polizeidirektion übertragen. An einigen Standorten findet eine Aufzeichnung der Bilder statt, an anderen erfolgt eine Bildübertragung ohne Aufzeichnung und an weiteren Standorten werden sog. Veranstaltungskameras lediglich zeitweise bei Veranstaltungen mit der Übertragungs- und Aufzeichnungsfunktion aktiviert. Soweit die Bilder aufgezeichnet werden, findet eine Speicherung in einem sog. Ringspeicher statt, wobei die Daten nach fünf Tagen, fünf Stunden und 32 Minuten automatisch überschrieben werden (siehe zu den aktuellen Kamerastandorten die von der Polizeidirektion A-Stadt im Internet veröffentlichten Informationen, die u.a. eine interaktive Karte enthalten, https://www.pd-h.polizei-nds.de/praevention/kriminalpraevention/videoueberwachung-im-stadtgebiet-hannover-112769.html, Stand: 6.10.2020).
3
Der Kläger hat sich erstmalig im Juni 2010 an die Polizeidirektion A-Stadt gewandt und gefordert, die Kameras zu beschildern. Dies hat die Polizeidirektion A-Stadt mit Schreiben vom 7. Juli 2010 abgelehnt. Auf die daraufhin vom Kläger vor dem Verwaltungsgericht Hannover erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht die Polizeidirektion A-Stadt verurteilt, in A-Stadt die Beobachtung öffentlich zugänglicher Orte mittels Bildübertragung - mit Ausnahme der reinen Verkehrsüberwachung - sowie die Aufzeichnung dieser Bilder zu unterlassen. Zur Begründung hat das Gericht im Wesentlichen ausgeführt, dass die Bildbeobachtung und auch die Aufzeichnung der übermittelten Bilder in der von der Polizeidirektion praktizierten Art als Datenerhebung i.S.d. § 32 Abs. 1 Nds. SOG schon deshalb rechtswidrig sei, weil sie nicht offen erfolge (VG Hannover, Urt. v. 14.7.2011 - 10 A 5452/10 -, NdsRpfl 2011, 355, juris, Rn. 35 ff.). Daraufhin hat die Polizeidirektion A-Stadt in der Folgezeit Aufkleber und Schilder angebracht, um auf die Videoüberwachung hinzuweisen.
4
Am 25. Oktober 2011 hat der Kläger erneut Klage vor dem Verwaltungsgericht erhoben. Zu diesem Zeitpunkt betrieb die Polizeidirektion insgesamt 78 Kamerastandorte. Zur Begründung seiner Klage führte der Kläger aus, dass die Videoüberwachung selbst bei einer „perfekten Beschilderung“ rechtswidrig sei. Die insoweit maßgebliche Vorschrift des § 32 Abs. 3 Nds. SOG genüge nicht den verfassungsmäßigen Anforderungen an eine das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung einschränkende Norm, soweit auf § 1 Abs. 1 Nds. SOG Bezug genommen werde. Der bloße Aufenthalt im öffentlichen Raum bedeute auch keine Einwilligung in die Informationserhebung, selbst wenn von einer Kenntnis der Videoüberwachung auszugehen sei. Die Videobeobachtung sei auch ein Grundrechtseingriff von einigem Gewicht, da bei einem Einsatz von 78 Kameras eine große Anzahl von Personen betroffen sei, ohne dafür einen Anlass gegeben zu haben. Auch sei nicht ersichtlich, dass sie nur an Orten erhöhter Kriminalitätsraten erfolgen dürfe, da diese Entscheidung allein im Ermessen der tätig werdenden Behörde liege. Das Tatbestandsmerkmal der Erforderlichkeit sei insofern nicht geeignet, eine Begrenzung des Tatbestandes zu bewirken. Zudem seien auch die Voraussetzungen für Bildaufzeichnungen nach § 32 Abs. 3 Satz 2 Nds. SOG nicht erfüllt. Aus der von der Polizeidirektion A-Stadt vorgelegten Lagebewertung vom Februar 2016 ergebe sich keine konkrete Gefährdungslage für terroristische Anschläge in A-Stadt, so dass eine Aufzeichnung an den in § 32 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 Nds. SOG genannten besonders gefährdeten Orten unzulässig sei. Zudem ließen die von der Polizeidirektion vorgelegten Kriminalitätsstatistiken nicht erkennen, dass an den beobachteten Orten künftig Straftaten von erheblicher Bedeutung bzw. Straftaten nach § 224 StGB begangen würden, so dass auch die Voraussetzungen des § 32 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 Nds. SOG nicht vorlägen. Es fehle auch an Hintergrunddaten zu den statistischen Werten sowie an Vergleichsdaten zu anderen Standorten ohne Videoüberwachung.
5
Der Kläger hat beantragt,
6
den Beklagten zu verurteilen, im Zuständigkeitsbereich der Polizeidirektion A-Stadt die Beobachtung öffentlich zugänglicher Orte mittels Bildübertragung sowie die Aufzeichnung dieser Bilder zu unterlassen.
7
Der Beklagte hat beantragt,
8
die Klage abzuweisen.
9
Zur Begründung verwies die Polizeidirektion A-Stadt darauf, dass das Verwaltungsgericht Hannover in seinem Urteil vom 14. Juli 2011 ausdrücklich offengelassen habe, ob die Vorschrift des § 32 Abs. 3 Satz 1 Nds. SOG einer Auslegung zugänglich sei, die den Tatbestand in verfassungsmäßiger Weise einenge. Es handele sich bei der offenen Videobeobachtung um einen Grundrechtseingriff von geringer Tiefe, der an öffentlich zugänglichen Orten als Mittel der Abwehr von Gefahren im Rahmen des polizeilichen Auftrags, insbesondere zur Gefahrenverhütung, zulässig sei. Da die Bereiche der Videoüberwachung kenntlich gemacht worden seien, könne der Bürger sein Verhalten bei Bedarf auch darauf ausrichten, dass er beobachtet werde. Neben dem Abschreckungseffekt diene die Videobeobachtung auch der Abwehr konkreter Gefahren im Einzelfall wie der Unterstützung beim Einsatz polizeilicher Kräfte zur Gefahrenabwehr, der Strafverfolgung und dem schnellen Erkennen des Bedarfs an nichtpolizeilichen Kräften wie dem Rettungsdienst, Ärzten usw. Zudem sei das Erforderlichkeitskriterium zu beachten, so dass die Videobeobachtung zur Abwehr von Straftaten an Kriminalitätsschwerpunkten bzw. zur Abwehr anderer Gefahren von Gewicht geboten sei. Die Aufzeichnung der übertragenen Bilder sei auf wenige Kriminalitätsschwerpunkte bzw. besonders gefährdete Objekte begrenzt; nach der letzten turnusmäßigen Überprüfung der Kamerastandorte im Februar 2016 sei die Aufzeichnung am Kamerastandort 542 E. deaktiviert worden, so dass nunmehr an insgesamt 23 Standorten eine Aufzeichnung erfolge. Alle anderen Kameras zeichneten nicht auf. An elf Standorten werde wegen der Gefahr terroristischer Straftaten aufgezeichnet (519, 524, 531, 541, 544, 546, 551, 562, 565, 567, 574). An zwölf weiteren Standorten (520-523, 529-530, 537-539, 563-564, 581) werde aufgezeichnet, da zu erwarten sei, dass dort oder in der unmittelbaren Umgebung künftig Straftaten von erheblicher Bedeutung oder gefährliche Körperverletzungen begangen würden. Der Betrieb der Kamera 561 (F.) sei eingestellt worden, weil eine Erforderlichkeit an diesem Standort nicht mehr gesehen werde. Diese Kamera sei jedoch bislang weder abgedeckt noch abgebaut worden. Weiter sei beabsichtigt, die 28 bislang ausschließlich zur Verkehrsbeobachtung genutzten Kameras (Standorte 501-518, 534, 525 bis 528 und 568-572) der Verkehrsmanagementzentrale Land Niedersachsen/Region A-Stadt (VMZ) zur Übernahme anzubieten. Schließlich befänden sich an 26 weiteren Standorten Kameras ohne Aufzeichnung, mit denen in der Lage- und Führungszentrale der Polizeidirektion anlassbezogen beobachtet werde. Bei einer Gruppe von 17 Kameras (532, 533, 535, 536, 540, 542, 543, 545, 547, 548, 549, 550, 552, 566, 575, 576 und 580) werde noch geprüft, ob diese Kameras beibehalten oder zum Teil nur zu bestimmten Anlässen betrieben werden sollten. Die Voraussetzungen für eine dauerhafte Aufzeichnung lägen an diesen Standorten nicht vor. Hinsichtlich einer weiteren Gruppe von neun Kamerastandorten mit Beobachtungsfunktion (553-560 und 573) lasse die Kriminalitätsentwicklung der letzten Jahre eine Beobachtung nicht mehr als notwendig erscheinen, so dass beabsichtigt sei, auch diese Kameras der VMZ zur Übernahme anzubieten bzw. sie spätestens mit In-Kraft-Treten des neuen Gefahrenabwehrgesetzes außer Betrieb zu nehmen.
10
Mit Urteil vom 9. Juni 2016 hat das Verwaltungsgericht den Beklagten verurteilt, im Zuständigkeitsbereich der Polizeidirektion A-Stadt die Beobachtung öffentlich zugänglicher Orte mittels Bildübertragung sowie die Aufzeichnung dieser Bilder an den Kamerastandorten 501-518, 520, 525-528, 532-536, 540, 542-543, 545, 547-550, 552-561, 566, 568-573, 575, 576 und 580 zu unterlassen und die Klage im Übrigen abgewiesen. Die Klage sei zulässig und teilweise begründet. Die Beobachtung durch die Kameras 501-518, 520, 525-528, 532-536, 540, 542-543, 545, 547-550, 552-561, 566, 568-573, 575, 576 und 580 greife in das Recht des Klägers auf informationelle Selbstbestimmung sowie in seine allgemeine Handlungsfreiheit ein, ohne dass der Eingriff nach § 32 Abs. 3 Nds. SOG gerechtfertigt sei. Maßstab für die streitgegenständliche Videoüberwachung sei sowohl hinsichtlich der reinen Bildübertragung als auch für die Bildaufzeichnung § 32 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Satz 2 Nds. SOG. Zwar sei nach dem Wortlaut der genannten Regelungen zwischen der in § 32 Abs. 3 Satz 1 Nds. SOG geregelten Bildübertragung und der in § 32 Abs. 3 Satz 2 Nds. SOG erwähnten Bildaufzeichnung zu differenzieren. Die Kammer habe aber bereits in ihrem Urteil vom 14. Juli 2011 (10 A 5452/10) ausgeführt, dass die Vorschrift des § 32 Abs. 3 Satz 1 Nds. SOG im Hinblick auf das Bestimmtheitsgebot und das Übermaßverbot verfassungsrechtlichen Bedenken begegne. § 32 Abs. 3 Nds. SOG sei daher verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass auch die reine Beobachtung durch Bildübertragung nur zulässig sei, wenn zugleich die Voraussetzungen für die Bildaufzeichnung erfüllt seien. Auch wenn damit die Dualität der Vorschriften zur Bildübertragung (Satz 1) einerseits und zur Bildaufzeichnung (Satz 2) andererseits aufgegeben werde, sei die Anknüpfung an die (strengeren) Voraussetzungen der Bildaufzeichnung der einzig zulässige und sinnvolle Weg, zu einer nach den Auslegungsgrundsätzen zulässigen und mit der Verfassung zu vereinbarenden Deutung der Voraussetzungen für die reine Bildübertragung zu kommen. Für eine derartige Auslegung sprächen vor allem die grundrechtlichen Interessen der Betroffenen. Vor dem Hintergrund eines solchen restriktiven Verständnisses der Regelung seien die Voraussetzungen für die derzeit praktizierte Videoüberwachung an den Kamerastandorten 501-518, 520, 525-528, 532-536, 540, 542-543, 545, 547-550, 552-561, 566, 568-573, 575, 576 und 580 zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt in der mündlichen Verhandlung nicht erfüllt. Soweit es sich um die Kamerastandorte an Autobahnkreuzen und Anschlussstellen (Nummern 501-518), an Verkehrskreiseln (Nummern 525-528) und an den größeren Ausfallstraßen entlang des Messegeländes (Nummern 534, 553-560) bzw. entlang der Schnellwege (568-573) handele, habe die Polizeidirektion selbst eingeräumt, dass diese reine Verkehrsbeobachtung nicht die Voraussetzungen der Videoüberwachung nach § 32 Abs. 3 Nds. SOG erfülle. Gleiches gelte für den Standort 561 am F., den die Polizeidirektion nach eigenen Angaben deaktiviert, aber nicht abgebaut habe, sodass wegen der unbestrittenen Möglichkeit, die Kamera wieder zu aktivieren, ein Unterlassungsanspruch zu bejahen sei. Hinsichtlich der Standorte 532, 533, 535, 536, 540, 542, 543, 545, 547, 548, 549, 550, 552, 566, 575, 576 und 580 habe die Polizeidirektion ebenfalls erklärt, dass die Voraussetzungen für eine Aufzeichnung an diesen Orten nicht erfüllt seien und lediglich geprüft werde, ob ein anlassbezogener Einsatz in Betracht komme. Daher habe das Unterlassungsbegehren des Klägers auch insoweit Erfolg. Entsprechendes gelte für den Kamerastandort 520 am G. Platz. Anders als die Polizeidirektion könne das Gericht nicht erkennen, dass die Anzahl der insoweit relevanten Straftaten aktuell die Aufzeichnung von Bildern an diesem Kamerastandort rechtfertige.
11
Hinsichtlich der Kamerastandorte 519, 521-524, 529-531, 537-539, 541, 544, 546, 551, 562-565, 567, 574 und 581 habe die Klage keinen Erfolg, da die Aufzeichnung an diesen Standorten den gesetzlichen Voraussetzungen entspreche. Hinsichtlich der Kamerastandorte 521 - 523, 529, 530, 537 -539, 563, 564, 581 seien die Voraussetzungen des § 32 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 Nds. SOG erfüllt. Dies ergebe sich aus den von der Polizeidirektion A-Stadt vorgelegten Kriminalitätsstatistiken der Jahre 2008 bis 2015. In Bezug auf die Standorte 519, 524, 531, 541, 544, 546, 551, 562, 565, 567 und 574 seien die Voraussetzungen des § 32 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 Nds. SOG erfüllt, da es sich jeweils um Orte handele, bei denen die Gefahr eines terroristischen Anschlags hinreichend wahrscheinlich sei.
12
Unter dem 25. Juli 2016 hat der Beklagte die vom Verwaltungsgericht nach § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zugelassene Berufung eingelegt. Die Polizeidirektion hat ursprünglich beantragt, das Urteil des Verwaltungsgerichts abzuändern, soweit es der Klage stattgegeben hat und die Klage in vollem Umfang abzuweisen. Zur Begründung hat die Polizeidirektion ursprünglich vorgetragen, dass die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Auslegung des § 32 Abs. 3 Nds. SOG nicht überzeugen könne, weil sie sich über den eindeutigen Wortlaut und die in § 32 Abs. 3 Satz 1 Nds. SOG enthaltene Differenzierung zwischen der bloßen Beobachtung und der Bildaufzeichnung hinwegsetze.
13
Im Hinblick auf das am 24. Mai 2019 in Kraft getretene Niedersächsische Polizei- und Ordnungsbehördengesetz (NPOG), welches in § 32 Abs. 3 NPOG teilweise von § 32 Abs. 3 Nds. SOG abweichende Regelungen enthält, trägt die Polizeidirektion vor, dass Rechtsgrundlage für den aktuellen Kamerabetrieb nunmehr § 32 Abs. 3 NPOG sei, dessen Voraussetzungen erfüllt seien. Zudem habe es Veränderungen bei den Standorten gegeben. Mittlerweile würden 51 Kameras (501-518, 525-528, 534-536, 542-543, 545, 547-550, 552-556, 558-559, 561, 568-573) nicht mehr von ihr betrieben. 32 Kameras (501-518, 525-527, 534, 547, 552, 555-556, 558-559, 568-572) seien von der Niedersächsischen Landesbehörde für Straßenbau und Verkehr (NLStBV) übernommen worden. Weitere 19 Kameras (506, 520, 528, 535-536, 542-543, 545, 548-550, 553-554, 557, 560-561, 566, 573 und 575) seien abgebaut bzw. stillgelegt worden. Zuletzt habe man im Frühjahr bzw. Sommer 2020 die Kamera am G. Platz (520) sowie zwei der sog. Veranstaltungskameras am H. (566) und am I. (575) demontiert, da die Technik dieser Kameras nicht mehr dem gegenwärtigen Stand der Technik entspreche. An den Standorten 520 und 566 sei geplant, die veralteten Kameras durch neue Modelle zu ersetzen. Aus haushaltswirtschaftlichen Gründen sei damit allerdings erst im Jahr 2021 zu rechnen. Am Standort 575 sei die Installation einer neuen Kamera an einem abweichenden Standort bis auf Weiteres zurückgestellt. Bei den verbleibenden fünf Standorten (532, 533, 540, 576, 580) würden die Kameras nur anlassbezogen aktiviert, wenn dies durch eine konkrete Veranstaltungslage geboten erscheine. Bei den Standorten J. /K. (532), L. /K. (533), M. (576) und N. (580) sei während der Veranstaltungszeiten mit einem erhöhten Straftatenaufkommen zu rechnen. Der Standort O. (540) werde nur vereinzelt bei größeren Veranstaltungen genutzt. Die Entwicklung der Straftaten werde bei allen noch streitgegenständlichen Standorten regelmäßig überprüft.
14
Soweit in der mündlichen Verhandlung am 21. Januar 2020 die Begriffe „Wirkungsbereich“ und „Sichtbereich“ thematisiert worden seien, seien diese wie folgt abzugrenzen: Der Begriff des Wirkungsbereichs sei in Anlehnung an den in § 32 Abs. 3 Satz 3 NPOG enthaltenen Begriff der „unmittelbaren Umgebung“ entwickelt worden und beschreibe den Bereich, in dem die Kamera präventive Wirkung entfalte. Der Wirkungsbereich umfasse dabei neben dem eigentlichen Sichtfeld auch den Bereich, den die Täter bei der Vor- oder Nachtat mit mindestens 50%-iger Wahrscheinlichkeit betreten haben müssten oder könnten. Erfasst würden dabei im jeweiligen Einzelfall etwa angrenzende Seitenstraßen, Durchgänge, Tiefgaragen, Laufwege etc. Der Wirkungsbereich sei die Grundlage für die erhobenen Kriminalitätsstatistiken und für die Kennzeichnung der Kamerastandorte. Abzugrenzen sei der Wirkungsbereich von dem Identifizierungsbereich und dem Sichtbereich. Der Sichtbereich umfasse das theoretisch maximal mögliche Sichtfeld einer Kamera und sei in den im März 2020 vorgelegten Karten rosa markiert. Der Begriff des Identifizierungsbereichs beschreibe den Bereich, in dem eine Kamera Bilder liefere, die geeignet seien, Personen und Kennzeichen von Fahrzeugen zu erkennen und zu identifizieren. In den im März 2020 vorgelegten Karten sei der Identifizierungsbereich gelb markiert. Der Wirkungsbereich sei, wie im Schriftsatz vom 16. März 2020 im Einzelnen ausgeführt, nur textlich und nicht in den Karten erfasst. Im Vergleich zum Identifizierungsbereich gehe der Wirkungsbereich in der Regel über diesen hinaus, erreiche aber nicht den theoretisch maximalen Einzugsbereich (Sichtbereich) und sei auch nicht mit ihm identisch. Eine weitergehende Unterscheidung der überwachten Bereiche nach „Sichtbereich im Sommer“ oder „Sichtbereich im Winter“ werde nicht vorgenommen. Eine derartige Unterscheidung stelle eine modellhafte Betrachtung zweier Extreme dar, zwischen denen ein gleitender Übergang stattfinde, der statistisch nicht abzubilden sei.
15
Die für die Jahre 2008 bis 2018 vorgelegten Statistiken orientierten sich noch an den höheren Voraussetzungen des § 32 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 Nds. SOG. Die statistischen Erhebungen wiesen Jahreswerte aus, eine statistische Eingrenzung auf die Veranstaltungszeiträume sei bisher nicht vorgenommen worden und rückwirkend nicht herstellbar. Es sei aber nachvollziehbar und plausibel und entspreche der polizeilichen Beobachtung und Wahrnehmung, dass das Straftatenaufkommen in diesen Bereichen ganz überwiegend während der in Bezug zum gesamten Jahr eher kurzen Veranstaltungszeiten anfalle, da diese Orte während der Veranstaltungen von einer sehr hohen Anzahl von Menschen besucht würden, während sich außerhalb dieser Zeiten eher wenige Menschen dort aufhielten. Fänden keine entsprechenden Veranstaltungen statt, liefen die Kameras ohne Aufzeichnung weiter, seien jedoch in der sog. „Nullstellung“ etwa gegen den Himmel oder ein Hindernis ausgerichtet, so dass für jedermann erkennbar sei, wenn keine Aufzeichnung stattfinde. Seit der Gesetzesänderung bedürfe es keiner Straftaten von erheblicher Bedeutung mehr, sondern es reichten jedwede zu erwartende Straftaten. Daher seien im Jahr 2019 erstmalig alle Straftaten im Wirkungsbereich betrachtet worden. Über nicht geringfügige Ordnungswidrigkeiten, bei denen keine Verwarnung erfolgt sei und kein Verwarnungsentgelt erhoben werden könne, würden keine standortbezogenen Daten vorgehalten. Steigende oder sinkende Fallzahlen führten in der Bewertung nicht zwangsläufig dazu, die Aufzeichnung von Videodaten zu beginnen oder einzustellen, da die Ursache dieser Entwicklungen nicht überprüfbar sei. Ein Standort werde vielmehr im Gesamtkonzept von absoluten Fallzahlen und insbesondere der Gefährdungslage gesehen. Dabei stehe ein Quervergleich von vergleichbaren Standorten im Fokus.
16
Die Kennzeichnung aller Videokameras erfolge durch permanent sichtbare Aufkleber, die die Größe eines Hochformats DIN A 4 hätten. Auf den Aufklebern sei ein aussagefähiges Videopiktogramm abgebildet, zudem enthielten sie Angaben zur verantwortlichen Stelle mit Erreichbarkeit und einen Link auf das Internetangebot der Polizei A-Stadt. Diese Angaben seien mit der Landesbeauftragten für den Datenschutz abgestimmt. Bei den sog. Veranstaltungskameras befinde sich auf den Aufklebern zudem der Zusatz „NUR bei Veranstaltungen!“. Die Aufkleber seien auf vorhandenen und „aufnahmebereiten“ Pfosten angebracht. Die Vollständigkeit und Unversehrtheit der vorgenommenen Kennzeichnung werde jährlich zum 1. März und zum 1. September eines Jahres überprüft; festgestellte Mängel würden jederzeit und umgehend beseitigt. Die Kennzeichnung richte sich grundsätzlich danach aus, dass Personen und Fahrzeugen die Möglichkeit eingeräumt werde, vor dem Betreten bzw. Befahren des überwachten Bereichs eine alternative Route auszuwählen.
17
Mit Schriftsätzen vom 3. September 2019, 5. November 2019, 16. März 2020 und vom 1. September 2020 haben die Beteiligten den Rechtsstreit in Bezug auf die Unterlassungsklage des Klägers hinsichtlich der von dem Beklagten nicht mehr betriebenen Kamerastandorte (501-518, 520, 525-528, 534-536, 542-543, 545, 547-550, 552-561, 566, 568-573 und 575) übereinstimmend in der Hauptsache für erledigt erklärt. Hinsichtlich der Standorte 520 und 566 hat der Kläger seinen Klageantrag auf einen Feststellungsantrag umgestellt. Der Beklagte verweist diesbezüglich darauf, dass die Wiederaufnahme des Betriebs dieser Kamerastandorte mit Unsicherheiten behaftet sei und bezweifelt die Zulässigkeit des Feststellungsantrags.
18
Der Beklagte beantragt,
19
das Urteil des Verwaltungsgerichts abzuändern, soweit es der Klage hinsichtlich der Kamerastandorte 532, 533, 540, 576 und 580 stattgegeben hat und die Klage auch diesbezüglich abzuweisen.
20
Der Kläger beantragt,
21
festzustellen, dass der Betrieb der Kamerastandorte 520 und 566 rechtswidrig war und die Berufung im Übrigen zurückzuweisen.
22
Der Beklagte beantragt,
23
die Feststellungsklage des Klägers abzuweisen.
24
Der Kläger ist der Ansicht, dass die Videoüberwachung auch auf der Grundlage des neuen Rechts rechtswidrig sei. Auch § 32 Abs. 3 NPOG begegne verfassungsrechtlichen Bedenken. Dessen ungeachtet erweise sich die anlassbezogene Aufzeichnung als unverhältnismäßig. Diesbezüglich fehle der Nachweis, wie viele und welche der jährlich summierten Straftaten im temporären Zusammenhang mit Veranstaltungen begangen worden seien. Auch fehle die Darlegung, aus welchem konkreten räumlichen Gebiet die Straftaten zusammenaddiert worden seien. Die von der Polizeidirektion vorgenommene Kennzeichnung der Videoüberwachung sei insgesamt mangelhaft. Die auf runden Pfosten angebrachten Aufkleber seien sachlich unzureichend, da der gesamte Umfang eines Pfostens denklogisch im Vorbeifahren oder -gehen niemals ganz gesehen werden könne, ohne den Mast sehenden Auges zu umrunden. Das von der Polizeidirektion angeführte Kriterium, ob ein Mast einen Aufkleber „aufnehmen“ könne, sei daher ersichtlich unsinnig. Zudem seien die Aufkleber oft defekt und überklebt und gingen in ihrem Erscheinungsbild an auch sonst reichhaltig mit Aufklebern versehenen Pfosten im öffentlichen Raum unter. Daher sei es auch insbesondere Kraftfahrern nicht möglich, ohne die Verletzung der Straßenverkehrsordnung oder die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer spontan alternative, nicht überwachte Routen zu wählen. Unklar sei auch, ob und wie Passanten mittels der Kennzeichnung darauf hingewiesen würden, dass sie den potenziell von den Kameras erfassten Raum wieder verließen. Die inhaltliche Gestaltung der Kennzeichnung verstoße darüber hinaus gegen die JI-Richtlinie, indem dort hinsichtlich der nach Art. 13 JI-Richtlinie notwendigen Angaben auf die Internetseite der Polizei verwiesen werde. Schließlich müsse die Kennzeichnung auch mehrsprachig, mindestens jedoch zusätzlich in englischer Sprache erfolgen, da in A-Stadt auch viele fremdsprachige Menschen unterwegs seien. Der Vortrag der Polizeidirektion, dass die Veranstaltungskameras außerhalb von Veranstaltungen in die sog. „Nullstellung“ verbracht würden und dabei für jedermann erkennbar sei, dass keine Bildbeobachtung und -aufzeichnung stattfinde, werde bestritten. Aus den von ihm in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Fotos ergebe sich vielmehr, dass sich die Kameras auch außerhalb von Veranstaltungen in einer aufnahmebereiten Stellung befänden.
25
Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten und die Beiakten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
26
A. Soweit die Beteiligten den Rechtsstreit in Bezug auf die Unterlassungsklage des Klägers hinsichtlich der von dem Beklagten nicht mehr betriebenen Kamerastandorte (501-518, 520, 525-528, 534-536, 542-543, 545, 547-550, 552-561, 566, 568-573 und 575) übereinstimmend in der Hauptsache für erledigt erklärt haben, ist das Verfahren in entsprechender Anwendung von § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen. Gemäß § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 269 Abs. 3 Satz 1 ZPO analog ist festzustellen, dass die erstinstanzliche Entscheidung in diesem Umfang wirkungslos ist.
27
B. Hinsichtlich der weiteren, im Berufungsverfahren noch streitgegenständlichen Kamerastandorte hat die Berufung des Beklagten keinen Erfolg.
28
In Bezug auf die Standorte 532, 533, 540, 576 und 580 ist die Klage zulässig und begründet (I.). Der vom Kläger in Bezug auf die Standorte 520 und 566 gestellte Feststellungsantrag ist ebenfalls zulässig und begründet (II.).
29
I. Die hinsichtlich der Standorte 532, 533, 540, 576 und 580 erhobene Klage ist als allgemeine Leistungsklage in Form der Unterlassungsklage zulässig und begründet. Die Voraussetzungen des vom Kläger geltend gemachten Anspruchs auf Unterlassung einer (schlicht) hoheitlichen Maßnahme, der auf Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG gestützt werden kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 25.1.2012 - 6 C 9/11 -, BVerwGE 141, 329, juris, Rn. 22, m.w.N.), sind erfüllt. Ein derartiger Unterlassungsanspruch setzt voraus, dass zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ein rechtswidriger Eingriff in subjektiv-öffentliche Rechte vorliegt (vgl. BVerwG, Urt. v. 21.5.2008 - 6 C 13/07 -, juris, Rn. 13; dasselbe, Urt. v. 23.5.1989 - 7 C 2/87 -, BVerwGE 82, 76, juris, Rn. 48, jeweils m.w.N.). Ein solcher rechtswidriger hoheitlicher Eingriff in ein subjektives Recht des Klägers ist hier gegeben, da der Betrieb der Kamerastandorte 532, 533, 540, 576 und 580 zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung rechtswidrig ist, so dass dem Kläger diesbezüglich ein Anspruch auf Unterlassung des Betriebs dieser Kameras zusteht.
30
Die Videobeobachtung mittels Bildübertragung und -aufzeichnung stellt einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung dar (1.). Dieser Eingriff kann grundsätzlich durch die in § 32 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. Abs. 3 Satz 2 und Satz 3 NPOG enthaltenen Regelungen (hier anwendbar in der aktuell gültigen Fassung v. 20.5.2019, zul. geänd. d. G. v. 17.12.2019 - NPOG -), die ihrerseits keinen verfassungsrechtlichen Bedenken unterliegen, gerechtfertigt werden (2.). Der Rechtmäßigkeit des Betriebs der streitgegenständlichen Kameras steht jedoch entgegen, dass die in den zitierten Normen enthaltenen tatbestandlichen Voraussetzungen gegenwärtig nicht erfüllt sind (3.).
31
1. Die Videobeobachtung mittels Bildübertragung und -aufzeichnung stellt einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung dar.
32
Das verfassungsrechtlich in Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG verankerte Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung gewährleistet die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen (BVerfG, Urt. v. 15.12.1983 - 1 BvR 209/83 -, BVerfGE 65, 1, juris, Rn. 146, m.w.N.). Vom Schutzbereich umfasst sind dabei neben personenbezogenen Informationen, die die Privat- oder Intimsphäre des Einzelnen betreffen, auch das Verhalten des Einzelnen in der Öffentlichkeit. Auch wenn der Einzelne sich in die Öffentlichkeit begibt, schützt das Recht der informationellen Selbstbestimmung dessen Interesse, dass die damit verbundenen personenbezogenen Informationen nicht im Zuge automatisierter Informationserhebung zur Speicherung mit der Möglichkeit der Weiterverwertung erfasst werden (BVerfG, Urt. v. 11.3.2008 - 1 BvR 2074/05 -, BVerfGE 120, 378, juris, Rn. 67).
33
Die durch § 32 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. Abs. 3 Satz 2 und Satz 3 NPOG ermöglichte Videobeobachtung öffentlicher Straßen und Plätze sowie anderer öffentlich zugänglicher Orte stellt - insbesondere in der Form der Bildaufzeichnung - einen intensiven Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung dar (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 21.7.2003 - 1 S 377/02 -, NVwZ 2004, 498, juris, Rn. 34; OVG Hamburg, Urt. v. 22.6.2010 - 4 Bf 276/07 -, juris, Rn. 54 und Rn. 101; Reichert, in: Saipa, NPOG, Stand: Nov. 2019, § 32, Rn. 4; Siegel, NVwZ 2012, 738, 739; Albrecht, in: Möstl/Weiner, BeckOK Polizei- und Ordnungsrecht Niedersachsen, Stand: 1.8.2020, § 32, Rn. 5, jeweils m.w.N.; nur in Bezug auf die Bildaufzeichnung: BVerwG, Urt. v. 25.1.2012 - 6 C 9/11 -, a.a.O., juris, Rn. 23, m.w.N.). Die Intensität eines Eingriffs bestimmt sich nach der Art der Beeinträchtigung. Von Bedeutung kann dabei u.a. sein, ob die betroffenen Personen für die Maßnahme einen Anlass gegeben haben und wie dieser beschaffen ist (BVerfG, Beschl. v. 23.2.2007 - 1 BvR 2368/06 -, DVBl 2007, 497, juris, Rn. 51, m.w.N.). Verdachtslose Eingriffe mit großer Streubreite, bei denen zahlreiche Personen in den Wirkungsbereich einer Maßnahme einbezogen werden, die in keiner Beziehung zu einem konkreten Fehlverhalten stehen und den Eingriff durch ihr Verhalten nicht veranlasst haben, weisen grundsätzlich eine hohe Eingriffsintensität auf (BVerfG, Beschl. v. 23.2.2007 - 1 BvR 2368/06 -, a.a.O., juris, Rn. 51, m.w.N.). Der Eingriffsqualität steht auch nicht entgegen, dass lediglich Daten über Verhaltensweisen im öffentlichen Raum erhoben werden, da das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, wie ausgeführt, auch den informationellen Schutzinteressen des Einzelnen, der sich in die Öffentlichkeit begibt, Rechnung trägt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 23.2.2007 - 1 BvR 2368/06 -, a.a.O., juris, Rn. 39; Albrecht, in: Möstl/Weiner, a.a.O., § 32, Rn. 19). Der Eingriffscharakter entfällt auch nicht dadurch, dass sich die Betroffenen in den Erfassungsbereich der Videokameras begeben, obwohl sie aufgrund der angebrachten Hinweisschilder wissen, dass sie gefilmt werden (vgl. BVerwG, Urt. v. 25.1.2012 - 6 C 9/11 -, a.a.O., juris, Rn. 25; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 21.7.2003 - 1 S 377/02 -, a.a.O., juris, Rn. 38). Das Unterlassen eines ausdrücklichen Protests kann zudem nicht mit einer Einverständniserklärung gleichgesetzt werden (BVerfG, Beschl. v. 23.2.2007 - 1 BvR 2368/06 -, a.a.O., juris, Rn. 40; BVerwG, Urt. v. 25.1.2012 - 6 C 9/11 -, a.a.O., juris, Rn. 25; Albrecht, in: Möstl/Weiner, a.a.O., § 32, Rn. 19, jeweils m.w.N.). Ebenso wenig kann das Wissen um die Datenerhebung durch Wahrnehmung der Überwachungstechnologie oder durch Kenntnisnahme der darauf hinweisenden Beschilderung als Grundrechtsverzicht gewertet werden (Rosch, in: Möstl/Schwabenbauer, BeckOK Polizei- und Sicherheitsrecht Bayern, Stand: 1.8.2020, Art. 33 PAG, Rn. 11; Albrecht, in: Möstl/Weiner, a.a.O., § 32, Rn. 19).
34
Davon ausgehend ist die von der Polizeidirektion betriebene Videobeobachtung mittels Bildübertragung und -aufzeichnung als ein intensiver Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung zu bewerten. Die Videobeobachtung beeinträchtigt alle Personen, die den betroffenen Raum betreten. Sie dient dazu, belastende hoheitliche Maßnahmen vorzubereiten und das Verhalten der den Raum nutzenden Personen zu lenken. Das Gewicht dieser Maßnahme wird dadurch erhöht, dass infolge der Aufzeichnung das gewonnene Bildmaterial in vielfältiger Weise ausgewertet, bearbeitet und mit anderen Informationen verknüpft werden kann. Bezogen auf die Gesamtanzahl der Personen, die den überwachten Raum betreten, dürfte nur eine Minderheit gegen Strafgesetze verstoßen. Die Videobeobachtung und die Aufzeichnung des gewonnenen Bildmaterials erfassen daher - wie bei solchen Maßnahmen stets - überwiegend Personen, die selbst keinen Anlass schaffen, dessentwegen die Überwachung vorgenommen wird (BVerfG, Beschl. v. 23.2.2007 - 1 BvR 2368/06 -, a.a.O., juris, Rn. 52, m.w.N.; OVG Hamburg, Urt. v. 22.6.2010 - 4 Bf 276/07 -, juris, Rn. 101).
35
2. Der durch die Videobeobachtung bewirkte Grundrechtseingriff kann jedoch durch die in § 32 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. Abs. 3 Satz 2 und Satz 3 NPOG enthaltenen Regelungen gerechtfertigt werden. Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung wird nicht schrankenlos gewährleistet. Beschränkungen bedürfen einer gesetzlichen Grundlage, die dem verfassungsrechtlichen Gebot der Normenklarheit und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen müssen. Entgegen der vom Kläger vertretenen Ansicht, und anders als vom Verwaltungsgericht in Bezug auf § 32 Abs. 3 Satz 1 Nds. SOG angenommen, genügen die genannten Regelungen diesen Anforderungen.
36
Nach § 32 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 NPOG ist eine offene Beobachtung mittels Bildübertragung zulässig, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass im zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit einer Veranstaltung oder einem sonstigen Ereignis eine Straftat oder nicht geringfügige Ordnungswidrigkeit begangen wird, und die Beobachtung im zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit diesem Ereignis zur Verhütung dieser Straftat oder Ordnungswidrigkeit erforderlich ist. Gemäß § 32 Abs. 3 Satz 3 NPOG kann die Polizei die nach Satz 1 Nr. 1 oder Nr. 2 übertragenen Bilder aufzeichnen, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass an den beobachteten öffentlich zugänglichen Orten oder in deren unmittelbarer Umgebung künftig Straftaten begangen werden, und die Aufzeichnung zur Verhütung dieser Straftaten erforderlich ist. Nach § 32 Abs. 3 Satz 2 NPOG ist die Beobachtung kenntlich zu machen.
37
Diese Regelungen sind formell rechtmäßig, insbesondere besitzt das Land Niedersachsen die Gesetzgebungsbefugnis zum Erlass der genannten Normen (a). Sie sind auch materiell rechtmäßig (b), insbesondere hinreichend bestimmt (aa) sowie verhältnismäßig (bb), so dass sie eine verfassungsgemäße gesetzliche Grundlage darstellen, um - bei rechtsfehlerfreier Anwendung im Einzelfall - den Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung zu rechtfertigen.
38
a) Formelle Bedenken bestehen nicht. Die Gesetzgebungsbefugnis zum Erlass der genannten Normen ergibt sich aus Art. 70 Abs. 1 GG. Danach verfügen die Länder über das Recht der Gesetzgebung, soweit die Gesetzgebungsbefugnis nicht dem Bund zugewiesen ist. Zu den bei den Ländern verbleibenden Materien gehört u.a. das Recht der Gefahrenabwehr. Die Aufgabe der Gefahrenabwehr umfasst auch die Gefahrenvorsorge, bei der bereits im Vorfeld konkreter Gefahren staatliche Aktivitäten entfaltet werden, um die Entstehung von Gefahren zu verhindern bzw. eine wirksame Bekämpfung sich später realisierender, momentan aber noch nicht konkret drohender Gefahren zu ermöglichen (BVerwG, Urt. v. 25.1.2012 - 6 C 9/11 -, a.a.O., juris, Rn. 29; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 21.7.2003 - 1 S 377/02 -, a.a.O., juris, Rn. 28; OVG Hamburg, Urt. v. 22.6.2010 - 4 Bf 276/07 -, juris, Rn. 84; jeweils m.w.N.). Folglich liegt die Verhütung von Straftaten in der Gesetzgebungskompetenz der Länder für die Gefahrenabwehr, und zwar auch dann, wenn sie vorbeugend für den Zeitraum vor dem Beginn einer konkreten Straftat vorgesehen wird (BVerwG, Urt. v. 25.1.2012 - 6 C 9/11 -, a.a.O., juris, Rn. 29; Niedersächsisches OVG, Urt. v. 13.11.2019 - 12 LC 79/19 -, NdsVBl 2020, 72, juris, Rn. 33; Ogorek, DÖV 2018, 688, 691 ff., jeweils m.w.N.).
39
Nach dem ausdrücklichen Wortlaut ist der Hauptzweck der in § 32 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. Abs. 3 Satz 2 und Satz 3 NPOG enthaltenen Regelungen die „Verhütung von Straftaten oder nicht geringfügigen Ordnungswidrigkeiten“ (vgl. Albrecht, in: Möstl/Weiner, a.a.O., § 32, Rn. 45, sowie zu dem ähnlichen Wortlaut in § 15 a PolG NRW: Ogorek, in: Möstl/Kugelmann, BeckOK Polizei- und Ordnungsrecht NRW, Stand: 1.9.2020, § 15 a, Rn. 1). Auch ausweislich der Gesetzgebungsmaterialien dienen die genannten Regelungen primär einem gefahrenabwehrrechtlichen Zweck (LT-Drucks. 18/3723, S. 34; vgl. auch LT-Drucks. 15/3810, S. 28). Der Einsatz von Videotechnik wirkt auch dadurch präventiv, dass potenzielle Täter abgeschreckt, schnell gefasst und an weiteren Taten gehindert werden können (vgl. LT-Drucks. 15/3810, S. 28). Zur Abschreckung und zur Prävention gehört auch die Bildaufzeichnung (vgl. Siegel, NVwZ 2012, 738, 741). Sie erhöht die Effektivität der Abschreckung, weil der potenzielle Täter damit rechnen muss, dass seine Tat aufgezeichnet wird und die Aufzeichnung nicht nur für seine Identifizierung, sondern auch als Beweismittel in einem Strafverfahren zur Verfügung stehen wird. Die Beobachtung ermöglicht es zudem den damit betrauten Beamten, sich anbahnende Gefahrenlagen, aus denen sich typischerweise Straftaten entwickeln können, rechtzeitig zu erkennen und Beamte vor Ort gezielt einzusetzen (vgl. BVerwG, Urt. v. 25.1.2012 - 6 C 9/11 -, a.a.O., juris, Rn. 30; Roggan, NVwZ 2001, 134, 138; Ogorek, DÖV 2018, 688, 690 f.), wodurch ebenfalls die Effektivität der Gefahrenabwehr erhöht wird (vgl. Rosch, in: Möstl/Schwabenbauer, a.a.O., Art. 33 PAG, Rn. 2).
40
Den Gesetzgebungsmaterialien lässt sich allerdings auch entnehmen, dass die Frage der Gesetzgebungskompetenz in Bezug auf die im heutigen § 32 Abs. 3 Satz 3 NPOG geregelte Aufzeichnungsbefugnis im Gesetzgebungsverfahren nicht unumstritten war. So hat der Gesetzgebungs- und Beratungsdienst (GBD) in Bezug auf den damals vorliegenden Gesetzesentwurf - der einen konkreten Zweck der Maßnahme nicht ausdrücklich nannte - Zweifel geäußert, ob die Aufzeichnungen einem Gefahrenabwehrzweck zugeordnet werden können, oder ob eher auf den Zweck der Strafverfolgungsvorsorge abzustellen ist (vgl. LT-Drucks. 18/3723, S. 33 f.; vgl. auch LT-Drucks. 15/4212, S. 5 und LT-Drucks. 15/3810, S. 27 f.). Diesen Zweifeln ist das Niedersächsische Ministerium für Inneres und Sport (MI) jedoch ausdrücklich entgegengetreten, indem es mitgeteilt hat, dass (auch) die Regelung über die Aufzeichnung primär einen gefahrenabwehrrechtlichen Zweck verfolge. Durch den Einsatz von Videotechnik würden Straftaten verhütet, indem potenzielle Täterinnen/Täter abgeschreckt oder schnell gefasst und an weiteren Taten gehindert würden. Der Schwerpunkt der Regelung liege daher im Bereich der Gefahrenabwehr. Der repressive Nebenzweck, der nur zum Tragen komme, wenn die Aufzeichnung den Anfangsverdacht einer Straftat ergebe, ändere daran nichts (LT-Drucks. 18/3723, S. 34). Vor dem Hintergrund dieser Diskussion hat der Ausschuss für Inneres und Sport empfohlen, den Gefahrenabwehrzweck ausdrücklich im Wortlaut der Vorschriften zu verankern („zur Verhütung von Straftaten“). Dem ist der Gesetzgeber ersichtlich gefolgt. Im Übrigen teilt der Senat die vom MI, von der Rechtsprechung und überwiegenden Teilen der Literatur vertretene Ansicht, dass ein repressiver Nebenzweck nicht geeignet ist, die mit der Gesamtmaßnahme verfolgte primäre Zweckrichtung der Straftatenverhütung zu verdrängen oder zu überlagern (so auch: VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 21.7.2003 - 1 S 377/02 -, a.a.O., juris, Rn. 29, m.w.N.; vgl. auch BVerwG, Urt. v. 25.1.2012 - 6 C 9/11 -, a.a.O., juris, Rn. 32 und Rn. 37; OVG Hamburg, Urt. v. 22.6.2010 - 4 Bf 276/07 -, juris, Rn. 85 ff.; Siegel, NVwZ 2012, 738, 740; Nusser, in: Möstl/Trurnit, BeckOK Polizeirecht B.-W., Stand: 1.7.2020, § 21, Rn. 6; Ogorek, in: Möstl/Kugelmann, a.a.O., § 15, Rn. 2 und § 15 a, Rn. 1; a.A. Roggan, NVwZ 2001, 134, 139; kritisch auch: Thiel, NdsVBl. 2020, 136, 138).
41
b) § 32 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. Abs. 3 Satz 2 und Satz 3 NPOG ist auch materiell verfassungsgemäß. Die Vorschriften sind hinreichend bestimmt (aa) und verhältnismäßig (bb).
42
aa) Der Grundsatz der Normenbestimmtheit und Normenklarheit soll sicherstellen, dass die gesetzesausführende Verwaltung für ihr Verhalten steuernde und begrenzende Handlungsmaßstäbe vorfindet und dass die Gerichte die Rechtskontrolle durchführen können; ferner ermöglichen die Bestimmtheit und Klarheit der Norm, dass der betroffene Bürger sich auf mögliche belastende Maßnahmen einstellen kann. Der Anlass, der Zweck und die Grenzen des Eingriffs müssen in der Ermächtigung bereichsspezifisch, präzise und normenklar festgelegt werden. Die konkreten Anforderungen an die Bestimmtheit und Klarheit der Ermächtigung richten sich nach der Art und der Schwere des Eingriffs (zum Vorstehenden: BVerfG, Beschl. v. 23.2.2007 - 1 BvR 2368/06 -, a.a.O., juris, Rn. 46 ff., m.w.N.). Für Ermächtigungen zu Überwachungsmaßnahmen verlangt das Bestimmtheitsgebot zwar nicht, dass die konkrete Maßnahme für den Betroffenen vorhersehbar ist, wohl aber, dass die betroffene Person grundsätzlich erkennen kann, bei welchen Anlässen und unter welchen Voraussetzungen ein Verhalten mit dem Risiko der Überwachung verbunden ist (BVerwG, Urt. v. 25.1.2012 - 6 C 9/11 -, a.a.O., juris, Rn. 39, m.w.N.). Da bei Maßnahmen zur Verhütung von Straftaten das Risiko einer Fehlprognose besonders hoch ist, sind bei entsprechenden Regelungen besonders hohe Anforderungen an den Bestimmtheitsgrundsatz zu stellen. Ermächtigt eine gesetzliche Regelung zu einem Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, so hat das Gebot der Bestimmtheit und Klarheit auch die bereichsspezifische Funktion, eine Umgrenzung des Anlasses der Maßnahme und auch des möglichen Verwendungszwecks der betroffenen Information sicherzustellen (vgl. BVerwG, Urt. v. 25.1.2012 - 6 C 9/11 -, a.a.O., juris, Rn. 39, m.w.N.).
43
Ausgehend von diesen Grundsätzen bietet § 32 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. Abs. 3 Satz 2 und Satz 3 NPOG hinreichende Maßstäbe für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Videobeobachtung. Der Einzelne kann auf der Grundlage der genannten Normen vorhersehen, zu welchem Zweck (1.) sowie unter welchen sachlichen, räumlichen und zeitlichen Voraussetzungen (2.) er durch Videokameras einer Beobachtung unterzogen werden kann. Anders als vom Verwaltungsgericht in Bezug auf § 32 Abs. 3 Satz 1 Nds. SOG ausgeführt, enthält § 32 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. Abs. 3 Satz 2 und Satz 3 NPOG hinreichend bestimmte tatbestandliche Begrenzungen. Im Einzelnen:
44
(1.) Der Zweck der Beobachtung mittels Bildübertragung und -aufzeichnung lässt sich bereits unmittelbar dem Wortlaut der genannten Regelungen entnehmen. Danach dient die Beobachtung mittels Bildübertragung nach § 32 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 NPOG der Verhütung einer Straftat oder einer nicht geringfügigen Ordnungswidrigkeit, die droht, im zeitlichen oder örtlichen Zusammenhang mit einer Veranstaltung oder einem sonstigen Ereignis begangen zu werden. Eine Bildaufzeichnung durch die Polizei nach § 32 Abs. 3 Satz 3 NPOG hat den Zweck, künftige Straftaten, die an den beobachteten öffentlich zugänglichen Orten oder in deren unmittelbarer Umgebung begangen zu werden drohen, zu verhüten.
45
(2.) Die in den genannten Vorschriften enthaltenen tatbestandlichen Voraussetzungen sind ebenfalls hinreichend bestimmt.
46
(a) In sachlicher Hinsicht wird die Beobachtung durch § 32 Abs. 3 Satz 1 NPOG „mittels Bildübertragung“ ermöglicht. Bildübertragung bedeutet, dass nach dem „Kamera-Monitor“-Prinzip nur die reine Übertragung und Sichtung der Videosignale in Echtzeit, nicht jedoch eine Speicherung gestattet ist (vgl. LT-Drucks. 18/850, S. 54; Albrecht, in: Möstl/Weiner, a.a.O., § 32, Rn. 70). Die Aufzeichnung ist nunmehr in § 32 Abs. 3 Satz 3 NPOG geregelt und im Vergleich zur reinen Bildübertragung an strengere Voraussetzungen geknüpft. Während in § 32 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 NPOG neben einer Straftat auch auf eine „nicht geringfügige Ordnungswidrigkeit“ abgestellt wird, dürfen die übertragenen Bilder nach § 32 Abs. 3 Satz 3 NPOG nur aufgezeichnet werden, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass an den beobachteten öffentlich zugänglichen Orten oder in deren unmittelbarer Umgebung künftig Straftaten begangen werden, und die Aufzeichnung zur Verhütung dieser Straftaten erforderlich ist. Zudem ist die Aufzeichnung nur durch die Polizei - also nicht wie bei der reinen Bildübertragung nach § 32 Abs. 3 Satz 1 NPOG auch durch die Verwaltungsbehörde - zulässig. Dadurch, dass die Bildaufzeichnung an strengere Eingriffsbefugnisse geknüpft ist als die reine Bildübertragung, wird zugleich dem Umstand, dass es sich bei der Bildaufzeichnung um einen intensiveren Grundrechtseingriff handelt als bei der reinen Bildübertragung, in verfassungskonformer Weise Rechnung getragen.
47
(b) Hinsichtlich des räumlichen Anwendungsbereichs wird durch das in § 32 Abs. 3 Satz 1 NPOG enthaltene Tatbestandsmerkmal „andere öffentlich zugängliche Orte“ klargestellt, dass es sich - anders als beim „öffentlichen Ort“ - auch um private, öffentlich zugängliche Örtlichkeiten handeln kann (LT-Drucks. 18/850, S. 54; Albrecht, in: Möstl/Weiner, a.a.O., § 32, Rn. 100). Durch die Verwendung des Begriffs der „öffentlich zugänglichen Orte“ gegenüber dem der „öffentlich zugänglichen Räume“ - der etwa in § 4 Abs. 1 Satz 1 BDSG enthalten ist - wollte der Gesetzgeber ausweislich der Gesetzgebungsmaterialien eine Erweiterung des Regelungsbereichs der Vorschrift verhindern und damit zugleich der grundgesetzlichen Bedeutung der Regelung Rechnung tragen (vgl. LT-Drucks. 18/3723, S. 33, sowie Albrecht, in: Möstl/Weiner, a.a.O., § 32, Rn. 102 f.). Zur Bestimmung eines öffentlich zugänglichen Ortes kommt es weder auf die Eigentumsverhältnisse am Beobachtungsbereich noch darauf an, ob der Ort räumlich umschlossen oder überdacht ist (vgl. Wilhelm, in: Wolff/Brink, BeckOK Datenschutzrecht, Stand: 1.5.2020, § 4 BDSG, Rn. 7; Starnecker, in: Gola/Heckmann, BDSG, 13. Aufl. 2019, § 4, Rn. 23; Frenzel, in: Paal/Pauly, DS-GVO BDSG, 2. Aufl. 2018, § 4 BDSG, Rn. 8; Berner/Köhler/Käß, Polizeiaufgabengesetz, 20. Aufl. 2010, Art. 32, Rn. 5; Ogorek, in: Möstl/Kugelmann, a.a.O., § 15 a, Rn. 8, jeweils m.w.N.). Entscheidend ist vielmehr, dass die Orte entweder dem öffentlichen Verkehr gewidmet sind oder nach dem erkennbaren Willen des Berechtigten von einem offenen bzw. einem nach allgemeinen, von jedermann erfüllbaren Merkmalen bestimmten Personenkreis genutzt oder betreten werden können (vgl. Wilhelm, in: Wolff/Brink, a.a.O., § 4 BDSG, Rn. 8; Starnecker, in: Gola/Heckmann, a.a.O., § 4, Rn. 23, jeweils m.w.N.). Insofern kann es sich auch dann um einen „öffentlich zugänglichen Ort“ handeln, wenn der Zugang erst nach Anmeldung oder der Zahlung eines Entgelts eröffnet wird, solange dieser Zugang prinzipiell jedem offen steht (vgl. Starnecker, in: Gola/Heckmann, a.a.O., § 4, Rn. 23; Berner/Köhler/Käß, a.a.O., Art. 32, Rn. 5). Nicht öffentlich zugänglich sind demgegenüber zum Beispiel Garten- und Wohngrundstücke, Büro- und Dienstgebäude ohne Publikumsverkehr sowie Bereiche, in denen der Wille des Eigentümers, den Zutritt zu beschränken - zum Beispiel durch eine Mauer, einen Zaun oder entsprechende Schilder -, nach außen sichtbar gemacht wurde (vgl. Wilhelm, in: Wolff/Brink, a.a.O., § 4 BDSG, Rn. 9 ff.; Starnecker, in: Gola/Heckmann, a.a.O., § 4, Rn. 26; Albrecht, in: Möstl/Weiner, a.a.O., § 32, Rn. 102, jeweils m.w.N.).
48
(c) Soweit § 32 Abs. 3 Satz 1 NPOG eine „offene“ Beobachtung regelt, ist in tatbestandlicher Hinsicht zunächst davon auszugehen, dass „offen“ im Sinne der genannten Vorschrift mehr verlangt, als dass die Maßnahme nicht - wie etwa in §§ 32 Abs. 2, 35 NPOG, § 100 h StPO geregelt - explizit „verdeckt“ erfolgt (vgl. OVG Hamburg, Urt. v. 22.6.2010 - 4 Bf 276/07 -, juris, Rn. 67; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 21.7.2003 - 1 S 377/02 -, a.a.O., juris, Rn. 79; VG Hannover, Urt. v. 14.7.2011 - 10 A 5452/10 -, a.a.O., juris, Rn. 36; Albrecht, in: Möstl/Weiner, a.a.O., § 32, Rn. 74). Die Offenheit der Beobachtung trägt dabei einerseits zur Transparenz des staatlichen Handelns bei (vgl. Albrecht, in: Möstl/Weiner, a.a.O., § 32, Rn. 74). Andererseits wird mittels der Offenheit der Maßnahme bewirkt, dass der Betroffene von der Datenerhebung Kenntnis erhält und sein Recht auf informationelle Selbstbestimmung wahrnehmen und sich so verhalten kann, wie er es vor dem Hintergrund der ihm bewussten Überwachung für angezeigt erachtet (vgl. VG Hannover, Urt. v. 14.7.2011 - 10 A 5452/10 -, a.a.O., juris, Rn. 37; Albrecht, in: Möstl/Weiner, a.a.O., § 32, Rn. 74; Böhrenz/Unger/Siefken, Nds. SOG, 9. Aufl. 2008, § 30, Rn. 8). Durch die Offenheit der Maßnahme wird somit zugleich den verfassungsrechtlichen Anforderungen in Bezug auf die Transparenz eines Eingriffs in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung hinreichend Rechnung getragen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 18.12.2018 - 1 BvR 142/15 -, BVerfGE 150, 244, juris, Rn. 101; Niedersächsisches OVG, Urt. v. 13. 11.2019 - 12 LC 79/19 -, a.a.O., juris, Rn. 45). Darüber hinaus trägt die Offenheit der Videobeobachtung auch zur Abschreckung potenziell tatgeneigter Personen bei (vgl. LT-Drs. 15/3810, S. 27; VG Hannover, Urt. v. 14.7.2011 - 10 A 5452/10 -, a.a.O., juris, Rn. 37). Schließlich verschafft die Offenheit der Maßnahme den Betroffenen die Möglichkeit, sich auf dem Rechtsweg gegen eine möglicherweise rechtswidrige Überwachungspraxis zur Wehr zu setzen (Albrecht, in: Möstl/Weiner, a.a.O., § 32, Rn. 74).
49
§ 32 Abs. 3 Satz 2 NPOG enthält zudem eine die Offenheit der Beobachtung konkretisierende Regelung, wonach die Beobachtung „kenntlich zu machen“ ist. In der Gesetzesbegründung zu dieser Vorschrift heißt es:
50
„Die in einem neuen Satz 2 angeordnete Kenntlichmachung der Videoüberwachung dient als verfahrenssichernde Bestimmung für die Erkennbarkeit der offenen Maßnahme. Die Art und Weise der Kenntlichmachung ist nach den Umständen des Einzelfalls vorzunehmen. Im Regelfall wird eine deutliche Kennzeichnung durch Hinweisschilder der erforderlichen Erkennbarkeit gerecht werden.“ (LT-Drucks. 18/850, S. 55).
51
Nach dieser Gesetzesbegründung, dem Sinn und Zweck der Vorschrift sowie dem verfassungsrechtlichen Hintergrund erfordert eine Kenntlichmachung i.S.v. § 32 Abs. 3 Satz 2 NPOG somit, dass die Tatsache der Überwachung der Örtlichkeit für den durchschnittlichen Verkehrsteilnehmer hinreichend erkennbar und wahrnehmbar ist (vgl. zur Kenntlichmachung der Abschnittskontrolle nach § 32 Abs. 6 Satz 4 NPOG: Niedersächsisches OVG, Urt. v. 13. 11.2019 - 12 LC 79/19 -, a.a.O., juris, Rn. 46). Diese Anforderungen sind in der Regel erfüllt, wenn die Verkehrsteilnehmer durch gut sichtbar angebrachte Hinweisschilder, auf denen u.a. ein Videokamerapiktogramm abgebildet ist, darauf aufmerksam gemacht werden, dass sie einen überwachten Bereich betreten (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 21.7.2003 - 1 S 377/02 -, a.a.O., juris, Rn. 79; OVG Hamburg, Urt. v. 22.6.2010 - 4 Bf 276/07 -, juris, Rn. 67; VG Hannover, Urt. v. 14.7.2011 - 10 A 5452/10 -, a.a.O., juris, Rn. 38; Petri, in: Lisken/Denninger, a.a.O., Kap. G, Rn. 772; Bäuerle, in: Möstl/Bäuerle, a.a.O., § 14 NSOG, Rn. 85; Söllner, in: Pewestorf/Söllner/Tölle, Polizei- und Ordnungsrecht, 2. Aufl. 2017, § 24 b ASOG, Rn. 12; Albrecht, in: Möstl/Weiner, a.a.O., § 32, Rn. 80; Ogorek, in: Möstl/Kugelmann, a.a.O., § 15 a, Rn. 18; Starnecker, in: Gola/Heckmann, BDSG, 13. Aufl. 2019, § 4, Rn. 53).
52
(d) Soweit in § 32 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 und Satz 3 NPOG jeweils gefordert wird, dass „Tatsachen die Annahme rechtfertigen“, wird dadurch verdeutlicht, dass die vorzunehmende Prognoseentscheidung nicht auf der Grundlage von reinen Vermutungen oder subjektiven Einschätzungen getroffen werden darf (vgl. Senatsurt. v. 26.4.2018 - 11 LC 288/16 -, NdsVBl 2019, 28, juris, Rn. 32; Senatsbeschl. v. 7.5.2015 - 11 LA 188/14 -, juris, Rn. 9; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 18.5.2017 - 1 S 160/17 -, juris, Rn. 37; Berner/Köhler/Käß, a.a.O., Art. 32, Rn. 8; Rosch, in: Möstl/Schwabenbauer, a.a.O., Art. 33 PAG, Rn. 30 und Rn. 55; Ogorek, in: Möstl/Kugelmann, a.a.O., § 15 a, Rn. 11). Auch allgemeine Erfahrungssätze reichen nicht aus (Bäuerle, in Möstl/Bäuerle, BeckOK PolR Hessen, Stand: 1.7.2020, § 14 HSOG, Rn. 80; Albrecht, in: Möstl/Weiner, a.a.O., § 32, Rn. 58; VG Sigmaringen, Urt. v. 2.7.2004 - 3 K 1344/04 -, juris, Leitsatz sowie Rn. 30). Es müssen vielmehr nachprüfbare, dem Beweis zugängliche Geschehnisse vorliegen, aus denen mit der erforderlichen Sicherheit auf die bevorstehende Begehung von Straftaten - bzw. bei § 32 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 NPOG auch einer nicht geringfügigen Ordnungswidrigkeit - geschlossen werden kann (vgl. Senatsurt. v. 26.4.2018 - 11 LC 288/16 -, a.a.O., juris, Rn. 32; Senatsbeschl. v. 7.5.2015 - 11 LA 188/14 -, juris, Rn. 9; Hessischer VGH, Beschl. v. 1.2.2017 - 8 A 2105/14.Z -, juris, Rn. 29 ff., m.w.N.). Die Anknüpfungstatsachen für die Gefahrenprognose müssen dabei nach Zeit, Ort und Inhalt so konkret gefasst sein, dass sie einer entsprechenden Überprüfung im gerichtlichen Verfahren zugänglich sind (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 16.4.2014 - 19 B 59/14 -, juris, Rn. 5; Albrecht, in: Möstl/Weiner, a.a.O., § 32, Rn. 59).
53
(e) Hinsichtlich des zeitlichen Anwendungsbereichs regelt § 32 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 NPOG, dass eine Videobeobachtung zulässig ist, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass „im zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit einer Veranstaltung oder einem sonstigen Ereignis“ eine Straftat oder nicht geringfügige Ordnungswidrigkeit begangen wird, und die Beobachtung „im zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit diesem Ereignis“ zur Verhütung dieser Straftat oder Ordnungswidrigkeit erforderlich ist, finden sich in Bezug auf die tatbestandlichen Voraussetzungen der Norm in den Gesetzgebungsmaterialien folgende Ausführungen (LT-Drucks. 18/3723, S. 33):
54
„In Nummer 2 (Vorfeldbefugnis zur ereignisbezogenen Straftatenverhütung) soll die Straftat oder Ordnungswidrigkeit in der Einzahl stehen. Anstelle des „Ereignisses“ soll zur Verdeutlichung, was gemeint ist, auf eine „Veranstaltung oder ein sonstiges Ereignis“ abgestellt werden. Zudem sollen die Worte „im zeitlichen und örtlichen Zusammenhang“ auch in die tatbestandlichen Voraussetzungen eingegliedert werden, um klarzustellen, dass die Straftat/Ordnungswidrigkeit (Singular) in diesem Zusammenhang zu erwarten sein muss.
55
In LT-Drucks. 18/850, S. 55, heißt es weiter:
56
„Durch die neue Nummer 2 wird die offene Beobachtung eines öffentlich zugänglichen Raumes mittels Bildübertragung auch zugelassen bei zeitlich begrenzten Ereignissen, wenn die zukünftige Begehung von Straftaten oder nicht geringfügigen Ordnungswidrigkeiten oder von sonstigen Gefahren für Leib oder Leben aufgrund bestimmter Tatsachen zu erwarten ist und die Beobachtung zu deren Verhütung erforderlich ist. Diese Tatbestandsvariante soll Fallgestaltungen abdecken, bei denen kurzfristig anlassbezogen Gefahrenorte entstehen, an denen erst wegen des Ereignisses mit Straftaten und Ordnungswidrigkeiten oder der Entstehung von Gefahren für Leib oder Leben zu rechnen ist und vorher nicht zwangsläufig bereits Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten begangen worden sein müssen. Zu denken ist hier beispielsweise an Großveranstaltungen wie Konzerte, Messen, Jahrmärkte oder Weihnachtsmärkte, bei denen typischerweise Straftaten und Ordnungswidrigkeiten begangen werden und bei denen unter bestimmten Umständen vor allem durch hohe Teilnehmerzahlen Gefahren entstehen können, die mittels der Videoüberwachung rechtzeitig erkannt werden können, um effektive Gegenmaßnahmen, etwa durch Umlenken von Menschenströmen, ergreifen zu können. Die Videoüberwachung soll unter den genannten Voraussetzungen nicht nur während, sondern auch im zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit einem bestimmten Ereignis zulässig sein. Damit ist sie auch im Vorfeld, etwa während einer Aufbauphase (mögliche Vortatphase), z.B. bei Weihnachtsmärkten, möglich, sofern diese noch im Zusammenhang mit dem zeitlich begrenzten Ereignis steht.“
57
Diese Überlegungen haben ersichtlich Eingang in den Gesetzeswortlaut gefunden. Auf sie kann zudem ergänzend zurückgegriffen werden, um das Tatbestandsmerkmal „Veranstaltung oder sonstiges Ereignis“ im Einzelnen näher zu bestimmen und abzugrenzen. Durch den Wortlaut von § 32 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 NPOG ist auch klar erkennbar, dass eine auf diese Vorschrift gestützte Beobachtung in zeitlicher und räumlicher Hinsicht auf die Dauer der Veranstaltung sowie die damit im Zusammenhang stehenden Vor- und Nachbereitungen beschränkt ist und dass die befürchtete Straftat/Ordnungswidrigkeit im zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit der Veranstaltung zu erwarten sein muss (vgl. Albrecht, in: Möstl/Weiner, a.a.O., § 32, Rn. 107).
58
(f) In Bezug auf den in § 32 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 NPOG enthaltenen Begriff „nicht geringfügige Ordnungswidrigkeit“ ist zunächst festzustellen, dass dieses Tatbestandsmerkmal nur dann Bedeutung erlangen kann, wenn es um die schlichte Bildübertragung geht. Werden die Bilder demgegenüber - wie vorliegend - (auch) aufgezeichnet, stellt das Gesetz in § 32 Abs. 3 Satz 3 NPOG ausschließlich auf Straftaten ab, d.h. die drohende Begehung einer nicht geringfügigen Ordnungswidrigkeit (Satz 1 Nr. 2) reicht gerade nicht aus, um eine Bildaufzeichnung zu legitimieren. Dementsprechend kommt es bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Bildaufzeichnung auf die Frage, was unter der in § 32 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 NPOG erwähnten „nicht geringfügigen Ordnungswidrigkeit“ zu verstehen ist, nicht an. Vor diesem Hintergrund ist es auch unschädlich, dass die Polizeidirektion vorgetragen hat, über nicht geringfügige Ordnungswidrigkeiten keine standortbezogenen Daten vorzuhalten.
59
Ungeachtet des Umstandes, dass es vorliegend nicht entscheidungserheblich darauf ankommt, wie der in § 32 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 NPOG enthaltene Begriff „nicht geringfügige Ordnungswidrigkeit“ zu definieren ist, führt die Verwendung dieses Begriffs auch nicht zur mangelnden Bestimmtheit (so i.E. auch: Böhrenz/Unger/Siefken, a.a.O., § 32, Rn. 4; Reichert, in: Saipa, a.a.O., § 32, Rn. 2; Albrecht, in: Möstl/Weiner, a.a.O., § 32, Rn. 63 f.; kritisch demgegenüber: Petri, in: Lisken/Denninger, a.a.O., Kap. G, Rn. 785). Denn dieser Begriff kann im Rahmen der Auslegung hinreichend klar bestimmt werden. Dabei kann insbesondere auf die in § 56 Abs. 1 OWiG enthaltene Regelung zurückgegriffen werden (vgl. Petri, in: Lisken/Denninger, a.a.O., Kap. G, Rn. 785; Böhrenz/Unger/Siefken, a.a.O., § 32, Rn. 4; Albrecht, in: Möstl/Weiner, a.a.O., § 32, Rn. 63 f.), wonach die Verwaltungsbehörde den Betroffenen bei geringfügigen Ordnungswidrigkeiten verwarnen und ein Verwarnungsgeld von fünf bis fünfundfünfzig Euro erheben, oder eine Verwarnung ohne Verwarnungsgeld erteilen kann. Daraus lässt sich im Umkehrschluss ableiten, dass mit „nicht geringfügigen Ordnungswidrigkeiten“ solche Ordnungswidrigkeiten gemeint sind, bei denen die betroffene Person nicht verwarnt und kein Verwarnungsgeld erhoben werden kann (vgl. LT-Drucks. 18/850, S. 55; Albrecht, in: Möstl/Weiner, a.a.O., § 32, Rn. 63; Reichert, in: Saipa, a.a.O., § 32, Rn. 2). Zwar handelt es sich auch bei dem Begriff der „Geringfügigkeit“ um einen sog. unbestimmten Rechtsbegriff, der gesetzlich nicht näher definiert ist (Straßer, in: Graf, BeckOK OWiG, Stand: 1.7.2020, § 56, Rn. 15). Dieser Begriff kann jedoch anhand der dazu vorliegenden Rechtsprechung und Literatur ausgelegt und weiter bestimmt werden. Danach ist die Frage der Geringfügigkeit einer Ordnungswidrigkeit anhand einer Gesamtbetrachtung der Bedeutung der Handlung, ihrer Folgen, des Grades der Vorwerfbarkeit, des betroffenen Sachgebiets und der Bereitschaft des Betroffenen, sich in Zukunft normgerecht zu verhalten, festzustellen (Straßer, in: Graf, a.a.O., § 56, Rn. 16; Seith, in: Gassner/Seith, OWiG, 2. Aufl. 2020, § 56, Rn. 8; Lutz, in: Karlsruher Kommentar zum OWiG, 5. Aufl. 2018, § 56, Rn. 4; Albrecht, in: Möstl/Weiner, a.a.O., § 32, Rn. 64; vgl. auch OLG Hamm, Beschl. v. 9.2.1979 - 4 Ws 12/79 -, juris, Rn. 5). Insofern können die zu § 56 Abs. 1 OWiG von der Rechtsprechung und der Literatur entwickelten und ihrerseits hinreichend bestimmten Kriterien auch bei der Frage, wann eine „nicht geringfügige Ordnungswidrigkeit“ i.S.v. § 32 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 NPOG vorliegt, herangezogen werden.
60
(g) Eine weitere tatbestandliche Einschränkung enthalten die maßgeblichen Vorschriften dadurch, dass die Beobachtung bzw. die Aufzeichnung zur Verhütung von Straftaten (§ 32 Abs. 3 Satz 3 NPOG) bzw. von Straftaten oder nicht geringfügigen Ordnungswidrigkeiten (§ 32 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 NPOG) „erforderlich“ sein muss. Erforderlich ist eine Beobachtung nur, wenn kein ähnlich geeignetes, für die Betroffenen weniger einschneidendes Mittel zur Erfüllung des Zwecks zur Verfügung steht (vgl. Petri, in: Lisken/Denninger, a.a.O., Kap. G, Rn. 774). Durch das Erforderlichkeitskriterium wird zugleich gewährleistet, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in jedem Einzelfall gewahrt wird (vgl. BVerfG, Beschl. v. 18.12.2018 - 1 BvR 142/15 -, a.a.O., juris, Rn. 100).
61
Insgesamt ist somit festzustellen, dass die in § 32 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. Abs. 3 Satz 2 und Satz 3 NPOG enthaltenen Regelungen den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Bestimmtheitsgebots genügen.
62
bb) Die vorliegend maßgeblichen Regelungen wahren auch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Dieser erfordert, dass die Regelungen einen legitimen Zweck verfolgen (1.) und zur Erreichung des Zwecks geeignet (2.), erforderlich (3.) und verhältnismäßig im engeren Sinne (4.) sind.
63
(1.) Mit dem oben dargestellten (Primär-) Zweck der Regelung, durch die offene Beobachtungsmaßnahme die Begehung von Straftaten und nicht geringfügigen Ordnungswidrigkeiten an öffentlich zugänglichen Orten zu verhüten und potenzielle Täter von der Begehung derartiger Taten abzuschrecken, verfolgt der Gesetzgeber ein legitimes Anliegen des Gemeinwohls (vgl. BVerfG, Urt. v. 14.7.1999 - 1 BvR 2226/94 -, BVerfGE 100, 313, juris, Rn. 212; BVerwG, Urt. v. 25.1.2012 - 6 C 9/11 -, a.a.O., juris, Rn. 42; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 21.7.2003 - 1 S 377/02 -, a.a.O., juris, Rn. 49).
64
(2.) Die in § 32 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. Abs. 3 Satz 3 NPOG normierte Videobeobachtung stellt auch ein zur Erreichung des verfolgten Zwecks geeignetes Mittel dar (vgl. Siegel, NVwZ 2012, 738, 741). In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass dem Gesetzgeber bei der Geeignetheitsprognose ein Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum zusteht, der erst dann überschritten ist, wenn sich die Maßnahme als objektiv oder evident untauglich erweist (st. Rspr., vgl. BVerfG, Urt. v. 14.7.1999 - 1 BvR 2226/94 -, a.a.O., juris, Rn. 214, m.w.N.). Anhaltspunkte für eine derartige objektive oder evidente Untauglichkeit sind vorliegend weder vom Kläger vorgetragen noch für den Senat ersichtlich.
65
(3.) Die in § 32 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 und Abs. 3 Satz 3 NPOG geregelte Videoüberwachung ist auch zur Erreichung ihres Zwecks erforderlich. Die Einschätzung des Gesetzgebers, dass ein gleich wirksames, die Grundrechtsträger aber weniger beeinträchtigendes Mittel nicht zur Verfügung steht, ist nicht zu beanstanden (vgl. OVG Hamburg, Urt. v. 22.6.2010 - 4 Bf 276/07 -, juris, Rn. 96). Dies gilt zunächst für die Alternative, einen Kriminalitätsrückgang durch den verstärkten Einsatz von Polizeikräften vor Ort herbeizuführen. Mit Blick auf die Situation der öffentlichen Haushalte im allgemeinen und die angespannte Personalsituation im Polizeibereich im Besonderen bestehen bereits Zweifel, dass die Steigerung der Polizeipräsenz in einem Maß, das eine mit einer Videokamera vergleichbare Überwachungswirkung gewährleistet, überhaupt realisierbar wäre (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 21.7.2003 - 1 S 377/02 -, a.a.O., juris, Rn. 53; Nusser, in: Möstl/Trurnit, a.a.O., § 21, Rn. 30). Jedenfalls wäre eine solche vorbeugende Kriminalitätsbekämpfung wegen deutlich höherer Kosten sowie im Hinblick auf die bei der technischen Überwachung bestehenden Möglichkeiten des Zoomens und des Aufzeichnens weniger effektiv und daher nicht in gleicher Weise wirksam wie die Videobeobachtung (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 21.7.2003 - 1 S 377/02 -, a.a.O., juris, Rn. 53; OVG Hamburg, Urt. v. 22.6.2010 - 4 Bf 276/07 -, juris, Rn. 96). Eine verdeckte Beobachtung stellt ebenfalls kein gleich geeignetes, milderes Mittel dar, denn zum einen kann mit ihr aufgrund der fehlenden Offenheit der bezweckte Abschreckungseffekt nicht erzielt werden, so dass sie sich als weniger effektiv erweist (Ogorek, in: Möstl/Kugelmann, a.a.O., § 15 a, Rn. 24). Zum anderen erschwert ein verdecktes Vorgehen den Betroffenen die Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes, so dass eine verdeckte Beobachtung für die Betroffenen auch kein milderes Mittel darstellt (Ogorek, in: Möstl/Kugelmann, a.a.O., § 15 a, Rn. 24).
66
(4.) Die durch die Videobeobachtung bewirkte Beschränkung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung ist auch verhältnismäßig im engeren Sinne. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verlangt, dass die Einbußen an grundrechtlich geschützter Freiheit nicht in unangemessenem Verhältnis zu den Gemeinwohlzwecken stehen, denen die Grundrechtsbeschränkung dient. Für den vom Gesetzgeber herbeizuführenden angemessenen Ausgleich kommt es auf grundrechtlicher Seite auf die Gestaltung der Einschreitschwellen, die Zahl der Betroffenen und die Intensität der Beeinträchtigungen an. Auf Seiten der Gemeinwohlinteressen ist das Gewicht der verfolgten Ziele und Belange maßgeblich, was unter anderem davon abhängt, wie groß die Gefahren sind, denen begegnet werden soll, und wie wahrscheinlich ihr Eintritt ist (vgl. BVerfG, Urt. v. 14.7.1999 - 1 BvR 2226/94 -, a.a.O., juris, Rn. 221; dasselbe, Urt. v. 27.7.2005 - 1 BvR 668/04 -, BVerfGE 113, 348, juris, Rn. 137; BVerwG, Urt. v. 25.1.2012 - 6 C 9/11 -, a.a.O., juris, Rn. 47, jeweils m.w.N.).
67
An diesem Maßstab gemessen greifen die Regelungen in § 32 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. Abs. 3 Satz 3 NPOG nicht unzumutbar in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der Betroffenen ein. Wie bereits oben ausgeführt, stellt die mit den genannten Vorschriften ermöglichte Videobeobachtung öffentlich zugänglicher Orte - insbesondere in der Form der Bildaufzeichnung - einen erheblichen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung dar. Hinzu kommt, dass der Eingriff nicht an ein störendes Verhalten des Betroffenen anknüpft, sondern anlasslos im Vorfeld der Begehung von Straftaten stattfindet und eine Vielzahl von Personen betrifft. Von der Videobeobachtung werden unterschiedslos alle Personen erfasst, die sich im überwachten Bereich aufhalten. Jedoch stehen diesen Beeinträchtigungen die öffentlichen Interessen an der Verhütung und Abwehr von Straftaten und damit ein Belang von hoher Bedeutung gegenüber (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 21.7.2003 - 1 S 377/02 -, a.a.O., juris, Rn. 58).
68
Vor diesem Hintergrund trägt der Niedersächsische Gesetzgeber mit den streitgegenständlichen Bestimmungen zu den Eingriffsvoraussetzungen der Videobeobachtung dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung hinreichend Rechnung. Durch die tatbestandliche Einschränkung des Anwendungsbereichs ist gewährleistet, dass Grundrechtseingriffe dieser Art die Ausnahme bleiben und nicht etwa ein flächendeckendes Überwachungssystem etabliert wird. Vielmehr wird der Anwendungsbereich der Videobeobachtung sowohl in räumlicher als auch in zeitlicher Hinsicht auf besondere öffentlich zugängliche Orte beschränkt, wodurch eine nachvollziehbare Eingriffsschwelle geschaffen und zugleich die Zahl der Betroffenen eingegrenzt wird. Das Gewicht der grundrechtlichen Belange relativiert sich schließlich dadurch, dass die Maßnahme offen erfolgt und lediglich das Verhalten der Betroffenen in der Öffentlichkeit betrifft (vgl. BVerwG, Urt. v. 25.1.2012 - 6 C 9/11 -, a.a.O., juris, Rn. 48). Da nur öffentliche Straßen und Plätze sowie öffentlich zugängliche Orte betroffen sind, ist sichergestellt, dass im Rahmen von Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG besonders empfindliche und schutzbedürftige Bereiche wie zum Beispiel Wohnungen, Büros, Arztpraxen etc. der Überwachung vollkommen entzogen sind. Die streitgegenständliche Videoüberwachung greift somit nicht in den besonders schutzbedürftigen Bereich der Privat- oder Intimsphäre des Einzelnen ein, vielmehr werden dadurch ausschließlich Informationen über Lebensumstände und Verhaltensweisen berührt, die der an öffentlich zugänglichen Orten befindliche Betroffene ohnehin aufgrund freier Entschließung von sich aus jedenfalls teilweise der Beobachtung durch die Allgemeinheit preisgegeben hat (vgl. OVG Hamburg, Urt. v. 22.6.2010 - 4 Bf 276/07 -, juris, Rn. 101).
69
3. Gleichwohl ist der durch den Betrieb der Kameras 532, 533, 540, 576 und 580 bewirkte Grundrechtseingriff deshalb vorliegend nicht nach § 32 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. Satz 2 und Satz 3 NPOG gerechtfertigt, weil die in diesen Normen enthaltenen tatbestandlichen Voraussetzungen gegenwärtig nicht erfüllt sind. Dem rechtmäßigen Betrieb der streitgegenständlichen Kameras steht bereits entgegen, dass die Beobachtung nicht - wie von § 32 Abs. 3 Satz 2 NPOG gefordert - hinreichend kenntlich gemacht ist (a). Zudem hat die Polizeidirektion keine ausreichend überprüfbaren Anknüpfungstatsachen dargelegt, die - wie in § 32 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 NPOG vorausgesetzt - die Annahme rechtfertigen, dass im Wirkungsbereich der betroffenen Kamerastandorte im zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit einer Veranstaltung oder einem sonstigen Ereignis eine Straftat begangen wird, und die Beobachtung im zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit diesem Ereignis zur Verhütung dieser Straftat erforderlich ist (b).
70
a) Die von der Polizeidirektion vorgenommene Kenntlichmachung entspricht nicht den maßgeblichen oben dargelegten Anforderungen des § 32 Abs. 3 Satz 2 NPOG.
71
aa) Ausweislich der von der Polizeidirektion vorgelegten Unterlagen nutzt sie für die Kenntlichmachung der streitgegenständlichen Standorte nunmehr ausschließlich DIN A 4 große Aufkleber. Auf diesen Aufklebern befindet sich in einem blauen Feld ein weißes Videokamerapiktogramm sowie der Schriftzug „Videoüberwachung“. Bei den vorliegend streitgegenständlichen Veranstaltungskameras ist unterhalb des Schriftzugs „Videoüberwachung“ ebenfalls in weißer Schrift auf blauem Grund der Zusatz: „NUR bei Veranstaltungen!“ angebracht. Darunter sind Angaben zum Verantwortlichen aufgeführt (Polizeidirektion A-Stadt, W…straße 9, 30XXX A-Stadt, …) sowie der Zusatz: „Weitere Informationen erhalten Sie im Internet: www.polizei-A-Stadt.de“. Das von der Polizeidirektion dazu vorgelegte Dokument sieht dabei (verkleinert) wie folgt aus (siehe Beiakte 004, Anlage 10):
72
Nach den von der Polizeidirektion für die fünf streitgegenständlichen Veranstaltungskameras vorgelegten Beschilderungsplänen wurden an den jeweiligen Zuwegungen je nach den örtlichen Gegebenheiten an sechs (Standort 580) bis 13 (Standort 533) vorhandenen Pfosten entsprechende Aufkleber angebracht (siehe Bl. 506 - 559 GA).
73
bb) Zwar sind aus Sicht des Senats weder die von der Polizeidirektion für die Kennzeichnung gewählten Standorte noch die jeweils durch die örtlichen Verhältnisse geprägte Anzahl der Kennzeichnungen zu beanstanden. Entgegen der Ansicht des Klägers ist es insbesondere nicht erforderlich, weitere, zusätzliche Kennzeichnungen anzubringen, die über das jeweilige Verlassen der von den Kameras erfassten Bereiche informieren. Ebenso wenig muss die Polizeidirektion im Einzelnen potenzielle Alternativrouten in nicht videoüberwachten Bereiche darlegen. Anhand der von der Polizeidirektion vorgelegten Beschilderungspläne wird vielmehr deutlich, dass im Regelfall die Möglichkeit besteht, eine Alternativroute zu wählen, um die videoüberwachten Bereiche zu meiden.
74
Der Senat hält die auf den Aufklebern enthaltenen Angaben auch grundsätzlich für geeignet, um die Videobeobachtung nach § 32 Abs. 3 Satz 2 NPOG kenntlich zu machen. Entgegen der vom Kläger und teilweise in der Literatur vertretenen Ansicht, wonach mehrsprachig auf die Videoüberwachung hinzuweisen sei (so zur Rechtslage in Nordrhein-Westfalen: Tegtmeyer/Vahle, PolG NRW, 12. Aufl. 2018, § 15 a, Rn. 5), erachtet der Senat eine mehrsprachige Kennzeichnung nicht als verpflichtend (so auch in Bezug auf Nordrhein-Westfalen: Ogorek, in: Möstl/Kugelmann, a.a.O., § 15 a, Rn. 18). Dies folgt bereits daraus, dass die Staatssprache Deutsch ist (vgl. Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 3.7.2019 - 12 MC 93/19 -, juris, Rn. 31, m.w.N., dasselbe, Urt. v. 13.11.2019 - 12 LC 79/19 -, a.a.O., juris, Rn. 46, jeweils in Bezug auf die Kenntlichmachung der Abschnittskontrolle nach § 32 Abs. 6 Satz 4 NPOG) und es somit an einem rechtlichen Anknüpfungspunkt dafür fehlt, eine mehrsprachige Kennzeichnungspflicht zu fordern. Hinzu kommt, dass die Verwendung des Videokamerapiktogramms aus sich heraus und damit unabhängig von der Sprache der darunter befindlichen textlichen Angaben anschaulich und verständlich ist (vgl. Ogorek, in: Möstl/Kugelmann, a.a.O., § 15 a, Rn. 18, m.w.N.). Schließlich würde eine mehrsprachige Ausführung den Umfang der textlichen Angaben deutlich vergrößern und damit zugleich die gewünschte schnelle und leichte Wahrnehmung erschweren (vgl. Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 3.7.2019 - 12 MC 93/19 -, juris, Rn. 31, m.w.N.).
75
Entgegen der Ansicht des Klägers dürften auch aus Art. 13 der Richtlinie (EU) 2016/680 des Europäischen Parlaments und des Rats vom 27. April 2016 (sog. JI-Richtlinie) keine weitergehenden Anforderungen hinsichtlich des Umfangs der bei der Kennzeichnung anzugebenden textlichen Informationen folgen. Denn anders als etwa die Datenschutz-Grundverordnung bedarf die JI-Richtlinie der Umsetzung durch die Mitgliedstaaten, so dass in ihrem Anwendungsbereich grundsätzlich allein das zu ihrer Umsetzung geschaffene nationale Recht anzuwenden ist (Albrecht, in: Möstl/Weiner, a.a.O., § 32, Rn. 23; vgl. auch Schröder, in: Möstl/Schwabenbauer, a.a.O., JI-RL, Rn. 22, jeweils m.w.N.).
76
cc) Letztlich bedarf die schwierige Frage nach der Reichweite der JI-Richtlinie bei der polizeilichen Videoüberwachung (siehe dazu: Albrecht, in: Möstl/Weiner, a.a.O., § 32, Rn. 22 ff.) vorliegend aber mangels Entscheidungserheblichkeit keiner abschließenden Beurteilung. Denn die von der Polizeidirektion vorgenommene Kenntlichmachung genügt unabhängig davon deshalb nicht den oben dargelegten Anforderungen des § 32 Abs. 3 Satz 2 NPOG, weil die auf den runden Pfosten angebrachten Aufkleber für den durchschnittlichen Verkehrsteilnehmer nicht hinreichend erkennbar und wahrnehmbar sind.
77
Der erforderlichen hinreichenden Erkennbarkeit und Wahrnehmbarkeit der von der Polizeidirektion vorgenommenen Kenntlichmachung steht dabei bereits entgegen, dass die auf den runden Pfosten angebrachten Aufkleber aufgrund der Krümmung der Pfosten beim Passieren in Geh- und Fahrtrichtung im Regelfall nicht als Ganzes, sondern nur ausschnittsweise wahrgenommen werden können. Wie auch aus den vom Kläger im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 6. Oktober 2020 als „Eingabe Nr. 1“ vorgelegten Fotos (Bl. 586 f. GA) sowie aus den von der Polizeidirektion vorgelegten Beschilderungsplänen (Bl. 507 bis 559 GA) ersichtlich wird, ist aufgrund der Krümmung der Pfosten innerhalb einer Sichtachse bzw. beim Passieren in Geh- und Fahrtrichtung oft nicht einmal das Videokamerapiktogramm als Ganzes erkennbar. Vielmehr können die Aufkleber insbesondere bei dünneren Pfosten nur dann als Ganzes erkannt und wahrgenommen werden, wenn die Pfosten abweichend von der Geh- und Fahrtrichtung umrundet werden (siehe insbesondere Bl. 507, 515, 523, 524, 535, 536, 537, 538, 540, 547, 551 GA). Ein derartiges Verhalten kann jedoch von (motorisierten) Verkehrsteilnehmern nicht erwartet werden und würde insbesondere im fließenden Verkehr seinerseits eine Gefahr für andere Verkehrsteilnehmer darstellen.
78
Zudem sind die Aufkleber der Polizeidirektion auch aufgrund ihres Erscheinungsbilds an den zugleich mit zahlreichen anderen Aufklebern bedeckten Pfosten im öffentlichen Raum nicht hinreichend wahrnehmbar. Wie sich den vorgelegten Fotos entnehmen lässt, befinden sich auf den betroffenen Pfosten eine Vielzahl von sonstigen Aufklebern/Zetteln (siehe z.B. Bl. 517, 518, 519, 520, 522, 523, 526, 528, 529, 533, 536, 537, 538, 554, 556, 557, 558, 559). Derartige Aufkleber/Zettel werden in der Regel von Privatpersonen oder Vereinigungen angebracht, um damit auf private oder politische Belange aufmerksam zu machen (z.B. Suche nach entlaufenen Haustieren, Hinweise auf Veranstaltungen, Kundgabe von politischen Ansichten etc.). Bei einer derartigen Ausgangslage ist es für den durchschnittlichen Verkehrsteilnehmer weder erwartbar noch hinreichend erkennbar, dass sich auf solchen Pfosten auch Aufkleber von Behörden befinden, die rechtlich relevante Informationen enthalten. Hinzu kommt, dass beim Anbringen von weiteren Aufklebern/Zetteln in der Regel wenig Rücksicht darauf genommen wird, ob dadurch zuvor angebrachte Aufkleber verdeckt werden. Insofern besteht auch permanent die Gefahr, dass die Aufkleber der Polizeidirektion von anderen Aufklebern/Zetteln überdeckt werden. Der Vortrag der Polizeidirektion, die Unversehrtheit der Aufkleber werde zweimal jährlich überprüft, erscheint vor dem geschilderten Hintergrund nicht ausreichend, um einem Überkleben verlässlich entgegenzuwirken.
79
Im Hinblick auf mögliche zukünftige Rechtsstreitigkeiten weist der Senat klarstellend darauf hin, dass die früher von der Polizeidirektion teilweise zur Kennzeichnung genutzten rechteckigen Schilder in einer Größe von 315 x 420 mm aus seiner Sicht (unabhängig von der Frage, welche sonstigen textlichen Informationen auf den Schildern enthalten sein sollten) den Anforderungen an eine hinreichende Wahrnehmbarkeit entsprechen. Diese Schilder enthielten - wie die aktuell genutzten Aufkleber - ein weißes Videokamerapiktogramm auf blauem Untergrund und waren ebenfalls an Pfosten angebracht. Anders als die aktuell genutzten Aufkleber waren sie jedoch wie Verkehrsschilder quer zur Geh- bzw. Fahrtrichtung ausgerichtet und waren so nicht nur deutlich besser erkennbar, sondern konnten auch beim Passieren in Geh- bzw. Fahrtrichtung ohne Weiteres als Ganzes wahrgenommen werden (vgl. den von der Polizeidirektion vorgelegten Beschilderungsplan vom 23.7.2013, Bl. 374 GA, sowie die undatierten Fotos zur Kennzeichnung des Kamerastandorts G. Platz, Bl. 426, 428 und 431 GA). Zudem hat die Polizeidirektion selbst vorgetragen, dass sie die Schilder früher an Stellen angebracht hat, an denen die Aufkleber im fließenden Verkehr nicht hinreichend wahrnehmbar waren. An dieser fehlenden ausreichenden Wahrnehmbarkeit der Aufkleber hat sich durch die neue Gestaltung der Aufkleber nichts geändert. Es ist zudem nicht ersichtlich, dass die gegenwärtige Gestaltung der Aufkleber nicht auch auf Schilder übertragen werden könnte. Soweit die Polizeidirektion als Grund dafür, gegenwärtig keine Schilder, sondern nur noch Aufkleber zu verwenden, angegeben hat, dass Aufkleber kostengünstiger seien und bei Beschädigung schneller ersetzt werden könnten, rechtfertig dies keine andere Beurteilung. Zwar liegt es auf der Hand, dass eine Kenntlichmachung mit Aufklebern kostengünstiger ist als eine mit „echten“ Schildern. Demgegenüber erscheint die Annahme, dass Schilder im gleichen Umfang beschädigt - insbesondere überklebt - werden, wie die an den Pfosten angebrachten Aufkleber, nicht gesichert. Unabhängig davon vermag keiner dieser Aspekte etwas daran zu ändern, dass die Aufkleber aus den dargelegten Gründen nicht hinreichend wahrnehmbar sind. Im Übrigen ist auch der Gesetzgeber ausweislich der Gesetzesbegründung zu § 32 Abs. 3 Satz 2 NPOG davon ausgegangen, dass die „deutliche Kenntlichmachung […] im Regelfall […] durch Hinweisschilder“ zu erfolgen hat (siehe LT-Drucks. 18/850, S. 55, sowie obige Ausführungen dazu). Dass eine Kenntlichmachung durch Aufkleber im Vergleich zu Schildern kostengünstiger ist, dürfte dabei auch dem Gesetzgeber bekannt gewesen sein. Gleichwohl sind Aufkleber in der Gesetzesbegründung nicht erwähnt. Insofern ist davon auszugehen, dass der Gesetzgeber die durch eine Kenntlichmachung mit Schildern für die Polizei anfallenden Kosten als hinnehmbar angesehen hat. Im Übrigen entspricht es auch der gängigen Praxis, dass Behörden im öffentlichen Verkehrsraum rechtlich relevante Informationen - unabhängig von der Frage, ob andere Kennzeichnungsformen ggf. kostengünstiger sind - in Form von Schildern vermitteln. Auch vor diesem Hintergrund stellen die von der Polizeidirektion genutzten Aufkleber keinen adäquaten Ersatz für „echte“ Hinweisschilder dar.
80
Soweit teilweise vertreten wird, dass sich Betroffene, die sich gerichtlich gegen polizeiliche Überwachungsmaßnahmen wenden, aufgrund ihrer (spätestens) im gerichtlichen Verfahren erlangten Kenntnis von den Maßnahmen nicht auf eine ungenügende Kenntlichmachung berufen könnten (vgl. zur Abschnittskontrolle: Niedersächsisches OVG, Urt. v. 13.11.2019 - 12 LC 79/19 -, a.a.O., juris, 54; zur Videoüberwachung: VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 21.7.2003 - 1 S 377/02 -, a.a.O., juris, Rn. 80; a.A. i.E.: VG Hannover, Urt. v. 14.7.2011 - 10 A 5452/10 -, a.a.O., juris, Rn. 37 ff.), folgt der Senat dem nicht. Wie oben ausgeführt, lässt die tatsächliche Kenntnis von einer Überwachungsmaßnahme weder den Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung entfallen, noch kann die Kenntnis der Maßnahme als Grundrechtsverzicht gewertet werden (vgl. dazu obige Ausführungen sowie BVerwG, Urt. v. 25.1.2012 - 6 C 9/11 -, a.a.O., juris, Rn. 25; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 21.7.2003 - 1 S 377/02 -, a.a.O., juris, Rn. 38). Zudem dient das Erfordernis der hinreichenden Kenntlichmachung - wie ebenfalls oben dargelegt - auch dazu, den verfassungsrechtlichen Anforderungen in Bezug auf die Transparenz des Eingriffs hinreichend Rechnung zu tragen, mithin den Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung zu rechtfertigen und zugleich Rechtsschutzmöglichkeiten zu eröffnen (vgl. dazu obige Ausführungen zur Verfassungsgemäßheit von § 32 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. Abs. 3 Satz 2 und Satz 3 NPOG). Auch vor diesem Hintergrund kann es Betroffenen nicht verwehrt werden, sich trotz einer tatsächlichen Kenntnis von einer Überwachungsmaßnahme auf eine ungenügende, nicht den gesetzlichen Anforderungen entsprechende Kenntlichmachung zu berufen. Anderenfalls würde der Rechtsschutz in Bezug auf die Frage, ob eine Überwachungsmaßnahme hinreichend kenntlich gemacht und (auch) deshalb verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist, faktisch ausgehebelt.
81
b) Der Rechtmäßigkeit des Betriebs der streitgegenständlichen Veranstaltungskameras steht schließlich - selbstständig tragend - entgegen, dass die Polizeidirektion nicht, wie von § 32 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 NPOG verlangt, ausreichend überprüfbare Anknüpfungstatsachen dargelegt hat, die die Annahme rechtfertigen, dass an den betroffenen Kamerastandorten im zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit einer Veranstaltung oder einem sonstigen Ereignis eine Straftat oder nicht geringfügige Ordnungswidrigkeit begangen wird. Die von der Polizeidirektion vorgelegten Kriminalitätsstatistiken zu sämtlichen im Laufe eines Kalenderjahres im Wirkungsbereich der betroffenen Kamerastandorte erfassten Straftaten stellen für eine anlassbezogene Videobeobachtung nach § 32 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 NPOG keine ausreichend überprüfbaren Anknüpfungstatsachen dar.
82
Wie oben ausgeführt, müssen die Anknüpfungstatsachen für die Gefahrenprognose nach Zeit, Ort und Inhalt so konkret gefasst sein, dass sie einer entsprechenden Überprüfung im gerichtlichen Verfahren zugänglich sind. Dies ist in Bezug auf die von der Polizeidirektion vorgelegten Kriminalitätsstatistiken deshalb nicht der Fall, weil sie nicht nur die im zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit einer Veranstaltung, sondern sämtliche in einem Kalenderjahr erfassten Taten ausweisen. Derartige Jahreswerte sind nicht geeignet, den nach § 32 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 NPOG erforderlichen Zusammenhang zwischen einer Veranstaltung und einer im zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit dieser Veranstaltung zu erwartenden Straftat darzulegen. Wie ebenfalls bereits dargelegt, wollte der Gesetzgeber durch die in § 32 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 NPOG enthaltenen Worte „im zeitlichen und örtlichen Zusammenhang“ klarstellen, dass die Straftat/Ordnungswidrigkeit im Zusammenhang mit einer Veranstaltung oder einem sonstigen Ereignis zu erwarten sein muss (LT-Drucks. 18/3723, S. 33). Das Vorliegen dieses Zusammenhangs kann vom Senat aufgrund der von der Polizeidirektion vorgelegten Jahresstatistiken nicht überprüft werden. Um eine entsprechende Überprüfung für einen anlassbezogenen Kamerabetrieb nach § 32 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 NPOG vornehmen zu können, wäre es vielmehr erforderlich gewesen, dass die Polizeidirektion die Zeiträume, in denen sie die betroffenen Kameras aktiviert hat, sowie die in diesen Zeiträumen im Wirkungsbereich der Kameras erfassten Taten dokumentiert. An beidem fehlt es hier.
83
Soweit die Polizeidirektion pauschal einwendet, dass die betroffenen Orte außerhalb von Veranstaltungen kaum aufgesucht würden, kann dies nicht dazu führen, die Anforderungen an die Darlegung der in § 32 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 NPOG normierten tatbestandlichen Voraussetzungen zu modifizieren oder zu reduzieren. Unabhängig davon überzeugt dieser pauschale Einwand auch deshalb nicht, weil die streitgegenständlichen Standorte in dieser Hinsicht nicht einheitlich betrachtet werden können. Während es beispielsweise in Bezug auf den N. (580) nachvollziehbar erscheint, dass dieser Standort außerhalb von Veranstaltungen kaum aufgesucht wird, lässt sich dies etwa für den Standort O. (540) nicht in gleichem Maße feststellen. Denn beim O. handelt es sich um eine große, viel befahrene Straßenkreuzung, an der zudem die am Hauptbahnhof beginnende „P.“ - eine beliebte, teilweise als Fußgängerzone ausgestaltete Einkaufsstraße - endet und an der sich eine große U-Bahn-Station sowie diverse Bushaltestellen befinden. Aufgrund dieser örtlichen Gegebenheiten liegt es auf der Hand, dass dieser Standort auch außerhalb der von der Polizeidirektion in Bezug genommenen „vereinzelten Veranstaltungen“, bei denen die Kamera 540 aktiviert wird, regelmäßig von einer Vielzahl von Personen aufgesucht wird. Eine auf das jeweilige Kalenderjahr bezogene Statistik zu den an diesem Standort dokumentierten Straftaten lässt somit nicht den Rückschluss zu, dass die Straftaten im zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit den „vereinzelt“ stattfindenden Veranstaltungen begangen wurden. Schließlich kann auch ohne die Vorlage belastbaren Datenmaterials nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden, dass an allen betroffenen Standorten bei sämtlichen Veranstaltungen regelmäßig Straftaten begangen werden. Ein derartig allgemeiner, nicht mit Zahlen belegter und daher einer gerichtlichen Überprüfung nicht zugänglicher Erfahrungssatz ist nicht ausreichend, um für sämtliche im Rahmen des Unterlassungsbegehrens noch streitgegenständlichen Standorte das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen nach § 32 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 NPOG darzulegen.
84
II. Der vom Kläger in Bezug auf die Standorte 520 (G. Platz) und 566 (H.) gestellte Feststellungsantrag hat Erfolg. Er ist zulässig (1.) und begründet (2.).
85
1. Der Zulässigkeit des diesbezüglichen Klageantrags steht nicht entgegen, dass die Polizeidirektion die Kameras an den Standorten 520 und 566 nach ihren eigenen Angaben am 2. und 3. März 2020 demontiert hat. Zwar haben diese Demontagen - anders als eine schlichte Abschaltung weiterhin vorhandener Kameras - dazu geführt, dass sich die Hauptsache des Rechtsstreits in Bezug auf den Unterlassungsantrag aus tatsächlichen Gründen erledigt hat. Der Kläger hat auf diese Erledigung jedoch prozessrechtlich dadurch reagiert, dass er seinen ursprünglich auf Unterlassung der Bildübertragung und -aufzeichnung gerichteten Klageantrag auf eine Feststellungsklage nach § 43 Abs. 1 VwGO umgestellt hat. Eine solche Umstellung ist auch im Berufungsverfahren möglich (vgl. Möstl, in: Posser/Wolff, BeckOK VwGO, Stand: 1.7.2020, § 43, Rn. 7; zur Zulässigkeit einer Umstellung auf eine Fortsetzungsfeststellungsklage im Berufungsverfahren vgl. Senatsurt. v. 26. April 2018 - 11 LC 288/16 -, a.a.O., juris, Rn. 25, m.w.N.).
86
a) Nach § 43 Abs. 1 VwGO kann durch Klage u.a. die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses begehrt werden, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung hat. Unter einem Rechtsverhältnis im Sinne dieser Vorschrift sind die rechtlichen Beziehungen zu verstehen, die sich aus einem konkreten Sachverhalt aufgrund einer öffentlich-rechtlichen Norm für das Verhältnis von natürlichen oder juristischen Personen untereinander oder einer Person zu einer Sache ergeben (BVerwG, Urt. v. 28.5.2014 - 6 A 1/13 -, BVerwGE 149, 359, juris, 20; Möstl, in: Posser/Wolff, a.a.O., § 43, Rn. 1, jeweils m.w.N.). Gegenstand der Feststellungsklage kann auch ein vergangenes Rechtsverhältnis sein (BVerwG, Urt. v. 28.5.2014 - 6 A 1/13 -, a.a.O., juris, 20). Ein vergangenes Rechtsverhältnis liegt vor, wenn sich die Rechtsbeziehungen im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung bereits erledigt haben (Happ, in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 43, Rn. 18; Möstl, in: Posser/Wolff, a.a.O., § 43, Rn. 7). Die Erledigung kann dabei auch erst während eines bereits anhängigen Gerichtsverfahrens eintreten (Möstl, in: Posser/Wolff, a.a.O., § 43, Rn. 7). Da vergangene Rechtsverhältnisse immer die Anwendung von Rechtsnormen auf einen bestimmten Sachverhalt betreffen, liegt in solchen Fällen in der Regel auch ein hinreichend konkretes, feststellungsfähiges Rechtsverhältnis vor (vgl. Pietzcker, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand: Jan. 2020, § 43, Rn. 21). Die Feststellungsklage nimmt dabei für Fallkonstellationen, die mangels des Vorliegens eines Verwaltungsaktes nicht von § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO erfasst werden, für hoheitliches Handeln ohne Verwaltungsaktcharakter diejenige Funktion wahr, die die Fortsetzungsfeststellungsklage in Bezug auf Verwaltungsakte einnimmt (vgl. Möstl, in: Posser/Wolff, a.a.O., § 43, Rn. 7). Aus dieser Funktionsgleichheit folgt, dass auch bei der auf vergangene Rechtsverhältnisse bezogenen allgemeinen Feststellungsklage vergleichbar qualifizierte Anforderungen an das Feststellungsinteresse zu stellen sind, wie bei der Fortsetzungsfeststellungsklage (vgl. Senatsbeschl. v. 17.12.2018 - 11 LA 66/18 -, Veröff. n.b.; Sächsisches OVG, Beschl. v. 7.3.2014 - 3 A 798/13 -, juris, Rn. 7; Möstl, in: Posser/Wolff, a.a.O., § 43, Rn. 7 und Rn. 25; W.-R. Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, 25. Aufl. 2019, § 43, Rn. 25; Sodan, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 43, Rn. 90). Zu den diesbezüglich anerkannten Fallgruppen zählen die Wiederholungsgefahr, das Rehabilitationsinteresse, bei einer nach Klageerhebung eingetretenen Erledigung auch ein Präjudizinteresse, sowie sich kurzfristig erledigende Grundrechtseingriffe, bei denen Art. 19 Abs. 4 GG verlangt, dass ein effektiver Hauptsacherechtsbehelf zur Verfügung steht (vgl. Möstl, in: Posser/Wolff, a.a.O., § 43, Rn. 25; W.-R. Schenke, in: Kopp/Schenke, a.a.O., § 113, Rn. 136 ff.; Sodan, in: Sodan/Ziekow, a.a.O., § 43, Rn. 90 ff., jeweils m.w.N.).
87
b) Ausgehend von diesen Maßstäben ist vorliegend die Zulässigkeit der Feststellungsklage zu bejahen.
88
Zunächst liegt ein hinreichend konkretes, feststellungsfähiges Rechtsverhältnis vor, da es um die Anwendung konkreter Rechtsnormen - des § 32 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 2 i.V.m. Abs. 3 Satz 2 und Satz 3 NPOG -, auf einen bestimmten Sachverhalt - die bis zum 2. bzw. 3. März 2020 an den Kamerastandorten 520 und 566 erfolgte Bildübertragung und -aufzeichnung - geht, von der der Kläger als Einwohner Hannovers auch (potenziell) betroffen war.
89
Das für die Zulässigkeit der Feststellungsklage erforderliche berechtigte Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit ist vorliegend jedenfalls unter dem Gesichtspunkt der Wiederholungsgefahr gegeben. Eine Wiederholungsgefahr liegt vor, wenn die hinreichend bestimmte Gefahr besteht, dass unter im Wesentlichen unveränderten tatsächlichen und rechtlichen Umständen erneut eine gleichartige Maßnahme ergehen wird (BVerwG, Urt. v. 16.5.2013 - 8 C 14/12 -, juris, Rn. 20; Senatsurt. v. 22.9.2005 - 11 LC 51/04 -, NordÖR 2005, 536, juris, Rn. 32; BayVGH, Beschl. v. 12.5.2015 - 10 ZB 13.629 -, juris, Rn. 8; Sodan, in: Sodan/Ziekow, a.a.O., § 43, Rn. 91).
90
Die Polizeidirektion hat in diesem Zusammenhang vorgetragen, dass die eingesetzte Videotechnik an einigen Standorten nicht mehr dem gegenwärtigen Stand der Technik entspreche. Sie sei deshalb in ein Prüfungsverfahren eingetreten, um die alte Kameratechnik schrittweise durch eine zeitgemäße aktuelle Videoüberwachung zu ersetzen. Dabei seien zunächst die Kameras an den Standorten 520 und 566 demontiert worden. Am Standort 520 würden die entsprechende Halterung und die technischen Anschlüsse vor Ort weiter vorgehalten. Es werde allerdings auch erwogen, die Kamera an einem tiefer gelegenen Montageort anzubringen, der eine weniger steile Sichtperspektive ermögliche. Am Standort 566 fänden gegenwärtig Bauarbeiten statt, deren Fertigstellung Ende 2020 zu erwarten sei. Die weitere Nutzung des Standorts 566 sei erst wieder nach Abschluss der Bauarbeiten sinnvoll. Mit dem Ersatz beider Kameras sei aus haushaltswirtschaftlichen Gründen erst im Jahr 2021 zu rechnen.
91
Aus diesen Ausführungen geht hervor, dass die Polizeidirektion beabsichtigt, die Kamerastandorte 520 und 566 im Jahr 2021 unter im Wesentlichen unveränderten tatsächlichen und rechtlichen Umständen wieder in Betrieb zu nehmen. Der in Bezug auf den Standort 520 vorgebrachte Einwand, dass auch ein tiefer gelegener Montagestandort erwogen werde, der eine weniger steile Sichtperspektive ermögliche, steht der Annahme einer konkreten Wiederholungsgefahr nicht entgegen. Denn selbst wenn die neue Kamera im Jahr 2021 etwas tiefer oder leicht versetzt angebracht wird, als dies im Zeitraum von 2010 bis März 2020 der Fall war, führt dies nicht zu einer die Annahme einer Wiederholungsgefahr ausschießenden wesentlichen Veränderung der tatsächlichen und rechtlichen Umstände. Vielmehr bliebe es auch bei einer leichten örtlichen Verschiebung des Kamerastandorts dabei, dass die Örtlichkeit des G. Platzes einer auf § 32 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. Abs. 3 Satz 2 und Satz 3 NPOG gestützten Videobeobachtung und -aufzeichnung unterzogen würde.
92
Auch der weitere Einwand der Polizeidirektion, dass ein „Wiederbetrieb“ nur auf der Basis einer Neubewertung des jeweiligen Standorts erfolge, steht der Annahme einer Wiederholungsgefahr nicht entgegen. Wie die Polizeidirektion im anderen Zusammenhang selbst vorgetragen und dargelegt hat, werden die im Wirkungsbereich eines Kamerastandorts registrierten Straftaten bei sämtlichen Standorten stets einer jährlichen Überprüfung dahingehend unterzogen, ob der betroffene Standort auch zukünftig weiter betrieben wird. Der Einwand verweist somit lediglich auf eine Vorgehensweise, die für alle Standorte gilt und die im Übrigen durch die gesetzlichen Anforderungen vorgegeben ist; Besonderheiten in Bezug auf die Standorte 520 und 566 sind diesbezüglich weder dargelegt noch erkennbar. Vielmehr zeigt die Entwicklung dieser beiden Standorte in der Vergangenheit, dass die Polizeidirektion jedenfalls in den letzten zehn Jahren stets zu der Einschätzung gelangt ist, dass die ermittelten Daten eine (weitere) Videobeobachtung und -aufzeichnung rechtfertigen. Dass die Polizeidirektion selbst davon ausgeht, dass dies auch zukünftig der Fall sein wird, wird schließlich auch dadurch ersichtlich, dass sie am Standort 520 weder die Haltungsvorrichtungen abgebaut noch an beiden Standorten - nach dem insoweit unbestritten gebliebenen Vortrag des Klägers in der mündlichen Verhandlung - die zur Kenntlichmachung genutzten Aufkleber entfernt hat. Insgesamt besteht somit auch unter Berücksichtigung der von der Polizeidirektion vorgetragenen Einwände die hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass die Bildbeobachtung und -aufzeichnung an den Standorten 520 und 566 zukünftig unter im Wesentlichen unveränderten Umständen wiederaufgenommen wird.
93
2. Die auf die Kamerastandorte 520 und 566 bezogene Feststellungsklage ist auch begründet. Die an diesen Kamerastandorten von der Polizeidirektion durchgeführte Bildübertragung und -aufzeichnung war zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt des Eintritts des erledigenden Ereignisses (vgl. zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt bei Erledigung: Riese, in: Schoch/Schneider/Bier, a.a.O., § 113, Rn. 152; Decker, in: Posser/Wolff, a.a.O., § 113, Rn. 88) - hier die Demontage der Kameras Anfang März 2020 - rechtswidrig.
94
a) Hinsichtlich des Standorts 566, der die temporäre Videoüberwachung am H. betraf, bestehen - wie oben ausführlich dargelegt - keine Bedenken an der Verfassungsgemäßheit der maßgeblichen Normen in § 32 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. Abs. 3 Satz 2 und Satz 3 NPOG. Die Rechtswidrigkeit der bis zur Demontage der Kamera vorgenommenen Bildübertragung und -aufzeichnung folgt daraus, dass auch der Kamerastandort 566 nicht ausreichend i.S.d. § 32 Abs. 3 Satz 2 NPOG kenntlich gemacht war und die Polizeidirektion das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen für einen anlassbezogenen Betrieb nach § 32 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 NPOG nicht nachvollziehbar dargelegt hat. Insofern wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf obige Ausführungen zu den anderen Veranstaltungskameras, die Gegenstand des Unterlassungsbegehrens sind, verwiesen, die hinsichtlich des Standorts 566 entsprechend gelten.
95
b) Die am Standort 520 (G. Platz) durchgeführte dauerhafte Bildübertragung und -aufzeichnung kann grundsätzlich auf § 32 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. Satz 2 und Satz 3 NPOG gestützt werden. Auch die Vorschrift des § 32 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 NPOG ist verfassungsgemäß und insbesondere hinreichend bestimmt. Indem § 32 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 NPOG verlangt, dass an den beobachteten Orten „wiederholt Straftaten oder nicht geringfügige Ordnungswidrigkeiten begangen wurden und die Beobachtung zur Verhütung entsprechender Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten erforderlich ist“, wird deutlich, dass es hinsichtlich der betroffenen öffentlich zugänglichen Orte einer - nachprüfbaren und nachvollziehbaren - (statistischen) Erfassung von Straftaten oder nicht geringfügigen Ordnungswidrigkeiten sowie einer Prognoseentscheidung bedarf, dass die Beobachtung zur Verhütung entsprechender Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten erforderlich ist. Durch das Abstellen auf wiederholte Deliktsbegehungen wird die Videoüberwachung nach dieser Vorschrift auf solche Orte beschränkt, an denen die festgestellte Anzahl der Taten ein gewisses Gewicht und eine gewisse Regelmäßigkeit aufweisen, die den betroffenen Ort von anderen Orten in der jeweiligen Region unterscheiden (vgl. Albrecht, in: Möstl/Weiner, a.a.O., § 32, Rn.105; LT-Drucks. 18/850, S. 55). Im Übrigen gelten obige Ausführungen zur Verfassungsgemäßheit von § 32 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. Abs. 3 Satz 2 und Satz 3 NPOG entsprechend.
96
Anders als bei den Veranstaltungskameras spricht aus Sicht des Senats auch einiges dafür, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen nach § 32 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. Satz 3 NPOG in Bezug auf den Standort 520 vorlagen. Insbesondere hat der Senat keine grundsätzlichen Bedenken, dass die von der Polizeidirektion jeweils jährlich für die Zeit von 2008 bis 2018 vorgelegten Kriminalitätsstatistiken im Ausgangspunkt geeignet sind, ausreichende und einer gerichtlichen Überprüfung zugängliche Anknüpfungstatsachen darzustellen, die die Annahme rechtfertigen, dass im Wirkungsbereich des Kamerastandorts 520 künftig erneut Straftaten begangen werden. Die vom Kläger hinsichtlich der Erfassung dieser Daten vorgebrachten Einwände teilt der Senat nicht. Zudem lässt sich den vorgelegten Kriminalitätsstatistiken entnehmen, dass die an diesem Standort in den Jahren 2016 bis 2018 registrierten Straftaten gegenüber den Jahren 2014 und 2015 - worauf das Verwaltungsgericht bei seiner Entscheidung maßgeblich abgestellt hat - deutlich gestiegen sind. Auch gegenüber dem Durchschnitt der Jahre 2008 bis 2018 weist die Anzahl der Straftaten in den Jahren 2016 bis 2018 überwiegend eine steigende, über dem zehnjährigen Durchschnitt liegende Entwicklung auf. Aus diesen Zahlen wird somit auch ersichtlich, dass der festgestellten Anzahl der Taten ein gewisses Gewicht und eine gewisse Regelmäßigkeit zukommt. Auch im Vergleich zu anderen Standorten, zu denen die Polizeidirektion Statistiken für die Jahre 2008 bis 2018 bzw. teilweise auch für 2019 vorgelegt hat, lässt sich feststellen, dass die Anzahl der am Standort G. Platz dokumentierten Straftaten jedenfalls im oberen Bereich liegt.
97
Letztlich bedarf es hinsichtlich des Vorliegens der tatbestandlichen Voraussetzungen von § 32 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. Satz 3 NPOG vorliegend jedoch keiner abschließenden Entscheidung, weil auch die am Standort 520 erfolgte Bildübertragung und -aufzeichnung nicht ausreichend i.S.d. § 32 Abs. 3 Satz 2 NPOG kenntlich gemacht war und somit jedenfalls aus diesem Grund rechtswidrig war. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird hinsichtlich der ungenügenden Kenntlichmachung auf obige Ausführungen verwiesen, die für den Standort 520 entsprechend gelten.
98
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 2, 161 Abs. 2 Satz 1 VwGO.
99
Soweit die Beteiligten den Rechtsstreit in Bezug auf die Unterlassungsklage des Klägers hinsichtlich der von dem Beklagten nicht mehr betriebenen Kamerastandorte (501-518, 520, 525-528, 534-536, 542-543, 545, 547-550, 552-561, 566, 568-573 und 575) übereinstimmend in der Hauptsache für erledigt erklärt haben, entspricht es billigem Ermessen, dass der Beklagte die Verfahrenskosten trägt. Denn die Polizeidirektion hat durch die Aufgabe des Betriebs dieser Kamerastandorte die Erledigung herbeigeführt und sich dadurch zugleich in die Rolle der unterlegenen Partei begeben.
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Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 20. November 2018 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
1
Zwischen den Beteiligten streitig ist die Verpflichtung des Beklagten zur Kostenübernahme eines Tablets zwecks Teilnahme an einer iPad-Klasse als Zuschuss statt eines Darlehens.
2
Die am 9. Juli 2005 geborene Klägerin steht mit ihren Eltern und zwei Brüdern im fortlaufenden Bezug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Zuletzt bewilligte ihnen der Beklagte mit Bescheid vom 28. Februar 2018 Arbeitslosengeld II für April - Dezember 2018 in Höhe von 1.796,80 EURO monatlich und Januar - März 2019 in Höhe von 1.738,00 EURO monatlich. Als Einkommen wurde lediglich das Kindergeld für die drei Kinder berücksichtigt. Erwerbseinkommen wurde von der Bedarfsgemeinschaft nicht erzielt. Die Klägerin besuchte die 6. Klasse in der Oberschule H. – Schulzentrum III Garbsen. Sie erhielt ferner vom Beklagten die Pauschale für den persönlichen Schulbedarf gemäß § 28 Abs. 3 SGB II in Höhe von 100 EURO (Bescheid vom 28. Februar 2018) und im Zeitraum Juni 2017 – Januar 2018 Lernförderung nach § 28 Abs. 5 SGB II für die Fächer Deutsch, Mathematik und Englisch (Bescheid vom 24. Mai 2017).
3
Mit Schreiben vom 3. Dezember 2017 teilte das Lehrerteam des 6. Jahrganges den Eltern und Erziehungsberechtigten mit, dass ab Beginn des zweiten Schulhalbjahres im Februar 2018 alle Schüler des 6. Jahrgangs im Unterricht unterstützend ein iPad benutzen müssten, wobei diese Geräte nicht von der Schule, sondern von den Eltern zu finanzieren seien. Empfohlen werde die Anschaffung eines iPad 9.7 als Neugerät in der Version mit 32 GB Speicher. In der Klasse sollten einheitliche Geräte verwendet werden. Möglich sei statt eines Sofortkaufes auch ein Ratenkauf über die Firma I. (später im Laufe des Schuljahres über die Gesellschaft für digitale Bildung mbH) bei 12 Monatsraten zu 30,80 EURO, 24 Monatsraten zu 15,40 EURO oder 36 Monatsraten zu 10,90 EURO. Das Lehrerteam forderte im gleichen Schreiben „BuT berechtigte Familien“ auf, mit dem beigefügten Empfehlungsschreiben beim Jobcenter oder Sozialamt die Kostenübernahme für das iPad zu beantragen und im Falle einer Ablehnung Widerspruch einzulegen.
4
Daraufhin beantragte der Vater der Klägerin am 14. Dezember 2017 beim Beklagten die Übernahme der Kosten in Höhe von 461,90 EURO für ein iPad 9,7 (128 GB). Dabei kreuzte er auf der Bestellliste von den 5 angebotenen iPads mit unterschiedlicher Speicherkapazität die teuerste Variante an, und zwar in der Form des Sofortkaufes und nicht des als Alternative angegebenen Ratenkaufes. Der Beklagte lehnte mit Bescheid vom 19. Dezember 2017 und Widerspruchsbescheid vom 5. Februar 2018 den Antrag bestandskräftig ab.
5
Am 19. März 2018 beantragte die Klägerin beim Beklagten erneut die Kostenübernahme für ein iPad, weil andere Schüler durch einen Beschluss des Sozialgerichts Hannover diese Kosten erstattet erhielten. Dies lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 27. März 2018 unter Verweis auf den früheren Ablehnungsbescheid, in dem auf die bereits ausgeschöpfte Schülerpauschale nach § 28 Abs. 3 SGB II verwiesen worden war, ab. Den hiergegen gerichteten Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 14. Mai 2018 zurück. Am 31. Mai 2018 hat die Klägerin beim Sozialgericht Hannover Klage erhoben (Az.: S 5 AS 2031/18).
6
Die Klägerin hatte zusätzlich beim Beklagten die Gewährung eines Darlehens zwecks Anschaffung des benötigten iPads beantragt. Diesen Antrag lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 2. Oktober 2018 und Widerspruchsbescheid vom 25. Oktober 2018 ab. Hiergegen hat die Klägerin am 26. Oktober 2018 ebenfalls Klage erhoben (Az.: S 5 AS 3696/18). Das Sozialgericht hat den örtlichen Schulträger beigeladen und in der mündlichen Verhandlung am 20. November 2018 beide Rechtsstreite miteinander verbunden.
7
Die Klägerin hat erstinstanzlich vorgetragen, nur mit einem dem ihrer Klassenkameraden vergleichbaren iPad könne sie gleichberechtigt am Unterricht teilnehmen. Wenn sie in der Klasse nicht auf ein iPad der Schule zurückgreifen könne, bekomme sie gleiche oder vergleichbare Aufgaben wie ihre Klassenkameraden in Papierform. Dies gelte auch für die Hausaufgaben. Dadurch fühle sie sich ausgegrenzt. Ihre Eltern seien nicht in der Lage, ein Gerät zu mieten oder dieses über einen Mietkauf zu finanzieren.
8
Der Beklagte hat die Bereitstellung eines Darlehens als wenig sinnvoll angesehen, weil die Konditionen der Mietkauffinanzierung über die Schule günstiger gewesen wären.
9
Die Beigeladene hat darauf hingewiesen, dass bis zum Jahre 2022 die Ausstattung sämtlicher von ihr getragener Schulen mit der Quote von einem Gerät für fünf Schüler angestrebt werde. Eine Ausstattungsquote von 1:1 sei finanziell nicht leistbar. Diese Geräte müssten aber in der Schule verbleiben. Die Entscheidung darüber, ob Kinder Geräte anschaffen müssen, die sie mit nach Hause nehmen dürfen, obliege nicht dem Schulträger, sondern der einzelnen Schule. Die Einführung von Tablet-Klassen im Jahre 2018 bei der Oberschule H. für die Jahrgangsstufe 6 sei erst erfolgt, nachdem alle Eltern widerspruchslos dem zugestimmt hätten. Ansonsten wäre für die Kinder der widersprechenden Eltern bei entsprechender Anzahl eine Nicht-Tablet-Klasse eingerichtet worden.
10
Die Oberschule H. hat mit Schreiben vom 22. Juni 2018 mitgeteilt, dass Schüler, deren Eltern die Geräte nicht finanzieren könnten, kurzfristig für einzelne Stunden Leihgeräte der Schule erhalten könnten. Die 16 schuleigenen Geräte des Fördervereins reichten jedoch nicht für alle Klassen und alle 460 Schüler in allen Unterrichtsstunden aus. Zwar seien beim Schulträger mehrfach zusätzliche Geräte beantragt worden, was jedoch ohne Erfolg geblieben sei. Bei Quoten von bis zu 80 % der Schüler in einer Klasse, die Anspruch auf Leistungen für Bildung und Teilhabe hätten, sei auch in Zukunft nicht mit einer dauerhaften Lösung zu rechnen.
11
Der vom Sozialgericht als Zeuge vernommene J., Koordinator für die Tablet-Einführung an der Oberschule H., hat Folgendes bekundet: Der Mehrwert eines schülereigenen iPads liege darin, dass die Schüler dieses Gerät mit nach Hause nehmen dürften, während die vom Förderverein gestellten Tablets in der Schule verbleiben müssten. Ein weiterer Vorteil sei die ständige Verfügbarkeit im Unterricht, ohne auf den Medienkoffer anderer Klassen zurückzugreifen. Es sei auch nicht so, dass der Unterricht ausschließlich über Tablets erfolge. Diese würden unterstützend eingesetzt; die Kinder müssten nach wie vor auch klassische Bücher lesen. Die Entscheidung für die Firma Apple sei nach gründlicher Recherche bei anderen Schulen erfolgt. Diese Geräte seien relativ robust und hätten einen besseren Virenschutz als bei anderen Anbietern. Für den Klassenjahrgang der Klägerin seien die eigenen iPads nach entsprechenden Beschlüssen der Elternschaft und der zuständigen Gremien eingeführt worden. Tatsächlich gearbeitet damit werde erst ab August 2018. Da von einer Lebensdauer der Geräte von sechs Jahren auszugehen sei, habe die Schule den Eltern mitgeteilt, dass sie für die Zeit, während derer die Kinder an dieser Schule seien, kein neues Gerät anschaffen müssten. Die Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für digitale Bildung mbH sei notwendig geworden, weil der bisherige Partner I. die Lizenz von Apple für die Schulbetreuung verloren habe. Ein Rahmenvertrag existiere nicht. Für die Verwendung von Software - Apps müsse die Schule auf Unternehmen zurückgreifen, die über eine entsprechende Lizenz der Fa. Apple verfügten. Wenn die Eltern eines Kindes gesagt hätten, dass sie der Einführung von schülereigenen iPads nicht zustimmten, hätte dieses Kind auch kein iPad anschaffen müssen. Hätte bei der Klägerin zu dem Zeitpunkt, als die Entscheidung für die schülereigenen iPads angestanden habe, ein Elternteil nicht zugestimmt, wäre diese iPad-Klasse nicht eingerichtet worden. Vielmehr hätte die Schule diese Klasse dann als „ganz normale“ Schulklasse weiterlaufen lassen.
12
In der mündlichen Verhandlung am 20. November 2018 ist ferner K., Teamleiter bei der Gesellschaft für digitale Bildung mbH, zeugenschaftlich vernommen worden. Er hat u.a. hervorgehoben, dass die Klasse der Klägerin zwar noch von der L. ausgestattet worden sei. Die Gesellschaft für digitale Bildung mbH sei jedoch bereit gewesen, der Klägerin als Nachzüglerin einen Sofortkauf, Mietkauf oder die Miete eines entsprechenden Gerätes anzubieten. Eine Schufa-Auskunft werde dabei nicht eingeholt. Zusätzlich zu den Geräten würden Versicherungen und Schutzhüllen angeboten.
13
Auf die Frage an den Vater der Klägerin, aus welchen Gründen er und seine Frau einer Einführung als iPad-Klasse zugestimmt hätten, hat dieser geantwortet, sie seien davon ausgegangen, dass sie die Geräte nicht selbst finanzieren müssten, sondern dass das Geld vom Jobcenter zur Verfügung gestellt werde. Sie seien verschuldet und könnten diese Zusatzaufwendungen nicht selbst finanzieren.
14
Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 20. November 2018 den Bescheid des Beklagten vom 2. Oktober 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Oktober 2018 aufgehoben und den Beklagten verpflichtet, der Klägerin ein Darlehen für den Sofortkauf eines iPad 9.7 (32 GB) sowie einer Schutzhülle und einer Versicherung bei der Gesellschaft für digitale Bildung mbH zu gewähren und im Übrigen unter hälftiger Kostenbeteiligung des Beklagten die Klage abgewiesen sowie die Berufung zugelassen. In den Gründen hat das Sozialgericht ausgeführt, dass neben den Auszahlungen des Regelsatzes und der Schülerpauschale nach § 28 Abs. 3 SGB II die Klägerin vom Beklagten keine weitere Leistung als Zuschuss für den Schulunterricht verlangen könne. Ein Härtefallmehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II liege nicht vor, weil der Bedarf den Bewilligungszeitraum erheblich überschreite. Wenn das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen für Schulbücher im Bereich der Sekundarstufe II eine analoge Anwendung des § 21 Abs. 6 SGB II befürworte, könne dieser Ansatz nicht auf die Anschaffungskosten eines iPads in der Sekundarstufe I übertragen werden. Denn die Verpflichtung der Eltern zur Ausstattung ihrer Kinder mit Lernmitteln greife nicht bei Gegenständen, die – wie das iPad – zur Umsetzung der Kerncurricula nicht zwingend erforderlich seien. Die Klägerin habe aber zur Finanzierung des iPads einen Darlehensanspruch gemäß § 24 Abs. 1 Satz 1 SGB II.
15
Der Beklagte hat in Ausführung des Urteils der Klägerin mit Bescheid vom 15. Januar 2019 ein Darlehen in Höhe von 320 EURO gewährt und Tilgungsraten in Höhe von 30,20 EURO monatlich festgesetzt. Das Darlehen ist zwischenzeitlich getilgt.
16
Die Eltern der Klägerin haben für sie am 22. Februar 2019 im freien Handel ein iPad Apple WI-FI 32 GB für 328 EURO und eine Schutzhülle für 29,99 EURO gekauft.
17
Gegen das am 23. Januar 2019 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 24. Januar 2019 Berufung eingelegt. Sie trägt vor, das Schulbuchurteil des Bundessozialgerichts (BSG) sei auf andere einmalige kostenträchtige Schul- und Bildungsbedarfe übertragbar, weil der in den Regelbedarf eingeflossene Betrag strukturell zu niedrig sei und die Sondersituation einer iPad-Klasse vorliege, in der ein höherer, überdurchschnittlicher Bedarf auftrete. Schulbücher seien mit einem iPad vergleichbar, weil beide Lernmaterialien seien, die für alle Schüler der Klasse bei einem einheitlichen Schulalltag benötigt würden. Es könne nicht Sinn und Zweck des Gesetzes sein, Schüler in Ländern mit Lernmittelfreiheit schlechter zu stellen als in den Ländern ohne Lernmittelfreiheit. Das Landessozialgericht Schleswig-Holstein habe zutreffend entschieden (Beschluss vom 11. Januar 2019 – L 7 AS 238/18 B ER), dass es sich beim PC / Laptop um einen laufenden Bedarf handele, weil er zwar nur einmal bezahlt werde, dieser jedoch einen laufenden Bedarf erfülle, nämlich sachgerecht eine Schule zu besuchen, gleichberechtigt am Unterricht teilzunehmen und die Hausaufgaben erledigen zu können, ohne gegenüber Mitschülern benachteiligt zu sein.
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Die Klägerin beantragt,
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1. das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 20. November 2018 aufzuheben sowie den Bescheid des Beklagten vom 27. März 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Mai 2018 zu ändern,
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2. den Beklagten zu verurteilen, die Kosten der Klägerin für den Kauf eines iPads 9.7 (32 GB) sowie einer Schutzhülle in Höhe von insgesamt 357,99 EURO zu übernehmen.
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Der Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Der Beklagte verteidigt die erstinstanzliche Entscheidung.
24
Die Beigeladene hat sich im Berufungsverfahren nicht geäußert und keinen Antrag gestellt.
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Wegen des vollständigen Sachverhalts und des umfassenden Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten sowie auf die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die kraft Zulassung durch das Sozialgericht statthafte und im Übrigen zulässige Berufung der Klägerin ist unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen, soweit die Klägerin die Kostenübernahme für den Sofortkauf eines iPad 9.7 (32 GB) sowie einer Schutzhülle und einer Versicherung als Zuschuss verlangt. Eine Rechtsgrundlage für dieses Begehren ist nicht ersichtlich.
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1. Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist neben dem Bewilligungsbescheid des Beklagten vom 28. Februar 2018 für den Leistungszeitraum April 2018 – März 2019 der die Höhe der SGB II-Leistungen betreffende, für den Monat März 2018 ablehnende Bescheid des Beklagten vom 27. März 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Mai 2018 über die zusätzliche Schülerausstattung (iPad und Schutzhülle). Kein Gegenstand des Berufungsverfahrens ist die darlehensweise Leistungsgewährung nach § 24 Abs. 1 SGB II, nachdem das Sozialgericht den Bescheid des Beklagten vom 2. Oktober 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Oktober 2018 aufgehoben und den Beklagten verpflichtet hat, der Klägerin ein entsprechendes Darlehen zu gewähren, weil der Beklagte gegen dieses Urteil kein Rechtsmittel eingelegt hat.
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2. Die Klägerin erfüllt die allgemeinen Leistungsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II; ein Ausschlusstatbestand liegt nicht vor. Die ihr im Monat März 2018 zustehenden Regelsatzleistungen aus dem SGB II sind mit dem Bewilligungsbescheid vom 28. Februar 2018 richtig berechnet worden. Ein darüber hinaus gehender Anspruch steht der Klägerin neben der zusätzlich bewilligten Pauschale für den persönlichen Schulbedarf nach § 28 Abs. 3 SGB II nicht zu.
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3. Kosten für digitale Geräte sind zum einen bereits vom Regelbedarf im Sinne des § 20 Abs. 1 SGB II erfasst. Bei den regelbedarfsrelevanten Verbrauchsausgaben in der Abteilung 09 für Kinder von 6 bis unter 14 Jahren wird unter der laufenden Nummer 49 der Sonderauswertung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) 2013 ein Betrag von 2,88 EURO monatlich für Datenverarbeitungsgeräte sowie System- und Anwendungssoftware (einschließlich Downloads und Apps) angeführt. Als weitere einschlägige Positionen werden in derselben Abteilung 09 unter der laufenden Nummer 50 ein Betrag von 2,64 EURO monatlich für Bild-, Daten- und Tonträger sowie unter der laufenden Nummer 62 ein Betrag von 2,88 EURO monatlich für sonstige Gebrauchsgüter für Schule, Büro, Unterhaltung und Freizeit angeführt (Bundestagsdrucksache 18/9984 S. 66 und 67). Unerheblich ist es für den hier zu beantwortenden systematischen Zusammenhang, dass dieser Bedarf nicht unter der Rubrik Bildung (Abteilung 10) erfasst wird, weil es allein darauf ankommt, dass entsprechende Bedarfe vom Regelsatz erfasst sind, nicht aber, unter welcher Abteilung, zudem der Regelbedarf nach eigenem Gutdünken eingesetzt werden kann selbst für Dinge, die in der EVS gar nicht erfasst werden. Neben der Schülerbedarfspauschale entfallen mithin 8,40 EURO monatlich (100,80 EURO jährlich) auf das hier streitige Verbrauchsverhalten der Klägerin. Selbst wenn bei der Datenerhebung im Jahre 2013 Tablets ggf noch nicht weit verbreitet waren, muss ein iPad der Rubrik „Datenverarbeitungsgerät“ zugeordnet werden. Denn diese erfasst jedes entsprechende Gerät, unabhängig von der Frage, ob Daten durch einen fest installierten PC, ein Laptop oder ein Tablet verarbeitet werden. Dies bedeutet, dass der geltend gemachte Bedarf grundsätzlich vom Regelbedarf erfasst wird, auch wenn möglicherweise in unzureichender Höhe. Dies zu entscheiden obliegt dem Gesetzgeber. Verfassungsrechtliche Bedenken bestehen hiergegen nicht, weil ein Tablet nicht zur Sicherung des Existenzminimums eines Schülers zwingend erforderlich ist.
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4. Zum anderen sind auch in dem der Klägerin bereits bewilligten sog. Schülerstarterpaket nach § 28 Abs. 3 SGB II in der bis zum 31. Juli 2019 gültigen Fassung (a.F.) Kosten für die digitale Ausstattung von Schülerinnen und Schülern enthalten. Ein darüber hinaus gehender Anspruch der Klägerin besteht ebenfalls nicht. Nach § 28 Abs. 3 SGB II a.F. erhalten Schüler und Schülerinnen für die Ausstattung mit persönlichem Schulbedarf zum 1. August 70,00 EURO und zum 1. Februar eines jeden Jahres 30,00 EURO. Anknüpfend an die Vorläuferregelung des § 24a SGB II a.F. verfolgt das Schülerstarterpaket das Ziel, die Durchlässigkeit des Bildungssystems zu erhöhen und Leistungsberechtigte bei der Erlangung einer höheren Qualifikation zu unterstützen, damit Schülerinnen und Schülern die Anschaffung von Materialien ermöglicht wird, die für den Schulbesuch benötigt werden (Bundestagdrucksache 16/13429 S. 49). Zwar sollen Schulbedarfspauschalen nach der Gesetzesbegründung neben dem Schulranzen in erster Linie die jährlich benötigten Schreib-, Rechen- und Zeichenmaterialien abdecken (Bundestagsdrucksache 16/10809 S. 16). Die Erhöhung der Schülerpauschale um 30,00 EURO ab dem 1. August 2019 hat der Gesetzgeber aber damit begründet, dass insbesondere der zunehmenden Digitalisierung in der Schule Rechnung getragen werde und ein damit einhergehender erhöhter Bedarf erfasst werden müsse. Damit wird deutlich, dass der Gesetzgeber schon nach alter Rechtslage, wenn auch in geringerer Höhe, die anfallenden Kosten eines digitalen Einsatzes in der Schule mit der Schülerpauschale erfassen wollte.
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Das Bundesverfassungsgericht hat die Höhe des Regelsatzes in § 20 Abs. 1 SGB II und der Leistungen zur Bildung und Teilhabe nach § 28 SGB II grundsätzlich nicht als in verfassungswidriger Weise zu niedrig angesehen (Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 23. Juli 2014 – 1 BvL 10/12 -, SozR 4-4200 § 20 Nr. 20, Rdn. 122ff.). Es kann schon deshalb offen bleiben, ob die Schülerpauschale auskömmlich ist, weil – wie später zu zeigen sein wird (Ziffer 6) – der Gesetzgeber sich bei der hier streitigen Versorgung von Schülern mit Tablets anlässlich eines digitalen Unterrichts nicht für den Weg über das SGB II entschieden, sondern die Ausstattung über die Länder/Schulverwaltungen, die entsprechende Haushaltsmittel erhalten, vorgezogen hat.
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5. Ein Härtefallmehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II liegt nicht vor.
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a) Leistungsberechtigten wird nach § 21 Abs. 6 Satz 1 SGB II ein Mehrbedarf anerkannt, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, laufender, nicht nur einmaliger besonderer Bedarf besteht. Der Mehrbedarf ist nach § 21 Abs. 6 Satz 2 SGB II unabweisbar, wenn er insbesondere nicht durch die Zuwendung Dritter sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten der Leistungsberechtigten gedeckt ist und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht. Die Härteklausel ist auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 – 1 BvL 1/09 – (SozR 4-4200 § 20 Nr. 12) zurückzuführen, wonach ein in Sonderfällen auftretender Bedarf nicht erfasster Art oder atypischen Umfanges in der EVS nicht aussagekräftig ausgewiesen wird und deshalb durch eine besondere Regelung aufgefangen werden muss. Er entsteht aber erst, wenn der Bedarf so erheblich und untypisch ist, dass die Gesamtsumme der dem Hilfebedürftigen gewährten Leistungen das menschenwürdige Existenzminimum nicht mehr gewährleistet. Diese Voraussetzungen sind im Falle der Klägerin nicht erfüllt.
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b) Als erste Anspruchsvoraussetzung nach § 21 Abs. 6 SGB II ist eine laufende und nicht nur einmalige Bedarfslage erforderlich.
35
aa) - Das ist der Fall, wenn der Bedarf regelmäßig wiederkehrt, dauerhaft oder längerfristig besteht; für die Beurteilung der Regelmäßigkeit ist auf den Bewilligungsabschnitt abzustellen (Bundestagsdrucksache 17/1465 S. 9). Die Neuanschaffung muss deshalb innerhalb eines Jahres nicht nur einmal getätigt worden sein. Um dem systematischen Zusammenhang im Leistungsregime des SGB II Rechnung zu tragen, wonach regelmäßig laufende Bedarfe, die nicht vom Regelsatz ausreichend erfasst sind, zusätzlich über die Härtefallklausel des § 21 Abs. 6 SGB II zu decken sind, während einmalige Bedarfsspitzen für Kosten, die aus dem Regelsatz zu bestreiten sind, nur darlehensweise gemäß § 24 Abs. 1 SGB II abgedeckt werden, ist der Anwendungsbereich des § 21 Abs. 6 SGB II nicht eröffnet, wenn ein Verbrauchsgut nur einmal erworben wird, auch wenn die Nutzung sich auf einen längeren Zeitraum erstreckt (BSG, Urteil vom 12. September 2018 - B 4 AS 33/17 R -, SozR 4-4200 § 20 Nr. 24, Rdn. 38).
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bb) - Unzutreffend ist die Auffassung einer anderen Kammer des Sozialgerichts Hannover in einem Parallelrechtstreit (Berufungsverfahren L 7 AS 505/19), dass iPad und Schulsoftware als Einheit und somit beide als laufender Bedarf anzusehen seien. Das Tablet ist als Hardware von der Unterrichtssoftware, die zusätzlich in jedem Schuljahr erworben werden muss und insoweit mit den Schulbüchern vergleichbar ist, strikt zu unterscheiden. Eine Trennung ist unproblematisch möglich. Die Waschmaschine als klassischer, einmaliger Bedarf (vgl. Bundestagsdrucksache 17/1465 S. 8) wird auch nicht zum laufenden Bedarf, weil in der Folgezeit Strom, Wasser und Spülmittel benötigt werden bzw. Wartung und Reparaturen anfallen.
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cc) - Für die Anwendung des § 21 Abs. 6 SGB II genügt jedoch, wenn der geltend gemachte Mehrbedarf prognostisch typischerweise nicht nur ein einmaliger Bedarf ist (ausführlich: Köhler in Hauck/Noftz, SGB II, Stand: März 2020, § 21 Rdn. 74). Das trifft z. B. auf den Bedarf für Schulbücher zu, die bei fehlender Lernmittelfreiheit typischerweise nicht nur einmalig oder auch nicht nur einmalig in einem Schuljahr anzuschaffen sind, sondern prognostisch laufend während des mehrjährigen Schulbesuches (BSG, Urteil vom 8. Mai 2019 – B 14 AS 13/18 R -, SozR 4-4200 § 21 Nr. 31, Rdn. 29). Erforderlich ist weiterhin, dass der Zeitpunkt der Neuanschaffung im Voraus genau feststeht und dass diese Ausgabe mehrmals anfallen wird. Anders als Schulbücher wird das hier streitige iPad jedoch nur einmal erworben und nicht in jedem Schuljahr laufend von neuem. Das hat der Zeuge X. bestätigt. Die Schule geht davon aus, dass die Lebensdauer der Geräte sechs Jahre beträgt. Die Eltern sind von der Schule darüber informiert worden, dass sie für die folgenden Schuljahre kein weiteres Gerät anschaffen müssen.
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c) § 21 Abs. 6 Satz 1 SGB II verlangt ferner, dass der Bedarf in einer atypischen Lebenslage entstanden ist. Die Atypik kann sich sowohl daraus ergeben, dass der Bedarf bereits seiner Art nach nicht bei der Ermittlung des Regelbedarfes berücksichtigt wurde, als auch daraus, dass er an sich zwar vom Regelbedarf erfasst ist, aber aufgrund besonderer Lebensumstände seiner Höhe nach in atypischem Umfang anfällt (Bundestagsdrucksache 17/1465 S. 8). Der Härtefallmehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II hat aber nicht die Funktion, unzureichende Regelleistungen aufzustocken, auch wenn dies aus sozialpolitischer Sicht sinnvoll wäre.
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aa) - Eine derartige Atypik ist hier nicht feststellbar. Der digitale Schulbedarf eines Kindes ist, wie ausgeführt, dem Grunde nach im Regelbedarf nach § 20 Abs. 1 SGB II und in den Teilhabeleistungen nach § 28 Abs. 3 SGB II aF erfasst, deren Höhe nicht evident unzureichend ist. Zwar hat das BSG eine Atypik und einen strukturell unzutreffend erfassten Bedarf für Schüler angenommen, die – wie in Niedersachsen – Schulbücher mangels Lernmittelfreiheit selbst kaufen müssen (BSG, Urteil vom 8. Mai 2019 – B 14 AS 13/18 R -, SozR 4-4200 § 21 Nr. 31). Diese Entscheidung mag auf die Software und auf die Lizenz für die verwendeten Apps im Digitalunterricht übertragbar sein – was hier offenbleiben kann -, nicht aber auf das Tablet selbst. Denn die Deckung von Bedarfen für den Schulunterricht, die der Durchführung des Unterrichts selbst dienen, liegt in der Verantwortung der Schule und darf von den Schulen oder Schulträgern nicht auf das Grundsicherungssystem abgewälzt werden (BSG, Urteil vom 10. September 2013 – B 4 AS 12/13 R -, SozR 4-4200 § 28 Nr. 8 juris Rdn. 27). Folglich muss ein Tablet in einer iPad-Klasse wie bei der sonstigen Logistik, z.B. einer Tafel oder einem Overheadprojektor, von der Schule selbst gestellt werden. Die Anschaffung der Hardware für den digitalen Schulunterricht durch die Eltern betrifft Länder mit Lernmittelfreiheit und ohne eine solche gleichermaßen. Entscheidet sich eine niedersächsische Schule zur Einrichtung von iPad-Klassen, muss sie nach dem Runderlass des Niedersächsischen Kultusministeriums vom 01.01.2013 den Erziehungsberechtigten sowie den volljährigen Schülerinnen und Schülern anbieten, Lernmittel gegen ein Entgelt auszuleihen, wobei Empfänger von Leistungen nach dem SGB II von der Zahlung des Entgelts freizustellen sind.
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bb) - Die Atypik kann darüber hinaus nicht damit gerechtfertigt werden, dass der Bedarf eines Schülers in einer iPad-Klasse erheblich von dem typischen Bedarf eines sonstigen Schülers abweicht und in überdurchschnittlicher Höhe anfällt. Das BSG hat nämlich bei einem grundsätzlich vom Regelbedarf umfassten einmaligen Bedarf Unterdeckungen in erheblicher Höhe, nämlich von 217,00 EURO (BSG, Urteil vom 12. September 2018 – B 4 AS 33/17 R –, SozR 4-4200 § 20 Nr. 24, Rdn. 35 f.) und sogar von 600,00 bis 750,00 EURO (BSG, Urteil vom 29. Mai 2019 – B 8 SO 8/17 R -, SozR 4-4200 § 24 Nr. 8, vgl. dazu den vollständigen Tatbestand in LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 27. April 2017 - L 8 SO 234/16 -), als unproblematisch angesehen. Zwar geht es bei der Anschaffung von Tablets, insbesondere bei den hochpreisigen Geräten der Firma Apple, wie vorliegend die Schule dies vorschreibt, um beachtliche Beträge, deren Finanzierung zusätzlich zu den laufenden Lebenshaltungskosten nicht nur in Haushalten von Empfängern von Grundsicherungsleistungen erhebliche Anstrengungen erfordert. Eine atypische Lebenssituation ist aber insbesondere nicht im Vergleich zu den Beziehern von Kinderzuschlag oder den Familien darstellbar, die trotz Erwerbstätigkeit der Eltern nur geringfügig die Schwelle zur Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II überschreiten. Zudem ist oben bereits hervorgehoben worden, dass im Regelbedarf für Kinder bis zu 14 Jahren jährlich ca. 100,00 EURO im Zusammenhang mit der Digitalisierung des Schulunterrichts enthalten sind. Hinzu kommt die Schülerpauschale gemäß § 28 Abs. 3 SGB II a.F. in Höhe von 100,00 EURO im Jahr. Da zur Deckung der Digitalisierungsbedarfe also zusätzlich zu der Ansparrate des Regelsatzes jährlich die genannten Leistungen zufließen, das iPad aber nur einmalig als Bedarf anfällt, ist nur sicher zu stellen, dass die einmalige Anschaffung im Bedarfsfalle durch Darlehen gemäß § 24 Abs. 1 SGB II zwischenfinanziert wird. Dadurch wird auch SGB II – Leistungsempfängern ermöglicht, an einer iPad – Klasse teilzunehmen und eine Stigmatisierung dieses Personenkreises ist deshalb nicht zu befürchten.
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cc) – Eine Atypik kann ferner nicht durch die nachträglichen Erfahrungen des online-Schulbetriebs im Frühjahr anlässlich der COVID 19 – Pandemie begründet werden. Trotz Befreiung von der Präsenzpflicht verfügten die Schüler in dieser Zeit bereits über Schulbücher, Arbeitshefte, Atlanten usw., mit denen sie weiterhin zu Hause arbeiten konnten. Ein Tablet war während dieser Phase nicht erforderlich, auch nicht, um eventuelle online-Schulangebote in Anspruch zu nehmen. Die Schüler haben lediglich eine Möglichkeit benötigt, um mit den Lehrern zu kommunizieren und sich auf die Schulplattform einwählen zu können, damit sie über Hausaufgaben und Ähnliches informiert werden. Hierfür wurden allenfalls ein PC und möglicherweise ein Drucker benötigt, die, falls im elterlichen Haushalt nicht vorhanden, gebraucht beide unter 100 EURO (www.gebrauchtcomputer24.de) - also in Höhe der Pauschale für den persönlichen Schulbedarf - erworben werden konnten. Anders als bei einer iPad-Klasse wurde während des pandemiebedingten online-Schulbetriebs von keinem Schüler verlangt, dass er zusätzlich zu den reinen Anschaffungskosten auch interne Aufwendungen der Schule für die weitere Logistik und Betreuung - vgl. unten zu d) cc) - übernehmen muss, was die erhebliche Differenz zwischen dem Handelspreis eines Tablets und dem an den Dienstleister der Schule abzuführenden Betrag erklärt. Ein Vergleich mit der besonderen Situation während der COVID 19 – Pandemie ist deshalb nicht schlüssig.
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d) Schließlich ist ein unabweisbarer Bedarf im Sinne des § 21 Abs. 6 SGB II nicht feststellbar.
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aa) - Grundsätzlich ist bei Anwendung des Statistikmodells für die Ermittlung des Regelbedarfes davon auszugehen, dass der Hilfebedürftige in der Regel sein individuelles Verbrauchsverhalten so gestaltet, insbesondere durch den Ausgleich zwischen verschiedenen Bedarfspositionen und durch das Zurückgreifen auf das Ansparpotential, dass er mit dem Pauschalbetrag auskommt. Ein statistisch nicht erfasster laufender Bedarf ist jedoch über die Härtefallregelung des § 21 Abs. 6 SGB II aufzufangen, soweit dieser unabweisbar ist. Das Bundesverfassungsgericht geht in seiner Regelsatz-Entscheidung davon aus, dass ein solch unabweisbarer Bedarf „im Angesicht seiner engen und strikten Tatbestandsvoraussetzungen nur in seltenen Fällen entstehen wird“ (Urteil vom 9. Februar 2010 – 1 BvL 1/09 -, SozR 4-4200 § 20 Nr. 12 Rdn. 208). Der Kauf eines Tablets zwecks Teilnahme an einer iPad-Klasse stellt keinen unabweisbaren Bedarf dar, um im Einzelfall das menschenwürdige, soziokulturelle Existenzminimum eines Schülers zu sichern.
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bb) - Es steht außer Streit, dass ein notwendiger Schulbedarf, also Aufwendungen zur Erfüllung schulischer Pflichten, der zwingend anlässlich der Schulbildung von Kindern und Jugendlichen entsteht, unabweisbar und grundsätzlich über SGB II-Leistungen zu liquidieren ist. Ob ein Schulbedarf notwendig ist, muss allerdings nach objektiven Kriterien bestimmt werden und darf nicht durch die einzelnen Schulen normativ und grundsicherungsrechtlich verbindlich vorgegeben werden. Beim unabweisbaren Bedarf im Sinne des § 21 Abs. 6 SGB II muss nämlich hinsichtlich des Standards auf die herrschenden Lebensgewohnheiten unter Berücksichtigung einfacher Verhältnisse abgestellt werden (BSG, Urteil vom 20. August 2009 – B 14 AS 45/08 R -, SozR 4-4200 § 23 Nr. 5; BSG, Urteil vom 10. September 2013 – B 4 AS 12/13 R -, SozR 4-4200 § 28 Nr. 8 Rdn. 29). Nach diesen Maßstäben stellt die Anschaffung eines Tablets, solange nicht alle Schüler, insbesondere die aus einkommensschwachen Familien knapp oberhalb des SGB II-Bezuges oder auch Bezieher von Kinderzuschlag nach § 6a Bundeskindergeldgesetz, von der Schulverwaltung mit einem iPad versorgt werden, einen Luxus dar und keinen im Sinne des § 21 Abs. 6 SGB II notwendigen Schulbedarf. Dabei verkennt der Senat nicht, dass die Herausforderung des digitalen Wandels auch eine spezifische digitale Bildung erfordert. Denn der Umgang und das Lernen mit digitalen Medien vermitteln Schlüsselkompetenzen für eine digital geprägte Welt und bereiten auf die Qualifikationsanforderungen der digital geprägten Arbeitswelt vor. Das bedeutet aber, dass Bildungsgerechtigkeit die digitale Teilhabe aller Schüler einkommensschwacher Familien voraussetzt und nicht nur der SGB II –Leistungsbezieher. Das gilt umso mehr, als die Schulen sich für hochpreisige Geräte einer einzelnen Firma entschieden haben und der dafür aufzuwendende Betrag je nach Schule für das im Wesentlichen gleiche Gerät (32 GB) erheblich voneinander abweicht (Berufungssache L 7 AS 219/19: 575 EURO, L 7 AS 543/19: 510 EURO, L 7 AS 505/19: 380 EURO, L 7 AS 199/19: 330 EURO, bei der BBS Rinteln: 289 EURO). Die Bundesregierung hat übrigens bei der Berechnung des 5,5 Milliarden umfassenden Digitalschule-Pakets von Bund und Ländern im August 2020 einem Betrag von 150 EURO pro Endgerät zugrunde gelegt (www.bundesregierung.de/breg-de/service/publikationen/digitalpaket-schule-das-smarte-klassenzimmer).
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Zu unterschiedlich ist auch die Handhabung durch die jeweilige Schule, die nicht immer – wie vorliegend – ihre Verantwortung auf die Eltern bzw. auf das Jobcenter abwälzt. So hat z.B. die Integrierte Gesamtschule M. (Berufungsverfahren L 7 AS 219/19) neben der Option eines Sofortkaufes bzw. Ratenkaufes über die Gesellschaft für digitale Bildung vorbildlich die Möglichkeit eines privatrechtlichen Leihvertrages mit der Schule selbst zur Verfügung gestellt. Dabei bleibt das Leihgerät Eigentum der Schule und muss lediglich auf Aufforderung der Schulleitung während der Ferien in der Schule verbleiben. Von den Schülern zu entrichten ist dafür eine einmalige Leihgebühr von 50 EURO, die bei endgültiger Rückgabe des Gerätes erstattet wird.
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cc) Zweifel an der Unabweisbarkeit des Bedarfs bestehen auch deshalb, weil infolge der Abwicklung durch einen externen Dienstleister die Klägerin nicht nur die Kosten für die Anschaffung eines Tablets zu zahlen hat, sondern auch für interne Kosten der Schule aufkommen müsste, die eindeutig nicht dem Leistungskatalog des SGB II zuzuordnen sind. Mit dem im Vergleich zum üblichen Handelspreis überhöhten Betrag zahlt der Schüler nicht nur den Wert des Tablets, sondern auch Leistungen, die die Fa. Apple bzw. die Gesellschaft für digitale Bildung GmbH an die Schule erbringt, z.B. die Steuerung über einen Zentralrechner, Administration, Konfiguration, Verwaltung von Apps und iClouds, Betreuung und Schulung des Lehrkörpers. Allein deswegen ist die sonst naheliegende Schlussfolgerung, der unabweisbare Bedarf ergebe sich zwingend daraus, dass die Schule die Verwendung eines iPads vorschreibe, nicht überzeugend. Der wesentliche Unterschied zu der Definitionsmacht der Schule anlässlich Schulausflügen und Klassenfahrten in § 28 Abs. 2 SGB II besteht nämlich darin, dass es dort um die Vermittlung von Lerninhalten durch bestimmte Schulaktivitäten geht, während bei den iPad – Klassen die technische Ausstattung der Schule und die Bereitstellung eines neuen Lernhilfsmittels im Vordergrund stehen.
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dd) - Die Annahme eines unabweisbaren Bedarfs scheitert vorliegend auch daran, dass die Teilnahme der Klägerin an einer iPad-Klasse weder von der Schule vorgeschrieben noch zur Erfüllung des Bildungsauftrags erforderlich war. Der Begriff der Unabweisbarkeit des Bedarfes beinhaltet nach Rechtsprechung des BSG aber, dass der Bedarf auch nicht durch alternative Handlungen abgewendet oder vermindert werden kann (BSG, Urteil vom 1. Juni 2010 – B 4 AS 63/09 R -). Nach Aussage des Zeugen J., Koordinator für Tablet-Klassen an der Oberschule H., steht aber fest, dass die iPad-Klassen ausschließlich mit Zustimmung der Eltern eingeführt wurden. Hätten die Eltern der Klägerin der Einführung von schülereigenen iPads nicht zugestimmt, hätte die Klägerin auch kein iPad anschaffen müssen. Die Schule hätte dann eine ganz normale Schulklasse eingerichtet, in die die Klägerin gekommen wäre. Auch unter diesen Umständen hätte die Klägerin den Schulabschluss erreichen können. Die Teilnahme an einer iPad-Klasse war damit weder schulrechtlich erforderlich noch ist sie grundsicherungsrechtlich in der Weise geschützt, dass alle SGB II - Leistungsempfänger vom Jobcenter ein Tablet erhalten müssen. Es darf nicht übersehen werden, dass der SGB II - Gesetzgeber nicht jede Kostenübernahme anlässlich der Entscheidung der Eltern, welche Schule mit welchem Schwerpunkt ihre Kinder besuchen sollen, in Aussicht stellt, wie die differenzierte Regelung für die Schülerbeförderungskosten in § 28 Abs. 4 SGB II zeigt. Der Klägerin wäre deshalb auch zuzumuten, in eine Klasse ohne iPad-Nutzung zu wechseln, zudem der Senat vor diesem Hintergrund sogar einen Schulwechsel nicht von vornherein als unzumutbar ansieht (Urteil vom gleichen Tage in der Berufungssache: L 7 AS 505/19 und L 7 AS 543/19).
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ee) - Ein unabweisbarer Bedarf ist schließlich auch deshalb zu verneinen, weil für die mittellose Familie der Klägerin selbst bei deren Teilnahme an dem schulischen Angebot einer iPad-Klasse kein Sofortkauf eines Tablets angezeigt war. Unerheblich ist es, dass die Eltern der Klägerin der Teilnahme an einer iPad-Klasse zugestimmt haben, weil sie davon ausgegangen sind, dass das Jobcenter das Geld für einen Sofortkauf zur Verfügung stellen würde. Als zumutbare Alternative zum Sofortkauf kam der Mietkauf eines iPads in Betracht. Die auf 36 Monate anfallenden Raten von 10,90 EURO monatlich hätte die Klägerin ohne Probleme aufbringen können, wie nicht zuletzt die Tilgung des gewährten Darlehens mit höheren monatlichen Aufrechnungsbeträgen (30,20 EURO) beweist.
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6. Eine analoge Anwendung des § 21 Abs. 6 SGB II ist ausgeschlossen, weil digitaler Schulbedarf – wie ausgeführt - dem Grunde nach vom Regelsatz oder von den ergänzenden Bedarfen für den Schulbesuch in § 28 SGB II erfasst wird und deshalb eine planwidrige Regelungslücke nicht zu erkennen ist (Wietfeld, NZS 2019, 801, 807; Schwabe in Gagel, SGB II/SBG III, Stand: März 2020, § 28 SGB II Rdn. 20; Knickrehm in Festschrift Kothe, S. 733). Die Annahme einer planwidrigen Regelungslücke würde dem Zweck dieser Vorschrift, Bedarfsspitzen für einmalige Anschaffungen, die dem Grunde nach durch die Regelleistung erfasst werden, durch einen Zuschuss aufzufangen, und dem systematischen Zusammenhang dieser Vorschrift mit § 24 Abs. 1 SGB II zuwiderlaufen, wonach laufende Bedarfe, die eigentlich durch die Regelleistung erfasst sein müssten, durch Darlehen gedeckt werden. Eine analoge Anwendung würde ferner dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers widersprechen, der die Ausgaben für Datenverarbeitungsgeräte in der Regelleistung und den zusätzlichen digitalen Schulbedarf in der Schulbedarfspauschale in § 28 Abs. 3 SGB II erfasst hat. Zudem spricht gegen eine planwidrige Regelungslücke die vom Gesetzgeber während der COVID 19 – Pandemie bestätigte Zuordnung der hier streitigen Bedarfe an ein Leistungssystem außerhalb des SGB II. Die Parlamentsmehrheit hat die von vielen Stellen geforderte (vgl. z.B. Bundestagsdrucksache 19/18945) einmalige Erhöhung der Schülerbedarfspauschale für Kinder und Jugendliche einkommensarmer Haushalte zum Kauf eines schulgebundenen mobilen Endgeräts, um nach den Schulschließungen den online-Austausch mit den Lehrern zu ermöglichen, mit der Begründung abgelehnt, dies sei Aufgabe der Schulverwaltungen, und stattdessen den Ländern 5,5 Milliarden EURO als Bedarfspaket „Digitales Klassenzimmer“ zur Verfügung gestellt hat (vgl. https://www.mk.niedersachsen.de/startseite/aktuelles/presseinformationen/47-millionen-euro-fur-digitale-endgerate-188407.html). Hält ein Gericht diese Gesamtregelungen im Hinblick auf das durch das SGB II zu sichernde soziokulturelle Existenzminimum für nicht auskömmlich, muss es diese Frage dem Bundesverfassungsgericht vorlegen. Das Gericht darf aber nicht im Wege einer analogen Anwendung seine eigene Meinung an die Stelle der vom Gesetzgeber getroffenen Regelung setzen.
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7. Soweit Entscheidungen vereinzelt einen Anspruch auf bestimmte, nach dem Leistungsregime des SGB II nicht als Zuschuss vorgesehene Schulbedarfe mit Hinweis auf die Stellung des Jobcenters als „Ausfallbürgen“ begründen, liegt diesem Ansatz ein Missverständnis höchstrichterlicher Rechtsprechung zugrunde, die folglich nicht auf iPad-Klassen übertragbar ist. Der 14. Senat des BSG hat in seiner Schulbuch-Entscheidung (Urteil vom 8. Mai 2019 - B 14 AS 6/18 R -, Rdn. 31) die Figur des Jobcenters als „Ausfallbürgen“ nur für die Sondersituation des vom Regelbedarf nicht erfassten und atypischen Bedarfes für Schulbücher bemüht, wenn in einem Bundesland keine Lernmittelfreiheit besteht. Ein iPad wird aber als Datenverarbeitungsgerät vom Regelbedarf erfasst und tangiert die Frage der fehlenden Lernmittelfreiheit in Niedersachsen nicht. Nichts Anderes ergibt sich aus der Rechtsprechung des 8. Senates des BSG zum Eingliederungshilferecht. Danach hat der Sozialhilfeträger bei einem wesentlich behinderten Kind eine nachrangige Leistungspflicht für die Kosten eines Schulbegleiters (BSG, Urteil vom 9. Dezember 2016 - B 8 SO 8/15 R -, SozR 4-3500 § 53 Nr. 5, Rdn 30) bzw. für die Schülerbeförderung (BSG, Urteil vom 21. August 2017 - B 8 SO 24/15 R -, SozR 4-3500 § 54 Nr. 16, Rdn. 18), selbst wenn der Schulträger (möglicherweise rechtswidrig) diese Leistungen nicht erbringt, aber nur dann, wenn eine Hilfe außerhalb des Kernbereichs pädagogischer Arbeit im Streit steht. Selbst wenn vorliegend die Umstellung auf den digitalen Schulunterricht den Kernbereich pädagogischer Arbeit nicht berühren sollte, unterscheiden sich die vom BSG entschiedenen Fälle zu der vorliegenden Fallkonstellation darin, dass ohne Schulassistenz bzw. ohne Beförderung zur Schule mit einem Spezialfahrzeug das behinderte Kind überhaupt nicht an irgend einem Schulbetrieb hätte teilnehmen können. Bei dem hier streitigen Verbraucherverhalten sind aber auch ohne Teilnahme an einer iPad-Klasse der Schulbesuch sowie das Erreichen des Schulabschlusses möglich. Eine über die Gewährung eines Darlehens nach § 24 Abs. 1 Satz 1 SGB II hinausgehende Einstandspflicht des Grundsicherungsträgers als „Ausfallbürgen“ besteht für den Kauf eines iPad nach geltendem Recht nicht.
51
8. Als Anspruchsgrundlage scheidet § 73 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) aus, obwohl diese Regelung gemäß § 5 Abs. 2 SGB II auch bei Leistungsberechtigten nach dem SGB II grundsätzlich Anwendung findet. Danach können Leistungen auch in sonstigen Lebenslagen erbracht werden, wenn sie den Einsatz öffentlicher Mittel rechtfertigen. Geldleistungen können als Beihilfe oder als Darlehen erbracht werden. Diese Voraussetzungen sind aber nicht erfüllt. Zwar erfasst § 73 SGB XII anders als § 21 Abs. 6 SGB II auch einmalige Bedarfe. Der Einsatz öffentlicher Mittel nach dieser Vorschrift ist aber nur dann gerechtfertigt, wenn die Bedarfssituation einer „sonstigen Lebenslage“ vorliegt, die thematisch den Bedarfslagen des SGB II nicht zuzuordnen sind (Schlette in Hauck/Noftz, SGB XII, Stand: Februar 2020, § 73 Rdn. 4; BSG, Urteil vom 29. Mai 2019 - B 8 SO 8/17 R -, SozR 4-4200 § 24 Nr. 8 Rdn.15).
52
Der Bedarf für den Schulunterricht ist – wie ausgeführt – von Leistungen des SGB II erfasst. Schon daher rechtfertigt die Anschaffung von hochpreisigem Schulmaterial zwecks Teilnahme an einem Schulangebot wie bei einer iPad-Klasse keinen Einsatz von Sozialhilfeleistungen nach § 73 SGB XII.
53
Es kommt hinzu, dass die Oberschule H. durch die Vorgabe, nur Geräte eines bestimmten Herstellers zu dulden, gegen ihre Neutralitätspflicht verstoßen hat. Anders als bei den Schulbüchern, die jedes Schuljahr gewechselt und somit jederzeit bei einem anderen Verlag bestellt werden können, ist diese Option bei einem iPad und den damit durch Lizenz verbundenen Anwendungen eines bestimmten Herstellers für die Folgejahre nicht gegeben. Des Weiteren wird dieser Hersteller durch die Schule nicht nur mit einer exklusiven, ohne jegliche Ausschreibung veranlassten Schulausstattung begünstigt; vielmehr verschafft ihm die Schule durch die Produktplatzierung seines Einstiegsgeräts am Markt zu Lasten der Mitbewerber einen zusätzlichen Kundenstamm, damit die Schüler später weitere, teure; aber mit dem iPad vernünftigerweise zu verbindende Produkte der Fa. Apple (z.B. iPhone, Apple-Watch) erwerben können. Dieser Rechtsbruch darf nicht durch den Einsatz öffentlicher Mittel nach § 73 SGB XII unterstützt werden.
54
9. Die Kostenentscheidung beruht auf Anwendung des § 193 Abs. 1 und 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Über die Kostenregelung des Sozialgerichts hinaus haben die Beteiligten einander keine Kosten zu erstatten.
55
Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG) zugelassen.
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Tenor
Die Einspruchsentscheidung vom 19. November 2015 wird aufgehoben. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens trägt der Kläger.
1Tatbestand
2Zwischen den Beteiligten ist strittig, ob der Beklagte die Einkommensteuer und die Umsatzsteuer für die Streitjahre (2007 bis 2012) zutreffend festgesetzt hat oder dabei zum Nachteil des Klägers von zu hohen Besteuerungsgrundlagen ausgegangen ist.
3Der Kläger lebt und arbeitet seit 1987 in den Vereinigten Staaten von Amerika. Durch Mietvertrag vom 9./10. Mai 1999 mietete er von der B AG, die Hauptmieter des Grundstücks Z-Str. in Y-Stadt war, eine aus vier Räumen, einem Bad, einem WC und einem Flur bestehende ca. 70 qm große Fläche im zweiten Obergeschoss des Gebäudes als Atelier. Das Nutzungsverhältnis begann am 1. Juli 1999. Die Nutzungsvergütung belief sich auf 174 DM monatlich. Der Kläger kündigte das Nutzungsverhältnis mit Schreiben vom 1. Oktober 2012 zum 31. Dezember 2012 unter Hinweis darauf, dass er in Zukunft ausschließlich von … USA aus tätig sein werde.
4In den Streitjahren veräußerte der Kläger außer in den USA auch im Inland von ihm hergestellte Kunstwerke. Er nahm an Ausstellungen teil, führte im Wintersemester 2011/2012 für das C-Kolleg X-Stadt ein Kunstprojekt durch und übernahm es durch einen mit der Region W-Stadt abgeschlossenen Werkvertrag vom 15. April 2011, die künstlerische Gestaltung und Ausrichtung sowie die Anfertigung von Produkten für die Aufführung „Klage der Kunst“ zu erstellen.
5Aufgrund einer anonymen Anzeige führte das Finanzamt (FA) für Steuerstrafsachen und Steuerfahndung V-Stadt ab dem 18. Dezember 2013 eine Steuerfahndungsprüfung für die Streitjahre durch, in deren Verlauf der Prüfer zu dem Ergebnis gelangte, dass der Kläger in den Streitjahren im Inland beschränkt steuerpflichtig gewesen sei und dabei bislang nicht versteuerte Gewinne erzielt habe. Wegen der Einzelheiten wird auf den Bericht über die steuerlichen Feststellungen vom 9. Februar 2015 Bezug genommen. Zu diesem Zeitpunkt lag lediglich eine unter Schätzung der Besteuerungsgrundlagen ergangene Einkommensteuerfestsetzung für 2010 vom 8. März 2012 vor, die auf einen Einspruch des Klägers hin durch Bescheid vom 20. April 2012 abgeändert worden war.
6Der Beklagte setzte aufgrund der bei der Fahndungsprüfung getroffenen Feststellungen die Einkommensteuer und die Umsatzsteuer für die Streitjahre durch Bescheide vom 13. Mai 2015, auf die verwiesen wird, erstmals bzw. – bezüglich der Einkommensteuer für 2010 – anders als zuvor fest.
7Der Kläger übersandte dem Prüfer durch E-Mail vom 9. Juni 2015 ein an den Beklagten gerichtetes Schreiben vom 5. Juni 2015, auf das Bezug genommen wird. Das Schreiben wurde nach einem Aktenvermerk vom 9. Juni 2015 nach Rücksprache mit der zuständigen Bearbeiterin der Rechtsbehelfsstelle des Beklagten als Rechtsbehelf gegen die Steuerbescheide vom 13. Mai 2015 eingetragen und an die Rechtsbehelfsstelle abgegeben, die den von ihr angenommenen Einspruch durch Einspruchsentscheidung vom 19. November 2015 als unbegründet zurückwies.
8Der Kläger hat daraufhin am 16. Dezember 2015 Klage gegen die Steuerfestsetzungen für die Streitjahre erhoben. Im Laufe des Klageverfahrens hat er Einkommensteuer- und Umsatzsteuererklärungen für 2007 bis 2012 abgegeben. Der Kläger macht für einen Teil der Streitjahre geltend, dass die vom Beklagten angesetzten Einnahmen nicht zutreffend seien. Z. T. seien ihm die vom Beklagten als Erlöse bzw. Umsätze angesetzten Beträge nicht zugeflossen, weil die Personen, die sich als an seinen Werken interessiert gezeigt hätten, diese letztendlich doch nicht erworben hätten. Z. T. seien auch Beträge als Erlöse bzw. Umsätze erfasst worden, bei denen es sich um Darlehen oder um nicht für ihn, den Kläger, sondern Dritte bestimmte Beträge gehandelt habe. Der Kläger macht im Übrigen höhere als vom Beklagten bisher berücksichtigte Betriebsausgaben sowie Vorsteuerbeträge geltend. Wegen der Einzelheiten seines Vorbringens wird auf seine Schriftsätze vom 25. Februar, 30. Juni, 8. Juli und 11. November 2016 sowie vom 5. und 10. Januar und 7. März 2017 nebst Anlagen verwiesen.
9Der Kläger beantragt,
10die Einkommensteuer- und Umsatzsteuerbescheide für 2007 bis 2012 vom 13. Mai 2015 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 19. November 2015 dahin zu ändern, dass bei der Einkommensteuer nur noch Einkünfte in Höhe von 775 Euro für 2007, 8.636 Euro für 2008, 14.753 Euro für 2009, 20.860 Euro für 2010, 33.010 Euro für 2011 und 5.148 Euro für 2012 und bei der Umsatzsteuer mit 7 % zu besteuernde Umsätze in Höhe von 6.468 Euro statt 8.768 Euro (2007), 14.733,12 Euro statt 31.716 Euro (2008), 35.644 Euro statt 38.644 Euro (2011) und 5.820 Euro statt 7.820 Euro (2012) sowie Vorsteuerbeträge in Höhe von 377,06 Euro für 2007, 312,28 Euro für 2008, 355,96 Euro für 2009, 79,79 Euro für 2010, 229,96 Euro für 2011 und 180,94 Euro für 2012 berücksichtigt werden.
11Der Beklagte beantragt,
12die Klage abzuweisen.
13Er räumt zwar ein, dass ggf. einzelne bislang als Einnahmen angesetzte Beträge aufgrund des Vorbringens des Klägers im Klageverfahren und nachgereichter Unterlagen nicht mehr als Betriebseinnahmen anzusetzen sein könnten. Aufgrund der Kontoauszüge für das Konto des Klägers bei der U Bank in den USA komme jedoch eine Erhöhung der Einnahmen in Betracht, durch die die mögliche Einnahmenkürzung mehr als ausgeglichen würde, was für alle Streitjahre eine Verböserung zur Folge hätte.
14Auch die Vorlage von Kostenbelegen führe im Ergebnis nicht zu einer Einkünfteminderung. Die vom Kläger als Betriebsausgaben geltend gemachten Kosten seien entweder nicht zweifelsfrei beruflich veranlasst oder von den Auftraggebern erstattet worden. Z. T. scheitere der Abzug – wie bei den Bewirtungsaufwendungen – auch an formellen Voraussetzungen. Die Betriebsausgaben könnten allenfalls mit einem Prozentsatz von 6 % der Einnahmen, mindestens jedoch 600 Euro, pro Streitjahr geschätzt werden. Es ergäben sich dann zwar in einzelnen Jahren geringere als die bislang angesetzten Einkünfte. Eine Änderung der angefochtenen Bescheide komme angesichts der den Einkünften noch hinzuzurechnenden Einnahmen, die auf dem Konto bei der U Bank eingegangen seien, im Ergebnis nicht in Betracht. Dies gelte der Sache nach auch für die Umsatzsteuerfestsetzungen.
15Wegen der Einzelheiten des Vorbringens des Beklagten im Klageverfahren wird auf seine Schriftsätze vom 8. März und 7. September 2016 sowie vom 28. Februar 2017 Bezug genommen.
16Das Gericht hat die den Streitfall betreffenden Steuerakten des Beklagten einschließlich der Steuerfahndungsakten beigezogen.
17Entscheidungsgründe
18Die Klage ist nur in geringem Umfang begründet.
19I. Die mit der Klage angefochtenen Steuerfestsetzungen sind bestandskräftig und können daher nicht nach § 100 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 FGO geändert werden. Der Beklagte ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass der Kläger die Einkommensteuer- und Umsatzsteuerbescheide für 2007 bis 2012 vom 13. Mai 2015 durch das Schreiben vom 5. Juni 2015 mit einem Einspruch i. S. von § 357 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO) angefochten habe. Von daher durfte aber auch keine Einspruchsentscheidung ergehen. Allein diese war folglich aufzuheben.
201. Nach § 357 Abs. 1 Satz 1 AO ist der Einspruch schriftlich oder elektronisch einzureichen. Es genügt, wenn aus dem Einspruch hervorgeht, wer ihn eingelegt hat (§ 357 Abs. 1 Satz 2 AO). Eine unrichtige Bezeichnung des Einspruchs schadet nicht (§ 357 Abs. 1 Satz 3 AO).
21Die in § 357 Abs. 1 Satz 2 und 3 AO vorgesehenen Erleichterungen für die Einlegung eines Einspruchs ändern allerdings nichts daran, dass eine Eingabe des Steuerpflichtigen, wenn es sich dabei um einen Einspruch handeln soll, das Begehren erkennen lassen muss, dass er aufgrund dieser Eingabe eine Nachprüfung eines anfechtbaren Verwaltungsaktes durch die Finanzbehörde in einem Rechtsbehelfsverfahren erstrebt (BFH-Urteile vom 17. April 1962 VII 75/61, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1963, 80, und vom 12. April 1967 VI 389/65, Bundessteuerblatt – BStBl – III 1967, 382; Siegers in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, AO § 357 Rz.12).
22Bei einem Einspruch handelt es sich um eine verfahrenseinleitende Willenserklärung, die zur Folge hat, dass die Festsetzungsfrist nicht abläuft, bevor über den Einspruch unanfechtbar entschieden ist (§ 171 Abs. 3a AO). Schon im Interesse der Rechtssicherheit muss deshalb verlangt werden, dass die Eingabe, soll sie – zumindest nach Auslegung – als Einspruch aufzufassen sein, ein Mindestmaß an Eindeutigkeit nicht unterschreitet (Siegers in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, AO § 357 Rz. 11, m. w. N.). Zwar sind auch außerprozessuale Verfahrenserklärungen in entsprechender Anwendung des § 133 des Bürgerlichen Gesetzbuchs auszulegen (vgl. BFH-Urteil vom 19. August 2013 X R 44/11, BStBl II 2014, 234). Voraussetzung hierfür ist aber, dass die (Verfahrens-)Erklärung auslegungsbedürftig ist (BFH-Beschluss vom 13. November 1998 VII B 236/98, Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs – BFH/NV – 1999, 591). Daran fehlt es, wenn die Erklärung nach Wortlaut und Zweck einen eindeutigen Inhalt hat (vgl. BFH-Urteil vom 29. Juli 1986 IX R 123/82, BFH/NV 1987, 359, und BFH-Beschluss vom 2. November 1998 VII B 205/98, BFH/NV 1999, 450).
232. Nach diesen Grundsätzen stellt sich das Schreiben des Klägers vom 5. Juni 2015 als Stellungnahme zum Bericht des Prüfers vom 9. Februar 2015 und – worüber das Gericht nicht zu entscheiden hat – ggf. als Antrag auf Stundung oder Erlass der sich durch die Steuerfestsetzungen für 2007 bis 2012 ergebenden Nachforderungen dar, nicht aber als Einspruch gegen die Steuerfestsetzungen für die Streitjahre.
24a) Ein Einspruch ist nach § 347 Abs. 1 Satz 1 AO nur gegen „Verwaltungsakte“ statthaft. Handelt es sich – wie im Streitfall – bei den Verwaltungsakten um Steuerbescheide i. S. von § 155 Abs. 1 Satz 2 AO, so muss der Steuerpflichtige gerade diese beanstanden und zum Ausdruck bringen, dass er sich durch sie i. S. von § 350 AO beschwert fühlt. Dies wiederum setzt voraus, dass der Steuerpflichtige Kenntnis von der Bekanntgabe ihn beschwerender Steuerbescheide hat. Schon dies lässt sich bezogen auf den Zeitpunkt, in dem der Kläger das Schreiben vom 5. Juni 2015 verfasst hat, nicht feststellen.
25Bei dem Schreiben vom 5. Juni 2015 handelt es sich um einen Anhang zu einer E‑Mail des Klägers vom 9. Juni 2015, die er an den Prüfer gerichtet hat. Sowohl in der E-Mail als auch in dem Schreiben ist lediglich von „umfangreicher Post“ die Rede, die der Kläger von seinem Bruder erhalten habe, den er in der Besprechung vom 10. Dezember 2014 als inländischen Empfangsbevollmächtigten i. S. von § 123 Satz 1 AO benannt hatte. Zwar galt diese Benennung auch für die Bekanntgabe der Steuerbescheide für die Streitjahre, die deshalb dem Bruder des Klägers als Bekanntgabeadressat am 15. Mai 2015 zugestellt wurden. Diese Umstände, wie auch die Übermittlung des Schreibens vom 5. Juni 2015 innerhalb der Einspruchsfrist, lassen jedoch nicht erkennen, ob der Kläger die Bescheide von seinem Bruder zum Zeitpunkt der Anfertigung dieses Schreibens bereits erhalten hatte. Weder im Schreiben vom 5. Juni 2015 noch in der E-Mail vom 9. Juni 2015 ist einer der Bescheide vom 13. Mai 2015 ausdrücklich oder der Sache nach erwähnt oder in Bezug genommen.
26Auch die Adressangabe im Schreiben vom 5. Juni 2015 und die dort angegebene Steuernummer sprechen nicht dafür, dass es sich bei dem Schreiben um einen Einspruch gegen die Steuerbescheide vom 13. Mai 2015 handeln sollte. Die Anschrift des Beklagten war dem Kläger aus den Besprechungen mit dem Prüfer am 30. September und 10. Dezember 2014 bekannt, die beide nicht in einem Dienstzimmer des FA für Steuerstrafsachen und Steuerfahndung V-Stadt, sondern in einem Dienstzimmer des Beklagten stattfanden. Die Steuernummer war nicht nur in den Steuerbescheiden, sondern auch im Bericht des Prüfers vom 9. Februar 2015 angegeben. Die Angaben zur Adresse und zur Steuernummer lassen daher keinen zwingenden Schluss darauf zu, dass der Kläger sie den Steuerbescheiden entnommen hat und sich dadurch erkennbar gegen diese wenden wollte.
27Dass das Schreiben vom 5. Juni 2015 in erster Linie lediglich eine Stellungnahme zum Bericht vom 9. Februar 2015 und – ggf. darüber hinaus – ein Antrag auf Stundung oder Erlass von Steuernachforderungen darstellt, ergibt sich dagegen aus folgenden Umständen: Der Kläger, der sich in dem Schreiben unmittelbar an den Prüfer gewandt hat, bezieht sich darin auf „Zahlungen“, wie sie lediglich Gegenstand einer Anlage zum Schreiben des Prüfers vom 20. Oktober 2014 und zum Bericht vom 9. Februar 2015 sind, nicht aber Gegenstand der Steuerbescheide vom 13. Mai 2015, in denen lediglich auf den Bericht vom 9. Februar 2015 verwiesen wird. Auch von der Kladde und von dem (…-)Bett im Atelier in Y-Stadt ist nur im Bericht und nicht in den Steuerbescheiden die Rede. Auch an anderer Stelle des Schreibens kommt deutlich zum Ausdruck, dass der Kläger sich damit (nur) mit dem Bericht des Prüfers auseinandersetzen wollte („aus den Indizien, die in ihrem Bericht zu dieser anonymen Anzeige angeführt sind, …“).
28Der Kläger wendet sich zwar in seinem Schreiben dagegen, dass es sich bei allen in der Kladde vermerkten Beträgen tatsächlich um erhaltene Beträge handele, gesteht deren wesentliche Richtigkeit auf Seite 2 des Schreibens – wie in der Besprechung vom 10. Dezember 2014 – dann aber doch zu. Seine Mutmaßung, damit unter dem „Existenzminimum“ zu liegen, spricht aus Sicht des Gerichts dafür, dass ihm die Steuerfestsetzungen am 5. bzw. 9. Juni 2015 nicht bekannt waren, weil daraus, was die Einkommensteuerfestsetzungen angeht, hervorgeht, dass der Beklagte für sämtliche Streitjahre nicht von einer Steuerfestsetzung absehen konnte. Dann kann auch aus der Beanstandung einzelner in der Anlage zum Bericht vom 9. Februar 2015 aufgeführter Einnahmen – die im Übrigen nicht nach Jahren und Steuerbescheiden vom Kläger konkretisiert worden sind – nicht gefolgert werden, dass der Kläger sich damit über kritische Anmerkungen zum Bericht hinaus auch gegen (einzelne) daraufhin ergangene Steuerbescheide wenden wollte.
29Darlegungen des Klägers zu seinen Einkommens- und Vermögensverhältnissen („Ich habe die von Ihnen geforderten Summen nicht, nicht einmal teilweise, und erwarte auch in der näheren Zukunft keine Besserung.“, „Da ich weder über ein pfändbares Gehalt, andere Einkünfte oder Vermögenswerte verfüge, aber an einer Regelung in beidseitigem Interesse und Einvernehmen interessiert bin, hoffe ich auf eine kreative Lösung.“, „Ich könnte tatsächlich für die …-Skulptur eine Rechnung aufmachen, und es könnte dann mit dem von Ihnen geforderten Betrag verrechnet werden, dann würde ich sicher noch etwas herausbekommen.“, „Auch wenn ich mich hier wiederhole, mein einziges Vermögen sind meine Kunstwerke, und diese müssen auch erst einmal verkauft werden, um wirkliches Vermögen zu sein. … Also hoffe ich auch auf eventuelle Vorschläge von Ihrer Seite.“) sprechen vielmehr dafür, dass es ihm nicht um eine Anfechtung von Steuerfestsetzungen ging, sondern um eine seinen Interessen gerecht werdende Regelung auf der Ebene der Steuererhebung (vgl. dazu auch BFH-Urteil vom 10. Januar 1958 III 342/57 U, BStBl II 1958, 119), zumal der Kläger im Schreiben vom 5. Juni 2015 zum Ausdruck gebracht hat, an einer Unterstützung durch einen Angehörigen der rechtsberatenden Berufe nicht interessiert zu sein („Ich habe wegen meiner derzeitigen Lage auch nicht die Mittel, noch ist es mein Interesse, mich Anwälten zur Regelung dieser Angelegenheit anzuvertrauen, hoffe, es finden sich vorher andere Wege.“). Auch dies spricht aus Sicht des Gerichts dagegen, in dem Schreiben einen Einspruch zu sehen.
30Der Kläger war, was bei der Würdigung des rechtlichen Charakters des Schreibens vom 5. Juni 2015 nicht unberücksichtigt bleiben darf, nicht so unerfahren, dass ihm das erkennbare Einlegen eines Einspruchs nicht möglich gewesen wäre. Er hat vielmehr, nachdem der Beklagte für den Veranlagungszeitraum 2010 einen Einkommensteuerbescheid vom 8. März 2012 erlassen hatte, gegen diesen unter Angabe des Bescheides mit Schreiben vom 24. März 2012 ausdrücklich Einspruch eingelegt und darin seine Beschwer (Ansatz geschätzter Einkünfte in Höhe von 15.000 Euro, Festsetzung von Kirchensteuer trotz Konfessionslosigkeit) deutlich zum Ausdruck gebracht. Dies zeigt, dass der Kläger den Willen, gegen einen Steuerbescheid Einspruch einzulegen, zweifelsfrei artikulieren kann, was jedoch im Schreiben vom 5. Juni 2015 auch nicht ansatzweise erfolgt ist.
31Der Beklagte hat den Kläger auch nicht dadurch von einer rechtzeitigen Einspruchseinlegung abgehalten, dass er ihm bis zum Ablauf der Einspruchsfrist mitgeteilt hätte, das Schreiben vom 5. Juni 2015 als Einspruch zu werten, sodass beim Kläger Vertrauensschutz hinsichtlich einer bereits erfolgten wirksamen Einspruchseinlegung hätte entstehen können. Der Beklagte hat das Schreiben zunächst lediglich dem Fahndungsprüfer zur Stellungnahme übersandt. Dem Kläger hat der Beklagte erstmals im Schreiben vom 8. Juli 2015, das seinem Bruder übermittelt wurde, mitgeteilt, dass sein Schreiben vom 5. Juni 2015 als Einspruch gewertet wurde. Der Kläger wiederum hat sich nach seiner E-Mail vom 9. Juni 2015 erst wieder durch E-Mail vom 1. Juli 2015, d. h. nach Ablauf der Einspruchsfrist, an den Beklagten gewandt, und zwar wegen einer seinem Bruder zugegangenen Mahnung wegen einer Einkommensteuerfestsetzung für 2015. Hinsichtlich der Streitjahre hat er bis zur Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung nicht mehr erkennen lassen, dass er sich gegen einen der für die Streitjahre erlassenen Steuerbescheide wenden wolle.
32b) Die Einspruchsentscheidung vom 19. November 2015 ist rechtswidrig und daher nach § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO aufzuheben, weil der Kläger keinen Einspruch eingelegt hat. Nach § 367 Abs. 1 AO hat aber eine Einspruchsentscheidung nur zu ergehen, wenn ein Einspruch vorliegt.
33II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 136 Abs. 1 Satz 3 FGO. Das Obsiegen des Klägers, das lediglich in der Aufhebung der Einspruchsentscheidung besteht, ist im Verhältnis zu seinem vorrangigen Begehren, die Steuerfestsetzungen zu ändern, als geringfügig im Sinne dieser Vorschrift anzusehen.
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.Der Streitwert wird auf 2.500 EUR festgesetzt.
Gründe
I.1 Die Antragstellerin wendet sich mit ihrem Antrag gegen ihre Abschiebung nach Nordmazedonien.2 Die am ... geborene Antragstellerin ist Staatsangehörige Nordmazedoniens. Nach Aktenlage stellte sie am 29.07.2015 erstmals einen Asylantrag gegenüber dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt). Diesen lehnte das Bundesamt mit Bescheid vom 16.11.2015 als offensichtlich unbegründet ab. Hiergegen hat die Klägerin mit anwaltlichem Schriftsatz vom 20.01.2016 Klage vor dem Verwaltungsgericht Sigmaringen erhoben (Verfahren ...) sowie gleichzeitig einen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gestellt (Verfahren ...). Dem Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes der Antragstellerin gab das Gericht mit Beschluss vom 03.03.2016 mit der Begründung statt, es bestünden ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Ablehnung ihres Antrags auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Die Klage der Antragstellerin gegen den Bundesamtsbescheid vom 16.11.2015 wies das Gericht mit Urteil vom 27.09.2018 (rechtskräftig) ab. Die Voraussetzungen hinsichtlich der Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG sowie auch § 60 Abs. 5 AufenthG lägen nicht vor, wobei hinsichtlich der Einzelheiten dieser gerichtlichen Entscheidung – diese ist den Beteiligten bekannt – auf diese verwiesen wird.3 Mit anwaltlichem Schriftsatz vom 02.01.2019 beantragte die Antragstellerin bei der Ausländerbehörde der Stadt ... die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen nach dem 5. Abschnitt des Aufenthaltsgesetzes. Im Folgenden wurde der Antragstellerin mitgeteilt, dass ihr Antrag voraussichtlich keinen Erfolg haben werde, worauf sie diesen zurücknahm. Auch eine Eingabe der Antragstellerin an die Härtefallkommission blieb erfolglos. Diese hat am 17.09.2017 entscheiden, kein Härtefallersuchen an das Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration zu stellen.4 Seit dem 12.03.2019 ist die Antragstellerin im Besitz einer Duldung auf der Grundlage von § 60 a Abs. 2 Satz 1 AufenthG, wobei ihr die Aufnahme einer Beschäftigung vorbehaltlich einer ggf. erforderlichen Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit erlaubt wurde.5 Mit anwaltlichen Schriftsätzen vom 21.10.2019 und 06.11.2019 beantragte die Antragstellerin die Erteilung einer Ermessensduldung im Vorgriff auf eine Beschäftigungsduldung nach § 60 d AufenthG für die Dauer von 30 Monaten. Diese Vorschrift des § 60 d AufenthG sei für Baden-Württemberg bereits per Vorgrifferlass in Kraft getreten. Die rechtlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Beschäftigungsduldung seien erfüllt. Die Antragstellerin habe eine ausreichende, sozialversicherungspflichtige Tätigkeit inne. Ihr Arbeitgeber sei auch bereit, das bisher nur befristete Arbeitsverhältnis für den Fall der Erteilung der beantragten Beschäftigungsduldung in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis umzuwandeln. Die Antragstellerin gehe überdies bereits seit über 18 Monaten einer Beschäftigung nach. Auch seien ihre Identität geklärt und ihr Lebensunterhalt gesichert. Staatliche Leistungen nehme sie nicht in Anspruch. Auch sei sie bisher unbescholten. Mit Schreiben vom 23.10.2019 sowie erneut mit Schreiben vom 11.11.2019 teilte das Regierungspräsidium ... der Antragstellerin mit, dass die Voraussetzungen für die Erteilung der beantragten Ermessensduldung seiner Auffassung nach nicht vorlägen.6 Am 09.12.2019 sollte die Antragstellerin nach Nordmazedonien abgeschoben werden, allerdings konnte sie nicht zu Hause angetroffen werden. Im Folgenden stellte die Antragstellerin ein Petitionsersuchen an den Landtag Baden-Württemberg, über das am 25.06.2020 ablehnend entschieden wurde.7 Mit anwaltlichem Schriftsatz vom 06.07.2020 stellte die Antragstellerin (erneut) einen Antrag auf Erteilung einer Beschäftigungsduldung nach § 60 d AufenthG. Auch hieraufhin wurde der Antragstellerin seitens des Regierungspräsidiums ... (vgl. dessen Schreiben vom 16.07.2020) mitgeteilt, dass die Voraussetzungen für die Erteilung einer solchen Duldung nicht vorlägen. Insbesondere gehe die Antragstellerin nicht seit mindestens 18 Monaten einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung mit einer regelmäßigen Arbeitszeit von mindestens 35 Stunden pro Woche nach und sei auch der Lebensunterhalt der Antragstellerin innerhalb der letzten zwölf Monate nicht durch eine Beschäftigung gesichert gewesen. Hierauf teilte die Antragstellerin dem Regierungspräsidium am 04.08.2020 mit, dass hinsichtlich ihrer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung einzig das Erfordernis einer wöchentlichen Mindeststundenzahl von 35 Stunden nicht erfüllt sei; die nach § 60 d AufenthG geforderte Beschäftigungsdauer von mindestens 18 Monaten sei unstreitig erfüllt. Gerne würde sie die Mindeststundenzahl von 35 Wochenstunden erfüllen, daran sei sie jedoch aufgrund einer psychiatrisch-somatischen Erkrankung gehindert. Sie könne aus diesem Grund höchstens sechs Stunden pro Tag arbeiten, mithin maximal 30 Stunden pro Woche. In diesem Zusammenhang legte die Antragstellerin gegenüber dem Regierungspräsidium ein ärztliches Attest vom 07.07.2020 der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Frau ... vor, hinsichtlich dessen Inhalts auf die Behördenakte, die dem Gericht vorliegt, verwiesen wird (dort S. 685). Für einen derartigen Fall enthalte die Vorschrift des § 60 d AufenthG keine Regelung. Auszufüllen sei diese Regelungslücke ihrer Auffassung nach durch entsprechende Anwendung des § 25 b Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. Abs. 3 AufenthG. Überdies, so die Antragstellerin weiter, sei ihr Lebensunterhalt gesichert, zumal sie nunmehr einer unbefristeten Tätigkeit nachgehe; insoweit legte die Antragstellerin eine Bestätigung ihres Arbeitgebers vor (S. 687 der Behördenakte).8 Das Regierungspräsidium ... teilte diese Auffassung der Antragstellerin nicht (vgl. dessen Schreiben an die Antragstellerin vom 06.08.2020). Eine entsprechende Anwendung des § 25 b Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. Abs. 3 AufenthG auf die Vorschrift des § 60 d AufenthG scheide aus. Hinsichtlich der Lebensunterhaltssicherung wies das Regierungspräsidium in dem genannten Schreiben darauf hin, dass die Antragstellerin bis mindestens Oktober 2019 aufstockende Leistungen bezogen habe. Die Antragstellerin verfüge des Weiteren nicht über hinreichende mündliche Kenntnisse der deutschen Sprache im Sinne des § 60 d Abs. 1 Nr. 6 AufenthG. Bislang läge einzig ein Nachweis über die Teilnahme an einem Deutschkurs mit angestrebtem Deutschniveau A 1 vor; ein Intensivkurs für das Sprachniveau A 2 sei bislang nicht absolviert worden.9 Auf Veranlassung des Regierungspräsidiums ... sollte die Antragstellerin am 19.08.2020 erneut nach Nordmazedonien abgeschoben werden. Erneut konnte die Antragstellerin jedoch nicht zu Hause angetroffen werden.10 Mit anwaltlichem Schriftsatz vom 20.08.2020 (Eingang: 21.08.2020) stellte die Antragstellerin vor dem Verwaltungsgericht Sigmaringen den vorliegenden Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes. Zur Begründung trägt sie im Wesentlichen vor:11 Die Antragstellerin habe einen Anordnungsanspruch. Konkret lägen in Bezug auf ihre Person die Voraussetzungen des § 60 d AufenthG vor, so dass ihr eine Beschäftigungsduldung im Sinne dieser Vorschrift zu erteilen sei. In diesem Zusammenhang trägt die Antragstellerin – ergänzend zu ihren Ausführungen im Verwaltungsverfahren – vor, dass sie beim besten Willen nicht mehr als 30 Stunden pro Woche arbeiten könne. Hierfür fehle ihr aufgrund ihrer Erkrankung die Belastbarkeit und Durchhaltefähigkeit. Insoweit sei – wie auch im Verwaltungsverfahren – auf das ärztliche Attest vom 07.07.2020 zu verweisen. Bei ihrem jetzigen Arbeitgeber, so die Antragstellerin weiter, sei sie seit dem 05.09.2018 beschäftigt; das Arbeitsverhältnis sei zwischenzeitlich unbefristet. Sie beziehe aufgrund dieser Tätigkeit ein monatliches Nettoeinkommen in Höhe von durchschnittlich 850,00 EUR. Dies reiche für den Singlehaushalt, den sie führe, aus. Darüber hinaus sei ihre Identität – nach wie vor – geklärt, sie verfüge über einen gültigen nordmazedonischen Reisepass. Hinsichtlich der in § 60 d AufenthG geforderten Sprachkenntnisse sei auszuführen, dass die Antragstellerin sich bei der VHS ... in ... zu einem Deutschintensivkurs mit dem Niveau A 2 für den Zeitraum vom 22.09.2020 bis 17.11.2020 angemeldet habe. Eine frühere Anmeldung sei nicht möglich gewesen, da bis vor Kurzem coronabedingt ein entsprechendes Kursangebot nicht bestanden habe. Überdies habe das die Antragstellerin begleitende diakonische Werk ... der Antragstellerin ein großes Interesse am Erlernen der deutschen Sprache bescheinigt. Dass sie der deutschen Sprache hinreichend mächtig sei, könne die Antragstellerin überdies auch anderweitig nachweisen. Berufsbedingt habe sie sich schon sehr früh in der deutschen Sprache verständigen müssen; darin habe sie sich auch bewährt. Einer zusätzlichen Zertifizierung der Deutschkenntnisse der Antragstellerin bedürfe es daher nicht. Eine Konversation in einfachem Deutsch sei mit ihr auf gut verständlicher Art und Weise jederzeit möglich. Davon habe auch das Landratsamt ... (...) Kenntnis.12 Der Antragsgegner habe außerdem im Zusammenhang mit einer Abschiebung der Antragstellerin die mit der Corona-Pandemie einhergehenden Einschränkungen im internationalen Luft- und Reiseverkehr sowie die daraus resultierenden Einschränkungen im Bereich des öffentlichen Lebens zu berücksichtigen. Zum Zeitpunkt der Erhebung des vorliegenden Antrags habe (vorerst bis zum 31.08.2020) für Nordmazedonien eine Reisewarnung des Auswärtigen Amtes bestanden, was eine Abschiebung der Antragstellerin verwehre.13 Schließlich, so die Antragstellerin weiter, liege auch ein Anordnungsgrund vor. Hiervon sei mit Blick auf den am 19.08.2020 gegenüber der Antragstellerin unternommenen Abschiebungsversuch auszugehen.14 Die Antragstellerin beantragt,15 den Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO zu verpflichten, von Abschiebemaßnahmen sowie sonstigen aufenthaltsbeendenden Maßnahmen bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den vorliegenden Antrag vorläufig abzusehen.16 Der Antragsgegner ist dem Antrag entgegengetreten. Es liege bereits kein Anordnungsgrund vor, da derzeit eine (weitere) Abschiebung der Antragstellerin nicht geplant sei. Darüber hinaus habe die Antragstellerin auch keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Nach wie vor lägen die Voraussetzungen für die Erteilung einer Beschäftigungsduldung nach § 60 d AufenthG nicht vor. Insoweit führte der Antragsgegner im Wesentlichen die bereits im Verwaltungsverfahren der Antragstellerin gegenüber aufgeführten Gründe an.17 Dem Gericht liegt die die Antragstellerin betreffende Behördenakte des Regierungspräsidiums Karlsruhe vor, des Weiteren die Gerichtsakten des vor dem Verwaltungsgericht Sigmaringen geführten Asylklage- bzw. -antragsverfahrens. Auf diese sowie auch die Gerichtsakte des vorliegenden Verfahrens wird wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands verwiesen.II.18 Der Antrag hat keinen Erfolg. Er ist zulässig, aber unbegründet.19 Der Antrag ist zulässig. Er ist nach § 123 Abs. 1 VwGO statthaft. Ein Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO (i.V.m. § 123 Abs. 5 VwGO) kommt mangels Vorliegens eines Verwaltungsakts nicht in Betracht (zur Rechtsnatur der Abschiebung vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 21.08.2018 – 1 C 21.17 –, juris; so auch bereits VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 31.03.1995 – A 12 S 1005/05 –, juris). Darüber hinaus besteht auch das erforderliche Rechtsschutzinteresse. Zwar ist bei einem Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO die vorherige Stellung eines Antrags bei der zuständigen Behörde stets Sachurteilsvoraussetzung und damit Voraussetzung für die Annahme eines Rechtsschutzinteresses. (Auch) im Vorfeld einer Abschiebung ist der Antragsteller eines Antrags nach § 123 Abs. 1 VwGO damit regelmäßig verpflichtet, gegenüber der zuständigen Ausländerbehörde einen Antrag auf vorläufige Aussetzung der Abschiebung zu stellen. Vorliegend hat die Antragstellerin mit ihrem Antrag auf Erteilung einer Beschäftigungsduldung nach § 60 d AufenthG – zuletzt am 06.07.2020 – hinreichend zum Ausdruck gebracht, dass sie die Aussetzung ihrer Abschiebung begehrt.20 Der Antrag ist jedoch nicht begründet. Der Antragstellerin hat keinen Anspruch darauf, dass vorläufig von Abschiebemaßnahmen sowie sonstigen aufenthaltsbeendenden Maßnahmen abgesehen wird.21 Nach § 123 Abs. 1 Satz VwGO kann das Gericht, auch schon vor Klageerhebung, auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauerhaften Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gefahr zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist nach § 123 Abs. 3 VwGOi.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO, dass ein Anspruch, dessen vorläufiger Sicherung die begehrte Anordnung dienen soll (Anordnungsanspruch), und die Gründe, die eine gerichtliche Eilentscheidung erforderlich machen (Anordnungsgrund), glaubhaft gemacht werden, d.h. diese müssen überwiegend wahrscheinlich sein.22 Ein Anordnungsgrund wurde glaubhaft gemacht, da der Antragsgegner die Abschiebung der Antragstellerin – nach Scheitern des zuletzt unternommenen Abschiebeversuchs am 19.08.2020 – derzeit (erneut) betreibt. Zwar hat der Antragsgegner in seinem Schriftsatz an das Gericht vom 31.08.2020 mitgeteilt, dass „eine weitere Abschiebung der Antragstellerin zu diesem Zeitpunkt nicht geplant sei“ und geht infolgedessen davon aus, dass in Bezug auf den vorliegenden Antrag bereits ein Anordnungsgrund nicht vorliege. Auf telefonische Nachfrage der Berichterstatterin vom 08.09.2020 teilte der Antragsgegner jedoch mit, dass einzig derzeit eine Abschiebung der Antragstellerin nicht geplant sei, zukünftig entsprechende Maßnahmen jedoch erneut eingeleitet werden würden. Ein Anordnungsgrund besteht damit. Das nur kurzzeitige Absehen von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen gegenüber der Antragstellerin lässt einen solchen nicht entfallen. Dafür, dass der Antragsgegner die Abschiebung der Antragstellerin derzeit erneut betreibt, spricht auch der Umstand, dass der Antragsgegner Ende September 2020 um Übersendung des (Original-)Reisepasses der Antragstellerin gebeten hat, der sich in der dem Gericht übersandten Behördenakte befunden hat.23 Der Antragstellerin ist es allerdings nicht gelungen einen Anordnungsanspruch glaubhaft zu machen, denn die rechtlichen Voraussetzungen einer Abschiebung liegen in Bezug auf die Antragstellerin nach gegenwärtiger Sach- und Rechtslage vor. Insbesondere ist die Antragstellerin nach (rechtskräftiger) Ablehnung ihres Asylantrags vollziehbar ausreisepflichtig im Sinne des 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG. Des Weiteren hat sie nach gegenwärtiger Sach- und Rechtslage keinen Anspruch auf (weitere) Aussetzung ihrer Abschiebung. Insbesondere ergibt sich ein solcher nicht aus der Vorschrift des § 60 a Abs. 2 Satz 1 AufenthG, ferner nicht aus der Vorschrift des § 60 d Abs. 1 (i.V.m. § 60 a Abs. 2 Satz 3) AufenthG.24 Die Antragstellerin hat keinen Anspruch auf (weitere) Aussetzung ihrer Abschiebung auf der Grundlage des § 60 a Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Danach ist die Abschiebung eines Ausländers (zwingend) auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Aus tatsächlichen Gründen ist die Abschiebung unmöglich, wenn aufgrund objektiver Umstände, die in der Person des Ausländers oder in äußeren Gegebenheiten liegen, die vollziehbare Ausreisepflicht nach § 58Abs. 2 AufenthG nicht durchgesetzt werden kann. Aus rechtlichen Gründen scheidet eine Abschiebung aus, wenn sich aus nationalen Gesetzen, einschließlich Verfassungsrecht, Unionsrecht oder Völkergewohnheitsrecht ein zwingendes Abschiebungsverbot ergibt. Beides hat die Antragstellerin nicht glaubhaft gemacht. Die Antragstellerin zeigt insbesondere nicht auf, dass eine Abschiebung nach Mazedonien im Hinblick auf die Covid-19-Pandemie (tatsächlich) unmöglich wäre und ihr deshalb eine Duldung nach § 60 a Abs. 2 Satz 1 AufenthG zu erteilen wäre. Ausweislich der Reise- und Sicherheitshinweise des Auswärtigen Amtes mit Stand vom 06.10.2020 ist die Einreise nach Mazedonien derzeit grundsätzlich uneingeschränkt erlaubt. Auch der internationale Flugverkehr über die Flughäfen Skopje und Ohrid wurde wiederaufgenommen. Hinsichtlich des Hinweises der Antragstellerin in ihrer Antragsbegründung auf die – nach wie vor bestehende – Reisewarnung des Auswärtigen Amtes für Nordmazedonien ist auszuführen, dass dieses Vorbringen allenfalls das Vorliegen eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots und nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG und damit (rechtlichen) Abschiebungshindernisses zu begründen vermag. Die Prüfung der Voraussetzungen zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote ist jedoch – sofern, wie hier, ein Asylverfahren durchgeführt wurde – dem Bundesamt vorbehalten (vgl. § 24 Abs. 2 AsylG); die Ausländerbehörde ist an diese Entscheidung gebunden (vgl. § 42 Abs. 1 Satz 1 AsylG). Dies gilt auch für den Fall, dass – so wie hier – erst nach Abschluss des Asylverfahrens neue Umstände hinzutreten, die ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis (möglicherweise) begründen (so ausdrücklich bereits VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 21.06.2004 – 11 S 770/04 –, juris). Auch in einem gerichtlichen gegen die Abschiebung eines Ausländers gerichteten (Eil-)Verfahrens kann dies damit regelmäßig keine Berücksichtigung finden. Anderes kann allenfalls dann gelten, wenn eine Abschiebung unmittelbar bevorsteht. Dies ist vorliegend jedoch nicht der Fall, nachdem der Antragsgegner darum gebeten wurde, von Vollzugsmaßnahmen vorerst – bis zur Entscheidung über den vorliegenden Antrag – abzusehen.25 Die (weitere) Aussetzung ihrer Abschiebung kann die Antragstellerin auch nicht auf der Grundlage der Vorschrift des § 60 d Abs. 1 (i.V.m. § 60 a Abs. 2 Satz 3) AufenthG verlangen. Die Vorschrift des § 60 d AufenthG trat zum 01.01.2020 durch das Gesetz über Duldung bei Ausbildung und Beschäftigung (BGBl. I 2019, S. 1021) in Kraft. Die Vorschrift regelt die Erteilung einer Duldung zum Zwecke der Beschäftigung. Diese ist als Unterfall einer Duldung nach § 60 a Abs. 2 Satz 3 AufenthG anzusehen (vgl. Fehrenbacher, HTK-AuslR / § 60 d AufenthG / zu Abs. 1, Stand: 16.07.2020, Rn. 3). Mit der Vorschrift des § 60 a Abs. 2 Satz 3 AufenthG kann einem Ausländer eine Duldung erteilt werden, wenn dringende humanitäre oder persönliche Gründe oder erhebliche öffentliche Interessen seine vorübergehende weitere Anwesenheit im Bundesgebiet erfordern. Ziel dieser Vorschrift ist es, vollziehbar ausreisepflichtigen Personen im Ermessenswege einen vorübergehenden Aufenthalt zu ermöglichen, wenn der vorübergehende Aufenthalt zwar aus dringenden humanitären oder persönlichen Gründen oder erheblichen öffentlichen Interessen erforderlich ist, sich der Aufenthaltszweck jedoch nicht zu einem rechtlichen Abschiebungshindernis nach § 60 a Abs. 2 Satz 1 AufenthG verdichtet hat und tatsächliche Abschiebungshindernisse nicht vorliegen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 13.09.2007 – 11 S 1964/07 –, juris, m.w.N.). Mit der Vorschrift des § 60 d Abs. 1 AufenthG wird der Begriff der „dringenden persönlichen Gründe“ im Sinne des § 60 a Abs. 2 Satz 3 AufenthG durch die Vorschrift des § 60 d AufenthG ausgefüllt (vgl. – zu § 60 c AufenthG – die Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat zum Gesetz über Duldung bei Ausbildung und Beschäftigung (BGBl. I 2019, S. 1021) vom 20.12.2019). Nach § 60 d Abs. 1 AufenthG hat ein ausreisepflichtiger Ausländer, vorausgesetzt er ist bis zum 01.08.2018 in das Bundesgebiet eingereist, nunmehr im Regelfall für die Dauer von insgesamt 30 Monaten einen Anspruch auf Erteilung einer Duldung, sofern die in § 60 d Abs. 1 Nr. 1-11 AufenthG genannten Voraussetzungen – kumulativ – erfüllt sind. Auf die Erteilung einer Beschäftigungsduldung besteht – bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen – ein strikter Rechtsanspruch. Anders als bei der (Grund-)Vorschrift des § 60 a Abs. 2 Satz 3 AufenthG, auf die § 60 d Abs. 1 AufenthG verweist, steht der Behörde ein Ermessensspielraum grundsätzlich nicht zur Verfügung; dies ist einzig bei Vorliegen atypischer Umstände der Fall (vgl. dazu VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 14.01.2020 – 11 S 2956/19 –, juris).26 In Bezug auf die Antragstellerin liegen aller Voraussicht nach die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Beschäftigungsduldung nach § 60 d Abs. 1 AufenthG nicht vor. Es fehlt insbesondere an der Voraussetzung des § 60 d Abs. 1 Nr. 3 AufenthG und dem darin statuierten Erfordernis einer seit mindestens 18 Monaten bestehenden sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung von mindestens 35 Stunden pro Woche. Zwar ist die Antragstellerin ausweislich der vorliegenden Behördenakte und den im gerichtlichen Verfahren vorgelegten Unterlagen seit dem 05.09.2018 bei der Firma ... (zuletzt in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis) beschäftigt. Allerdings ist die Antragstellerin dort nur in einem Umfang von 30 Wochenstunden beschäftigt. Offensichtlich erfüllt die Antragstellerin die Voraussetzungen des § 60 d Abs. 1 Nr. 3 AufenthG damit nicht. Eine Regelung, nach der in besonders gelagerten Fällen von dem Erfordernis der Mindestarbeitszeit von 35 Wochenstunden des § 60 d Abs. 1 Nr. 3 AufenthG abgewichen werden könnte, besteht – außer in Bezug auf Alleinerziehende – nicht, auch nicht durch Verweis auf entsprechende Vorschriften wie etwa die Vorschrift des § 25 b Abs. 3 AufenthG.27 Anders als die Antragstellerin meint, ist die Vorschrift des § 25 b Abs. 3 AufenthG auch nicht auf die Vorschrift des § 60 d Abs. 1 Nr. 3 AufenthG entsprechend anzuwenden, mit der Folge, dass von dem Erfordernis einer wöchentlichen Mindestarbeitszeit von 35 Stunden abzuweichen wäre, wenn „der Ausländer sie wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung oder aus Altersgründen nicht erfüllen kann“ (vgl. den Wortlaut des § 25 b Abs. 3 AufenthG). Es ist nicht davon auszugehen, dass der Gesetzgeber – dies wäre Voraussetzungen für eine entsprechende Heranziehung der Vorschrift des § 25 b Abs. 3 AufenthG im Kontext von § 60 d Abs. 1 AufenthG – planwidrig einen solchen Ausnahmetatbestand in die Vorschrift des § 60 d Abs. 1 Nr. 3 AufenthG oder an anderer Stelle der Vorschrift des § 60 d AufenthG nicht aufgenommen hat. Dafür spricht bereits der eindeutige Gesetzeswortlaut. Darüber hinaus kann schwerlich angenommen werden, dass der Gesetzgeber nur versehentlich einen Gleichklang der Erteilungsvoraussetzungen einer Beschäftigungsduldung nach § 60 d AufenthG und einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 b AufenthG hinsichtlich des Erfordernisses der Erwerbstätigkeit und Lebensunterhaltssicherung nicht vorgenommen hat. Insoweit ist anzuführen, dass der Gesetzgeber die Vorschrift des § 25 b AufenthG bei Erlass von § 60 d AufenthG im Blick hatte. Dafür spricht die gesetzgeberische Intention, mit der Vorschrift des § 60 d AufenthG „klare Kriterien für eine Duldung nach § 60a Absatz 2 Satz 3 [zu definieren], die Ausreisepflichtigen, die durch ihre Erwerbstätigkeit ihren Lebensunterhalt sichern und gut integriert sind, durch ihre dreißigmonatige Erteilungsdauer und die Perspektive des Hereinwachsens in einen Aufenthaltstitel nach § 25 b [AufenthG] [...] einen verlässlichen Status vermittelt“ (vgl. BT-Drs. 19/8286, S. 2, 17). Auch zeigt dies die im Zuge der Aufnahme der Beschäftigungsduldung in das Aufenthaltsgesetz neu geschaffene Regelung des § 25 b Abs. 6 AufenthG, die Inhabern einer Duldung nach § 60 d AufenthG die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis bei nachhaltiger Integration unabhängig von einer vorangegangenen Duldungszeit von acht Jahren (vgl. dazu § 25 b Abs. 1 AufenthG) ermöglicht. Umso mehr gilt dies, nachdem der Gesetzgeber – vergleichbar der Vorschrift des § 25 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 AufenthG – auch im Rahmen des § 60 d Abs. 1 Nr. 3 AufenthG eine Lockerung der Erteilungsvoraussetzungen für Ausländer in besonderen Lebenssituationen durch Absenkung der Anforderungen an die wöchentliche Mindestarbeitszeit von 35 auf 20 Stunden für Alleinerziehende vorgenommen hat. Weitere Lockerungen in Anlehnung an § 25 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 und 3 AufenthG wären in diesem Zusammenhang ohne Weiteres möglich gewesen, sofern der Gesetzgeber dies bezweckt hätte. Schließlich sprechen auch die zeitlich begrenzte Geltungsdauer der Vorschrift – diese tritt am 31.12.2023 wieder außer Kraft (vgl. Art. 3 Satz 2 Gesetz über Duldung bei Ausbildung und Beschäftigung vom 08.07.2019) – sowie die in § 60 d Abs. 1 AufenthG enthaltene Stichtagsregelung dafür, dass der Gesetzgeber nur dem in dieser Vorschrift genau umrissenen Personenkreis die Erteilung einer Duldung zum Zwecke der Beschäftigung ermöglichen wollte.28 Abgesehen davon fehlt es auch an der Vergleichbarkeit der Vorschriften des § 60 d AufenthG und § 25 b AufenthG. Letztere statuiert ein Bleiberecht und unterscheidet sich dabei bereits strukturell von der Vorschrift des § 60 d und der darin enthaltenen (bloßen) Duldungsmöglichkeit. Auch dies spricht gegen eine entsprechende Anwendung der Vorschrift des § 25 b Abs. 3 AufenthG auf die Vorschrift des § 60 d Abs. 1 Nr. 3 AufenthG.29 Doch selbst wenn eine solche Anwendung des § 25 b Abs. 3 AufenthG zu befürworten wäre, was mit den dargelegten Gründen nicht als überwiegend wahrscheinlich anzusehen ist, wäre zu berücksichtigen, dass die Antragstellerin nicht glaubhaft gemacht hat, dass in ihrer Person die Voraussetzungen des § 25 b Abs. 3 AufenthG vorliegen, insbesondere hat sie nicht glaubhaft gemacht, dass sie aufgrund einer seelischen Erkrankung im Sinne dieser Vorschrift an einer wöchentlichen (Mindest-)Arbeitszeit von 35 Stunden gehindert ist. Auch mit Blick auf das von ihr vorgelegte ärztliche Attest vom 07.07.2020 der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, Frau ..., hat sie dies nicht glaubhaft gemacht. In dem Attest ist ausgeführt, dass die Antragstellerin psychisch erkrankt sei und sich deshalb in psychiatrischer Behandlung befinde. Es bestehe eine posttraumatische Belastungsstörung (ICD10 F 43.1). Aufgrund der ausgeprägten Krankheitssymptome der Antragstellerin sei diese nicht dazu in der Lage, mehr als sechs Stunden täglich an fünf Tagen die Woche zu arbeiten; die Durchhaltefähigkeit und Belastbarkeit sei deutlich eingeschränkt. Für die Kammer erschließt sich aus diesen knappen Angaben zur Erkrankung der Antragstellerin nicht, wie die Fachärztin zu ihrer Einschätzung gelangt ist, die Antragstellerin sei an der Ausübung einer mehr als dreißigstündigen Beschäftigung pro Woche gehindert. Konkrete Ausführungen hierzu, etwa durch nähere Beschreibung der Symptomatik der Antragstellerin, fehlen gänzlich. Dies geht zu Lasten der Antragstellerin, die dazu angehalten ist, die ihrer Abschiebung entgegenstehenden bzw. die einen Anspruch auf vorläufige Aussetzung ihrer Abschiebung stützenden Gründe dem Gericht gegenüber in nachvollziehbarer Art und Weise darzulegen. Andernfalls kann von einer Glaubhaftmachung nicht ausgegangen werden. Soweit die Antragstellerin im Asylverfahren weitere ärztliche Atteste vorgelegt hat, ist anzumerken, dass auch diese – mit den Gründen des im Asylverfahren der Antragstellerin ergangenen Urteils des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 27.09.2018 – ... –, auf das verwiesen wird, den Ausschlussgrund des § 25 b Abs. 3 AufenthG nicht zu begründen vermögen.30 Die Antragstellerin hat folglich nicht glaubhaft gemacht, dass in ihrer Person die Voraussetzungen für die Erteilung einer Beschäftigungsduldung nach § 60 d Abs. 1 i.V.m. § 60 a Abs. 2 Satz 3 AufenthG vorliegen. Nur ergänzend – da nicht mehr entscheidungserheblich – sei darauf hingewiesen, dass die Antragstellerin über die Vorschrift des § 60 d Abs. 1 Nr. 3 AufenthG hinaus auch das Vorliegen weiterer Voraussetzungen des § 60 d Abs. 1 AufenthG nicht glaubhaft gemacht hat. Nach Aktenlage ist davon auszugehen, dass die Antragstellerin noch im Oktober 2019 aufstockende Leistungen erhalten hat und möglicherweise auch darüber hinaus solche Leistungen bezogen hat. Nach § 60 d Abs. 1 Nr. 4 und 5 AufenthG kann eine Beschäftigungsduldung jedoch einzig dann erteilt werden, wenn der Lebensunterhalt des Ausländers derzeit sowie (zusätzlich) auch während der der Stellung des Antrags auf Erteilung einer Beschäftigungsduldung vorausgegangenen zwölf Monate gesichert ist. Diesbezüglich bestehen mit Blick auf den sich aus der Behördenakte ergebenden Leistungsbezug der Antragstellerin (vgl. insoweit die Vorschrift des § 2 Abs. 3 Nr. 6 AufenthG) jedoch Zweifel, so dass von einer ausreichenden Glaubhaftmachung der Lebensunterhaltssicherung während der vergangenen zwölf Monate nicht ausgegangen werden kann. Überdies konnte die Antragstellerin bis dato keine hinreichenden mündlichen Kenntnisse der deutschen Sprache im Sinne des § 60 d Abs. 1 Nr. 6 i.V.m. § 2 Abs. 10 AufenthG glaubhaft machen. Erforderlich sind danach Kenntnisse der deutschen Sprache entsprechend dem Niveau A 2 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen. Die Antragstellerin gibt selbst an, dass sie einen solchen Kurs bisher nicht abgeschlossen hat. Zwar führt sie insoweit an, dass sie aufgrund der Corona-Pandemie einen solchen Kurs bisher nicht habe besuchen können. Zu bedenken ist jedoch, dass die Antragstellerin bereits am 22.06.2016 ein Sprachzertifikat für das Niveau A 1 des Referenzrahmens erworben hat und somit auch schon (deutlich) zuvor einen solchen Kurs hätte besuchen und abschließen können. Auch ein großes Interesse der Antragstellerin am Erlernen der deutschen Sprache weist noch keine Sprachkenntnisse der Antragstellerin auf dem Niveau A 2 des Referenzrahmens nach. Dies gilt auch hinsichtlich etwaig geführter Gespräche der Antragstellerin im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit als Reinigungskraft, zumal eine Überprüfung dem Gericht insoweit nicht möglich ist. Inwieweit das Landratsamt ... sich von den Sprachkenntnissen der Antragstellerin in der Vergangenheit hat überzeugen können sollen, ergibt sich aus den Ausführungen der Antragstellerin ebenfalls nicht. Zwar wird angenommen, dass die Ausländerbehörden das Vorliegen (mündlicher) Sprachkenntnisse auch aus ihrer eigenen „Anschauung“ heraus beurteilen können sollen (vgl. dazu etwa VG Mainz, Urteil vom 01.04.2020 – 4 L 69/20.MZ –, juris; Kluth/Heusch, Beck’scher Online-Kommentar, Stand: 01.07.2020, § 60 d AufenthG Rn. 49). Das Landratsamt ... ist jedoch schon nicht die für die Antragstellerin zuständige Ausländerbehörde; dies ist die Stadt .... Es bleibt damit offen, in welchem Zusammenhang das Landratsamt ... das Regierungspräsidium ... – als für die Ausstellung einer Duldung hier zuständigen Ausländerbehörde – über die Sprachkenntnisse der Antragstellerin hätte in Kenntnis setzen können.31 Nach alledem ist der Antrag abzulehnen. Die Kosten des Verfahrens trägt die Antragstellerin (§ 154 Abs. 1 VwGO). Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 52 Abs. 1, 53 Abs. 3 Nr. 1, 63 Abs. 2 GKG. Für Streitigkeiten um eine Abschiebung ist in Anwendung von Nr. 8.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in seiner derzeit geltenden Fassung der halbe Auffangwert festzusetzen. Auch der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg geht in ständiger Rechtsprechung in dem vorliegenden Verfahren vergleichbaren Fällen von einem Streitwert in Höhe von 2.500 EUR aus (vgl. etwa VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 13.11.2019 – 11 S 2996/19 –, juris; Beschluss vom 18.12.2018 – 11 S 2125/18 –, juris). | {
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Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens trägt der Kläger.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
1T a t b e s t a n d
2Der Kläger ist Halter und Eigentümer eines Pkw der Marke Volkswagen (VW) mit dem amtlichen Kennzeichen xx - yy 000. Das Fahrzeug des Klägers ist mit einem Dieselmotor der Baureiche EA 189 des Herstellers VW versehen. In Fahrzeugen mit dieser Motorreihe wurde eine unzulässige Abschalteinrichtung verbaut. Der Automobilkonzern informierte den Kläger, dass der Motor seines Fahrzeugs von der Manipulationssoftware betroffen ist und er zum Aufspielen eines sogenannten Softwareupdates eine Vertragswerkstatt des Fahrzeugherstellers aufsuchen kann, sodass nach Aufspielen des Softwareupdates das Fahrzeug hinsichtlich des NOX-Ausstoßes wieder im Einklang mit den gesetzlichen Vorgaben steht. Von der Rückrufaktion und dem Aufspielen des Softwareupdates hat der Kläger keinen Gebrauch gemacht.
3Mit Schreiben vom 4. Januar 2018 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass sein Fahrzeug nicht (mehr) der entsprechenden EG-Typgenehmigung entspreche, da der Kläger nicht an der Rückrufaktion des VW-Konzerns teilgenommen habe. Die Beklagte forderte ihn auf ihr bis zum 30. Januar 2018 das Entfernen der verbauten unzulässigen Abschalteinrichtung durch eine Vertragswerkstatt des Fahrzeugherstellers nachzuweisen oder das Fahrzeug außer Betrieb zu setzen. Zugleich drohte sie die Untersagung des klägerischen Fahrzeugs sowie die zwangsweise Außerbetriebsetzung an und gab dem Kläger Gelegenheit zur Stellungnahme. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers erklärte gegenüber der Beklagten unter dem 10. Januar 2018, dass dem Kläger das Aufspielen des Softwareupdates nicht zumutbar sei.
4Mit Ordnungsverfügung vom 30. Mai 2018, dem Kläger zugestellt am 1. Juni 2018 forderte die Beklagte den Kläger auf bis zum 4. Juli 2018 den Nachweis einer Vertragswerkstatt des Fahrzeugherstellers vorzulegen, dass die unzulässige Abschalteinrichtung entfernt wurde, oder die Kennzeichenschilder zur Entstempelung und die Zulassungsbescheinigung Teil I (Fahrzeugschein) vorzulegen (Ziffer 1.). Darüber hinaus untersagte die Beklagte für den Fall, dass der Aufforderung in Ziffer 1. nicht nachgekommen werde, den Betrieb des Fahrzeugs und drohte die zwangsweise Außerbetriebsetzung an (Ziffer 2.). Die Beklagte begründete den Bescheid im Wesentlichen damit, dass das KBA festgestellt habe, dass das klägerische Fahrzeug im Hinblick auf die Stickoxid-Emissionen nicht der dem Fahrzeug zugrunde liegenden EG-Typgenehmigung entspreche. Das in dem Fahrzeug verbaute Abgasreinigungssystem sei mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung versehen, die die Abgaswerte unzulässig erhöht. Das KBA habe deshalb angeordnet, dass die Fahrzeuge mit einer vorschriftsmäßigen Software aufzurüsten und die unzulässige Abschalteinrichtung zu entfernen ist. Das klägerische Fahrzeug sei nicht vorschriftsmäßig im Sinne der Fahrzeug-Zulassungsverordnung (FZV), da Fahrzeuge, die nicht entsprechend nachgerüstet werden, nicht die formalen Zulassungsvorschriften erfüllen. Die Übereinstimmungsbescheinigung stimme entgegen § 6 Abs. 3 FZV nicht mit den tatsächlichen Gegebenheiten überein, da das Fahrzeug nicht einem Typ entspreche, für den eine EG-Typgenehmigung vorliege. Eine Abschalteinrichtung sei in der EG-Typengenehmigung nicht beschrieben worden. Die Voraussetzungen für ein Einschreiten gemäß § 5 Abs. 1 FZV würden somit vorliegen. Die Aufforderung zur Beseitigung des Mangels sowie die für den Fall der Zuwiderhandlung angeordnete Betriebsuntersagung sei geeignet und erforderlich, insbesondere vor dem Hintergrund, dass dem Kläger zunächst Gelegenheit gegeben werde den Mangel selbst zu beseitigen. Durch die Teilnahme an der Rückrufaktion würden dem Kläger auch keine übermäßigen Lasten auferlegt. Die Anordnung verstoße auch nicht gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes, da insofern die Interessen der Allgemeinheit überwiegen würden. Durch die unzulässig erhöhten Abgaswerte stelle das Fahrzeug einzeln und in der Masse eine Gefahr für die allgemeine Gesundheit und die Umwelt dar.
5Mit Schreiben vom 5. Juni 2018, bei Gericht eingegangen am selben Tag, hat der Kläger Klage erhoben. Zur Begründung trägt er im Wesentlichen vor, dass die Probleme des klägerischen Fahrzeugs nicht durch das Aufspielen des Softwareupdates behoben werden könnten. Vielmehr führe dies zu weiteren schwerwiegenden Schäden am Motor des Fahrzeugs und darüber hinaus werde die Beweisführung des Klägers im Rahmen eines gegen den Hersteller VW anzustrengenden Verfahrens vereitelt.
6Der Kläger beantragt,
7den Bescheid der Beklagten vom 30. Mai 2018 aufzuheben.
8Die Beklagte beantragt,
9die Klage abzuweisen.
10Sie bezieht sich zur Begründung ihres Klageabweisungsantrags auf den Inhalt des angefochtenen Bescheids und führt zudem aus, dass der Kläger ausreichend Zeit gehabt habe vor der Teilnahme an der Rückrufaktion ein Beweissicherungsverfahren durchführen zu lassen, um einen Zivilrechtsstreit nicht zu gefährden.
11Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch die Berichterstatterin erklärt.
12Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs der Beklagten Bezug genommen.
13E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
14A. Die Klage, über die die Berichterstatterin mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann (vgl. §§ 87a Abs. 2 und 3, 101 Abs. 2 VwGO), hat keinen Erfolg. Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.
15Der Bescheid der Beklagten vom 30. Mai 2018 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
16I. Taugliche Rechtsgrundlage für die Ziffern 1. lit. a und 2. des Bescheids ist § 5 Abs. 1 Fahrzeug-Zulassungsverordnung (FZV). Danach kann die Zulassungsbehörde dem Eigentümer oder Halter für den Fall, dass sich ein Fahrzeug als nicht vorschriftsmäßig nach der FZV, der Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung (StVZO) oder der Elektrokleinstfahrzeuge-Verordnung erweist, eine angemessen Frist zur Beseitigung der Mängel setzen oder den Betrieb des Fahrzeugs auf öffentlichen Straßen beschränken oder untersagen. Nicht vorschriftsmäßig sind Fahrzeuge, die nicht den Zulassungsvorschriften oder den Bau- oder Betriebsvorschriften entsprechen, z.B. nicht verkehrssicher sind oder Bestimmungen über Lärm und Abgase nicht genügen. Eine fehlende Vorschriftsmäßigkeit liegt auch vor, wenn bei einem zugelassenen Fahrzeug die Betriebserlaubnis/Genehmigung erloschen ist.
17Bei der Untersagung des Betriebs eines Fahrzeugs auf der Grundlage dieser Regelung handelt es sich um einen Dauerverwaltungsakt, da das Fahrzeug auf Dauer von der Teilnahme am Straßenverkehr ausgeschlossen wird und sich das Verbot nicht mit einer einmaligen Befolgung erledigt. Maßgeblich für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist daher, nachdem sich aus dem einschlägigen materiellen Recht nichts Abweichendes ergibt, der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.
18Vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2012 - 3 C 1/11 -, juris, Rn. 2, m. w. N.; Bay. VGH, Urteil vom 22. Oktober 2019 - 11 BV 19.824 -, juris, Rn. 30.
191. Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 FZV sind vorliegend erfüllt. Das klägerische Fahrzeug ist im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht vorschriftsmäßig im Sinne des § 5 Abs. 1 FZV. Es entspricht nicht (mehr) einem genehmigten Typ im Sinne von § 3 Abs. 1 Satz 2 FZV.
20Gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 FZV dürfen Fahrzeuge auf öffentlichen Straßen nur in Betrieb gesetzt werden, wenn sie zum Verkehr zugelassen sind. Die Zulassung wird nach § 3 Abs. 1 Satz 2 FZV auf Antrag erteilt, wenn das Fahrzeug einem genehmigten Typ entspricht oder eine Einzelgenehmigung erteilt ist und eine dem Pflichtversicherungsgesetz entsprechende Kfz-Haftpflichtversicherung besteht. Bei erstmaliger Zulassung ist gemäß § 6 Abs. 3 FZV der Nachweis, dass das Fahrzeug einem Typ entspricht, für den eine EG-Typengenehmigung vorliegt, durch Vorlage der Übereinstimmungsbescheinigung zu führen.
21a. Zwar ist davon auszugehen, dass das Fahrzeug des Klägers im Zeitpunkt der erstmaligen Zulassung der entsprechenden EG-Typgenehmigung entsprach, die das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) ursprünglich erteilt hatte. Die EG-Typgenehmigung bescheinigt dem Hersteller, dem sie erteilt wurde, dass der in der Genehmigung beschriebene Fahrzeugtyp den einschlägigen Verwaltungsvorschriften und technischen Anforderungen entspricht (vgl. Art. 3 Ziff. 5 der Richtlinie 2007/46/EG). Den Nachweis, dass sein Fahrzeug einem genehmigten Typ entspricht, konnte der Kläger zum damaligen Zeitpunkt durch die vom Hersteller ausgestellte Übereinstimmungsbescheinigung (vgl. § 6 Abs. 3 FZV) führen. Bei diesem Dokument handelt es sich um eine vom Hersteller ausgestellte Privaturkunde, der kraft Gesetzes eine besondere Wirkung beigemessen wird. Aufgrund der Übereinstimmungsbescheinigung kann ein einzelnes typgenehmigtes Fahrzeug von den Zulassungsbehörden zum Betrieb zugelassen werden, ohne dass eine weitere Prüfung der einschlägigen Rechtsvorschriften erforderlich ist. Sie bewirkt, dass der Inhaber eines einzelnen konkreten Serienfahrzeugs an der Legalisierungswirkung der EG-Typgenehmigung, die sich lediglich auf den abstrakten Fahrzeugtyp bezieht und lediglich zu Gunsten des Herstellers als Genehmigungsinhaber wirkt, in einem gewissen Maße teilnimmt. Er kann damit gemäß § 3 Abs. 1 Satz 2 FZV die Zulassung des Fahrzeugs beantragen und erhält sie unter Vorlage der Übereinstimmungsbescheinigung, da diese gemäß § 2 Nr. 7 FZV bescheinigt, dass ein Fahrzeug, ein System, ein Bauteil oder eine selbstständige technische Einheit zum Zeitpunkt seiner/ihrer Herstellung einem nach der jeweiligen EG-Typgenehmigungsrichtlinie genehmigten Typ entspricht. Auf dieser Grundlage wird die Zulassung nach § 3 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 FZV erteilt. Insofern kommt der Übereinstimmungsbescheinigung beim Zulassungsverfahren eine besondere Rechtsscheinwirkung zu. Sie dient der Harmonisierung und Vereinfachung sowie der gegenseitigen Anerkennung im Bereich des Fahrzeugzulassungsrechts. Gerade die Genehmigung eines abstrakten Fahrzeugtyps soll verhindern, dass einzelne nationale Behörden unter Anwendung unterschiedlicher Rechtsvorschriften für jedes Serienfahrzeug eine eigene Erlaubnis erteilen. Zudem werden die Zulassungsbehörden dadurch entlastet, dass die Einhaltung der Rechtsvorschriften bezüglich des Typs von den dafür zuständigen Behörden - wie dem KBA - geprüft werden und die Konformität des konkreten Fahrzeugs durch die Übereinstimmungsbescheinigung belegt werden soll. Dies trägt insgesamt zur Formalisierung des Verfahrens bei. Aufgrund dieser Systematik kann der Rechtsschein dieser Bescheinigung auch nur soweit gehen, wie der Inhalt des Bezugsobjekts, also der entsprechenden Typgenehmigung.
22b. Auf diese Rechtsscheinwirkung kann sich der Kläger zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt jedoch nicht mehr berufen. Denn das KBA hat die das Fahrzeug des Klägers betreffende ursprünglich erteilte EG-Typgenehmigung mit gegenüber dem Hersteller erlassenen Bescheid im Wege nachträglicher Nebenbestimmungen modifiziert. Im Fall der Fahrzeuge mit dem Motor EA 189 (Euro 5) hat es den Fahrzeugherstellern nach § 25 Abs. 2 EG-FGV die Pflicht auferlegt die Software aus allen Fahrzeugen zu entfernen und geeignete Maßnahmen zur Wiederherstellung der Vorschriftsmäßigkeit der Fahrzeuge zu ergreifen. Es sah dabei die im Rahmen einer Rückrufaktion (Rückrufcode 23Q7) vorzunehmende Anpassung der Software als geeignet und damit zur Wiederherstellung der Vorschriftsmäßigkeit ausreichend an. Die vom KBA erlassenen Nebenbestimmungen lassen die Wirksamkeit der Typgenehmigung unberührt, sie ändern die ursprüngliche Typgenehmigung aber inhaltlich ab.
23Die von den Bescheiden des KBAs betroffenen Fahrzeuge und damit auch das klägerische Fahrzeug entsprechen ohne Teilnahme an der Rückrufaktion nicht mehr der modifizierten EG- Typgenehmigung und können nicht mehr von der ursprünglichen Rechtswirkung der Typgenehmigung profitieren.
24VG Bremen, Urteil vom 5. März 2020 - 5 K 516/19 -, juris, Rn. 24 und 26, jeweils m. w. N.; Bay. VGH, Urteil vom 22. Oktober 2019 - 11 BV 19.824 -, juris, Rn. 31 ff.; Hess. VGH, Beschluss vom 20. März 2019 - 2 B 261/19 -, juris, Rn. 5 ff.; VG Stuttgart, Beschluss vom 6. Februar 2019 - 8 K 11401/18 -, juris, Rn. 15 ff., m. w. N., 21 (bestätigt durch VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 3. Februar 2020 - 10 S 625/19 -, juris, Rn. 8); OVG Berlin-Bbg., Beschluss vom 25. März 2019 - OVG 1 S 125.18 -, juris, Rn. 10; VG Düsseldorf, Urteil vom 24. Januar 2018 - 6 K 12341/17 -, nrwe.de, Rn. 273.
252. Die Beklagte hat auch das ihr vorliegend zustehende Ermessen ordnungsgemäß ausgeübt. Die von der Beklagten getroffene Ermessensentscheidung unterliegt nur der eingeschränkten gerichtlichen Überprüfbarkeit (vgl. § 114 Satz 1 VwGO). Grundsätzlich räumt § 5 Abs. 1 FZV der Zulassungsbehörde sowohl ein Auswahl- als auch Entschließungsermessen ein.
26Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 17. August 2018 - 8 B 865/18 -, juris, Rn. 18 f., m. w. N.; Bay. VGH, Urteil vom 22. Oktober 2019 - 11 BV 19.824 -, juris, Rn. 40.
27Allerdings sind Fallgestaltungen, in denen die Zulassungsbehörde trotz Vorschriftswidrigkeit des Fahrzeugs von einem Einschreiten absehen kann, allenfalls in besonders gelagerten Konstellationen denkbar. Ein solches Absehen von Maßnahmen käme etwa dann in Betracht, wenn der Fahrzeughalter im Anhörungsverfahren glaubhaft und nachvollziehbar darlegt, das Fahrzeug in allernächster Zeit dauerhaft stilllegen zu wollen. Hierfür bestehen jedoch vorliegend keine Anhaltspunkte.
28Ihr Auswahlermessen hat die Beklagte gemäß § 40 VwVfG entsprechend dem Zweck der Ermächtigung des § 5 Abs. 1 FZV ausgeübt und dabei die gesetzlichen Grenzen des Ermessens eingehalten.
29§ 5 Abs. 1 FZV sieht alternativ die Aufforderung zur Mängelbeseitigung innerhalb einer angemessenen Frist oder die Beschränkung oder Untersagung des Fahrzeugbetriebs auf öffentlichen Straßen vor. Dementsprechend hat die Beklagte in Ziffer 1. lit. a dem Kläger unter Fristsetzung bis zum 4. Juli 2018 die Möglichkeit gegeben einen Nachweis der Mängelbeseitigung zu erbringen und in Ziffer 2. für den Fall, dass dieser Aufforderung nicht nachgekommen wird, den Fahrzeugbetrieb im öffentlichen Verkehr untersagt. Es entspricht dem Zweck der Ermächtigung in § 5 Abs. 1 FZV, zugelassene, aber nicht vorschriftsmäßige Fahrzeuge bis zum Nachweis der Mängelbeseitigung nicht mehr am öffentlichen Straßenverkehr teilnehmen zu lassen. Mittelbar dient die Maßnahme der Reduzierung des Stickoxid-Ausstoßes der betroffenen Fahrzeuge im Normalbetrieb.
30a. Sowohl die verfügte Verpflichtung zum Nachweis der Mängelbeseitigung als auch die für den erfolglosen Fristablauf ausgesprochene Betriebsuntersagung sind zur Erfüllung dieses Zwecks offensichtlich geeignet. Das KBA geht davon aus, dass die betroffenen Fahrzeuge nach Teilnahme an der Rückrufaktion der modifizierten EG-Typgenehmigung entsprechen und damit wieder vorschriftsmäßig sind. Dem können sich die Zulassungsbehörden anschließen, ohne die technischen Einzelheiten des Software-Updates einer eigenen Überprüfung unterziehen zu müssen. Zu einer solchen Überprüfung sind die Zulassungsbehörden weder verpflichtet noch in der Lage. Vielmehr obliegt die Typgenehmigung und die Typprüfung von Fahrzeugen und Fahrzeugteilen allein dem KBA (§ 2 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a KBAG, § 2 Abs. 1, § 25 EG-FGV). Für die Eignung der getroffenen Maßnahmen zur Erreichung des Zwecks der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage kommt es auch nicht darauf an, ob die Fahrzeuge nach Durchführung des Software-Updates die in Anhang I zur VO (EG) Nr. 715/2007 festgelegten Emissionsgrenzwerte einhalten und ob die Abschalteinrichtung damit als zulässig im Sinne von Art. 5 Abs. 2 der VO (EG) Nr. 715/2007 anzusehen ist. Auch diese Prüfung ist allein Sache des KBAs und nicht der Zulassungsbehörden.
31Vgl. Bay. VGH, Urteil vom 22. Oktober 2019 - 11 BV 19.824 -, juris, Rn. 43; VG Bremen, Urteil vom 5. März 2020 - 5 K 516/19 -, juris, Rn. 31.
32b. Beide getroffenen Maßnahmen sind zur Erreichung des Zwecks auch erforderlich.
33Zur Zweckerfüllung gleichermaßen geeignete, den Kläger aber weniger belastende Maßnahmen sind nicht ersichtlich.
34c. Schließlich sind beide Maßnahmen, insbesondere auch die Betriebsuntersagung, als verhältnismäßig im engeren Sinne anzusehen.
35Hiergegen kann der Kläger nicht mit Erfolg einwenden, er befürchte mögliche Folgeschäden für sein Fahrzeug, wenn er das Software-Update durchführen lasse. Dieser Einwand betrifft ebenso wie etwaige Nachteile in den zivilrechtlichen Verfahren im Falle des durchgeführten Software-Updates ausschließlich das Rechtsverhältnis zwischen dem Kläger und dem Fahrzeughersteller und berührt nicht die Rechtmäßigkeit der von der Beklagten zur Wiederherstellung der Vorschriftsmäßigkeit des Fahrzeugs angeordneten Maßnahmen.
36Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 17. August 2018 - 8 B 865.18 -, juris, 28; Bay. VGH, Urteil vom 22. Oktober 2019 - 11 BV 19.824 -, juris, Rn. 46, m. w. N.
37Der Kläger wird durch die von der Beklagten verlangte Mängelbeseitigung nicht mit Kosten belastet. Die Kosten für das Software-Update trägt der Fahrzeughersteller. Der vom Kläger befürchteten Erschwerung der Beweisführung hätte er durch Antrag auf Begutachtung durch einen Sachverständigen im Wege des selbständigen Beweisverfahrens gemäß §§ 485 ff. ZPO begegnen können.
38Die von der Beklagten getroffene Güterabwägung ist auch nicht deshalb zu beanstanden, weil die Auswirkungen der Mängelbeseitigung für die Luftreinhaltung und den Gesundheitsschutz bezogen auf das einzelne Fahrzeug vergleichsweise gering sind. Insoweit ist für emissionsbegrenzende Maßnahmen bei gleichartigen Fahrzeugmängeln nicht auf das jeweilige Fahrzeug abzustellen, sondern auf die Gesamtzahl der von den Rückrufaktionen betroffenen Fahrzeuge.
39Vgl. Bay. VGH, Urteil vom 22. Oktober 2019 - 11 BV 19.824 -, juris, Rn. 48, m. w. N.
40II. Die Beklagte konnte dem Kläger auch gemäß §§ 5 Abs. 2 i. V. m. 14 Abs. 1 FZV aufgeben, ihr den Fahrzeugschein bzw. die Zulassungsbescheinigung Teil I sowie die Kennzeichenschilder zur Entstempelung vorzulegen (Ziffer 1. lit. b der Ordnungsverfügung). Ist der Betrieb eines Fahrzeugs, für das ein Kennzeichen zugeteilt ist, untersagt, hat der Eigentümer oder Halter das Fahrzeug gemäß § 5 Abs. 2 FZV nach Maßgabe des § 14 FZV außer Betrieb setzen zu lassen oder der Zulassungsbehörde nachzuweisen, dass die Gründe für die Beschränkung oder Untersagung des Betriebs nicht oder nicht mehr vorliegen. Vorliegend sind - wie bereits ausgeführt - die Voraussetzungen für die Außerbetriebsetzung erfüllt.
41B. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO und die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 709 Satz 2, 711 ZPO.
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Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 9. Februar 2018 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 Prozent des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte zuvor Sicherheit in Höhe von 110 Prozent des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
1Tatbestand:
2Die Beteiligten streiten um die Geltung von Sozialvorschriften im Straßenverkehr nach der Verordnung zur Durchführung des Fahrpersonalgesetzes (Fahrpersonalverordnung – FPersV) vom 27. Juni 2005 (BGBl. I S. 1882) in der zuletzt durch Art. 1 der Verordnung vom 8. August 2017 (BGBl. I S. 3158) geänderten Fassung.
3Die Klägerin liefert im Auftrag verschiedener Elektromärkte einer großen deutschen Elektromarktkette Haushaltsgroßgeräte wie Großbildfernseher, Geschirrspüler, Waschmaschinen, Kühlschränke und andere Küchengeräte an deren Kunden aus. Im Einzelnen können die Kunden dabei zwischen verschiedenen Lieferoptionen wählen. Die sog. Standardlieferung beinhaltet den einfachen Transport des Geräts. Mitarbeiter der Klägerin laden das Gerät bei einem der Elektromärkte in ein Fahrzeug der Klägerin ein und transportieren es zum vereinbarten Bestimmungsort, wo sie es dem Kunden übergeben. Die sog. Comfortlieferung beinhaltet zusätzlich den Aufbau bzw. das Abstellen des Geräts und dessen sach- und fachgerechten Anschluss an wasser- oder stromführende Leitungen. Bei der sog. Premiumlieferung umfasst der Auftrag zudem zeit- und arbeitsintensivere Montagearbeiten insbesondere beim Einbau von Küchengeräten. Bei jeder der drei Lieferoptionen bietet die Klägerin außerdem den Abtransport beim Kunden vorhandener Altgeräte an. Neben dieser Tätigkeit führt die Klägerin in einzelnen Fällen auch freie Direktaufträge von Kunden aus, die ausschließlich Installations- und Montagearbeiten ohne den Transport von Haushaltsgroßgeräten beinhalten.
4Zur Ausführung der Aufträge setzt die Klägerin rund 30 Fahrzeuge mit einem jeweiligen Gesamtgewicht zwischen 2,8 t und 3,5 t ein, die in der Regel mit zwei Mitarbeitern besetzt sind. Bei diesen handelt es sich überwiegend um ausgebildete Handwerker im Bereich Elektrotechnik oder Küchenbauer. Vereinzelt setzt die Klägerin auch angelernte Kräfte ein. Das zur Durchführung der Installations- und Montagearbeiten erforderliche Werkzeug sowie die gängigen Zubehör- bzw. Ersatzteile wie Kabel, Schläuche und TV-Anschlussdosen werden im Fahrzeug mitgeführt. Bei der sog. Standardlieferung verbringt das Personal im Durchschnitt weniger als 15 Minuten beim Kunden, bei der sog. Comfortlieferung etwa 30 Minuten und bei der sog. Premiumlieferung etwa 45 bis 60 Minuten. Insgesamt sind die Mitarbeiter der Klägerin mit einem Fahrzeug regelmäßig 6 bis 7 Stunden pro Tag unterwegs. Die Fahrstrecken zwischen den Lieferorten betragen typischerweise zwischen 3 km und 30 km, wobei die Mehrzahl 10 km nicht überschreitet. Die Gesamtstrecke einer Tagestour beträgt in der Regel zwischen 20 km und 70 km.
5Anlässlich einer Verkehrskontrolle im Oktober 2016 mahnte die Bezirksregierung E. als zuständige Aufsichtsbehörde gegenüber der Klägerin unter Androhung künftig zu verhängender Bußgelder die Einhaltung der gesetzlichen Regelungen über Lenkzeiten, Fahrtunterbrechungen und Ruhezeiten für Fahrer sowie die Beachtung der zugehörigen Aufzeichnungspflichten aus § 1 FPersV an. Anders als die Klägerin meine, könne sie sich insbesondere nicht mit Erfolg auf das sog. Handwerkerprivileg aus § 1 Abs. 2 Nr. 3 FPersV berufen. Danach seien zwar solche Fahrzeuge von den vorstehend genannten Pflichten ausgenommen, die zur Beförderung von Material, Ausrüstungen oder Maschinen verwendet würden, die der Fahrer zur Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit benötige, soweit das Lenken des Fahrzeugs nicht die Haupttätigkeit des Fahrers darstelle. Bei der Tätigkeit der Klägerin stünden jedoch nicht die Installations- und Montagearbeiten beim Kunden, sondern die Auslieferung der durch die Kunden bestellten Haushaltsgroßgeräte im Vordergrund.
6Daraufhin hat die Klägerin am 30. Juni 2017 bei dem Verwaltungsgericht Klage erhoben, mit der sie zur Vermeidung künftiger Ordnungswidrigkeitenverfahren die Feststellung erstrebt, nicht den sich aus § 1 FPersV ergebenden Pflichten zu unterliegen, weil ihre Tätigkeit entgegen der Annahme der Bezirksregierung gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 3 FPersV von diesen Pflichten ausgenommen sei. Sie setze ihre Fahrzeuge zur Ausführung verschiedenartiger Aufträge ein. Ihre Tätigkeit müsse daher als gesetzlich nicht ausdrücklich geregelte Mischtätigkeit aufgefasst und einheitlich aufgrund einer Gesamtschau nach dem Tätigkeitsschwerpunkt beurteilt werden. Nicht anzuknüpfen sei hingegen an das einzelne auszuliefernde Gerät bzw. den jeweils zugrundeliegenden Auftrag. Diese Betrachtungsweise führte zu einer künstlichen und lebensfremden Aufspaltung ihrer Tätigkeit und bedeutete im Ergebnis, dass die gesetzlich bezweckte Privilegierung handwerklicher Tätigkeiten vielfach leerliefe. Der hiernach maßgebliche Tätigkeitsschwerpunkt sei zudem anhand einer zeitlichen Betrachtungsweise zu ermitteln. Im Ergebnis sei von einer überwiegenden durch § 1 Abs. 2 Nr. 3 FPersV privilegierten handwerklichen Tätigkeit auszugehen, weil die reine Fahrleistung ihrer Mitarbeiter nur einen kleinen Bruchteil der Gesamtarbeitszeit ausmache.
7Die Klägerin hat beantragt,
8festzustellen, dass sie nicht verpflichtet ist, Lenkzeiten, Fahrtunterbrechungen und Ruhezeiten nach Maßgabe des § 1 FPersV einzuhalten und diese gemäß § 1 Abs. 6 FPersV durch ihre Fahrer aufzeichnen zu lassen.
9Der Beklagte hat beantragt,
10die Klage abzuweisen.
11Er ist der Klage im Wesentlichen unter Bekräftigung der bereits vorprozessual durch die Bezirksregierung vertretenen Rechtsauffassung entgegengetreten. Die durch die Klägerin ausgeführten Aufträge seien trotz der durch ihre Mitarbeiter durchgeführten handwerklichen Arbeiten beim Kunden zumindest überwiegend durch die Auslieferung der bestellten Haushaltsgroßgeräte geprägt. Abzustellen sei dabei nicht allein auf zeitliche Aspekte, sondern auch auf den Hauptzweck des jeweiligen Auftrags. Dieser bestehe zuvörderst in der Auslieferung des durch den Kunden bestellten Haushaltsgroßgeräts, während es sich bei den Installationsarbeiten beim Kunden lediglich um ergänzende, nachgeordnete Dienstleistungen aus Anlass der Auslieferung handele. Anders als vorprozessual angenommen, könne eine Ausnahme allenfalls für die sog. Premiumlieferungen in Betracht gezogen werden, weil dort nicht der Transport, sondern die Montagearbeiten im Vordergrund stünden. Auch eine etwaige Mitnahme eines beim Kunden vorhandenen Altgeräts führe insoweit nicht zu einer abweichenden Beurteilung, weil der Abtransport des Altgeräts bei lebensnaher Betrachtung mit dem Auslieferungsvorgang verbunden sei. In der Praxis sei die Klägerin auch hiernach allerdings nur dann nicht zur Beachtung der sich aus § 1 FPersV ergebenden Vorgaben verpflichtet, soweit sie mit einem ihrer Fahrzeuge ausschließlich sog. Premiumlieferungen durchführe.
12Mit Urteil vom 9. Februar 2018 hat das Verwaltungsgericht festgestellt, dass die Klägerin nicht verpflichtet ist, Lenkzeiten, Fahrtunterbrechungen und Ruhezeiten nach Maßgabe von § 1 Abs. 1 FPersV einzuhalten und gemäß § 1 Abs. 6 FPersV durch ihre Fahrer aufzeichnen zu lassen, soweit mit den von ihr eingesetzten Fahrzeugen kein Altgerät abtransportiert und kein Neugerät lediglich im Sinne einer sog. Standardlieferung ausgeliefert wird. Im Übrigen hat es die Klage als unbegründet abgewiesen. Die Ausnahmevorschrift des § 1 Abs. 2 Nr. 3 FPersV sei maßgeblich vom Tatbestandsmerkmal der Haupttätigkeit des Fahrers her auszulegen. Die Transportleistung des Fahrers dürfe nicht als dessen Hauptleistung anzusehen sein, wobei von mehreren Leistungen grundsätzlich diejenige als Hauptleistung angesehen werden müsse, die für die Vertragsschließenden im Vordergrund stehe. Unter den gegebenen Umständen sei als Maßstab die typischerweise für die Bedienung eines Kunden aufzuwendende Zeit heranzuziehen. Davon ausgehend stellten weder die Anlieferung eines Neugeräts im Rahmen einer sog. Standardlieferung noch der Abtransport eines beim Kunden vorhandenen Altgeräts einen Materialtransport dar, weil in diesen Fällen die Transportleistung als Haupttätigkeit des Fahrers anzusehen sei. Demgegenüber könne sich die Klägerin mit Erfolg auf die Ausnahmevorschrift berufen, soweit sie Neugeräte im Rahmen sog. Premium- und Comfortlieferungen ausliefere. In diesen Fällen seien die Installations- und Montagearbeiten der Fahrer als Hauptleistung bzw. als eine zumindest gleichgewichtige Leistung anzusehen, so dass die Transporttätigkeit nicht überwiege. Mit der Rechtsauffassung des Beklagten sei allerdings auf das einzelne Gerät bzw. den einzelnen Auftrag abzustellen. Hieraus folge, dass ein Fahrzeug ungeachtet weiterer Aufträge bereits dann nicht mehr unter die Ausnahmevorschrift falle, wenn mit ihm auch nur ein Neugerät im Rahmen einer sog. Standardlieferung ausgeliefert oder auch nur ein Altgerät abtransportiert werde.
13Die Klägerin hat gegen das ihr am 22. Februar 2018 zugestellte Urteil am 21. März 2018 die durch das Verwaltungsgericht zugelassene Berufung eingelegt, mit der sie ihr Begehren im Umfang der Klageabweisung weiterverfolgt. Sie wendet sich insbesondere gegen eine ihrer Ansicht nach lebensfremde, in der Praxis nur schwer umzusetzende und durch § 1 Abs. 2 Nr. 3 FPersV auch nicht gedeckte Aufspaltung einer Auslieferungsfahrt nach den von ihr angebotenen verschiedenen Lieferoptionen. Eine Auslieferungsfahrt müsse vielmehr – wie bereits erstinstanzlich geltend gemacht – einheitlich nach ihrem Gesamtbild beurteilt werden. Die Haupttätigkeit ihrer Fahrer bestehe in der Durchführung handwerklicher Arbeiten. Das Verwaltungsgericht habe nicht in der gebotenen Weise berücksichtigt, dass die Fahrer das für die Installations- und Montagearbeiten erforderliche Werkzeug im Fahrzeug mitführten und jedenfalls überwiegend auch über eine handwerkliche Berufsausbildung verfügten. Außerdem verbrächten die Fahrer deutlich mehr Zeit beim Kunden als im Fahrzeug.
14Die Klägerin beantragt,
15das Urteil des Verwaltungsgerichts teilweise zu ändern und festzustellen, dass sie nicht verpflichtet ist, Lenkzeiten, Fahrtunterbrechungen und Ruhezeiten nach Maßgabe des § 1 FPersV einzuhalten und diese gemäß § 1 Abs. 6 FPersV durch ihre Fahrer aufzeichnen zu lassen.
16Der Beklagte beantragt,
17die Berufung zurückzuweisen.
18Er verteidigt das angefochtene Urteil unter Wiederholung und Vertiefung seines erstinstanzlichen Vorbringens. Der durch das Verwaltungsgericht vorgenommenen Qualifizierung von Auslieferungsfahrten im Rahmen sog. Comfortlieferungen tritt er in der Sache entgegen. Eigene Rechtsmittel hat der Beklagte jedoch nicht eingelegt.
19Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
20Entscheidungsgründe:
21Der Senat kann über die Berufung der Klägerin gemäß § 125 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 101 Abs. 2 VwGO ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entscheiden, weil sich die Beteiligten mit dieser Verfahrensweise einverstanden erklärt haben.
22Die Berufung ist zulässig, aber unbegründet.
23Das Verwaltungsgericht hat die Klage im Hinblick auf die im Berufungsverfahren noch allein streitgegenständliche Beurteilung der Auslieferung von Neugeräten im Rahmen sog. Standardlieferungen sowie des Abtransports von beim Kunden vorhandenen Altgeräten im Ergebnis zu Recht als zulässig, aber unbegründet abgewiesen.
241. Die Klage ist als vorbeugende Feststellungsklage im Sinne von § 43 Abs. 1 Alt. 1 VwGO zulässig. Insbesondere steht zwischen den Beteiligten ein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis im Streit, an dessen baldiger Klärung die Klägerin ein berechtigtes Interesse hat, ohne dass ihr gegenwärtig vorrangige Rechtsschutzmöglichkeiten zur Klärung zur Verfügung stehen oder sie in zumutbarer Weise auf die Inanspruchnahme nachträglichen Rechtsschutzes verwiesen werden darf.
25Zwischen der Klägerin und dem Beklagten als Rechtsträger der Bezirksregierung steht ein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis im Streit. Als feststellungsfähiges Rechtsverhältnis werden die rechtlichen Beziehungen angesehen, die sich aus einem konkreten Sachverhalt aufgrund einer diesen Sachverhalt betreffenden öffentlich-rechtlichen Norm für das Verhältnis mehrerer Personen untereinander oder einer Person zu einer Sache ergeben. Zwischen den Beteiligten des Rechtsverhältnisses muss zudem ein Meinungsstreit bestehen, aus dem heraus sich eine Seite berühmt, ein bestimmtes Tun oder Unterlassen der anderen Seite verlangen zu können.
26Vgl. BVerwG, Urteile vom 28. Januar 2010 – 8 C 19.09 –, BVerwGE 136, 54 = juris, Rn. 28 f., vom 23. August 2007 – 7 C 2.07 –, BVerwGE 129, 199 = juris, Rn. 21, und – 7 C 13.06 –, NVwZ 2007, 1311 = juris, Rn. 21, und vom 23. Januar 1992 – 3 C 50.89 –, BVerwGE 89, 327 = juris, Rn. 29 f.; OVG NRW, Urteil vom 17. September 2018 – 13 A 1328/15 –, juris, Rn. 28 f. m.w.N.
27Es müssen sich also aus dieser Rechtsbeziehung heraus bestimmte Rechtsfolgen ergeben können, was wiederum die Anwendung von bestimmten Normen auf den konkreten Sachverhalt voraussetzt. Daran fehlt es, wenn nur abstrakte Rechtsfragen wie die Gültigkeit einer Norm zur Entscheidung gestellt werden. Auch bloße Vorfragen oder unselbständige Elemente eines Rechtsverhältnisses können nicht Gegenstand einer Feststellungsklage sein. Anders liegt es dagegen, wenn die Anwendung einer Rechtsnorm auf einen bestimmten, in der Wirklichkeit gegebenen Sachverhalt streitig ist, so dass die Rechtmäßigkeit der Norm als – wenn auch streitentscheidende – Vorfrage aufgeworfen wird.
28Vgl. BVerwG, Urteile vom 28. Januar 2010 – 8 C 19.09 –, BVerwGE 136, 54 = juris, Rn. 24 f., vom 23. August 2007 – 7 C 2.07 –, BVerwGE 129, 199 = juris, Rn. 20, und – 7 C 13.06 –, NVwZ 2007, 1311 = juris, Rn. 20, und vom 28. Juni 2000 – 11 C 13.99 –, BVerwGE 111, 276 = juris, Rn. 29 f.; OVG NRW, Urteil vom 17. September 2018 – 13 A 1328/15 –, juris, Rn. 30 f. m.w.N.
29Nach Maßgabe dieser Grundsätze hat die Klägerin dem Gericht mit ihrer Klage einen hinreichend konkreten Sachverhalt zur Beurteilung unterbreitet. Sie begehrt mit ihr die Klärung, ob der Einsatz ihrer Fahrzeuge den in § 1 FPersV geregelten Vorgaben über Lenkzeiten, Fahrtunterbrechungen und Ruhezeiten der Fahrer sowie über die zugehörigen Aufzeichnungspflichten unterliegt. Bei gebotener Auslegung zielt ihre Klage damit auf die Feststellung des Bestehens bzw. Nichtbestehens derjenigen Rechtsfolgen, die durch § 1 FPersV gegenüber der Klägerin selbst in ihrer Funktion als Unternehmerin gesetzt werden. Hierzu gehören namentlich die in § 1 Abs. 5 Satz 1 FPersV genannte Pflicht des Unternehmers, für die Einhaltung der Vorschriften über die Einhaltung von Lenkzeiten, Fahrtunterbrechungen und Ruhezeiten zu sorgen, sowie die sich im Einzelnen u.a. aus § 1 Abs. 6 Satz 7 Nr. 1 bis 4 FPersV ergebenden Aufzeichnungspflichten. Das Bestehen bzw. Nichtbestehen dieser Rechtsfolgen ist zwischen den Beteiligten streitig, nachdem die Bezirksregierung als zuständige Aufsichtsbehörde gegenüber der Klägerin die Beachtung dieser Pflichten angemahnt und damit zugleich zum Ausdruck gebracht hat, dass sie die Rechtsauffassung der Klägerin von einer Befreiung durch die Ausnahmevorschrift des § 1 Abs. 2 Nr. 3 FPersV nicht teilt.
30Die Klägerin hat zudem – wie von § 43 Abs. 1 VwGO vorausgesetzt – ein berechtigtes Interesse an einer baldigen Feststellung, weil sie ihren Betrieb im Fall des Bestehens der im Streit stehenden Pflichten neu organisieren müsste, um den gesetzlichen Anforderungen des § 1 FPersV zu entsprechen und die Verhängung etwaiger Bußgelder zu vermeiden. Zur Klärung stehen der Klägerin gegenwärtig auch keine anderweitigen Rechtsschutzmöglichkeiten zur Verfügung, die gegenüber der Erhebung der Feststellungsklage gemäß § 43 Abs. 2 Satz 1 VwGO vorrangig wären. Sie kann im Übrigen auch nicht in zumutbarer Weise auf die Inanspruchnahme nachträglichen Rechtsschutzes verwiesen werden. Verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz ist zwar vor dem Hintergrund des verfassungsrechtlichen Grundsatzes der Gewaltenteilung und des im Ausgangspunkt reaktiv konzipierten Gebots eines effektiven Rechtsschutzes in Art. 19 Abs. 4 GG grundsätzlich nicht vorbeugend ausgestaltet. Ein Abweichen von dieser Grundentscheidung kommt aber ausnahmsweise in Betracht, wenn der nachträgliche Rechtsschutz mit unzumutbaren Nachteilen für den Betroffenen verbunden wäre. Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn dem Betroffenen – wie hier der Klägerin gemäß § 21 Abs. 1 Nr. 1 bis 3a FPersV – bußgeldrechtliche Sanktionen drohen, die an die streitigen verwaltungsrechtlichen Zweifelsfragen anknüpfen. Dem Betroffenen ist es nämlich grundsätzlich nicht zumutbar, das Risiko eines derart sanktionsbewehrten Pflichtenverstoßes einzugehen und den Rechtsstreit über dessen Vorliegen erst im Nachhinein „von der Anklagebank herab“ führen zu müssen. Dabei spielt es im Ausgangspunkt auch keine Rolle, dass die Entscheidung des Verwaltungsgerichts zu Bestand, Inhalt und Umfang der streitigen verwaltungsrechtlichen Pflichten für ein Strafgericht nicht bindend ist. Schon der Einfluss, den eine für den Betroffenen günstige Entscheidung auf die Beurteilung der ordnungswidrig begangenen Handlung ausüben kann, kann das Feststellungsbegehren des Betroffenen rechtfertigen.
31Vgl. zu dem für die Inanspruchnahme vorbeugenden Rechtsschutzes erforderlichen qualifizierten Rechtsschutzinteresse zuletzt etwa OVG NRW, Beschluss vom 25. August 2017 – 13 B 762/17 –, ZD 2017, 584 = NVwZ-RR 2018, 54 = juris, Rn. 15 ff. m.w.N.
322. Die Klage ist jedoch unbegründet, weil der im Streit stehende Einsatz der Fahrzeuge zur Auslieferung von Neugeräten im Rahmen sog. Standardlieferungen sowie zum Abtransport von beim Kunden vorhandenen Altgeräten den in § 1 FPersV geregelten Vorgaben über Lenkzeiten, Fahrtunterbrechungen und Ruhezeiten der Fahrer sowie über die zugehörigen Aufzeichnungspflichten unterliegt und die Klägerin damit die sich hieraus ergebenden unternehmerischen Pflichten zu beachten hat.
33Die Klägerin setzt im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 FPersV Fahrzeuge mit einer zulässigen Höchstmasse von 2,8 t bis 3,5 t zum Zweck der Güterbeförderung, nämlich zur Auslieferung bzw. Abholung elektronischer Haushaltsgroßgeräte, ein. Damit geht für die Fahrer gemäß dieser Vorschrift eine Verpflichtung zur Beachtung derjenigen Lenkzeiten, Fahrtunterbrechungen und Ruhezeiten einher, die sich für entsprechende Fahrzeuge ab 3,5 t unmittelbar aus Art. 4, 6 bis 9 und 12 der Verordnung (EG) Nr. 561/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 zur Harmonisierung bestimmter Sozialvorschriften im Straßenverkehr (ABl. L 102, S. 1) ergeben und die durch § 1 Abs. 1 Nr. 1 FPersV über das Unionsrecht hinaus auf die Fahrzeuggewichtsklasse von 2,8 t bis 3,5 t erstreckt werden. Die Klägerin selbst hat als Unternehmerin gemäß § 1 Abs. 5 Satz 1 FPersV für die Einhaltung dieser Vorschriften in ihrem Betrieb zu sorgen und die u.a. aus § 1 Abs. 6 Satz 7 Nr. 1 bis 4 FPersV folgenden Aufzeichnungspflichten zu erfüllen. Anders als mit ihrer Berufung geltend macht, kann sie sich auch nicht mit Erfolg auf die unter den vorliegenden Umständen allein in Betracht kommende Ausnahmevorschrift des § 1 Abs. 2 Nr. 3 FPersV berufen. Hiernach findet § 1 Abs. 1 Nr. 1 FPersV keine Anwendung auf Fahrzeuge, die zur Beförderung von Material, Ausrüstungen oder Maschinen, die der Fahrer zur Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit benötigt, verwendet werden, soweit das Lenken des Fahrzeugs nicht die Haupttätigkeit des Fahrers darstellt. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen hat das Verwaltungsgericht im Ergebnis zu Recht verneint.
34a) § 1 Abs. 2 Nr. 3 FPersV ist in Übereinstimmung mit der weitgehend gleichlautenden Bestimmung in Art. 3 Buchst. aa) i) der Verordnung (EG) Nr. 561/2006 in der zuletzt durch Art. 1 Nr. 2 der Verordnung (EU) 2020/1054 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Juli 2020 (ABl. L 249, S. 1) geänderten Fassung für die unionsrechtlich geregelte Fahrzeuggewichtsklasse auszulegen. Zwar dienen weder § 1 Abs. 2 Nr. 3 FPersV selbst noch die von dieser Vorschrift dispensierte Regelung in § 1 Abs. 1 Nr. 1 FPersV unmittelbar der Umsetzung von Unionsrecht. Der deutsche Verordnungsgeber hat sich aber bei der Normierung von § 1 Abs. 2 Nr. 3 FPersV bewusst an der unionsrechtlichen Parallelvorschrift orientiert, so dass eine systematisch einheitliche Auslegung nach Maßgabe des Unionsrechts und der hierzu ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union geboten ist.
35Art. 3 Buchst. aa) i) der Verordnung (EG) Nr. 561/2006 nimmt – vorbehaltlich weiterer unionsrechtsspezifischer Voraussetzungen – Fahrzeuge oder Fahrzeugkombinationen vom Anwendungsbereich der Verordnung aus, die zur Beförderung von Material, Ausrüstung oder Maschinen benutzt werden, die der Fahrer zur Ausübung seines Berufes benötigt und die unter der Bedingung benutzt werden, dass das Lenken des Fahrzeugs für den Fahrer nicht die Haupttätigkeit darstellt. Die Bestimmung ist ursprünglich durch Art. 45 Nr. 1 der Verordnung (EU) Nr. 165/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Februar 2014 (ABl. L 60, S. 1) eingeführt worden und ersetzte damals einen zuvor in Art. 13 Abs. 1 Buchst. d) 2. Gedankenstrich der Verordnung (EG) Nr. 561/2006 enthaltenen fakultativen Ausnahmetatbestand gleichen Inhalts, bei dessen Fassung sich der Unionsgesetzgeber wiederum an der ähnlich formulierten Vorgängerbestimmung in Art. 13 Abs. 1 Buchst. g) der Verordnung (EWG) Nr. 3820/85 des Rates vom 20. Dezember 1985 über die Harmonisierung bestimmter Sozialvorschriften im Straßenverkehr (ABl. L 370, S. 1) orientiert hatte. § 1 Abs. 1 Nr. 3 FPersV ist seinerseits durch Art. 1 Nr. 1 der Zweiten Verordnung zur Änderung fahrpersonalrechtlicher Vorschriften vom 22. Januar 2008 (BGBl. I, S. 54) eingeführt worden und ersetzt den ursprünglich maßgeblichen Verweis in § 1 Abs. 2 Nr. 1 FPersV auf den Ausnahmetatbestand des § 18 Abs. 1 Nr. 7 FPersV in der Fassung der Verordnung vom 27. Juni 2005 (BGBl. I, S. 1882), mit welchem der deutsche Verordnungsgeber vom fakultativen Ausnahmetatbestand des Art. 13 Abs. 1 Buchst. g) der Verordnung (EWG) Nr. 3820/85 Gebrauch gemacht hatte. Aus den Gesetzgebungsmaterialien ergeben sich keine Hinweise darauf, dass der deutsche Verordnungsgeber die Ausnahmevorschrift des § 1 Abs. 1 Nr. 3 FPersV im Zusammenhang mit ihrer eigenständigen Ausformulierung hinsichtlich der übereinstimmenden Tatbestandsmerkmale inhaltlich von der unionsrechtlichen Parallelvorschrift hätte lösen und ihr einen anderen Bedeutungsinhalt hätte beigeben wollen.
36Vgl. die Einzelbegründung zu § 1 FPersV im Verordnungsentwurf des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung vom 31. August 2007, in: BR-Drs. 604/07, S. 65 f.
37Gegen eine solche Annahme ist zudem anzuführen, dass er im Zuge der eigenständigen Ausformulierung den Wortlaut von § 1 Abs. 2 Nr. 3 FPersV an die damals neu gefasste unionsrechtliche Regelung in Art. 13 Abs. 1 Buchst. d) 2. Gedankenstrich der Verordnung (EG) Nr. 561/2006 a.F. angepasst (Einfügung des Begriffs „Maschinen“) und auch auf diese Weise zum Ausdruck gebracht hat, dass weiterhin ein inhaltlicher Gleichklang zwischen beiden Vorschriften bestehen soll.
38b) In der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist die Bedeutung von Art. 3 Buchst. aa) i) der Verordnung (EG) Nr. 561/2006 bzw. der Vorgängerregelungen jedenfalls weitgehend geklärt. Die Anwendung dieser Ausnahmevorschrift hängt hiernach insbesondere von der Art der beförderten Güter ab und betrifft nicht alle Arten von Gütern, selbst wenn die übrigen in dieser Bestimmung aufgestellten Voraussetzungen – wie etwa das Erfordernis, dass das Lenken des Fahrzeugs für den Fahrer nicht die Haupttätigkeit darstellt – gegeben sind. Die Wörter „Material“, „Ausrüstungen“ und „Maschinen“ bezeichnen somit zwangsläufig nur einen Teil der Güter, deren Beförderung in den Anwendungsbereich der Verordnung fällt. Daraus folgt, dass durch diese Beschränkung die handelbaren Güter im eigentlichen Sinne sowie die Güter, die lediglich von einem Ort zum anderen befördert werden, ohne be- oder verarbeitet oder zur Ausübung einer Tätigkeit verwendet zu werden, vom Anwendungsbereich der Ausnahmevorschrift ausgeschlossen bleiben.
39Vgl. EuGH, Urteil vom 28. Juli 2011 – C-554/09 –, Seeger, Slg 2011, I-7131 ff. = LRE 63, 31 ff. = juris, Rn. 32.
40Für den hier in Mitten stehenden Begriff des „Materials“ folgt daraus, dass er zwar grundsätzlich in einem weiten Sinne zu verstehen ist; er umfasst die Gegenstände, die der Fahrer des betreffenden Fahrzeugs zur Ausübung seines Berufs benötigt oder verwendet und somit auch Bestandteile des von ihm herzustellenden Endprodukts oder solche, die zu den von ihm durchzuführenden Arbeiten gehören. Er ist aber gleichwohl von sonstigen Gütern abzugrenzen, die einfach nur befördert werden sollen, um selbst geliefert, verkauft oder beseitigt zu werden. Material sind mithin nur diejenigen Güter, die zur Schaffung, Änderung oder Verarbeitung einer anderen Sache befördert werden sollen. Material unterliegt einem Verarbeitungsprozess und ist keine Ware, die von ihrem Verwender zum Verkauf bestimmt ist.
41Vgl. EuGH, Urteil vom 28. Juli 2011 – C-554/09 –, Seeger, Slg 2011, I-7131 ff. = LRE 63, 31 ff. = juris, Rn. 25.
42In der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist außerdem anerkannt, dass Ausnahmevorschriften wie Art. 3 Buchst. aa) i) der Verordnung (EG) Nr. 561/2006 bzw. deren Vorgängerregelungen, die für bestimmte mit einem Fahrzeug verfolgte Zwecke Abweichungen von den mit der Verordnung vorgegebenen Regelungen über Lenkzeiten, Fahrtunterbrechungen und Ruhezeiten für Fahrer zulassen, eng auszulegen sind.
43Vgl. EuGH, Urteile vom 21. November 2019 – C-203/18 u.a. – Deutsche Post und Leymann, EuZW 2020, 25 ff. = juris, Rn. 50, vom 7. Februar 2019 – C-231/18 –, NK, AUR 2019, 174 ff. = juris, Rn. 21, und vom 28. Juli 2011 – C-554/09 –, Seeger, Slg 2011, I-7131 ff. = LRE 63, 31 ff. = juris, Rn. 33.
44Sie sind in der Folge grundsätzlich nur anwendbar, wenn und soweit die Fahrzeuge ausschließlich zu dem mit der jeweiligen Ausnahmevorschrift privilegierten Zweck eingesetzt werden. Eine andere Auslegung würde insbesondere die mit der Verordnung intendierte Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der Straßenverkehrssicherheit beeinträchtigen und den Wettbewerb im Straßenverkehrsgewerbe verfälschen können, weil ein Unternehmen, welches seine Fahrzeuge nur zu einem teilweise privilegierten Zweck einsetzt, hinsichtlich der von ihm erbrachten gewöhnlichen Leistungen einen Wettbewerbsvorteil gegenüber Konkurrenzunternehmen erhielte.
45Vgl. EuGH, Urteile vom 21. November 2019 – C-203/18 u.a. – Deutsche Post und Leymann, EuZW 2020, 25 ff. = juris, Rn. 57 f., vom 13. März 2014 – C 222/12 –, Karuse, juris, Rn. 31 f., und vom 25. Juni 1992 – C-116/91 –, British Gas, Slg. 1992, I-4071 ff. = juris, Rn. 17 ff.
46c) Hiervon ausgehend kann sich die Klägerin nicht mit Erfolg auf § 1 Abs. 2 Nr. 3 FPersV berufen. Der Einsatz ihrer Fahrzeuge zur Auslieferung von Haushaltsgroßgeräten im Rahmen sog. Standardlieferungen bzw. zur Abholung beim Kunden vorhandener Altgeräte wird von dieser Ausnahmevorschrift schon deshalb nicht erfasst, weil es sich bei diesen Geräten nicht um „Material“ und im Übrigen auch nicht um „Ausrüstungen“ oder „Maschinen“ handelt, die die Fahrer zur Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit benötigen. Dabei kommt es – entgegen der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts – auch nicht darauf an, im Rahmen welcher Lieferoption die Auslieferung erfolgt. Die Haushaltsgroßgeräte werden nämlich unabhängig von der jeweiligen Lieferoption nicht zur Schaffung, Änderung oder Verarbeitung einer anderen Sache verwendet und sie sind hierfür auch nicht in sonstiger Weise erforderlich. Vielmehr handelt es sich um Ware, die auf eine entsprechende Bestellung der Kunden hin befördert wird, um selbst geliefert bzw. – im Fall der Abholung der Altgeräte – beseitigt zu werden. An diesem Charakter ändern auch vor Ort mitunter durchgeführte Installations- und Montagearbeiten nichts, die im Kern dazu dienen, die für den bestimmungsgemäßen Betrieb der Geräte benötigten Netz- bzw. Leitungsanschlüsse einzurichten. Soweit die Fahrer beim Kunden Installations- und Montagearbeiten durchführen und in den Fahrzeugen zu diesem Zweck die erforderlichen Werkzeuge sowie ggf. Zubehör- und Ersatzteile transportieren, werden die Fahrzeuge zwar auch zu einem durch § 1 Abs. 2 Nr. 3 FPersV privilegierten Zweck eingesetzt. Dies führte nach den vorstehend wiedergegebenen Maßstäben indes nur dann zu einer Befreiung von den gesetzlichen Lenkzeiten, Fahrtunterbrechungen und Ruhezeiten sowie den zugehörigen Aufzeichnungspflichten, wenn und soweit die Fahrzeuge ausschließlich zu diesem Zweck eingesetzt würden. Jede andere Handhabung der Ausnahmevorschrift würde das mit § 1 Abs. 1 Nr. 1 FPersV verfolgte Ziel, die Arbeitsbedingungen für Fahrer zu verbessern und die Straßenverkehrssicherheit zu erhöhen, beeinträchtigen und der Klägerin einen unberechtigten Wettbewerbsvorteil gegenüber Konkurrenzunternehmen verschaffen können, die durch Kunden bestellte Haushaltsgroßgeräte lediglich ausliefern, ohne selber Installations- und Montagearbeiten durchzuführen. In Anbetracht dessen kann offen bleiben, ob das Lenken des Fahrzeugs – wie von § 1 Abs. 2 Nr. 3 FPersV im Sinne einer eigenständigen Tatbestandsvoraussetzung gefordert – auch nicht die Haupttätigkeit des Fahrers darstellt.
47Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
48Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kosten folgt gemäß § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO aus einer entsprechenden Anwendung von §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
49Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die hierfür gemäß § 132 Abs. 2 VwGO erforderlichen Voraussetzungen nicht gegeben sind. Insbesondere sind die aufgeworfenen unionsrechtlichen Auslegungsfragen in der Rechtsprechung des Gerichtshofs geklärt.
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Tenor
Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst trägt.
Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 10.000,- Euro festgesetzt.
1Gründe:
2Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Der Antrag ist - ungeachtet der Tatsache, dass er zwar einige Zulassungsgründe nennt, aber jeweils keinen konkreten inhaltlichen Bezug zu deren Voraussetzungen herstellt und deshalb schon das Darlegungserfordernis des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO verfehlen dürfte - jedenfalls unbegründet. Aus dem gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO maßgeblichen Zulassungsvorbringen ergeben sich weder ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (Zulassungsgrund gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) [1.] noch besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten (Zulassungsgrund gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) [2.] oder eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (Zulassungsgrund gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) [3.].
31. Zur Darlegung des Zulassungsgrundes der ernstlichen Zweifel bedarf es einer hinreichenden Auseinandersetzung mit den entscheidungstragenden Erwägungen des Verwaltungsgerichts. Dabei ist in substantiierter Weise an der Gedankenführung des Verwaltungsgerichts orientiert aufzuzeigen, dass und warum das vom Verwaltungsgericht gefundene Ergebnis ernstlich zweifelhaft sein soll. In der Sache liegen ernstliche Zweifel vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die verwaltungsge-richtliche Entscheidung einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhalten wird. Sie sind (nur) begründet, wenn zumindest ein einzelner tragender Rechtssatz der angefochtenen Entscheidung oder einem erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird und sich die Frage, ob die Ent-scheidung etwa aus anderen Gründen im Ergebnis richtig ist, nicht ohne weitergehende Prüfung der Sach- und Rechtslage beantworten lässt. Derartige Zweifel ruft das Antragsvorbringen nicht hervor.
4Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit dem Antrag,
5die Baugenehmigung der Beklagten vom 5. Oktober 2018 zur Errichtung einer 5-zügigen Kindertagesstätte mit Stellplätzen und Einzäunung auf dem Grund-stück Gemarkung W. , Flur 26, Flurstück 1378 aufzuheben,
6abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Klage sei unbegründet. Die Baugenehmigung verletze nachbarschützende Abwehrrechte der Klägerin nicht. Das Vorhaben sei in bauplanungsrechtlicher Hinsicht anhand des einfachen Bebauungsplans Nr. 706.01 "C. Straße" sowie im Übrigen an §§ 34/35 BauGB zu messen. Die von der Klägerin sinngemäß gegen die Wirksamkeit des Bebauungsplans geltend gemachten Einwendungen griffen insbesondere hinsichtlich der diesem zugrundeliegenden Verkehrsuntersuchung nicht durch. Bei einer Beurteilung nach § 30 Abs. 3 BauGB seien Nachbarrechte der Klägerin nicht verletzt. Auf einen Gebietserhaltungsanspruch könne sie sich nicht berufen, da ihr Grundstück und das Vorhabengrundstück nicht innerhalb desselben Baugebiets lägen. Für eine Prüfung des Rücksichtnahmegebotes im Hinblick auf Verkehrslärm bleibe kein Raum mehr, da der Bebauungsplan Nr. 706.01 diesen Aspekt umfassend abgewogen habe. Die dem Bebauungsplan zugrundeliegende "Verkehrsuntersuchung zum Bebauungsplan Nr. 706.01 C. Straße in W. -Mitte" (Mai 2018) von C1. /C2. und X. sei auch unter Berücksichtigung der Einwände der Klägerin methodisch bzw. hinsichtlich der jeweils gewählten Ansätze nicht zu beanstanden. Selbst wenn aber der genannte Bebauungsplan unwirksam sein sollte, läge ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot nicht vor. Die durch den Betrieb der Kindertagesstätte hervorgerufenen Verkehrsbelastungen seien der Klägerin zumutbar. Die zukünftige Verkehrsstärke auf der C. Straße bleibe – auch unter Berücksichtigung der Erhöhung der Verkehrsstärke, die das Vorhaben mit sich bringe – jedenfalls weiterhin im Bereich der typischen Verkehrsbelastung einer Wohnstraße. Außerdem habe der Gesetz- und Verordnungsgeber Kindertagesstätten, und zwar auch dann, wenn sie nicht überwiegend den Bedürfnissen der Bewohner des Gebiets dienen, als Anlagen für soziale Zwecke selbst in reinen Wohngebieten ausnahmsweise und in allgemeinen Wohngebieten sogar allgemein zugelassen. Damit gehe die Wertung einher, dass auch die durch den Zu- und Abgangsverkehr von Kindertagesstätten ausgelösten Verkehrsimmissionen von den Nachbarn in diesen Baugebieten regelmäßig hinzunehmen seien. In Rechnung zu stellen seien ferner der gesetzliche Anspruch auf einen Betreuungsplatz gemäß § 24 SGB VIII bzw. der Umstand, dass sich die Belastungen für Anwohner insoweit in Grenzen hielten, als diese nicht mit Immissionen zur Nachtzeit, zu den Tagesrandzeiten oder am Wochenende zu rechnen hätten. Besondere Umstände, die das Vorhaben als der Klägerin unzumutbar erscheinen ließen, seien nicht vorgetragen und auch sonst nicht erkennbar. Insbesondere sei der vorliegende Fall nicht mit dem vom Verwaltungsgericht Gelsenkirchen im Urteil vom 14. November 2018 (10 K 4558/16) entschiedenen vergleichbar, da es sich hier nicht um eine 6-zügige Kindertagesstätte handele, diese nicht in einem bisher ausschließlich dem ruhigen Wohnen vorbehaltenen (rückwärtigen) Grundstücksbereich eindringe und sich hier keine Zufahrt zu der Einrichtung unmittelbar entlang der Grenze zum Grundstück der Klägerin befinde.
7Diesen ohne weiteres nachvollziehbaren Erwägungen setzt das Zulassungsvorbringen nichts Substantielles entgegen.
8Die Ausführungen zu einer Verletzung des Rücksichtnahmegebots (S. 3 bis 5 der Zulassungsbegründung) setzen sich schon nicht ansatzweise damit auseinander, dass das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat, der Rückgriff auf das Gebot der Rücksichtnahme sei hier gesperrt, da der Bebauungsplan Nr. 706.01 (gegen den die Klägerin im Übrigen Einwendungen im Rahmen der Offenlage nicht erhoben hat) den durch die Verkehrslärmimmissionen hervorgerufenen Konflikt abschließend gelöst habe.
9Unabhängig davon lässt das Zulassungsvorbringen eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots nicht hervortreten.
10Die Erschließungssituation eines Grundstücks lässt den Schluss auf die Rücksichtslosigkeit eines Vorhabens nur dann (ausnahmsweise) zu, wenn diese sich durch eine vorhabenbedingte Überlastung einer das Grundstück des Betroffenen erschließenden Straße, insbesondere durch unkontrollierten Parkverkehr, erheblich verschlechtert und die entstehende Gesamtbelastung infolge dessen bei Abwägung aller Belange unzumutbar ist.
11Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 18. Februar 2020 – 2 B 1701/19 -, juris Rn. 5 ff., m. w. N.
12Ohne Erfolg trägt die Klägerin insoweit vor, im fraglichen Bereich stünden keine öffentlichen Verkehrsmittel zur Verfügung, so dass das genannte Verkehrsgutachten ‑ und diesem folgend das Verwaltungsgericht – nicht lediglich einen Anteil von 80 % des motorisierten Individualverkehrs am gesamten vorhabenbedingten Mehrverkehr hätte zugrunde legen dürfen.
13Das Verwaltungsgericht hat insoweit überzeugend ausgeführt, der von der Beklagten vorgegebene Anteil von 80 % des motorisierten Individualverkehrs sei jedenfalls nicht zu niedrig gegriffen. Denn damit verblieben lediglich 20 % für alle anderen Verkehrsmittel, d. h. das Bringen der Kinder zu Fuß, per Fahrrad oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Im Übrigen hat es zutreffend auf den Umstand verwiesen, dass das Gutachten (dort S. 10) lediglich von einem PKW-Besetzungsgrad von 1,1 beim Beschäftigtenverkehr und 1,0 beim Begleiterverkehr (Bringen der Kinder) ausgehe, obwohl erfahrungsgemäß ein gewisser Teil der Geschwister- und/oder Nachbarkinder gemeinsam mit dem PKW gebracht werde. Vor diesem Hintergrund ist auch nicht erkennbar, dass selbst das (angebliche) Fehlen öffentlicher Verkehrsmittel unterstellt, der für den motorisierten Individualverkehr angesetzte Anteil von 80 % zu Lasten der Klägerin zu niedrig bemessen sein könnte.
14Lediglich ergänzend sei in diesem Zusammenhang angemerkt, dass sich in der Nähe des Vorhabens in einer Entfernung von ca. 150 m an der Ecke M. Straße/C. Straße eine Bushaltestelle ("C. Straße") befindet. Der in der genannten Verkehrsuntersuchung angesetzte Anteil von 80% für motorisierten Individualverkehr erscheint außerdem auch angesichts der in der Rechtsprechung insoweit erwogenen Werte als generell eher pessimal.
15Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 23. März 2020 – 2 B 1475/19 -, S. 6 f. BA (75%), und vom 18. Februar 2020 – 2 B 1701/19 -, juris Rn. 13 (max. 70 %), sowie OVG S.-H., Beschluss vom 1. Februar 2019 – 1 MB 1/19 -, NVwZ-RR 2019, 587 = juris. Rn. 20 (ca. 50 %), jeweils m. N.
16Entsprechend überzeugend hat das Verwaltungsgericht keine Bedenken dagegen geäußert, dass der Gutachter einen (Durchschnitts-)Wert für die Anwesenheit gebildet und mit 85 % angesetzt hat. Die diesbezüglichen Erwägungen des Verwaltungsgerichts bleiben nicht "spekulativ nebulös", sondern erschließen sich aus einer lebensnahen Betrachtung von absehbaren krankheits- und urlaubsbedingten Abwesenheiten von Kindern und Beschäftigten. Sind die Eingangszahlen der einzelnen Parameter der Berechnung der Neuverkehre für die geplante Kindertagesstätte (Tabelle 1 der Verkehrsuntersuchung) plausibel, bestand für das Verwaltungsgericht schon deshalb kein Anlass zu einer weiteren Aufklärung, ob diese maßgeblich auf Angaben der Beklagten zurückgehen, wie es die Klägerin mit dem Zulassungsantrag anmahnt.
17Weshalb es auf der Grundlage der also nachvollziehbar prognostizierten Verkehrszunahme zu einer unzumutbaren Verschlechterung der Erschließungssituation des klägerischen Grundstücks kommen sollte, lässt der Zulassungsantrag nicht hervortreten.
18Hierzu enthält auch der Vortrag zu dem durch das genannte Verkehrsgutachten angeblich nicht abgebildeten PKW-Suchverkehr wegen fehlender Stellplätze nichts an Substanz.
19Was es für eine Relevanz für nachbarliche Abwehrrechte der Klägerin haben soll, dass der Verkehr in der nachmittäglichen Spitzenstunde am Knotenpunkt M1. -berger Straße/N.-----straße /F.----------straße nur mit der Verkehrsqualitätsstufe E und in der Morgenspitzenstunde mit einem leicht veränderten Signalplan in einer Verkehrsqualität der Stufe D abgewickelt werden kann (vgl. S. 17 der genannten Verkehrsuntersuchung), erschließt sich ebenfalls nicht ansatzweise. Denn das Wohnhaus der Klägerin liegt von dem genannten Knotenpunkt mehr als 420 m entfernt; selbst zu dem im Verkehrsgutachten ebenfalls genannten Knotenpunkt M. Straße /F1.----straße /C. Straße, der dort durchgehend mit der Verkehrsqualität C ("befriedigend") bewertet wird und näher am klägerischen Grundstück liegt, beträgt die Entfernung ca. 290 m. Welche Wirkungszusammenhänge insoweit bestehen sollen, legt das Zulassungsvorbringen nicht ansatzweise dar.
20Warum bei dieser Sach- und Rechtslage – insbesondere auch der bereits vom Verwaltungsgericht zutreffend herausgestellten Wertung z. B. des Verordnungsgebers in §§ 3 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 3 Nr. 2, § 4 Abs. 2 Nr. 3 BauNVO - die durch die mit dem Vorhaben verbundenen Verkehrsimmissionen der Klägerin, deren Grundstück nach den unwidersprochenen Angaben der Beklagten zum Baugrundstück einen Abstand von mindestens ca. 112 m hat, unzumutbar sein sollten, wird nicht weiter dargelegt und ist auch sonst nicht erkennbar. Die Hervorhebung der Klägerin, dass der entstehende Fahrzeugverkehr dicht an der Grenze ihres Grundstücks vorbeifahren werde, bietet dafür schon deshalb keinen tragfähigen Anhalt, weil nichts für eine im gegebenen Kontext nennenswerte Verkehrszunahme spricht. Die Klägerin blendet schon naheliegende Erwägungen zur Verkehrsverteilung aus; der Hauptanteil des Erschließungsverkehrs wird sicherlich nicht über die Straße "Am C3. " zu erwarten sein, und weitergehender Parksuchverkehr wird nach den überzeugenden Ausführungen des Verwaltungsgericht auch unter dem Gesichtspunkt des Immissionsschutzes das Nachbarverträgliche nicht übersteigen. In diesem Zusammenhang hat das Verwaltungsgericht insbesondere zu Recht die zeitliche Begrenzung der zu erwartenden Verkehrsmehrbelastungen herausgestellt. Davon, dass die Klägerin in unzumutbarer Weise im rückwärtigen Garten- und Ruhebereich (erstmals) Verkehrslärmimmissionen ausgesetzt würde, kann im Übrigen auch mit Blick auf die Lage des Grundstücks der Klägerin und seine Bebauung nicht ernsthaft die Rede sein.
212. Die Zulassungsbegründung legt auch nicht – über die bereits unter 1. behandelten Aspekte hinaus - dar, dass bzw. warum die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten haben sollte.
223. Die Zulassungsbegründung zeigt schließlich eine grundsätzliche Bedeutung der Sache nicht auf.
23Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung, wenn sie eine im betreffenden Berufungsverfahren klärungsbedürftige und für die Entscheidung dieses Verfahrens erhebliche Rechts- oder Tatsachenfrage aufwirft, deren Beantwortung über den konkreten Fall hinaus wesentliche Bedeutung für die einheitliche Anwendung oder Weiterentwicklung des Rechts hat. Dabei ist zur Darlegung dieses Zulassungsgrundes die Frage auszuformulieren und substantiiert auszuführen, warum sie für klärungsbedürftig und entscheidungserheblich gehalten und aus welchen Gründen ihr Bedeutung über den Einzelfall hinaus zugemessen wird. Diese Voraussetzungen sind schon deshalb nicht erfüllt, weil der Zulassungsantrag weder explizit noch der Sache nach eine Frage potentiell grundsätzlicher Bedeutung aufwirft.
24Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 3 VwGO. Es entspricht nicht der Billigkeit, der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen aufzuerlegen, da diese keinen Antrag gestellt und sich damit auch keinem Kostenrisiko ausgesetzt hat (vgl. § 154 Abs. 3 VwGO).
25Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 1 GKG.
26Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).
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Tenor
Die Beschwerde wird verworfen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens; außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet
Gründe:
1Die Beschwerde hat keinen Erfolg.
2Die Beschwerde ist bereits unzulässig, weil sie nicht fristgerecht erhoben worden ist. Gemäß § 147 Abs. 1 Satz 1 VwGO ist die Beschwerde innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe der Entscheidung einzulegen. Der - die Bewilligung von Prozesskostenhilfe ablehnende - Beschluss des Verwaltungsgerichts wurde den Prozessbevollmächtigten der Klägerin ausweislich des Empfangsbekenntnisses am 14. August 2020 zugestellt. Die zweiwöchige Frist zur Beschwerdeerhebung lief damit am 28. August 2020, einem Freitag, ab (§ 57 Abs. 2 VwGO, § 222 ZPO, §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 BGB). Die Beschwerdeschrift ist aber beim Verwaltungsgericht per Fax erst am 1. September 2020, also verspätet, eingegangen.
3Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 60 VwGO) ist der Klägerin nicht zu gewähren. Gründe für eine Wiedereinsetzung nach § 60 Abs. 1 VwGO sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Die Klägerin hat zudem bis heute nicht einmal einen Wiedereinsetzungsantrag gestellt, obschon sie mit am 7. September 2020 gegen Empfangsbekenntnis zugestellter gerichtlicher Verfügung über die Verfristung der Beschwerde unterrichtet worden war. Die Stellung eines solchen Antrags ist damit auch nicht mehr fristgerecht möglich. Für die Wiedereinsetzung in die Beschwerdefrist gilt gemäß § 60 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 VwGO eine Antragsfrist von zwei Wochen. Eine Frist von einem Monat gilt gemäß § 60 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 VwGO allein für die dort genannten Rechtsmittelbegründungsfristen.
4Ob die Beschwerde zugleich (insgesamt) unbegründet ist, bedarf keiner abschließenden Bewertung. Allerdings dürfte das Verwaltungsgericht auch unter Anlegung der von der Beschwerde hervorgehobenen verfassungsrechtlich gebotenen Maßstäbe für die Frage, ob eine Klage hinreichende Erfolgsaussichten i. S. d. § 166 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 ZPO bietet,
5vgl. dazu etwa BVerfG, Beschlüsse vom 26. Juni 2003 - 1 BvR 1152/02 -, NJW 2003, 3190 = juris Rn. 10, und vom 7. April 2000 - 1 BvR 81/00 -, NJW 2000, 1936 = juris Rn. 16; Neumann, in: Sodan/ Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 166 Rn. 64, jeweils m. w. N.,
6aus den von ihm angeführten Gründen zu Recht die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Anfechtungsbegehren abgelehnt haben. Dabei kann auch nicht übersehen werden, dass die Klägerin nach wie vor die Wohnung, deren Inhaberschaft sie abstreitet, als ladungsfähige Anschrift angibt.
7Ob Entsprechendes auch für die zugleich verfolgte Verpflichtungsklage gilt, mag dahinstehen. Bedenken könnten sich unter der Annahme des Verwaltungsgerichts, dass die Verpflichtungsklage zulässig sei, ergeben, wenn die Bewilligung einer Leistung nach § 4 Abs. 1 RBStV, die eine Befreiung ohne weiteres begründen würde, wie von der Beschwerde vorgetragen, für den streitbefangenen Zeitraum (allein) daran gescheitert wäre, dass die Klägerin einer kommunenscharfen Wohnsitzzuweisung nicht nachgekommen ist. Denn dann wäre es der Klägerin gerade auf der Grundlage der Wohnsitznahme in der Wohnung, an die der Beklagte die im Anfechtungsprozess streitige Beitragspflicht anknüpft, nicht möglich gewesen, für diese Zeit einen befreienden Leistungsbezug zu erreichen. In diesem Fall ergäbe sich ein weiterer Überprüfungsbedarf im Klageverfahren, ob sich daraus nicht eine vergleichbare Härte als Befreiungsgrund i. S. d. § 4 Abs. 6 Satz 1 RBStV ableiten lässt, wie sie das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 30. Oktober 2019 – 6 C 10.18 – (juris Rn. 25 ff.) für eine Studentin anerkannt hat, die nur ein den Regelleistungen entsprechendes bzw. geringeres Einkommen hatte und nicht auf verwertbares Vermögen zurückgreifen konnte, aber von der Gewährung der in § 4 Abs. 1 RBStV genannten Sozialleistungen mangels Vorliegens der (sonstigen) Voraussetzungen ausgeschlossen war.
8Vgl. zur Frage, ob die Vorlage einer sog. Negativbescheinigung der für die Gewährung von Leistungen nach § 4 Abs. 1 RBStV zuständigen Stelle, dass ein Leistungsanspruch bestehe, freiwillig aber nicht beantragt werde, die Annahme eines Härtefalls begründen kann: OVG NRW, Beschluss vom 17. September 2020 - 2 E 239/20 - und OVG Rh.-Pf., Beschluss vom 27. August 2020 - 7 D 10269/20 -, juris Rn. 6, beide m. w. N.
9Anderes müsste freilich gelten, wenn es zudem an hinreichend tragfähigen Nachweisen fehlte, dass die Klägerin in dem streitbefangenen Zeitraum von August 2019 bis Oktober 2019 überhaupt finanziell hilfebedürftig war. Davon ist das Verwaltungsgericht unter Hinweis darauf ausgegangen, auch aus der Gerichtsakte zu dem Verfahren 2 K 3060/19 (betreffend die kommunenscharfe Wohnsitzzuweisung), in welcher sich auch eine Abschrift des das Verfahren S 8 AS 178/19 ER vor dem Landessozialgericht abschließenden Beschwerdebeschlusses befinde, ließen sich keine ausreichenden Nachweise zur finanziellen Situation der Klägerin entnehmen. Ob diese Bewertung in Ansehung der von der Klägerin als Anlage zum Prozesskostenhilfeantrag und der Erklärung ihrer persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen vorgelegten vorläufigen Leistungsbewilligung des Jobcenters C. vom 17. Januar 2020 für die Zeit vom 20. November 2019 bis 31. Mai 2020 (und der in diesem Zusammenhang erstellten Bescheinigung gleichen Datums über "Leistungsbezug zur Vorlage bei dem Beitragsservice von ARD, ZDF und Deutschlandradios") überzeugen kann, lässt sich auf der Grundlage der vorliegenden Akten nicht entscheiden. Zweifel ergeben sich jedenfalls vor dem Hintergrund, dass die Leistungsbewilligung herausstellt, sie erfolge "im Wege der Umsetzung des Beschlusses vom 08.01.2020 im Beschwerdeverfahren L 7 AS 1954/19 B ER". Zugleich liegt dem Senat die vom Verwaltungsgericht herangezogene Gerichtsakte nebst Beschwerdebeschluss des Landessozialgerichts nicht vor. Anlass für eine weitere Aufklärung und abschließende Entscheidung im vorliegenden Verfahren besteht nicht, nachdem die Beschwerde bereits verfristet ist.
10Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 166 Abs. 1 VwGO i. V. m. § 127 Abs. 4 ZPO.
11Der Beschluss ist unanfechtbar (§152 Abs. 1 VwGO).
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
1Gründe
2I.
3Die Antragsteller fechten die Wahl zum Personalrat bei der Zentrale der X. X. X. (XXXX) an.
4Die Antragsteller sind wahlberechtigte Beschäftigte bei der genannten Dienststelle. Mit Wahlausschreiben vom 27. Januar 2020 bestimmte der Wahlvorstand Donnerstag, den 19. März 2020, als Tag der Stimmabgabe. Für alle Wahlberechtigten, die nicht in der in C. gelegenen Dienststelle ihren Dienstort haben, ordnete der Wahlvorstand Briefwahl an. Mit E-Mail an die Beschäftigten vom 18. Februar 2020 wies der Wahlvorstand erneut auf die bevorstehende Wahl sowie auf die Möglichkeit hin, Briefwahl zu beantragen. Am 2. März 2020 versandte der Wahlvorstand Briefwahlunterlagen an die etwa 470 Wahlberechtigten, die ihren Dienstort nicht in der Dienststelle haben. Am Montag, 16. März 2020, sowie am Mittwoch, 18. März 2020, wies der Wahlvorstand vor dem Hintergrund des zunehmenden Corona-Infektionsgeschehens per E-Mail an die Beschäftigten erneut auf die Möglichkeit der Briefwahl hin und führte ergänzend aus, Briefwahlunterlagen könnten persönlich beim Wahlvorstand abgeholt und dort unmittelbar nach Stimmabgabe wieder abgegeben werden. In beiden E-Mails informierte der Wahlvorstand ferner darüber, dass auch eine persönliche Stimmabgabe am Tag der Wahl – unter Einhaltung der Hygienevorschriften – möglich sei. In der Woche der Wahl war in der IT-Sparte der Dienststelle bei Beschäftigen, die auf der Grundlage einer entsprechenden Bewilligung an Telearbeit teilnahmen, deren Umfang auf 100 Prozent erhöht worden, sodass die Betroffenen ausschließlich von Zuhause arbeiten durften. Beschäftigte aus anderen Bereichen, die über ein dienstliches Notebook verfügten, war bewilligt worden, ebenfalls von zu Hause aus zu arbeiten. Einigen Wahlberechtigten war für einen Zeitraum von mehreren Tagen, in den auch der Tag der Stimmabgabe fiel, der Zutritt zur Dienststelle von Vorgesetzten untersagt worden, nachdem sie während der Arbeitszeit Kontakt mit einer Kollegin hatten, die infolge eines Urlaubs in einem Corona-Risikogebiet als Risikofall eingestuft worden war.
5Bereits am 17. März 2020 hatten bei zwei der insgesamt neun Direktionen der XXXX die örtlichen Wahlvorstände die Stimmabgaben am 19. März 2020 abgesagt. Da dem Hauptwahlvorstand angesichts dessen eine rechtssichere Wahl des Hauptpersonalrats am 19. März 2020 nicht möglich erschien, sagte er diese Wahl am 18. März 2020 ab. In einer E-Mail an die Beschäftigten vom gleichen Tag wies der Hauptwahlvorstand darauf hin, dass die Wahlen der örtlichen Personalräte wie geplant tags darauf stattfänden.
6Für die Wahl des Personalrats der Zentrale der XXXX fand die Stimmabgabe am 19. März 2020 in der Zeit von 9 bis 15.30 Uhr statt. Der Wahlvorstand gab das Wahlergebnis am selben Tag bekannt. Wegen der Einzelheiten des Wahlergebnisses wird Bezug genommen auf die zur Gerichtsakte gereichte Kopie der Bekanntmachung (Bl. 8). Die Wahlbeteiligung lag in der Gruppe der Beamten bei 61 Prozent, in der Gruppe der Arbeitnehmer bei 45 Prozent. Bei der Personalratswahl im Jahr 2016 lag die Wahlbeteiligung in den genannten Gruppen bei 76,5 bzw. 64 Prozent, im Jahr 2012 lag sie bei 78 bzw. 66 Prozent.
7Am 6. April 2020 haben die Antragsteller das vorliegende Wahlanfechtungsverfahren eingeleitet und zur Begründung im Wesentlichen vorgetragen, die Wahl sei zum einen für ungültig zu erklären, weil sie entgegen den rechtlichen Vorgaben nicht gleichzeitig mit der Wahl des Hauptpersonalrats stattgefunden habe. Der Hauptwahlvorstand habe die Corona-Pandemie sachgerecht zum Anlass genommen, die für den 19. März 2020 anberaumte Wahl auszusetzen. Der örtliche Personalrat habe hingegen ohne triftigen Grund an seinem Wahltermin festgehalten. Zum anderen lägen Verstöße gegen das Verbot der Wahlrechtsbeschränkung vor. Aufgrund der Einschränkungen des Dienstbetriebs infolge der Corona-Pandemie seien zahlreiche Wahlberechtigte unter der Dienstanschrift für Mitteilungen des Wahlvorstands nicht mehr erreichbar gewesen, weil sie sich in Quarantäne oder in Heim- und Telearbeit befunden hätten. Auch seien bei verschiedenen Wahlberechtigten die vom Wahlvorstand verschickten Briefwahlunterlagen nicht mehr rechtzeitig angekommen. Dadurch sei die Wahlbeteiligung massiv eingebrochen. Zudem stelle das gegenüber mehreren Beschäftigten ausgesprochene Verbot, die Dienststelle u.a. am Wahltag zu betreten, eine Wahlbehinderung dar. Da schon vor der Wahlwoche und erst recht in dieser absehbar gewesen sei, dass die Stimmabgabe für viele Wahlberechtigte nicht oder nur mit großen Schwierigkeiten möglich sein würde, sei der Wahlvorstand verpflichtet gewesen, den Zeitpunkt der Stimmabgabe auf einen späteren Termin zu verschieben.
8Die Antragsteller beantragen,
9die Neuwahl zum Personalrat bei der Zentrale der X. X. X. am 19. März 2020 für ungültig zu erklären.
10Der Beteiligte zu 1 hat keinen Antrag gestellt und sich einer Äußerung zu dem Verfahren enthalten.
11Die Beteiligte zu 2 beantragt,
12 den Antrag abzulehnen.
13Zur Begründung tritt sie dem Vorbringen der Antragsteller im Einzelnen entgegen und macht, teils ergänzend, im Wesentlichen geltend, eine Wahlrechtsbeschränkung liege nicht vor. Den Beschäftigten sei es möglich gewesen, auch kurzfristig ihre Stimme per Briefwahl abzugeben. Darauf sei vom Wahlvorstand mehrfach hingewiesen und von dieser Möglichkeit sei auch vielfach Gebrauch gemacht worden. Es sei auch nichts dafür ersichtlich, dass die Wahlberechtigten die entsprechenden Informationen des Wahlvorstands nicht erreicht hätten. Ferner sei es den Wahlberechtigten grundsätzlich möglich gewesen, ihre Stimme am Wahltag persönlich abzugeben. Namentlich der Umstand, dass jemand in Heim- oder Telearbeit seinen Dienst verrichtet habe, bedeute nicht, dass ihm das Betreten der Dienststelle und des Wahllokals nicht erlaubt oder nicht möglich gewesen wäre. Soweit einzelnen Beschäftigten das Betreten der Dienststelle untersagt worden sei, liege auch darin keine Wahlbeschränkung. Ein solches Verbot hätte auch bei einer anderen hoch ansteckenden Krankheit erfolgen müssen und sei als Maßnahme des Infektionsschutzes nicht als Wahlbehinderung zu werten.
14Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die zur Gerichtsakte gereichten Schriftsätze samt Anlagen Bezug genommen.
15II.
16Der Antrag hat keinen Erfolg. Er ist zulässig, aber unbegründet.
17Nach § 25 Bundespersonalvertretungsgesetz (BPersVG) können mindestens drei Wahlberechtigte binnen einer Frist von zwölf Arbeitstagen, vom Tage der Bekanntgabe des Wahlergebnisses an gerechnet, die Wahl beim Verwaltungsgericht anfechten, wenn gegen wesentliche Vorschriften über das Wahlrecht, die Wählbarkeit oder das Wahlverfahren verstoßen worden und eine Berichtigung nicht erfolgt ist, es sei denn, dass durch den Verstoß das Wahlergebnis nicht geändert oder beeinflusst werden konnte. Als wesentlich in diesem Sinne sind alle Vorschriften anzusehen, die zwingender Natur sind, nicht hingegen die Ordnungsvorschriften und in der Regel auch nicht die Soll-Vorschriften.
18Vgl. Bundesverwaltunggericht (BVerwG), Beschluss vom 24. Februar 2015 – 5 P 7.14 – , juris, Rn. 18; Baden, in: Altvater u.a., BPersVG, 10. Aufl. 2019, § 25 BPersVG, Rn. 5.
19Danach hat der fristgerecht erhobene Antrag keinen Erfolg, weil ein Verstoß gegen wesentliche Vorschriften über das Wahlrecht, die Wählbarkeit oder das Wahlverfahren weder dargetan noch sonst ersichtlich ist.
20Der gerügte Verstoß gegen die – zwingenden – Regelungen über die Freiheit der Wahl in § 24 Abs. 1 Satz 1 und 2 BPersVG liegt nicht vor. Nach § 24 Abs. 1 Satz 1 BPersVG darf niemand die Wahl des Personalrats behindern oder in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise beeinflussen. Insbesondere darf, wie es in § 24 Abs. 1 Satz 2 BPersVG heißt, kein Wahlberechtigter in der Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts beschränkt werden. Eine Behinderung liegt nicht nur in der Verhinderung, sondern grundsätzlich auch in der Erschwerung oder Verzögerung der Wahl durch aktives Tun oder pflichtwidriges Unterlassen.
21Vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), Beschluss vom 14. April 2004 – 1 A 4408/02.PVB –, juris, Rn. 54; Noll, in: Altvater u.a., BPersVG, 10. Aufl. 2019, § 24 BPersVG, Rn. 2.
22Es genügt jedoch nicht jegliche Erschwerung der Wahl. Dies ergibt sich schon aus dem vom Gesetz verwandten Begriff der Behinderung, der ein Mindestmaß an Schwere verlangt. Da zudem eine Vielzahl von Umständen denkbar ist, die mittelbar zu Erschwerungen führen können, würde der Tatbestand der Wahlbehinderung konturenlos und nicht mehr handhabbar, wenn von ihm jegliche auf die Wahl erschwerend einwirkende Maßnahme erfasst würde. Eine Maßnahme außerhalb des eigentlichen Wahlverfahrens, die bloß mittelbar erschwerende Auswirkungen hat, ist daher nur dann eine Behinderung im Sinne von § 24 Abs. 1 Satz 1 BPersVG, wenn sie nach den Umständen des Einzelfalls bei objektiver Betrachtung auf eine Erschwerung der Wahl gerichtet ist. Dies ist der Fall, wenn erkennbar wird, dass sie getroffen worden ist, um die Stimmabgabe insgesamt oder einzelner Wahlberechtigter zu verhindern oder zu erschweren.
23Vgl. Widmaier, in: Ilbertz/Widmaier/Sommer, BPersVG, 13. Aufl. 2014, § 24 BPersVG, Rn. 3, der eine Wahlbehinderung definiert als jedes Handeln oder Unterlassen, „das darauf abzielt, die Wahl zu erschweren“. In diese Richtung auch Dörner, in: Richardi/Dörner/Weber, Personalvertretungrecht, 5. Aufl. 2020, § 24 BPersVG, Rn. 7 und 10, wonach zwar „jede“ Behinderung verboten ist, etwa eine Abordnung aber (nur) dann gegen § 24 Abs. 1 Satz 1 BPersVG verstößt, wenn sie „zu dem Zweck [erfolgt], den Beschäftigten von der Wahl auszuschließen“. Siehe ferner aus der Rechtsprechung zum Verbot der Wahlbehinderung in § 20 Betriebsverfassungsgesetz Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 13. Oktober 1977 – 2 AZR 387/76 –, juris, Rn. 38, wonach eine Kündigung vom Verbot der Wahlbehinderung nur erfasst ist, wenn sie „gerade deswegen ausgesprochen wird, um die Wahl dieses Arbeitnehmers zu verhindern oder um den Arbeitnehmer wegen seines Einsatzes bei der Betriebsratswahl zu maßregeln“.
24Ausgehend von diesen Anforderungen hat niemand die angefochtene Wahl behindert. Die geltend gemachte Beschränkung Wahlberechtigter in der Ausübung des aktiven Wahlrechts lässt sich nicht feststellen. Die Rügen der Antragsteller greifen nicht durch.
25Dies gilt zunächst für ihren Hinweis darauf, in der Woche der Wahl sei für die Mitarbeiter der IT-Sparte Telearbeit im Umfang von 100 Prozent und für weitere Beschäftigte mit einem dienstlichen Notebook Heimarbeit angeordnet worden. Diese Maßnahmen sind eine Ausübung des Direktionsrechts des Arbeitsgebers bzw. Dienstherrn. Sie haben nicht zu einer Erschwerung der Wahl geführt, sondern zu einer Erleichterung der Dienstausübung bzw. der Arbeitstätigkeit, weil diese von zu Hause aus erledigt werden durfte. Namentlich haben die Maßnahmen nicht dazu geführt, dass Wahlberechtigten die persönliche Stimmabgabe oder die Abstimmung per Briefwahl untersagt oder faktisch unmöglich gemacht worden wäre. Den Betroffenen war der Zugang zur Dienststelle und zum Wahllokal während der Zeit der Stimmabgabe durch die Maßnahmen nicht verwehrt. Soweit die Antragsteller darauf hinweisen, dass sich die Maßnahmen bei weit von der Dienststelle entfernt wohnenden Wahlberechtigten als Wahlrechtsbeschänkung ausgewirkt hätten, weil diese teils mehrstündige Wege allein zum Zwecke der Stimmabgabe hätten auf sich nehmen müssen, greift auch das nicht durch. Den Betroffenen blieb es unbenommen, ihre Stimme abzugeben. Dass sie dafür ggf. lange Wegstrecken auf sich nehmen mussten, beruht auf ihrer privaten Entscheidung zum Ort der Wohnsitznahme, nicht hingegen auf den streitigen Maßnahmen.
26Der im Zusammenhang mit der Tele- bzw. Heimarbeit monierte Umstand, zahlreiche Wahlberechtigte seien für Mitteilungen des Wahlvorstands nicht mehr erreichbar gewesen, führt ebenfalls nicht zum Erfolg des Antrags. Das gilt schon deswegen, weil bereits in dem – ordnungsgemäß bekanntgemachten – Wahlausschreiben zutreffend darauf hingewiesen worden war, dass eine Stimmabgabe per Briefwahl oder persönlich möglich ist. Weitere Informationspflichten trafen den Wahlvorstand insofern grundsätzlich nicht. Ungeachtet dessen hat der Wahlvorstand mehrfach auch noch kurz vor der Wahl per E-Mail darüber informiert, dass eine Stimmabgabe sowohl per Briefwahl als auch persönlich am Tag der Wahl möglich sei. Diese Information hat auch jedenfalls jene Wahlberechtigten erreicht, die weiter in der Dienststelle tätig oder in Telearbeit waren. Ob die E-Mails, wie die Antragsteller behaupten, einigen Wahlberechtigte nicht zugegangen sind, kann offen bleiben, weil, wie dargelegt, mit dem Wahlausschreiben bereits eine hinreichende Information stattgefunden hatte.
27Keine Wahlbehinderung liegt in dem von Vorgesetzten gegenüber bestimmten Beschäftigten ausgesprochenen Verbot, die Dienststelle in einem Zeitraum von mehreren Tagen, in den auch der Tag der Stimmabgabe fiel, zu betreten. Es handelt sich um eine außerhalb des eigentlichen Wahlverfahrens liegende Maßnahme mit bloß mittelbar erschwerenden Auswirkungen auf die Wahl. Sie verstößt nicht gegen § 24 Abs. 1 Satz 1 BPersVG, weil sie offenkundig nicht auf eine Erschwerung der Wahl gerichtet war. Sie erfolgte nicht, um die Stimmabgabe der Betroffenen zu verhindern oder zu erschweren, sondern diente unstreitig dem Infektionsschutz. Von dem Verbot waren all jene Beschäftigten erfasst, die ihren Arbeitsplatz an einem Flur hatten, an dem auch eine Kollegin Dienst tat, die nach der Rückkehr aus einem Corona-Risikogebiet in Österreich als Risikofall eingestuft worden war.
28Keine Behinderung der Wahl liegt ferner in dem Umstand, dass der Wahlvorstand die für den 19. März 2019 vorgesehene Stimmabgabe nicht, wie von den Antragstellern gefordert, ausgesetzt bzw. verschoben hat. Denn den Wahlvorstand traf keine entsprechende Verpflichtung.
29Für die Frage, ob für den Wahlvorstand eine solche Verpflichtung bestand, ist in tatsächlicher Hinsicht abzustellen auf die für den Wahlvorstand bis zum Abschluss der Stimmabgabe erkennbaren Umstände und die auf ihrer Grundlage mögliche Prognose des zu erwartenden Geschehensablaufs. Auch in rechtlicher Hinsicht ist abzustellen auf die Situation bis zum Abschluss der Stimmabgabe. Änderungen der Rechtslage, die erst später, und sei es rückwirkend, in Kraft getreten sind, sind nicht maßgeblich, weil der Wahlvorstand sie seinerzeit nicht berücksichtigen konnte. Damit kommt es im vorliegenden Zusammenhang nicht auf § 19a der Wahlordnung zum Bundespersonalvertretungsgesetz (BPersVWO) an, der es einem Wahlvorstand – vereinfacht gesagt – ermöglicht, einen neuen Zeitpunkt für die Stimmabgabe zu bestimmten, ohne dass dies Einfluss auf die Gültigkeit bereits getroffener Maßnahmen zur Vorbereitung und Durchführung der Wahl und eingereichter Wahlvorschläge hätte. Denn diese eigens im Hinblick auf die Auswirkungen der Corona-Pandemie geschaffene Vorschrift ist erst mit der Fünften Verordnung zur Änderung der Wahlordnung zum Bundespersonalvertretungsgesetz vom 24. April 2020 – rückwirkend zum 1. März 2020 – in die Wahlordnung eingefügt worden. Auch § 26a BPersVG, gemäß dem ein Personalrat zunächst geschäftsführend im Amt bleibt, wenn am Tage des Ablaufs seiner regelmäßigen Amtszeit ein neuer Personalrat noch nicht gewählt oder konstituiert ist, muss außer Betracht bleiben. Denn § 26a BPersVG ist erst durch das Zweite Gesetz zur Änderung des Bundespersonalvertretungsgesetzes und weiterer dienstrechtlicher Vorschriften aus Anlass der Covid-19-Pandemie vom 25. Mai 2020 – rückwirkend zum 1. März 2020 – in das Gesetz eingefügt worden. Es ist auch nichts dafür ersichtlich, dass sich der Erlass der genannten Normen bis zum Abschluss der Stimmabgabe am 19. März 2020 bereits so konkret abgezeichnet hätte, dass der Wahlvorstand die zu erwartende rückwirkende Änderung der Rechtslage in seine Entscheidungsfindung hätte einbeziehen können und müssen. Die Änderungen sind vom Bundeskabinett überhaupt erst in seiner Sitzung vom 8. April 2020 beschlossen worden.
30Die Zeit der Stimmabgabe bestimmt der Wahlvorstand gemäß § 6 Abs. 2 Nr. 11 BPersVWO im Wahlausschreiben. Ein Wahlausschreiben hat bindende Wirkung hinsichtlich der in ihm angegebenen Daten. § 6 Abs. 4 BPersVWO erlaubt lediglich eine Berichtigung des Wahlausschreibens wegen offenbarer Unrichtigkeiten. Vorgaben für eine Änderung des Wahlausschreibens, die über eine bloße Berichtigung offenbarer Unrichtigkeiten hinaus geht, bestehen – abgesehen von dem hier nicht in den Blick zu nehmenden § 19a BPersVWO – nicht. Nach verbreiteter Auffassung ist eine solche Änderung nur in seltenen Ausnahmefällen und nur im Wege eines Beschlusses des Wahlvorstands zulässig, das Wahlausschreiben zurückzunehmen und eine neues zu erlassen.
31Vgl. (für eine dem § 6 Abs. 4 BPersVWO entsprechende landesrechtliche Vorschrift) Hamburgisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 7. Juni 1983 – Bs PH 1/83 –, PersV 1984, 105 ff.; Ilbertz, in: Ilbertz u.a., BPersVG, 13. Aufl. 2014, § 6 WO, Rn. 15; Schlatmann in: Lorenzen/Etzel/Gerhold u.a., BPersVG (Stand: September 2020), § 6 WO, Rn. 29; weniger restriktiv, für den vorliegenden Fall jedoch mit demselben Ergebnis Noll, in: Altvater u.a., BPersvG, 10. Aufl. 2019, § 6 WO, Rn. 28a, der eine Änderung des Wahlausschreibens auch ohne Rücknahme und Erlass eines neuen für ausnahmsweise zulässig hält, diese Ausnahme allerdings explizit nicht auf eine Änderung des Tages der Stimmabgabe erstreckt.
32Ob bei einem solchen Vorgehen bereits eingereichte Wahlvorschläge stets zurückzugeben und neue innerhalb einer neu in Lauf gesetzten Frist nach § 7 Abs. 2 BPersVWO einzureichen sind, lässt sich der Literatur nicht eindeutig entnehmen.
33So wohl Ilbertz, in: Ilbertz u.a., BPersVG, 13. Aufl. 2014, § 6 WO, Rn. 15, sowie Noll, in: Altvater u.a., BPersvG, 10. Aufl. 2019, § 6 WO, Rn. 29, jeweils unter Berufung auf Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 6. September 1989 – 17 P 89.01549 –, PersR 1990, 115; differenzierend Schlatmann in: Lorenzen u.a., BPersVG (Stand: September 2020), § 6 WO, Rn. 29.
34Dies zugrunde gelegt, führten die Umstände des vorliegenden Falls weder für sich betrachtet noch in ihrer Gesamtschau zu einer Pflicht des Wahlvorstands, die Zeit der Stimmabgabe ausnahmsweise zu verlegen oder die Stimmabgabe, wie von den Antragstellern gefordert, auszusetzen. Eine solche Änderung wäre nach der seinerzeit maßgeblichen Rechtslage allenfalls im Wege einer Rücknahme des bisherigen und des Erlasses eines neuen Wahlausschreibens in Betracht gekommen. Ein solches Vorgehen wäre jedoch schon angesichts der grundsätzlichen Verbindlichkeit eines Wahlausschreibens mit dem Risiko einer Wahlanfechtung verbunden gewesen. Überdies wäre es, wie dargelegt, mit dem Risiko behaftet gewesen wäre, dass die bereits eingereichten Wahlvorschläge ihre Gültigkeit verlieren und neue hätten eingereicht werden müssen. Hinzu kommt, dass nach der seinerzeitigen Rechtslage die Amtszeit des vorherigen Personalrats gemäß § 26 Satz 3 BPersVG spätestens am 31. Mai 2020 geendet hätte. Eine Verschiebung der Stimmabgabe mit der Maßgabe, eine Zeit ohne Personalrat zu vermeinden, wäre demgemäß nur um wenige Wochen möglich gewesen. Zugleich war die weitere Entwicklung des Infektionsgeschehens und seiner Folgen seinerzeit völlig offen. Auch durfte der Wahlvorstand davon ausgehen, dass die Wahlberechtigten am Tag der Stimmabgabe trotz der Corona-Pandemie ihre Stimme würden persönlich abgeben können. Dass zahlreiche Wahlberechtigte von diesem Recht angesichts des Infektionsgeschehens möglicherweise keinen Gebrauch machen würden, musste der Wahlvorstand nicht zum Anlass dafür nehmen, von dem Wahltermin Abstand zu nehmen. Er hatte lediglich die Möglichkeit der Stimmabgabe sicherzustellen. Im Übrigen lässt sich die von den Antragstellern in diesem Zusammenhang zur Antragsbegründung angeführte niedrige Wahlbeteiligung im Vergleich zu vorhergehenden Personalratswahlen nicht nur mit Pandemie-bedingten Widrigkeiten bei der Stimmabgabe erklären, sondern auch damit, dass die Wahlberechtigten der Stimmabgabe angesichts des Infektionsgeschehens keine Priorität (mehr) eingeräumt haben. Dass mehreren Wahlberechtigten am Tag der Stimmabgabe der Zutritt zur Dienststelle untersagt war, führt selbst dann nicht zu der geltend gemachten Pflicht, wenn der Wahlvorstand von diesem Umstand wusste oder jedenfalls hätte wissen müssen. Es handelte sich, wie dargelegt, um ein Ereignis außerhalb des Wahlverfahrens, dem auch nicht der Charakter einer Wahlbehinderung zukommt. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass Wahlberechtigte grundsätzlich auch die Möglichkeit hatten, ihre Stimme per Briefwahl abzugeben. Angesichts dessen durfte der Wahlvorstand davon ausgehen, dass grundsätzlicher jeder Wahlberechtigte in der Lage sein würde, seine Stimme abzugeben.
35Schließlich verhilft auch der Hinweis der Antragsteller auf die Entscheidung des Hauptwahlvorstands, die ebenfalls für den 19. März 2020 angesetzte Stimmabgabe zur Wahl des Hauptpersonalrats abzubrechen, dem Antrag nicht zum Erfolg. Zwar soll nach § 36 BPersVG die Wahl des Bezirkspersonalrats möglichst gleichzeitig mit der Wahl der Personalräte in demselben Bezirk stattfinden und die Vorschrift ist nach § 42 BPersVWO auf die Wahl des Hauptpersonalrats entsprechend anwendbar. Hier lagen jedoch Gründe vor, von dieser Soll-Vorschrift ausnahmsweise abzuweichen. Der Hauptwahlvorstand hatte die Stimmabgabe zur Wahl des Hauptpersonalrats sehr kurzfristig aufgrund der Geschehnisse in den XXXX-Direktionen D. und R. abgebrochen und zugleich darauf hingewiesen, dass dies keinen Einfluss auf die Wahlen für die örtlichen Personalräte habe. Dies rechtfertigt das Festhalten des Wahlvorstands an dem seit Langem bestimmten Zeitpunkt der Stimmabgabe für die Wahl des örtlichen Personalrats auch angesichts der Folge, dass diese nicht gleichzeitig mit der Wahl des Hauptpersonalrats stattfinden würde. Im Übrigen hätte der Antrag selbst bei einem – hier bloß unterstellten – Verstoß gegen § 36 BPersVWO keinen Erfolg. Als bloße Soll-Vorschrift ist § 36 BPersVWO keine wesentliche Vorschrift im Sinne des § 25 BPersVG. Ein Verstoß gegen § 36 BPersVWO rechtfertigt daher keine Wahlanfechtung.
36Vgl. Ilbertz, in: Ilbertz u.a., BPersVG, 13. Aufl. 2014, § 36 WO, Rn. 2; Noll, in: Altvater u.a., BPersvG, 10. Aufl. 2019, § 36 WO, Rn. 2.
37Für eine Kostenentscheidung ist im personalvertretungsrechtlichen Beschlussverfahren kein Raum.
38Rechtsmittelbelehrung
39Gegen diesen Beschluss findet die Beschwerde an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster (Fachsenat) statt.
40Die Beschwerde ist innerhalb eines Monats nach Zustellung dieses Beschlusses durch Einreichung einer Beschwerdeschrift schriftlich bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster einzulegen. Sie muss den Beschluss bezeichnen, gegen den die Beschwerde gerichtet ist, und die Erklärung enthalten, dass gegen diesen Beschluss Beschwerde eingelegt wird.
41Statt in Schriftform kann die Einlegung der Beschwerde auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronische Rechtsverkehrsverordnung – ERVV) erfolgen.
42Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung dieses Beschlusses schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV zu begründen.
43Die Beschwerdebegründung muss angeben, auf welche im Einzelnen anzuführenden Beschwerdegründe sowie auf welche neuen Tatsachen die Beschwerde gestützt wird.
44Beschwerdeschrift und Beschwerdebegründung müssen von einem Rechtsanwalt oder einer nach § 11 Abs. 2 des Arbeitsgerichtsgesetzes zur Vertretung befugten Person unterzeichnet sein.
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Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils beizutreibenden Betrages abwenden, soweit nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
1Tatbestand:
2Der Kläger wendet sich gegen eine Abschleppmaßnahme. Er ist Halter des PKW mit dem amtlichen Kennzeichen XXX-X (H). Der Kläger stellte das Fahrzeug nach seinen eigenen Angaben am Wochenende des 15./16. Juni 2019 auf dem Parkplatz „L2. “ in N2. ab.
3Von Mittwoch, dem 19. Juni 2019 bis zum Sonntag, dem 23. Juni 2019 fand auf dem Parkplatz „L2. “ in N2. die Veranstaltung „T1. N2. 2019“ statt. Mit Bescheid vom 20. Dezember 2018 hatte die Beklagte die Veranstaltung genehmigt, gleichzeitig verkehrslenkende Maßnahmen angeordnet und spezielle Auflagen zur Beachtung gemacht. Wörtlich heißt es in dem Bescheid u.a.: „Weiterhin ist auf dem L3.-------platz eine ausreichende Beschilderung durch VZ 283 mit dem Zusatz „gesamte Parkplatzfläche“ und dem Zusatz „ab 17.06.2019“ und dem Zusatz „ab 22:00 Uhr“ zu errichten. Die Beschilderung durch das VZ 283 mit den jeweiligen Zusätzen ist ebenfalls am 13.06.2019 zu errichten. Die Standorte der VZ 283 und der sonstigen Beschilderung sind mit den entsprechenden Ansprechpartnern der F1. AöR bereits im Zusammenhang mit anderen Veranstaltungen vereinbart worden.“
4Auf dem Bescheid vom 20. Dezember 2018 befindet sich ein handschriftlicher Vermerk folgenden Inhalts: „13.06.19 Schilder stehen in 4 Reihen S.C.“.
5Ausweislich des seitens der Beklagten vorgelegten Aufstellprotokolls seien am Freitag, dem 13. Juni 2019 zwischen 5:30 und 9:00 Uhr Absperrungen und Verkehrszeichen aufgestellt worden. Wörtlich heißt es im „Baustelle Tagesbericht“ der F1. : „Baustelle L4. auf Parkplatz / Verkehrszeichen 50 Stck Absperrung aufgestellt. Aufnahmedatum 13.06.2019 Abschlussdatum 13.06.2019“.
6Die Mitarbeiter der Beklagten bemerkten das Fahrzeug am Dienstag, den 18. Juni 2019 und stellten eine Verwarnung aus. Die Mitarbeiter der Beklagten stellten fest, dass das Fahrzeug am 19. Juni 2019 um 7:52 Uhr an derselben Stelle stand. Sie führten eine Halteranfrage bei der Polizei durch und stellten fest, dass ein Bewohnerausweis für die Parkzone 4 auf den Namen O. , O1. X. 0 existierte. Da unter dieser Anschrift kein Klingelschild mit dem Namen O. beschriftet gewesen sei, habe der Halter bzw. Fahrer nicht aufgefunden werden können. Daraufhin leiteten die Mitarbeiter der Beklagten am 19. Juni 2019 um 10:17 Uhr die Abschleppmaßnahme ein. Das Fahrzeug wurde von der Firma I. -H. L5. abgeschleppt und auf das Betriebsgelände des Abschleppunternehmers verbracht (vgl. Vermerk der Außendienstmitarbeiter vom 28. Juni 2019). Ausweislich des Vermerks der Außendienstmitarbeiter vom 19. Juni 2019 hätten die Halteverbotsschilder seit dem 13. Juni 2019 für den 17. Juni 2019 ab 22 Uhr dort gestanden.
7Da der Kläger das Fahrzeug nicht beim Abschleppunternehmer abholte, bat ihn die Beklagte mit Schreiben vom 24. Juni 2019, das Fahrzeug bei der Abschleppfirma abzuholen. Der Kläger holte das Fahrzeug am 27. Juni 2019 ab und verweigerte ausweislich eines handschriftlichen Vermerks auf der Rechnung die Unterschrift zwecks Bestätigung, dass er das Fahrzeug ohne Schäden zurückerhalten habe. Ausweislich des handschriftlichen Vermerks des Abschleppunternehmers war die Polizei bei der Abholung vor Ort. Mit Rechnung vom 27. Juni 2019 machte der Abschleppunternehmer Kosten von insgesamt 268,94 Euro (Abschleppkosten 118,00 Euro, Verwahrgebühr 108 Euro zzgl. 42,94 Euro Mehrwertsteuer) geltend.
8Die Beklagte setzte gegenüber dem Kläger mit Bescheid vom 15. Juli 2019, zugestellt am 18. Juli 2019, eine Verwaltungsgebühr in Höhe von 30,00 Euro fest und machte als Kosten des Abschleppunternehmens 268,94 Euro (insgesamt 298,94 Euro) geltend.
9Der Kläger hat am 19. August 2019 Klage erhoben.
10Zur Begründung trägt er vor, dass die Schilder nicht drei volle Tage vor dem Abschleppvorgang aufgestellt worden seien. Der Kläger habe am 17. Juni 2019 nach seinem Auto gesehen und habe keine Schilder wahrgenommen. Die späte Aufstellung habe auch über eine Aussage einer Mitarbeiterin der Beklagten, Frau T2. , bestätigt werden können. Die Lichtbilder der Beklagten dokumentierten, dass eine widersprüchliche Beschilderung auf dem Parkplatz gestanden habe. Selbst wenn die entsprechenden Schilder bereits rechtzeitig aufgestellt worden sein sollten, sei es für den Kläger jedoch nicht zu erkennen gewesen, welche von diesen konkret welchen Parkbereich begrenzt und definiert hätten. Auch sei es vom Kläger nicht zu erwarten gewesen, dass er sämtliche Schilder abgeht und kontrolliert.
11Der Kläger beantragt,
12den Leistungs- und Gebührenbescheid der Beklagten vom 15. Juli 2019 aufzuheben.
13Die Beklagte beantragt,
14die Klage abzuweisen.
15Zur Begründung trägt sie vor, dass das Fahrzeug des Klägers am 19. Juni 2019 im mobilen absoluten Haltverbot geparkt gewesen sei. Die entsprechende Beschilderung sei dort am 13. Juni 2019 rechtzeitig eingerichtet worden und sei auch erkennbar und nicht widersprüchlich gewesen. Dies werde durch die im Verwaltungsvorgang befindlichen Fotos belegt. Das Aufstellen der Schilder sei nachweislich am 13. Juni 2019 erfolgt, sodass die erforderliche Vorlaufzeit von drei vollen Tagen eingehalten worden sei. Ebenso könne davon ausgegangen werden, dass der Kläger Kenntnis über die Veranstaltung gehabt habe, da es sich um eine jährlich wiederkehrende Veranstaltung handele, welche im Vorfeld durch entsprechende Medien sowie Plakate begleitet werde. Der Kläger sei langjähriger Gewerbetreibender in N2. , wobei sein Geschäftslokal fußläufig 5 Minuten vom Parkplatz entfernt liege.
16Mit Beschluss vom 9. Juli 2020 hat die Kammer das Verfahren der Vorsitzenden zur Entscheidung als Einzelrichterin übertragen.
17In der mündlichen Verhandlung hat der für den Fachdienst Straßen- und Verkehrsrecht zuständige Mitarbeiter der Beklagten, Herr C. , ausgeführt, dass der handschriftliche Vermerk hinsichtlich des Aufstellens der Schilder von der Außendienstmitarbeiterin Frau D. stamme, die in seinem Auftrag vor Ort kontrolliert habe, ob die Schilder ordnungsgemäß und sichtbar aufgestellt worden seien. Darüber hinaus hat er ausgeführt, dass die „Tagesberichte“ der F1. in der Regel elektronisch geführt würden und in diesem Fall auf Anfrage des Gerichts ausgedruckt worden seien, so dass sich das auf dem Aufstellprotokoll befindliche Datum „19.02.2020“ erkläre.
18Das Gericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugin Frau T2. . Wegen der diesbezüglichen Einzelheiten wird auf den Inhalt der Sitzungsniederschrift und die Gerichtsakte verwiesen.
19Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten ergänzend Bezug genommen.
20Entscheidungsgründe:
21Die Klage hat keinen Erfolg. Sie ist zulässig, aber unbegründet. Der Leistungs- und Gebührenbescheid der Beklagten vom 15. Juli 2019 ist rechtmäßig.
22Die an den Kläger gerichtete Aufforderung, die entstandenen Kosten für die durchgeführte Abschleppmaßnahme in Höhe von 268,94 Euro zu zahlen, findet ihre Ermächtigungsgrundlage in § 77 Abs. 1 Verwaltungsvollstreckungsgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen (VwVG NRW), § 20 Abs. 2 Nr. 8 der Verordnung zur Ausführung des Verwaltungsvollstreckungsgesetzes (VO VwVG NRW) i.V.m. § 24 Nr. 13 Ordnungsbehördengesetz des Landes Nordrhein-Westfalen (OBG NRW), § 46 Abs. 3, § 43 Nr. 1 Polizeigesetz des Landes Nordrhein-Westfalen (PolG NRW) bzw. in § 77 Abs. 1 VwVG NRW, § 20 Abs. 2 Nr. 7 VO VwVG NRW i.V.m. § 14 OBG NRW, § 55 Abs. 2, § 57 Abs. 1 Nr. 1, § 59 VwVG NRW.
23Der Bescheid ist rechtmäßig. Die tatbestandlichen Voraussetzungen der vorgenannten Ermächtigungsgrundlage sind erfüllt. Hiernach hat der für eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit verantwortliche Störer die durch eine rechtmäßige Sicherstellung oder Ersatzvornahme entstandenen Kosten zu tragen.
24Ob die hier in Rede stehende Abschleppmaßnahme als Sicherstellung gemäß § 24 Nr. 13 OBG NRW, § 46 Abs. 3, § 43 Nr. 1 PolG NRW oder als Ersatzvornahme einer Beseitigungsmaßnahme gemäß § 14 OBG NRW, § 55 Abs. 2, § 57 Abs. 1 Nr. 1, § 59 VwVG NRW auf Grundlage der ordnungsrechtlichen Generalklausel anzusehen ist, kann dahinstehen,
25vgl. OVG Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), Urteil vom 28. November 2000 – 5 A 2625/00 –, Rn. 13, juris,
26denn sie ist nach beiden Alternativen rechtmäßig. Die in den vorgenannten Vorschriften vorausgesetzte gegenwärtige bzw. konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit bestand vorliegend. Eine Gefahr im polizei- und ordnungsrechtlichen Sinne liegt jedenfalls bei einem Verstoß gegen die objektive Rechtsordnung, mithin bei einer Zuwiderhandlung gegen formelle und materielle Gesetze vor.
27Eine derartige Zuwiderhandlung ist gegeben.
28Der Parkvorgang auf dem Parkplatz „L2. “ in N2. verstieß gegen § 41 Abs. 1 der Straßenverkehrsordnung (StVO) i.V.m. Nr. 62 der Anl. 2 zu § 41 Abs. 2 StVO (Zeichen 283). Denn aufgrund der auf dem Platz aufgestellten Halteverbotsschilder mit dem Datumszusatz war das Halten an dem von dem abgeschleppten PKW genutzten Parkplatz zu diesem Zeitpunkt verboten.
29Denn nach der mündlichen Verhandlung steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die auf den - in den Verwaltungsvorgängen befindlichen - Fotos neben dem Fahrzeug des Klägers sichtbaren mobilen Haltverbotszeichen mit dem Zeitzusatz „ab 17.06.2019 ab 22:00 Uhr“ auf dem Parkplatz ab dem 13. Juni 2019 ordnungsgemäß aufgestellt waren, durchgehend bis zum Tag der Abschleppmaßnahme am 19. Juni 2019 vor Ort vorhanden waren und zwischenzeitlich weder abgebaut noch unkenntlich gemacht worden sind. Das Vorhandensein der Halteverbotsschilder am 18. Juni 2019 ist in den Verwaltungsvorgängen der Beklagten fotografisch dokumentiert. Das Aufstellen der Schilder am 13. Juni 2019 ergibt sich aus 3 verschiedenen Belegen unterschiedlicher Personen: Zum einen ergibt es sich aus dem Tagesbericht des Mitarbeiters I1. . Zum anderen ergibt es sich aus dem handschriftlichen Vermerk der Mitarbeiterin D. . Schließlich ergibt es sich aus dem handschriftlichen Vermerk der Außendienstmitarbeiter vom 19. Juni 2019. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass diese verschiedenen Mitarbeiter alle eine unrichtige Dokumentation festgehalten haben. So ist auch plausibel, dass der nachträglich ausgedruckte Tagesbericht das Datum seines Ausdrucks trägt und dass die Mitarbeiterin D. das Ergebnis ihrer Überprüfung vor Ort richtig festgehalten hat.
30Damit besteht grundsätzlich ein Anscheinsbeweis für die ununterbrochene Anwesenheit und Wahrnehmbarkeit der Verkehrszeichen vor Ort,
31vgl. VG Bremen, Urteil vom 13. August 2009, - 5 K 3876/08 -, Juris, VG Leipzig, Urteil vom 14. November 2007, Az. 1 K 483/06, Juris.
32Denn nach der Lebenserfahrung werden Schilder in der Regel nicht von Unbefugten versetzt oder gar entfernt. Der Beweis des ersten Anscheins ist hier auch nicht durch die Darlegungen des Klägers erschüttert, da keine Tatsachen vorliegen, welche die ernsthafte und naheliegende Möglichkeit eines atypischen Verlaufs begründen. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Vernehmung der Zeugin T2. . Denn sie hat im Rahmen ihrer Vernehmung in der mündlichen Verhandlung glaubhaft und widerspruchsfrei bekundet, dass sie dem Kläger telefonisch die Auskunft erteilt habe, dass die Schilder ab dem 17. Juni 2019 wirksam gewesen seien. Weiter habe sie ihm gesagt, dass sie als für die Erstellung der Bescheide im Innendienst Zuständige keine Kenntnis davon habe, wann die Schilder genau aufgestellt worden seien und sich diesbezüglich erkundigen müsste.
33Das Gericht hat keine Veranlassung die Glaubhaftigkeit der Zeugin in Zweifel zu ziehen. Die Zeugin hat das Kerngeschehen hinsichtlich des Vorhandenseins der mobilen Halteverbotszeichen ohne Belastungstendenzen wiedergegeben. Das Gericht geht folglich davon aus, dass die mobilen Haltverbotsschilder ordnungsgemäß aufgestellt waren, als der Kläger seinen PKW am Wochenende des 15./16. Juni 2019 auf dem Parkplatz abstellte.
34Unerheblich ist darüber hinaus, dass der Kläger, wie er vorträgt, kein Halteverbotsschild gesehen hat. Auf ein Verschulden kommt es im Bereich des hier vorliegenden Gefahrenabwehrrechts nicht an. Denn der mit dem Halteverbot erlassene Verwaltungsakt ist gegenüber dem Kläger wirksam geworden. Verkehrszeichen und damit auch Halteverbotszeichen stellen nach der ständigen Rechtsprechung Verwaltungsakte im Sinne von § 35 VwVfG NRW in Form von Allgemeinverfügungen dar. Dieser Verwaltungsakt wird gemäß § 43 Abs. 1 VwVfG NRW gegenüber demjenigen, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird, in dem Zeitpunkt wirksam, in dem er ihm bekanntgegeben wird. Die Bekanntgabe erfolgt nach den bundesrechtlichen Vorschriften der StVO durch Aufstellung des Verkehrsschildes (§ 39 Abs. 1 und 2, § 45 Abs. 4 StVO). Bei der Aufstellung handelt es sich um eine besondere Form der öffentlichen Bekanntgabe.
35Vgl. BVerwG, Urteil vom 11. Dezember 1996 – 11 C 15.95 –, Rn. 9, juris.
36Sind Verkehrszeichen so aufgestellt oder angebracht, dass sie ein durchschnittlicher Kraftfahrer bei Einhaltung der nach § 1 StVO erforderlichen Sorgfalt schon „mit einem raschen und beiläufigen Blick“ erfassen kann, so äußern sie ihre Rechtswirkung gegenüber jedem von der Regelung betroffenen Verkehrsteilnehmer, unabhängig davon, ob er das Verkehrszeichen tatsächlich wahrgenommen hat.
37Vgl. BVerwG, Urteil vom 6. April 2016 – 3 C 10/15 -, Rn. 15, 19 f. ; - juris; BVerwG, Urteil vom 11. Dezember 1996 – 11 C 15.95 –, Rn. 9, juris; OVG NRW, Urteil vom 23. Mai 1995 – 5 A 2092/93 –, Rn. 4 ff.; OVG NRW, Urteil vom 15. Mai 1990 – 5 A 1687/89 –, Rn. 7 ff., juris.
38Allerdings sind an die Sichtbarkeit von Verkehrszeichen, die den ruhenden Verkehr betreffen, niedrigere Anforderungen zu stellen, als an solche für den fließenden Verkehr. Diese müssen – anders als beim fließenden Verkehr – nicht bereits mit einem raschen und beiläufigen Blick erfasst werden können.
39Vgl. OVG Hamburg, Urteil vom 30. Juni 2009 – 3 Bf 408/08 –, Rn. 31 ff., juris; VG Düsseldorf, Urteil vom 20. August 2013 – 14 K 5618/12 – juris, Urteil vom 08.11.2016 – 14 K 8007/15 – juris.
40Einen Verkehrsteilnehmer, der sein Fahrzeug abstellt, treffen dementsprechend auch andere Sorgfalts- und Informationspflichten hinsichtlich der Beschilderung und der maßgeblichen örtlichen Verkehrsregelungen als einen Teilnehmer am fließenden Verkehr. Die Sorgfaltsanforderungen richten sich stets nach den konkreten Umständen des Einzelfalles.
41Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 11. Juni 1997 – 5 A 4278/95 –, Rn. 5 ff., juris; OVG NRW, Beschluss vom 25. November 2004 – 5 A 850/03 –, Rn. 38, juris; OVG NRW, Urteil vom 15. Mai 1990– 5 A 1687/89 –, Rn. 7 ff., juris.
42In Bezug auf Einschränkungen des Parkens und Haltens ist ein Verkehrsteilnehmer daher grundsätzlich verpflichtet, sich nach etwa vorhandenen Verkehrszeichen mit Sorgfalt umzusehen und sich über den örtlichen und zeitlichen Geltungsbereich eines (mobilen) Haltverbotsschilds zu informieren. Dabei muss er jedenfalls den leicht einsehbaren Nahbereich auf das Vorhandensein verkehrsrechtlicher Regelungen überprüfen, bevor er sein Fahrzeug endgültig abstellt.
43Vgl. OVG NRW, Urteil vom 15. Mai 1990 – 5 A 1687/89 – juris (40 m Gehweg zumutbar); OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 11. Juni 1997 – 5 A 4278/95 –, Rn. 5 ff., juris; OVG Hamburg, Urteil vom 30. Juni 2009 – 3 Bf 408/08 –, Rn. 31 ff., juris.
44Unter Zugrundelegung der vorgenannten Kriterien sind die mobilen Haltverbotszeichen ordnungsgemäß bekannt gegeben worden und waren ausweislich des vorliegenden Fotomaterials nach dem Sichtbarkeitsgrundsatz für einen durchschnittlichen Kraftfahrer bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt hinreichend erkennbar. Dies gilt auch unter Einbeziehung der am Eingang des Parkplatzes aufgestellten Schilder. Denn aus der Zusammenschau der Schilder ist ersichtlich, dass das absolute Halteverbot für die jeweils bezeichneten Reihen der Parkplätze gelten sollte.
45Das Einschreiten gegen den Parkverstoß in Form der Sicherstellung des Fahrzeugs durch Veranlassung des Abschleppens des Fahrzeugs war auch ermessensfehlerfrei. Insbesondere wurde der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet.
46Die Sicherstellung des Fahrzeugs durch Abschleppen war geeignet, den Verstoß gegen die Parkbeschränkung zu beseitigen und eine Behinderung des geplanten „T1. “ zu vermeiden.
47Die Sicherstellung war zur Gefahrenbeseitigung auch erforderlich. Ein anderes, weniger belastendes, aber ebenso wirksames Mittel der Gefahrenbeseitigung stand der Beklagten nicht zur Verfügung. Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger sein Fahrzeug kurzfristig selbst beseitigen würde, waren für die Mitarbeiter der Beklagten nicht ersichtlich. Das Abschleppen war auch angemessen. Die Nachteile, die für den Kläger mit der Abschleppmaßnahme verbunden sind (Kosten, Unannehmlichkeiten), stehen nicht außer Verhältnis zu dem bezweckten Erfolg, nämlich der Durchsetzung der Verkehrsregelung zur Ermöglichung des geplanten Festivals.
48Für die Veranlassung der rechtmäßigen Sicherstellung kann die Beklagte gemäß § 77 VwVG, § 15 Abs. 1 Nr. 7 VO VwVG Verwaltungsgebühren erheben. Die Höhe der hier festgesetzten Gebühr von 30,00 Euro begegnet keinen Bedenken. Sie hält sich innerhalb des vom Verordnungsgebers vorgegeben Gebührenrahmen von 25,00 bis 150,00 Euro. Sie bleibt damit auch innerhalb des von der Rechtsprechung anerkannten Rahmens,
49vgl. OVG NRW, Urteil vom 28. November 2000 – 5 A 2625/00 –, juris.
50Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 VwGO.
51Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 Zivilprozessordnung (ZPO).
52Rechtsmittelbelehrung:
53Gegen dieses Urteil kann innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) schriftlich die Zulassung der Berufung beantragt werden. Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen.
54Der Antrag kann auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) eingereicht werden.
55Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist.
56Die Berufung ist nur zuzulassen,
571. wenn ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,
582. wenn die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,
593. wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
604. wenn das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
615. wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.
62Die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster oder Postfach 6309, 48033 Münster) schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV einzureichen.
63Über den Antrag entscheidet das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen.
64Im Berufungs- und Berufungszulassungsverfahren müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die das Verfahren eingeleitet wird. Die Beteiligten können sich durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, der die Befähigung zum Richteramt besitzt, als Bevollmächtigten vertreten lassen. Auf die zusätzlichen Vertretungsmöglichkeiten für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse wird hingewiesen (vgl. § 67 Abs. 4 Satz 4 VwGO und § 5 Nr. 6 des Einführungsgesetzes zum Rechtsdienstleistungsgesetz – RDGEG –). Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 7 VwGO bezeichneten Personen und Organisationen unter den dort genannten Voraussetzungen als Bevollmächtigte zugelassen.
65Die Antragsschrift und die Zulassungsbegründungsschrift sollen möglichst dreifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.
66Beschluss:
67Der Streitwert wird auf 298,94 Euro festgesetzt.
68Gründe:
69Die Festsetzung des Streitwertes ist nach § 52 Abs. 2 GKG erfolgt.
70Rechtsmittelbelehrung:
71Gegen den Streitwertbeschluss kann schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) Beschwerde eingelegt werden, über die das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster entscheidet, falls ihr nicht abgeholfen wird.
72Die Beschwerde kann auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) oder zu Protokoll der Geschäftsstelle eingelegt werden; § 129a der Zivilprozessordnung gilt entsprechend.
73Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn sie innerhalb von sechs Monaten eingelegt wird, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat; ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.
74Die Beschwerde ist nicht gegeben, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200,-- Euro nicht übersteigt.
75Die Beschwerdeschrift soll möglichst dreifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.
76War der Beschwerdeführer ohne sein Verschulden verhindert, die Frist einzuhalten, ist ihm auf Antrag von dem Gericht, das über die Beschwerde zu entscheiden hat, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn er die Beschwerde binnen zwei Wochen nach der Beseitigung des Hindernisses einlegt und die Tatsachen, welche die Wiedereinsetzung begründen, glaubhaft macht. Nach Ablauf eines Jahres, von dem Ende der versäumten Frist angerechnet, kann die Wiedereinsetzung nicht mehr beantragt werden.
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Tenor
Auf die Beschwerde des Antragstellervertreters wird die Streitwertfestsetzung im Beschluss des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 9. März 2020 - 1 K 6985/19 - geändert.Der Streitwert für das erstinstanzliche Verfahren wird auf 43.708,38 EUR festgesetzt.
Gründe
1 Die zulässige Beschwerde ist begründet. Der vom Verwaltungsgericht für den Antrag nach § 123 VwGO auf Freihaltung der ausgeschriebenen Stelle des Geschäftsführers/der Geschäftsführerin der Antragsgegnerin festgesetzte Streitwert von 2.500,- EUR ist zu niedrig. Seit Beschluss vom 06.12.2016 (- 4 S 2078/16 -, Juris) nimmt der Senat in Konkurrenteneilverfahren in ständiger Rechtsprechung die Festsetzung des Streitwerts gemäß §§ 40, 47 Abs. 1 und Abs. 2, 63 Abs. 2 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 1 i.V.m. Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 und Satz 4 GKG anhand des sogenannten „kleinen Gesamtstatus“ selbst in Verfahren bezüglich der Vergabe eines Dienstpostens vor, wenn die Auswahlentscheidung eine qualifizierte Vorwirkung für die Vergabe des Statusamts entfaltet.2 Auch eine Streitwerthalbierung scheidet im Hinblick auf die Vorwegnahme der Hauptsache aus, denn das Konkurrenteneilverfahren tritt grundsätzlich an die Stelle des Hauptsacheverfahrens; zudem ergeht der verwaltungsgerichtliche Beschluss nicht aufgrund einer nur summarischen Würdigung der Sach- und Rechtslage (vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 16.12.2015 - 2 BvR 1958/13 -, Juris Rn. 57; BVerwG, Urteil vom 04.11.2010 - 2 C 16.09 -, Juris Rn. 32). Damit aber bestimmt sich das Interesse eines Eilantragstellers hier nach der Verleihung des begehrten anderen Statusamts mit dem höheren Endgrundgehalt, wobei insoweit die Hälfte der nach der konkreten Besoldungsstufe sich ergebenden Summe der für ein Kalenderjahr zu zahlenden Bezüge dieses höheren Statusamts mit Ausnahme nicht ruhegehaltsfähiger Zulagen im Zeitpunkt der Eilantragserhebung maßgeblich ist (vgl. zuletzt Senatsbeschluss vom 10.09.2020 - 4 S 1326/20 -, Juris Rn. 31; vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 21.12.2016 - 2 VR 1.16 -, Juris Rn. 46).3 Im vorliegenden Fall ist demnach der Streitwert für den Konkurrenteneilantrag gemäß § 123 VwGO nach dem sogenannten „kleinen Gesamtstatus“ zu bemessen, d.h. mit insgesamt 43.708,38 EUR (angestrebtes Statusamt A 16 - der Antragsteller befand sich zum Zeitpunkt der Antragstellung am 22.10.2019 in Stufe 11 = 7.284,73 x 6). Bezügebestandteile, die vom Familienstand oder von Unterhaltsverpflichtungen abhängig sind, bleiben gemäß § 52 Abs. 6 Satz 3 GKG außer Betracht.4 Denn der derzeit mit A 14 besoldete Antragsteller begehrt die für verbeamtete Bewerber ausdrücklich mit „A 16“ ausgeschriebene Stelle des Geschäftsführers, für die die Antragsgegnerin den Beigeladenen ausgewählt hat. Sollte sich wegen der besonderen Konstruktion der Stiftung dienstrechtlich keine Beförderung auf A 16 in Verbindung mit einer Abordnung realisieren lassen, sondern müsste etwa mit einer Zuweisung im Sinne von § 20 BeamtStG gearbeitet werden, dürfte doch mit einer zusätzlichen arbeitsvertraglichen Vereinbarung die vorgesehene Besoldung entsprechend A 16 sichergestellt werden können. Die Bedeutung der Streitsache ist deshalb auch im vorliegenden besonderen Einzelfall für den Antragsteller mit dem nach A 16 berechneten ungekürzten „kleinen Gesamtstatus“ zu bewerten.5 Einer Kostenentscheidung bedarf es nicht, weil das Beschwerdeverfahren gerichtsgebührenfrei ist und Kosten nicht erstattet werden (§ 68 Abs. 3 GKG).6 Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG). | {
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Tenor
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Amtsgerichts - Schöffengericht - Neustadt an der Weinstraße vom 25. Februar 2020 mit den Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts zurückverwiesen.
Gründe
1
Das Amtsgericht hat den Angeklagten wegen (unerlaubten) „Überlassens von Betäubungsmitteln zum unmittelbaren Gebrauch“ zu Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 60,-- EUR verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Sachrüge gestützten (Sprung-)Revision. Das gem. § 335 Abs. 1 StPO statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsmittel ist begründet und führt zu einem vorläufigen Erfolg.
I.
2
Das Amtsgericht hat folgendes festgestellt:
3
„Der Angeklagte sowie die Zeugen L, B, K und T arbeiteten im Rahmen ihrer Tätigkeit für die …… im August 2018 auf dem Weinfest in Deidesheim und waren dort auch für drei Tage untergebracht. Der Zeuge L war zu diesem Zeitpunkt 16 Jahre alt und befand sich in einem Ausbildungsverhältnis. Dessen Vorgesetzter war der Angeklagte, dem das Alter des Zeugen L bekannt war. Am 10. August 2018 saßen der Angeklagte sowie die benannten Zeugen nach der Arbeit zusammen an einem Tisch und tranken eine Flasche Wodka. Der Angeklagte packte bei dieser Gelegenheit ein Tütchen mit Marihuana aus und baute einen Joint mit einem Marihuana-Tabak-Gemisch, über den dieser die Verfügungsgewalt hatte und der in der Folge zunächst vom Angeklagten sowie dem Zeugen T abwechselnd geraucht und hiernach wieder in den Aschenbecher gelegt wurde. Dabei äußerte der Zeuge L, dass er auch schon Cannabis konsumiert hat. Nachfolgend griff der Zeuge L in Anwesenheit des Angeklagten, der dies hätte verhindern können, nach dem Joint, zog einmal daran und legte ihn hiernach wieder in den Aschenbecher. Dem Angeklagten war hierbei bewusst, dass er dem Zeugen L den Joint nicht überlassen durfte.“
4
Das Amtsgericht hat das festgestellte Verhalten als „unerlaubtes Überlassen von Betäubungsmitteln zum unmittelbaren Verbrauch gemäß § 29a Abs. 1 Nr. 1 BtMG“ gewertet und die Strafe dem gemilderten Strafrahmen des § 29a Abs. 2 BtMG entnommen.
II.
5
Diese Feststellungen vermögen den Schuldspruch wegen (vorsätzlich begangenen) unerlaubten Überlassens von Betäubungsmitteln an eine Person unter 18 Jahren zum unmittelbaren Verbrauch (vgl. zur Fassung des Schuldspruchs: BGH, Beschluss vom 14.04.2015 – 5 StR 109/15 sowie Urteil vom 22.11.2016 – 1 StR 329/16, jew. juris) nicht zu tragen.
1.
6
Überlassen zum unmittelbaren Verbrauch i.S.d. § 29a Abs. 1 Nr. 1, 3. Alt. BtMG ist die Aushändigung des Betäubungsmittel an einen anderen (hier an einen Minderjährigen) zur sofortigen Verwendung, ohne dass dieser die freie Verfügungsgewalt daran erlangt (Oğlakcıoğlu in MünchKomm-StGB, 3. Aufl. 2018, BtMG § 29a Rn. 19; Patzak in Körner/Patzak/Volkmer, BtMG, 9. Aufl. 2019, § 29a Rn. 14, jew. m.w.N.). Ein Überlassen zum unmittelbaren Verbrauch setzt schon nach dem Wortlaut eine „Hingabe“ des Stoffes durch den Täter an den Konsumenten zum Verbrauch voraus (vgl. Kotz/Oğlakcıoğlu, MünchKomm-StGB, 3. Aufl. 2018, BtMG § 29 Rn. 1272). Eine solche Hingabe des Stoffes muss zwar nicht in der Weise geschehen, dass das Betäubungsmittel unmittelbar vom Täter an den Konsumenten übergeben, diesem mithin quasi „in die Hand“ gegeben wird. Denkbar und von Sinn und Wortlaut der Norm umfasst sind auch Fälle, in denen der Täter eine Zugriffsmöglichkeit auf den Stoff in der Weise schafft, dass dies bereits nach dem äußeren Erscheinungsbild wenn nicht gar als Aufforderung zum Konsum, so doch jedenfalls als Einverständnis hinsichtlich des Zugriffs durch einen Dritten verstanden werden kann. Mithin bedarf es - auch in Abgrenzung zum lediglich als Vergehen nach § 29 Abs. 1 S. 1 Nr. 11 BtMG strafbaren Verschaffen einer Gelegenheit zum unbefugten Verbrauch (hierzu: Patzak aaO. § 29 Rn. 13) - eines Verhaltens, durch das der Täter zum Ausdruck bringt, mit dem (Mit-)Konsum des Betäubungsmittels durch den Minderjährigen zumindest einverstanden zu sein. Hierfür reicht es nicht aus, wenn derjenige, der die Verfügungsgewalt über den Stoff inne hat, den Zugriff durch den Minderjährigen „hätte verhindern können“ (UA S. 3). Dass der Angeklagte zumindest damit gerechnet hat, dass der Zeuge L nach dem Joint greifen und daran ziehen würde, und dies auch gebilligt hat, versteht sich nach den festgestellten Gesamtumständen nicht von selbst. Einer solchen Annahme kann bereits entgegen stehen, dass der Joint zuvor ausschließlich zwischen dem Angeklagten und dem Zeugen T abwechselnd geraucht wurde, die ebenfalls anwesenden Zeugen B und K an dem Konsum jedoch nicht teilnahmen. Das Amtsgericht hätte sich daher näher als bislang geschehen damit auseinandersetzen müssen, aus welchen Umständen eine vorsätzlich begangene Hingabe des Joints (auch) an den Minderjährigen gefolgert werden kann.
2.
7
Das angefochtene Urteil unterliegt daher insgesamt der Aufhebung. Der neu zur Entscheidung berufene Tatrichter wird zu beachten haben, dass der Angeklagte sich bereits durch das Überlassen des Joints an den Zeugen T wegen eines Vergehens nach § 29 Abs. 1 S. 1 Nr. 6 lit. b BtMG (vgl. Patzak aaO. § 29 Rn. 97) und nach § 29 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 BtMG (vgl. wegen der Konkurrenzen: Weber, BtMG, § 29, Rn. 1392 f., 1399) strafbar gemacht haben kann.
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 40.000,00 Euro festgesetzt.
1Gründe:
2Der Senat entscheidet über den Antrag auf Zulassung der Berufung durch den Berichterstatter, weil sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt haben (§§ 87a Abs. 2 und 3, 125 Abs. 1 VwGO).
3Der Berufungszulassungsantrag hat keinen Erfolg.
4Die Berufung ist gemäß § 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO zuzulassen, wenn einer der in § 124 Abs. 2 VwGO genannten Zulassungsgründe den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entsprechend dargelegt wird und vorliegt. Die Klägerin stützt ihren Antrag auf die Zulassungsgründe nach § 124 Abs. 2 Nrn. 1 und 5 VwGO. Keiner der beiden Gründe liegt vor.
5I. Aus der Zulassungsbegründung ergeben sich keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils liegen vor, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird.
6Vgl. statt vieler BVerfG, Beschluss vom 18. Juni 2019 ‑ 1 BvR 587/17 ‑, BVerfGE 151, 173, juris, Rn. 28 ff. m. w. N.; VerfGH NRW, Beschluss vom 17. Dezember 2019 - 56/19.VB-3 ‑, juris, Rn. 17 ff., jeweils m. w. N.
7Nach diesem Maßstab liegen ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils, mit welchem das Verwaltungsgericht einen Anspruch der Klägerin, das Prüfungsamt zu verpflichten, die von ihr erbrachten Prüfungsleistungen in den unterrichtspraktischen Prüfungen in den Fächern Deutsch und Katholische Religionslehre unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bewerten, hilfsweise sie zu einer entsprechenden Wiederholungsprüfung zuzulassen, verneint hat, nicht vor.
81. Die Klägerin macht geltend, das Verwaltungsgericht sei ihren Einwendungen zu konkreten Bewertungsfehlern der unterrichtspraktischen Prüfung im Fach Katholische Religionslehre zu Unrecht nicht gefolgt, soweit dies die Prüferkritik an der Verwendung des einheitlichen Ergebnisblatts und an der Formulierung des Arbeitsblatts zum Propheten Elia betreffe.
9a) Insoweit hat das Verwaltungsgericht festgestellt, die Rügen der Klägerin gingen an der Prüferkritik vorbei. Diese richte sich nicht gegen die Verwendung der Arbeitsblätter an sich, sondern hauptsächlich gegen die mangelnde Differenzierung hinsichtlich des Ergebnisblatts für alle Niveaustufen. Der integrative Ansatz der Ausbildungsschule erfordere eine Differenzierung nach den unterschiedlichen Niveaus der Schülerinnen und Schüler (im Folgenden: Schüler) gerade im Erfolgsteil der Bearbeitung von Aufgaben. Durch die Verwendung eines einheitlichen Ergebnisblatts sei diese Anforderung beeinträchtigt gewesen. Denn schwächere Schüler hätten auf großen Teilen des Blattes keine Eintragungen vornehmen können. Selbst bei einem Austausch mit stärkeren Schülern sei die Tätigkeit der schwächeren nicht über einen rezipierenden Ansatz hinausgegangen. Eine eigene aktive Leistung hätten die schwächeren Schüler nicht erbringen können (S. 15 f. des Urteils). Die Klägerin treffe auch nicht die Prüferkritik an der generellen Darstellung von Propheten und die fehlende Einordnung in die diesbezügliche Unterrichtsreihe. Nach der entsprechenden Klarstellung im Erörterungstermin gehe es weder um die Frage einer „Übersetzung“ an sich noch die konkrete Darstellung des Propheten Elia. Die Prüferkritik beziehe sich vielmehr auf die missverständliche Bezugnahme auf einen Propheten als (wohl allein) Überbringer freudiger Nachrichten. Dies könne in höheren Klassen zu Widersprüchen führen (S. 14 f. des Urteils).
10Diesen Feststellungen tritt die Klägerin bezogen auf die Gestaltung des Ergebnisblatts entgegen und ist der Auffassung, dass gerade der mündliche Austausch zwischen den Schülern unterschiedlicher Leistungsstärke den Lernzuwachs bringen sollte; leistungsschwächere Schüler seien daher beim Ausfüllen des Ergebnisblatts nicht ausgeschlossen worden. Diese hätten dort ebenfalls Eintragungen vorgenommen und das Stundenziel erreicht. Die Prüfungskommission könne nicht wissen, welche Schüler welches Arbeitsblatt bearbeitet hätten, die Ergebnisblätter habe das Prüfungsamt nicht vorgelegt. Hinsichtlich der Darstellung des Propheten Elia sei es zutreffend, dass von diesem im gegebenen Kontext des Pessahfestes freudige Botschaften erwartet würden. Die auf die angeblich falsche Übersetzung bezogene Prüferkritik sei ihrerseits unrichtig, die Bewertung entsprechend rechtwidrig.
11b) Mit diesen Rügen sind ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils nicht dargetan. Das Verwaltungsgericht hat seiner Überprüfung der Rügen der Klägerin zunächst einen zutreffenden Maßstab zugrunde gelegt (S. 10 des Urteils). Der das Prüfungsrecht beherrschende Grundsatz der Chancengleichheit gebietet eine gleichmäßige Beurteilung aller vergleichbaren Kandidaten. Dies ist nur erreichbar, wenn den Prüfungsbehörden bei prüfungsspezifischen Wertungen ein Entscheidungsspielraum verbleibt und die gerichtliche Kontrolle insoweit eingeschränkt ist. Der Bewertungsspielraum ist überschritten, wenn die Prüfungsbehörden Verfahrensfehler begehen, anzuwendendes Recht verkennen, von einem unrichtigen Sachverhalt ausgehen, allgemeingültige Bewertungsmaßstäbe verletzen oder sich von sachfremden Erwägungen leiten lassen. Gegenstände des prüfungsspezifischen Beurteilungsspielraums sind etwa die Punktevergabe und Notengebung, soweit diese nicht mathematisch determiniert sind, die Bestimmung des Schwierigkeitsgrades einer Aufgabenstellung, bei Stellung verschiedener Aufgaben deren Gewichtung untereinander, die Bewertung der Überzeugungskraft der Argumente, die Würdigung der Qualität der Darstellung, die Gewichtung der Stärken und Schwächen in der Bearbeitung sowie die Gewichtung der Bedeutung eines Mangels. In diesem Bereich des prüfungsspezifischen Bewertungsspielraums dürfen die Gerichte grundsätzlich nicht eindringen.
12Vgl. statt vieler BVerwG, Urteil vom 10. April 2019, - 6 C 19.18 ‑, NJW 2019, 2871, juris, Rn. 31; Beschlüsse vom 5. März 2018 - 6 B 71.17, 6 PKH 6.17 ‑, NJW 2018, 2142, juris, Rn. 10, und vom 16. August 2011 ‑ 6 B 18.11 ‑, juris, Rn. 16; OVG NRW, Urteil vom 20. Dezember 2017 - 19 A 811/16 ‑, juris, Rn. 63, jeweils m. w. N.; Niehues/Fischer/Jeremias, Prüfungsrecht, 7. Aufl. 2018, Rn. 633 ff., 874 ff.
13Der Bewertungsspielraum erstreckt sich jedoch nicht auf fachliche Wertungen des Prüfers, d. h. auf dessen Entscheidungen über die fachliche Richtigkeit konkreter Ausführungen des Prüfungsteilnehmers. Hierbei handelt es sich um Stellungnahmen zu Fachfragen, die einer fachwissenschaftlichen Erörterung zugänglich sind. Deren Bewertung hängt davon ab, ob die vom Prüfungsteilnehmer vertretene Auffassung nach dem Stand der Fachwissenschaft vertretbar ist. Dieser objektive Bewertungsmaßstab tritt für die Beantwortung von Fachfragen an die Stelle der autonomen Einschätzung des Prüfers. Der Prüfer muss den Maßstab beachten; er darf fachlich vertretbare Antworten nicht als falsch bewerten. Ob der Prüfer diesen Maßstab beachtet, d. h. eine fachlich richtige oder doch vertretbare Bemerkung nicht als falsch bewertet hat, unterliegt verwaltungsgerichtlicher Nachprüfung. Hingegen fehlt ein derartiger genereller Maßstab bei den Wertungen, die sich damit befassen, wie der Prüfungsteilnehmer die Anforderungen der konkreten Prüfungsaufgabe bewältigt hat. Sie beruhen auf dem autonomen Bezugssystem des jeweiligen Prüfers und sind als prüfungsspezifische Wertungen der gerichtlichen Kontrolle – wie oben ausgeführt – nur eingeschränkt zugänglich.
14Vgl. statt vieler BVerwG, Beschluss vom 5. März 2018, a. a. O., Rn. 9 f.; OVG NRW, Beschluss vom 15. Januar 2019 - 6 A 179/17 ‑, juris, Rn. 28.
15Ausgehend von diesen Maßstäben hat das Verwaltungsgericht eine zutreffende Überprüfung der jeweiligen Rügen der Klägerin vorgenommen. Die Prüferkritik der fehlenden Differenzierung hinsichtlich des Arbeitsergebnisses für die Schüler unterschiedlicher Niveaustufen ist Teil des prüfungsspezifischen Bewertungsspielraums. Die an Beobachtungen in der konkreten Unterrichts- und Prüfungssituation anknüpfenden Bewertungen der Qualität der Unterrichtsdarstellung und deren Gewichtung durch die Prüfer sind einer gerichtlichen Überprüfung weitgehend entzogen. Dabei ist nichts dafür ersichtlich, dass die Prüfer von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen wären. Die Vorlage einzelner Ergebnisblätter durch das Prüfungsamt war nicht erforderlich. Denn die pädagogische Bewertung des Differenzierungs- und Aktivierungspotentials des einheitlichen Ergebnisblattes ist unabhängig davon nachvollziehbar, ob es leistungsschwächeren Schülern tatsächlich gelungen ist, Eintragungen nach mündlichem Austausch mit stärkeren Schülern vorzunehmen. Mehr als bloße Rezeption wäre das, wie das Verwaltungsgericht zutreffend feststellt, nicht. Zutreffend ist das Verwaltungsgericht auch nicht, anders als die Klägerin geltend macht, der Frage nach der Richtigkeit der Übersetzung und der diesbezüglichen Prüferkritik „ausgewichen“. Nach Erläuterung und Konkretisierung der Prüferkritik im Erörterungstermin hat das Verwaltungsgericht festgestellt, dass sich diese auf die fachdidaktische Fehlerhaftigkeit einer unklaren Kontextualisierung von „Propheten“ allgemein beziehe und die mögliche Interpretation des Arbeitsblattes zu Missverständnissen in späteren Unterrichtsreihen führen könne. Dieser Sinnzusammenhang lässt sich im Übrigen schon der ursprünglichen Prüferkritik entnehmen, die sich auf die Qualität der Darstellung und damit ein Kernelement des Bewertungsspielraums bezieht.
162. Die Klägerin macht ernstliche Zweifel ferner insoweit geltend, als das Verwaltungsgericht – wie schon die entsprechende Prüferkritik – nicht beachtet habe, dass es keine andere Möglichkeit als das Vorlesen gegeben habe, um einen einzelnen Schüler mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben an der konkreten Unterrichtsstunde hinreichend partizipieren zu lassen. Das Verwaltungsgericht hat festgestellt, das Vorlesen eines Textes sei keine Förderung der Leseleistung, es stimuliere die Lesefähigkeit überhaupt nicht. Vorlesen spreche einen anderen Lernkanal an als das eigene Lesen. Irrelevant sei, dass eine solche Praxis an der Ausbildungsschule üblich sei, denn dies widerspreche den im Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung vermittelten Kriterien und Vorgaben, was der Klägerin bewusst sei (S. 16 f. des Urteils).
17Diese Feststellungen vermag das Zulassungsvorbringen nicht in Zweifel zu ziehen. Der Zulassungsantrag rügt nicht substantiiert, dass die auf unter Bezugnahme auf den einschlägigen Runderlass des Kultusministeriums vom 19. Juli 1991,
18BASS 14-01 Nr. 1 „Förderung von Schülerinnen und Schülern bei besonderen Schwierigkeiten im Erlernen des Lesens und Rechtschreibens (LRS)“, aktuelle Fassung abrufbar unter https://bass.schul-welt.de/280.htm,
19begründete Bewertung des Vorlesens des Arbeitsblatts als pädagogisch fragwürdig unzutreffend wäre. Die Rüge beschränkt sich insoweit auf den Verweis auf die Praxis von Lehrkräften der Ausbildungsschule. Mit den vom Verwaltungsgericht etwa angeführten Möglichkeiten eines kürzeren Aufgabentexts oder einer längeren Bearbeitungszeit setzt sich die Klägerin nicht auseinander. Der Einwand, das Vorlesen sei erforderlich gewesen, um dem Schüler die Teilnahme an der anschließenden Gruppenarbeit zu ermöglichen, geht an der Prüferkritik und der Würdigung des Verwaltungsgerichts vorbei. Unabhängig von dem sichtbaren Bemühen, dem Schüler die für die Gruppenarbeit erforderlichen Inhalte zu vermitteln, wurde die fehlende Förderung der Leseleistung bemängelt, die bereits in der Unterrichtsplanung angelegt war. Insoweit ist es für die Berechtigung der Kritik unerheblich, ob in der von der Klägerin selbst gestalteten konkreten Unterrichtssituation noch andere Möglichkeiten bestanden, den betroffenen Schüler an der nachfolgenden Gruppenarbeit und der restlichen Unterrichtsstunde partizipieren zu lassen.
20II. Der Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO liegt nicht vor, das Verwaltungsgericht hat keinen Verfahrensfehler begangen.
21Die Ablehnung der in der mündlichen Verhandlung von der Klägerin gestellten Beweisanträge stellt keinen Gehörsverstoß dar. Die Ablehnung einer beantragten Beweiserhebung verletzt den Anspruch auf rechtliches Gehör nur dann, wenn sie im maßgeblichen Prozessrecht objektiv keine Stütze findet.
22BVerfG, Beschluss vom 8. November 1978 ‑ 1 BvR 158/78 ‑, BVerfGE 50, 32, juris, Rn. 11; Kammerbeschluss vom 10. Februar 2009 ‑ 1 BvR 1232/07 ‑, NJW 2009, 1585, juris, Rn. 21; BVerwG, Beschlüsse vom 10. August 2015 ‑ 5 B 48.15 ‑, juris, Rn. 10, vom 8. März 2006 ‑ 1 B 84.05 ‑, juris, Rn. 7, und vom 24. März 2000 ‑ 9 B 530.99 ‑, Buchholz 310, § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 308; OVG NRW, Beschluss vom 2. Januar 2020 ‑ 19 A 183/18.A ‑, juris, Rn. 3 f. m. w. N.
23Die Ablehnung aller Beweisanträge findet eine hinreichende Stütze im Prozessrecht.
241. Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung beantragt, Beweis zu erheben zu der Tatsache,
25„dass die Eintragung auf dem Arbeitsblatt der Klägerin (…),
26‚Am Sedertisch bleibt immer ein Platz frei. Dort steht ein besonderer Kelch mit Wein (Elia Becher). Dieser ist für den Propheten Elia reserviert. Er soll freudige Botschaften überbringen.‘
27fachlich korrekt ist, insbesondere, dass der Prophet Elia mit guten Nachrichten erwartet wird.“
28Das Verwaltungsgericht hat diesen Beweisantrag mit der in der Sitzungsniederschrift protokollierten Begründung abgelehnt, die unter Beweis gestellte Tatsache sei unerheblich, sie gehe an der Prüferkritik vorbei. Diese habe sich nicht auf die Darstellung des Propheten Elia als solchen bezogen, sondern auf das grundsätzliche Verständnis von Propheten.
29Diese seitens des Verwaltungsgerichts in der mündlichen Verhandlung vom 14. Mai 2019 gegebene Begründung der Beweisantragsablehnung ist nicht zu beanstanden. Nach den obigen Ausführungen (siehe I.1) begegnet die nach Erläuterung und Konkretisierung der Prüferkritik im Erörterungstermin getroffene Feststellung des Verwaltungsgerichts, dass sich diese Prüferkritik auf die fachdidaktische Fehlerhaftigkeit einer unklaren Kontextualisierung von „Propheten“ allgemein beziehe und die mögliche Interpretation des Arbeitsblattes zu Missverständnissen in späteren Unterrichtsreihen führen könne, keinen rechtlichen Bedenken. Wieso es danach auf die fachliche Richtigkeit der Bedeutung Elias als Überbringer freudiger Nachrichten ankommen soll, legt das Zulassungsvorbringen nicht schlüssig dar.
302. Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung weiter beantragt, Beweis zu erheben durch sachverständige Zeugenvernehmung zweier Lehrkräfte der Ausbildungsschule zu der Tatsache,
31„1.
32dass es den pädagogischen Standards entspricht, dem Schüler mit Lese-Rechtschreibschwäche (LRS) der (damaligen) Klasse 5c) das im Unterricht verwendete Arbeitsblatt (…) vorzulesen, weil dieser in seinem Leseverständnis so stark beeinträchtigt war, dass er mangels eigenem Leseverständnis ohne Vorlesen der Unterrichtsstunde gar nicht folgen kann, weshalb das Vorlesen von Arbeitsblättern für diesen Schüler gängige Praxis an der Ausbildungsschule war und der Klägerin so auch beigebracht wurde.
332.
34dass das Hörverstehen des betroffenen Schülers normal entwickelt ist (also keine Besonderheiten aufweist, die es gebieten, ihm anders als anderen Schülern ohne LRS vorzulesen (also beispielsweise langsamer oder lauter vorlesen)).“
35Das Verwaltungsgericht hat diesen Beweisantrag mit der in der Sitzungsniederschrift protokollierten Begründung abgelehnt, die unter Beweis gestellte Tatsache hinsichtlich der Unterrichtsmethode sei unerheblich. Sie könne als wahr unterstellt werden, ohne dass sich am Ergebnis etwas ändere. Im Seminar sei auf den Umgang mit Schülern mit LRS hingewiesen worden. Im Urteil ist hier weiter ausgeführt, die Klägerin habe im Erörterungstermin selbst angegeben, die zutreffende Lehrmethodik am Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung gelernt zu haben, sich dann aber dagegen entschieden zu haben. Hinsichtlich des pädagogischen Standards sei der Beweisantrag unsubstantiiert, es handele sich um einen Ausforschungsbeweis; dass das Vorlesen pädagogischer Standard sei, sei nicht hinreichend fachlich belegt worden. Hinsichtlich des Hörverständnisses schließlich sei die Beweistatsache unerheblich, da dies nach Ablehnung des ersten Teils des Beweisantrags ohne Relevanz für den Fall sei.
36Die für die Ablehnung des Beweisantrags gegebene Begründung lässt Rechtsfehler nicht erkennen. Dass die Klägerin selbst wusste, dass die Vorgehensweise des Vorlesens für Schüler mit Lese-/Rechtschreibschwäche nicht der im Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung vermittelten Lehrmethodik entsprach, stellt das Zulassungsvorbringen nicht durchgreifend in Frage. Auf die Frage der Praxis der Ausbildungsschule kam es nicht an. Denn die Beweiserhebung zur Frage, dass diese Praxis pädagogischem Standard entsprochen hätte, hat das Verwaltungsgericht in nicht zu beanstandender Weise als unzulässigen Ausforschungs- oder Beweisermittlungsantrag abgelehnt. Die Ablehnung eines Beweisantrags als unzulässig (vgl. § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO) kommt in Betracht, wenn es sich um einen Ausforschungs- oder Beweisermittlungsantrag handelt. Ein solcher liegt in Bezug auf Tatsachenbehauptungen vor, für deren Wahrheitsgehalt nicht wenigstens eine gewisse Wahrscheinlichkeit spricht, die mit anderen Worten ohne greifbare Anhaltspunkte willkürlich „aus der Luft gegriffen“, „ins Blaue hinein“, also „erkennbar ohne jede tatsächliche Grundlage“ erhoben worden sind. Eine Behauptung kann dabei nicht schon dann als unerheblich behandelt werden, wenn sie nicht auf dem Wissen des Behauptenden, sondern auf einer Vermutung beruht. Denn ein Beteiligter wird häufig von einer entscheidungserheblichen Tatsache, die sich ihm als möglich oder wahrscheinlich darstellt, keine genaue Kenntnis haben. Wenn die Gegenseite der Vermutung aber mit einer plausiblen Erklärung entgegentritt, darf diese nicht einfach ignoriert werden. Dem Beteiligten ist zuzumuten, sich hiermit auseinanderzusetzen, etwa greifbare Anhaltspunkte zu benennen, die für seine Vermutung oder gegen die Erklärung der Gegenseite sprechen. Einer Behauptung, die ohne jede tatsächliche Grundlage erhoben worden ist und ohne ein Eingehen auf sie entkräftende Gegenbehauptungen aufrechterhalten wird, braucht das Gericht nicht nachzugehen.
37BVerwG, Beschluss vom 26. Juni 2017 ‑ 6 B 54.16 ‑, NVwZ 2017, 1388, juris, Rn. 7; OVG NRW, Beschluss vom 18. Mai 2020 - 19 A 1178/19.A ‑, juris, Rn. 12 ff. m. w. N.
38Derartige Anhaltspunkte hat die Klägerin nicht benennen können. Dem nachvollziehbaren und auf den einschlägigen Erlass (siehe I.2) gestützten Kritikpunkt, das Vorlesen beanspruche andere Lernkanäle als das Selbstlesen und stelle keine gezielte Förderung dar, ist sie nicht durch Nennung von Fundstellen oder Belegen für die von ihr vertretene Behauptung eines „pädagogischen Standards“ entgegengetreten. Die von ihr mit dem Zulassungsantrag zitierte Informationsquelle der Bezirksregierung Düsseldorf zur Möglichkeit von Audiohilfen,
39http://www.brd.nrw.de/schule/lehrkraefteausfortbildung/Lehrkraeftefortbildung/Downloads-Fortbildung/ Bezirksregierung-Duesseldorf---Info-Schrift-LRS-Erlass-2017.pdf,
40betrifft Prüfungssituationen, ist für den eigentlichen Unterricht daher unergiebig. Ausgehend von dieser nicht zu beanstandenden Ablehnung des ersten Teils des Beweisantrags kommt es, wie das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt hat, auf Fragen des Hörverständnisses des betroffenen Schülers nicht mehr an.
413. Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung schließlich beantragt, Beweis zu erheben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens zu der Tatsache,
42„dass es pädagogischen Standards entspricht,
431.
44dass die Klägerin dem Schüler mit Lese-Rechtschreibschwäche (LRS) der (damaligen) Klasse 5c) das im Unterricht verwendete Arbeitsblatt (…) im Prüfungsunterricht vorgelesen hat, weil dieser in seinem Leseverständnis so stark beeinträchtigt ist, dass er mangels eigenem Leseverständnis ohne Vorlesen der Unterrichtsstunde sonst gar nicht hätte folgen können,
452.
46dass die Klägerin dem Schüler mit Lese-Rechtschreibschwäche (LRS), dessen Hörverstehen normal entwickelt ist, die Texte genauso vorgelesen hat wie SchülerInnen ohne LRS (also beispielsweise nicht langsamer oder lauter).“
47Das Verwaltungsgericht hat diesen Beweisantrag mit der in der Sitzungsniederschrift protokollierten Begründung abgelehnt, die unter Beweis gestellte Tatsache hinsichtlich des pädagogischen Standards sei mangels substantiierten Vortrags nicht maßgeblich. Auch dürfte das Beweismittel bezogen auf eine Begutachtung des Leseverständnisses des Schülers aufgrund des Zeitablaufs mittlerweile ungeeignet sein. Der zweite Teil des Beweisantrags hinsichtlich des Hörverständnisses sei ebenfalls wegen Unerheblichkeit abzulehnen.
48Auch insoweit findet die Beweisablehnung eine ausreichende Stütze im Prozessrecht. Das oben Gesagte gilt entsprechend (siehe II.2).
49Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
50Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 40, 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 1 GKG in Verbindung mit Nr. 36.2 des Streitwertkatalogs 2013 für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
51Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 66 Abs. 3 Satz 3, 68 Abs. 1 Satz 5 GKG).
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt.
Der Tenor soll der Antragstellerin auch fernmündlich bekanntgegeben werden.
1Gründe:
2Der am 29. September 2020 bei Gericht eingegangene sinngemäße Antrag,
3dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung aufzugeben, die Antragstellerin vorläufig von der Präsenzpflicht für die Arbeitsgemeinschaft des juristischen Vorbereitungsdienstes zu befreien,
4hat keinen Erfolg.
5Der Antrag ist bereits unzulässig.
6Der Antragstellerin fehlt für den vorliegenden Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz nach § 123 VwGO das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis, weil die Antragstellerin es versäumt hat, sich zuvor mit ihrem Begehren an die zuständige Behörde zu wenden.
7Gemäß § 45 Abs. 2 Satz 1 Juristenausbildungsgesetz Nordrhein-Westfalen (JAG NRW) ist die Teilnahme an den Übungsstunden der Arbeitsgemeinschaft für Rechtsreferendare Pflicht und geht jedem anderen Dienst vor. Über Ausnahmen im Einzelfall entscheidet gemäß § 45 Abs. 2 Satz 2 JAG NRW die Präsidentin oder der Präsident des Oberlandesgerichts, in eiligen Fällen auch die Leiterin oder der Leiter der Arbeitsgemeinschaft.
8Einen entsprechenden Antrag, von der Präsenz- bzw. damit hier auch Teilnahmepflicht an der Arbeitsgemeinschaft befreit zu werden, hat die Antragstellerin bei dem Antragsgegner indes nicht gestellt. Es lag hier auch kein eiliger Fall im Sinne des § 45 Abs. 2 Satz 2 JAG NRW vor, der eine Zuständigkeit der Leiterin oder des Leiters der Arbeitsgemeinschaft begründet hätte. Denn der Antragstellerin verblieb nach Zugang der Verfügung des Präsidenten des Landgerichts Y. vom 3. September 2020, mit der dieser die Wiedereinführung des Präsenzbetriebs in den Arbeitsgemeinschaften und die Anwesenheit aller Rechtsreferendare und Rechtsreferendarinnen in den Arbeitsgemeinschaften ab dem 1. Oktober 2020 angeordnet hatte, hinreichend Zeit, zunächst bei dem hierfür zuständigen Präsidenten des Oberlandesgerichts Z. für die Zeit ab der Wiedereinführung des Präsenzbetriebs der Arbeitsgemeinschaft die Befreiung von der Anwesenheitspflicht und damit die Befreiung von der Teilnahme an der Arbeitsgemeinschaft zu beantragen.
9Es stand auch nicht zu erwarten, dass der Präsident des Oberlandesgerichts Z. nicht so rechtzeitig über diesen Antrag entschieden hätte, dass ihr die Möglichkeit genommen worden wäre, ggf. vorläufigen Rechtsschutz zu beantragen. Jedenfalls hat die Antragstellerin nichts Derartiges geltend gemacht.
10Auch kann ihr Schreiben vom 15. September 2020, mit dem sie sich - bezugnehmend auf die Verfügung des Präsidenten des Landgerichts Y. vom 3. September 2020 - per E-mail an den Ausbildungsleiter ihrer Stammdienststelle, dem Landgericht , Herrn Dr. X. , wandte, um zu „erfragen, ob es eine Möglichkeit zur Befreiung von der Präsenzpflicht bzw. alternative Ausbildungsoptionen gibt“, nicht als ein entsprechender Antrag gewertet werden. Auch auf dessen sofortige Mitteilung per E-mail vom 16. September 2020, dass eine Befreiung von der Teilnahme an den Arbeitsgemeinschaften im Präsenzbetrieb für sie nicht möglich sei, stellte sie keinen entsprechenden Antrag beim Antragsgegner, sondern fragte bei Herrn Dr. X. mit E-Mail vom 16. September 2020, vgl. Personalakte Blatt 57, vielmehr nach, ob zumindest die Möglichkeit bestünde, die Klausurenwoche digital wahrzunehmen. Hiernach hat sie ihr Begehren, allgemein von der Anwesenheits- bzw. Teilnahmepflicht befreit zu werden, schon gar nicht erkennbar weiterverfolgt.
11Aufgrund der Unzulässigkeit des Antrages kommt es auf die Frage der Begründetheit des Antrages nicht mehr entscheidungserheblich an. Gleichwohl wird ergänzend darauf hingewiesen, dass dieser auch unbegründet sein dürfte.
12Eine Vorwegnahme der Hauptsache - wie sie hier beantragt wird - kommt im Verfahren nach § 123 Abs. 1 VwGO nur ausnahmsweise aus Gründen des Gebotes effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) in Betracht, nämlich dann, wenn das Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache für den Antragsteller schlechthin unzumutbar wäre. Dies setzt unter dem Gesichtspunkt der Glaubhaftmachung des Anordnungsanspruchs voraus, dass das Rechtsschutzbegehren in der Hauptsache schon aufgrund der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes lediglich summarischen Prüfung bei Anlegung eines strengen Maßstabes an die Erfolgsaussichten erkennbar Erfolg haben wird. Außerdem muss der Antragsteller - im Rahmen des Anordnungsgrundes - glaubhaft machen, dass ihm ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstehen, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre.
13St. Rspr., vgl. BVerwG, Beschluss vom 8. September 2017 - 1 WDS-VR 4.17 -, juris, Rn. 15; OVG NRW, Beschluss vom 13. Januar 2020 – 6 B 1317/19 -, juris, Rn. 8.
14Hier dürfte es schon an der erforderlichen überwiegenden Wahrscheinlichkeit eines Erfolgs im Hauptsacheverfahren fehlen. Die Antragstellerin hat bereits nicht glaubhaft gemacht, dass ihr ein Anspruch auf die begehrte Befreiung von der Präsenz- bzw. Teilnahmepflicht zusteht, insbesondere hat sie nicht geltend gemacht, selbst zu einer medizinisch anerkannten Risikogruppe im Hinblick auf einen schweren Verlauf im Falle einer Infizierung mit dem SARS-CoV-2-Virus zu gehören. Allein, dass ihre Eltern, mit denen sie in einem Haushalt lebt, oder jedenfalls ihr Vater zu einer medizinisch anerkannten Risikogruppe gehören mögen, dürfte für den geltend gemachten Anspruch nicht ausreichen. Eine entsprechende Erkrankung des Vaters ist im Übrigen auch ohnehin nicht durch entsprechende ärztliche Berichte glaubhaft gemacht worden. Die ergriffenen konkreten und im gerichtlichen Verfahren umfassend dargelegten Maßnahmen für den Präsenzbetrieb der Referendararbeitsgemeinschaften bei dem Landgericht Y. , wie u.a. die Ausstattung der Unterrichtsräume mit Plexiglaswänden zwischen den jeweiligen Sitzplätzen, vgl. insbesondere auch das Hygienekonzept anlässlich der umfassenden Wiedereinführung des Präsenzbetriebs in Referendararbeitsgemeinschaften bei dem Landgericht Y. , erscheinen gegenwärtig im Übrigen ausreichend, um das Risiko einer Infektion mit dem SARS-CoV-2-Virus bei einer Anwesenheitspflicht auf ein zumutbares Maß zu reduzieren. Damit dürften unter Fürsorge- und Arbeitsschutzgesichtspunkten hinreichende Vorkehrungen getroffen worden sein, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt unter Berücksichtigung des momentanen Infektionsgeschehens geeignet sind, das Risiko einer Infektion auf ein vertretbares und zumutbares Maß zu begrenzen.
15Die Antragstellerin hat auch nicht dargestellt, in welcher Weise die ergriffenen Maßnahmen unzureichend sein sollen.
16Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
17Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 2 GKG. Von einer Halbierung des Auffangstreitwertes wurde abgesehen, weil die Antragstellerin eine Vorwegnahme der Hauptsache geltend gemacht hat.
18Rechtsmittelbelehrung:
19(1) Gegen die Entscheidung über den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz kann innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) schriftlich Beschwerde eingelegt werden, über die das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster entscheidet.
20Die Beschwerde kann auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) eingelegt werden.
21Die Beschwerdefrist ist auch gewahrt, wenn die Beschwerde innerhalb der Frist schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster oder Postfach 6309, 48033 Münster) eingeht.
22Die Beschwerde ist innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht bereits mit der Beschwerde vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster oder Postfach 6309, 48033 Münster) schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV einzureichen. Sie muss einen bestimmten Antrag enthalten, die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist, und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzen. Das Oberverwaltungsgericht prüft nur die dargelegten Gründe.
23Die Beschwerdeschrift und die Beschwerdebegründungsschrift sind durch einen Prozessbevollmächtigten einzureichen. Im Beschwerdeverfahren müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die das Verfahren eingeleitet wird. Die Beteiligten können sich durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, der die Befähigung zum Richteramt besitzt, als Bevollmächtigten vertreten lassen. Auf die zusätzlichen Vertretungsmöglichkeiten für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse wird hingewiesen (vgl. § 67 Abs. 4 Satz 4 VwGO und § 5 Nr. 6 des Einführungsgesetzes zum Rechtsdienstleistungsgesetz – RDGEG –). Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 7 VwGO bezeichneten Personen und Organisationen unter den dort genannten Voraussetzungen als Bevollmächtigte zugelassen.
24Die Beschwerdeschrift und die Beschwerdebegründungsschrift sollen möglichst dreifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.
25(2) Gegen den Streitwertbeschluss kann schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) Beschwerde eingelegt werden, über die das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster entscheidet, falls ihr nicht abgeholfen wird.
26Die Beschwerde kann auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) oder zu Protokoll der Geschäftsstelle eingelegt werden; § 129a der Zivilprozessordnung gilt entsprechend.
27Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn sie innerhalb von sechs Monaten eingelegt wird, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat; ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.
28Die Beschwerde ist nicht gegeben, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200,-- Euro nicht übersteigt.
29Die Beschwerdeschrift soll möglichst dreifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.
30War der Beschwerdeführer ohne sein Verschulden verhindert, die Frist einzuhalten, ist ihm auf Antrag von dem Gericht, das über die Beschwerde zu entscheiden hat, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn er die Beschwerde binnen zwei Wochen nach der Beseitigung des Hindernisses einlegt und die Tatsachen, welche die Wiedereinsetzung begründen, glaubhaft macht. Nach Ablauf eines Jahres, von dem Ende der versäumten Frist angerechnet, kann die Wiedereinsetzung nicht mehr beantragt werden.
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Tenor
Die Durchsuchung der im Allein- oder Mitgewahrsam der Antragsgegner stehenden Räume in der W.--straße 00 in 00000 H. einschließlich sämtlicher Wohn-, Neben-, Arbeits-, Betriebs- und Geschäftsräume sowie anderem befriedeten Besitztum wird zum Zwecke der Vollziehung der Abschiebung der Antragsgegnerin zu 1) angeordnet.
Die Durchsuchung ist nur zum Zweck der Ergreifung von Frau L. T. , geboren am 00.00.1951 (Antragsgegnerin zu 1) für die Durchführung ihrer Abschiebung und nur zur Tagzeit (6:00 Uhr bis 21:00 Uhr) zulässig.
Die Durchsuchungsanordnung wird bis zum 6. April 2021 befristet.
1Gründe:
2Zuständig für die Entscheidung ist gemäß § 5 Abs. 3 VwGO die Kammer, weil es sich nicht um eine Vollstreckung aus einem Titel gemäß § 169 Abs. 2 1. Halbsatz VwGO handelt, für die der Vorsitzende zuständig wäre,
3Vgl. VG Karlsruhe, Beschluss vom 10. Dezember 2019 - 3 K 7772/19 -, juris, Rn. 10.
4Der am 5. Oktober gestellte Antrag, dessen Inhalt aus dem Tenor zu 1) ersichtlich ist, hat Erfolg.
5Der Antrag ist zulässig, insbesondere ist das angerufene Gericht zuständig.
6Der Verwaltungsrechtweg ist – mangels abdrängender Sonderzuweisung – gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO eröffnet, da Rechtsgrundlage und damit streitentscheidende Norm für den Erlass der begehrten Durchsuchungsanordnung Art. 13 Abs. 2 GG i.V.m. § 58 Abs. 6 und 8 AufenthG ist und insofern eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher Art vorliegt.
7Die Streitigkeit ist nicht durch Bundesgesetz einem anderen Gericht ausdrücklich zugewiesen, § 40 Abs. 1 Satz 1, 2. Hs. VwGO. Insbesondere ist eine solche bundesrechtliche abdrängende Sonderzuweisung in Bezug auf die Anordnung der Durchsuchung zum Zweck der Durchführung der Abschiebung weder in § 106 Abs. 2 AufenthG noch in § 58 Abs. 10 AufenthG zu sehen.
8Nach § 106 Abs. 2 AufenthG richtet sich das Verfahren bei Freiheitsentziehungen nach Buch 7 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Die damit für aufenthaltsrechtlich begründete Freiheitsentziehungen niedergelegte bundesrechtliche abdrängende Sonderzuweisung ist im Falle von Durchsuchungsanordnungen jedoch nicht einschlägig. Eine erweiterte Auslegung kommt nicht in Betracht und dürfte dem Ausdrücklichkeitsgebot des § 40 Abs. 1 Satz 1, 2. Hs. VwGO – auch unter Beachtung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts – nicht gerecht werden.
9Vgl. auch VG Arnsberg, Beschluss vom 11. November 2019 - 3 I 24/19 -, juris, Rn. 20 ff.; Schnell, NWVBl. 2020, S. 150 m.w.N.
10Auch § 58 Abs. 10 AufenthG trifft keine abdrängende Sonderzuweisung im Sinne des § 40 Abs. 1 Satz 1, 2. Hs. VwGO. Nach dieser Vorschrift bleiben weitergehende Regelungen der Länder, die den Regelungsgehalt der § 58 Abs. 5 bis 9 AufenthG betreffen, unberührt. Ungeachtet der Frage, ob mit dieser Regelung dem Ausdrücklichkeitsgebot des § 40 Abs. 1 Satz 1, 2. Hs. VwGO Rechnung getragen würde, liegt bereits deshalb keine abdrängende Sonderzuweisung vor, da Regelungsgegenstand des § 58 Abs. 10 AufenthG allein weitergehende materiell-rechtliche Regelungen der Länder sind.
11Vgl. Schnell, NWVBl. 2020, S. 150 (151).
12Zwar ist der Wortlaut der Norm insofern offen gehalten, als sich „Regelungen“ auch auf landesrechtliche Verfahrensregelungen beziehen könnten, die den für den Erlass einer Durchsuchungsanordnung einzuschlagenden Rechtsweg näher ausgestalten. Das Adjektiv „weitergehend“ spricht jedoch bereits dafür, dass sich „weitergehende Regelungen“ im Sinne der Norm auf weitergehende materiell-rechtliche Befugnisse beziehen. Eine Bestätigung erfährt dieses Normverständnis durch die Entstehungsgeschichte. Die Vorschriften des § 58 Abs. 5 bis 10 AufenthG gehen auf eine Beschlussempfehlung des Ausschusses für Inneres und Heimat zurück. Nach deren Begründung werde durch den Satz „Weitergehende Regelungen der Länder, die den Regelungsgehalt der Absätze 5 bis 9 betreffen, bleiben unberührt“ – mithin § 58 Abs. 10 AufenthG – geregelt, dass durch § 58 Abs. 5 bis 9 AufenthG bundeseinheitlich ein Mindestmaß für Betretens- und Durchsuchungsrechte bei Abschiebungen vorgegeben wird. Bestehende Regelungen der Länder, die „weitergehende Befugnisse“ geben, gelten nach der Begründung fort, ohne dass hierzu ein Rechtsakt der Länder notwendig wäre.
13Vgl. VG Karlsruhe, Beschluss vom 10. Dezember 2019 - 3 K 7772/19 -, juris, Rn. 23; BT Drs. 19/10706, S. 14; a.A. zur Auslegung der „weitergehenden Regelungen“ VG Arnsberg, Beschluss vom 11. November 2019 - 3 I 24/19 -, juris, Rn. 43.
14Es liegt auch keine abdrängende Sonderzuweisung nach § 40 Abs. 1 Satz 2 VwGO vor. Nach dieser Vorschrift können öffentlich-rechtliche Streitigkeiten auf dem Gebiet des Landesrechts einem anderen Gericht auch durch Landesgesetz zugewiesen werden. Es kann vorliegend offen bleiben, ob eine öffentlich-rechtliche Streitigkeiten auf dem Gebiet des Landesrechts vorliegt, wenn Ermächtigungsgrundlage einer Durchsuchungsanordnung in Anwendung des § 58 Abs. 10 AufenthG eine weitergehende Regelung des Landesrechts ist und für diese eine abdrängende landesrechtliche Sonderzuweisung existiert (z.B. nach § 42 Abs. 1 Satz 2 PolG NRW in Verbindung mit § 24 Abs. 1 Nr. 12 OBG NRW im Falle von Durchsuchungsanordnungen nach § 41 PolG in Verbindung mit § 24 Abs. 1 Nr. 12 OBG NRW). Denn § 41 PolG in Verbindung mit § 24 Abs. 1 Nr. 12 OBG NRW stellt jedenfalls für die vorliegend begehrte Durchsuchungsanordnung keine „weitergehende Regelung“ im Sinne des § 58 Abs. 10 AufenthG dar. § 41 PolG in Verbindung mit § 24 Abs. 1 Nr. 12 OBG NRW ermöglichte die vorliegend begehrte Durchsuchung zur Durchführung einer Abschiebung nicht unter – gegenüber § 58 Abs. 6 AufenthG – erleichterten Voraussetzungen.
15Vgl. zur Auslegung des Merkmals weitergehender Regelungen VG Karlsruhe, Beschluss vom 10. Dezember 2019 - 3 K 7772/19 -, juris, Rn. 24; siehe ferner VG Gießen, Beschluss vom 26. November 2019 - 6 N 4595/19 -, juris, Rn. 2.
16Der Antragsteller ist hinsichtlich der begehrten Durchsuchungsanordnung antragsberechtigt, denn die Ausländerbehörde des Antragstellers ist die in Nordrhein Westfalen nach § 71 Abs. 1 AufenthG i. V. m. §§ 1, 14 der ZustAVO die für die Abschiebung der Antragsgegnerin zu 1) zuständige Behörde.
17Der Antrag ist auch begründet.
18Rechtsgrundlage für die beantragte richterliche Durchsuchungsanordnung ist § 58 Abs. 6 und Abs. 8 Satz 1 AufenthG. § 58 Abs. 6 AufenthG bestimmt, dass die die Abschiebung durchführende Behörde eine Durchsuchung der Wohnung des abzuschiebenden Ausländers zu dem Zweck seiner Ergreifung vornehmen kann, soweit der Zweck der Durchführung der Abschiebung es erfordert (Satz 1). Bei anderen Personen sind Durchsuchungen nur zur Ergreifung des abzuschiebenden Ausländers zulässig, wenn Tatsachen vorliegen, aus denen zu schließen ist, dass der Ausländer sich in den zu durchsuchenden Räumen befindet (Satz 2). Die Wohnung umfasst die Wohn- und Nebenräume, Arbeits-, Betriebs- und Geschäftsräume sowie anderes befriedetes Besitztum (§ 58 Abs. 6 Satz 3 i. V. m. Abs. 5 Satz 2 AufenthG). Gemäß § 58 Abs. 8 Satz 1 AufenthG dürfen Durchsuchungen nach § 58 Abs. 6 AufenthG nur durch den Richter, bei Gefahr im Verzug auch durch die die Abschiebung durchführende Behörde angeordnet werden.
19Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt.
20Die Antragsgegnerin zu 1) ist aufgrund der Abschiebungsandrohung in Ziffer 2 der Ordnungsverfügung des Antragsgegners vom 30. Januar 2020 vollziehbar ausreisepflichtig. Es wird auf die Gründe des Beschlusses vom 2. Oktober 2020 - 22 L 1646/20 - verwiesen. Der Antragsteller hat auch schlüssig dargelegt, dass die Antragsgegnerin zu 1) sich unter der bezeichneten Anschrift tatsächlich aufhält. Die begehrte Durchsuchungsanordnung stellt sich im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung auch als verhältnismäßig dar.
21Dem Gewicht des Eingriffs und der verfassungsrechtlichen Bedeutung des Schutzes der räumlichen Privatsphäre entspricht es, dass Art. 13 Abs. 2 GG die Anordnung einer Durchsuchung grundsätzlich dem Richter vorbehält und damit eine vorbeugende Kontrolle der Maßnahme durch eine unabhängige und neutrale Instanz vorsieht; der Richter darf die Wohnungsdurchsuchung nur anordnen, wenn er sich aufgrund einer eigenverantwortlichen Prüfung der Ermittlungen davon überzeugt hat, dass die Maßnahme verhältnismäßig ist.
22Vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Juli 2016 - 2 BvR 2474/14 -, juris, Rn. 18, m.w.N
23Der Richter darf nicht zu einem Grundrechtseingriff ermächtigen, der im Zeitpunkt seiner Entscheidung noch nicht erforderlich und zumutbar und damit nicht verhältnismäßig sein würde.
24Vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. Mai 1997 - 2 BvR 1992/92 -, BVerfGE 96, 44-56, Rn. 28.
25Zu diesem Zweck ist die beantragende Behörde von Verfassung wegen verpflichtet, das Gericht grundsätzlich in der Antragsschrift umfassend über alle entscheidungsrelevanten Tatsachen zu informieren. Insbesondere bedarf es einer Begründung, die den Erlass der Anordnung aus Sicht der Behörde rechtfertigt.
26Vgl. BVerfGE 103, 142 (153); Voßkuhle, Präventive Richtervorbehalte, in: Papier/Merten (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. 4, Rn. 89; Wildhagen, Persönlichkeitsschutz durch präventive Kontrolle, 2010, S. 169 m.w.N.
27Der Gesetzgeber trägt diesem verfassungsrechtlichen Gebot aus Art. 13 Abs. 2 GG Rechnung. Denn § 58 Abs. 6 Satz 1 AufenthG erlaubt die Durchsuchung einer Wohnung nur, soweit der Zweck der Durchführung der Abschiebung es erfordert. Die Verhältnismäßigkeit einer Durchsuchungsmaßnahme ist dabei unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zu prüfen.
28Vgl. VG Karlsruhe, Beschluss vom 10. Dezember 2019 - 3 K 7772/19 -, juris, Rn. 28.
29Im konkreten Einzelfall sind die Grenzen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gewahrt. Insbesondere ist die Erforderlichkeit der beantragten Durchsuchung hinreichend dargetan. Erforderlich ist eine Maßnahme, wenn sie das relativ mildeste, jedoch gleich effektive Mittel zur Erreichung des verfolgten Zwecks ist.
30Vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 12. Januar 2016 - 1 BvR 3102/13 -, BVerfGE 141, 121-143, Rn. 54.
31Die Erforderlichkeit einer Durchsuchung zur Ergreifung einer Person zwecks Abschiebung kann etwa gegeben sein, wenn die Vollstreckungsmaßnahme bereits einmal daran gescheitert ist, dass sich der abzuschiebende Ausländer so in der Wohnung verborgen gehalten hat, dass er nur durch eine Durchsuchung hätte gefunden werden können, oder aufgrund anderer Umstände konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die geplante Ingewahrsamnahme hieran scheitern könnte.
32Vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 27. Mai 2004 - 15 W 307/03 -, juris, Rn. 4 m.w.N.; siehe auch VG Karlsruhe, Beschluss vom 10. Dezember 2019 - 3 K 7772/19 -, juris, Rn. 29.
33Vorliegend beschränkt sich das Vorbringen des Antragstellers nicht auf den Umstand, dass die Antragsgegnerin zu 1) vollziehbar ausreisepflichtig sei, sondern es ist aufgrund konkreter Anhaltspunkte mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die Antragsgegnerin zu 1) versuchen wird, sich der Abschiebung durch Verbergen in der Wohnung zu entziehen. Wie der Antragsteller dargelegt hat, hat die Antragsgegnerin zu 1) in der Vergangenheit keinerlei Anstalten gemacht, freiwillig auszureisen, hat trotz mehrmaliger mündlicher Aufforderung ihren Pass nicht vorgelegt und durch ihren Schwiegersohn, den Antragsgegner zu 2), erklären lassen, einer freiwilligen Ausreise nicht nachkommen zu wollen (vgl. auch § 62 Abs. 3a Nr. 6 AufenthG).
34Vor diesen Hintergrund kann der Antragsgegner auch nicht darauf verwiesen werden, zunächst erfolglos eine Abschiebung gestützt auf die Betretenserlaubnis nach § 58 Abs. 5 AufenthG, für die der Richtervorbehalt nicht gilt, durchzuführen. Das Gericht folgt nicht der Auffassung, wonach sogenannte „prophylaktische“ Anordnungen der Durchsuchung,
35hierzu: Zeitler, HTK-AuslR / § 58 AufenthG / Abs. 5 bis 10, Stand: 28.01.2020, Rn. 47,
36nicht zulässig wären. Denn dieser Auffassung steht § 58 Abs. 8 Satz 2 AufenthG entgegen. Mit dieser Norm hat der Gesetzgeber den Richtervorbehalt gestärkt, indem er Fälle, in denen der betreffende Ausländer nach Betreten der Wohnung nicht angetroffen wird, ausdrücklich aus dem Anwendungsbereich des § 58 Abs. 8 Satz 1, 2. Alt. AufenthG, wonach eine Durchsuchung ausnahmsweise auch ohne richterliche Anordnung erfolgen darf, herausgenommen hat. Damit wird zugleich die Frage der (voraussichtlichen) Erforderlichkeit der Durchsuchung, weil der betreffende Ausländer nach dem Betreten der Wohnung nicht angetroffen wird, dem Richter im Rahmen der präventiven Kontrolle des Grundrechtseingriffs zugeschrieben.
37Im vorliegenden Fall erscheint es – auch angesichts der Größe der Wohnung und der Zahl der Bewohner – nicht unwahrscheinlich, dass die Antragsgegnerin zu 1) beim Betreten der Wohnung nicht angetroffen wird. Zudem spricht alles dafür, dass eine Ergreifung der Antragsgegnerin zu 1) ohne Durchsuchung der Wohnräume in diesem Fall vereitelt würde, wenn die Antragsgegnerin zu 1) beim Betreten der Wohnung nicht angetroffen wird.
38Schließlich bestehen auch keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit der dem Antrag zugrundeliegenden konkret beabsichtigten Abschiebemaßnahme im Hinblick auf Freiheitsrechte der Antragsgegnerin zu 1), nachdem der Antragsteller zugesichert hat, die die Antragsgegnerin zu 1) nicht ohne richterliche Anordnung in Gewahrsam zu nehmen.
39Die Durchsuchungsanordnung ist gemäß § 58 Abs. 6 Satz 2 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu beschränken.
40Einer Kostenentscheidung bedarf es nicht, da das Verfahren gerichtskostenfrei ist und die Auslagen des Antragstellers nicht erstattungsfähig sind. Angesichts der fehlenden Beteiligung der Antragsgegner handelt es sich nicht um ein kontradiktorisches Verfahren.
41Vgl. OVG Bremen, Beschluss vom 30. September 2019 - 2 S 262/19 -, juris, Rn. 24.
42Von einer Anhörung der Antragsgegner sowie der unmittelbaren Bekanntgabe der richterlichen Entscheidung an diese wird abgesehen, weil ansonsten die Gefahr besteht, dass sich die Antragsgegnerin zu 1), – der der Abschiebungstermin nicht bekannt zu geben ist (vgl. § 59 Abs. 1 Satz 8 AufenthG entsprechend) – dem Zugriff des Antragstellers entzieht.
43Vgl. zur Vereinbarkeit des Absehens von einer Anhörung mit Art. 103 Abs. 1 GG: BVerfG, Beschluss v. 16. Juni 1981 - 1 BvR 1094/80 -, BVerfGE 57, 346-360; VG Gießen, Beschluss vom 26. November 2019 - 6 N 4595/19 -, juris, Rn. 9.
44Die Durchsuchungsanordnung ist nach dem Rechtsgedanken von § 14 Abs. 4 Satz 3 VwVG NRW, § 91 Abs. 4 FamFG bei der Vollstreckung vorzuzeigen und damit den Antragsgegnern bekannt zu geben.
45Rechtsmittelbelehrung:
46Gegen die Entscheidung über den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz kann innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) schriftlich Beschwerde eingelegt werden, über die das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster entscheidet.
47Die Beschwerde kann auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) eingelegt werden.
48Die Beschwerdefrist ist auch gewahrt, wenn die Beschwerde innerhalb der Frist schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster oder Postfach 6309, 48033 Münster) eingeht.
49Die Beschwerde ist innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht bereits mit der Beschwerde vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster oder Postfach 6309, 48033 Münster) schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV einzureichen. Sie muss einen bestimmten Antrag enthalten, die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist, und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzen. Das Oberverwaltungsgericht prüft nur die dargelegten Gründe.
50Die Beschwerdeschrift und die Beschwerdebegründungsschrift sind durch einen Prozessbevollmächtigten einzureichen. Im Beschwerdeverfahren müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die das Verfahren eingeleitet wird. Die Beteiligten können sich durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, der die Befähigung zum Richteramt besitzt, als Bevollmächtigten vertreten lassen. Auf die zusätzlichen Vertretungsmöglichkeiten für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse wird hingewiesen (vgl. § 67 Abs. 4 Satz 4 VwGO und § 5 Nr. 6 des Einführungsgesetzes zum Rechtsdienstleistungsgesetz – RDGEG –). Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 7 VwGO bezeichneten Personen und Organisationen unter den dort genannten Voraussetzungen als Bevollmächtigte zugelassen.
51Die Beschwerdeschrift und die Beschwerdebegründungsschrift sollen möglichst dreifach eingereicht werden.
52Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.
53War der Beschwerdeführer ohne sein Verschulden verhindert, die Frist einzuhalten, ist ihm auf Antrag von dem Gericht, das über die Beschwerde zu entscheiden hat, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn er die Beschwerde binnen zwei Wochen nach der Beseitigung des Hindernisses einlegt und die Tatsachen, welche die Wiedereinsetzung begründen, glaubhaft macht. Nach Ablauf eines Jahres, von dem Ende der versäumten Frist angerechnet, kann die Wiedereinsetzung nicht mehr beantragt werden.
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Tenor
Die Beschwerde des Beteiligten zu 1) vom 05.08.2020 gegen die Verfügung der Rechtspflegerin des Amtsgerichts - Nachlassgerichts- Königswinter vom 28.07.2020, 30 VI 455/15, wird als unzulässig verworfen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat der Beteiligte zu 1) zu tragen.
1Gründe:
2I.
3Durch Beschluss vom 30.09.2015 hat das Nachlassgericht Nachlasspflegschaft angeordnet und den Beteiligten zu 2) zum Nachlasspfleger mit den Wirkungskreisen der Sicherung und Verwaltung des Nachlasses und der Ermittlung der Erben bestellt (Bl. 1 f. d.A.). Durch Beschluss vom 07.12.2018 hat das Nachlassgericht die Nachlasspflegschaft aufgehoben (Bl. 113 f. d.A.).
4Mit Schriftsatz vom 16.07.2020 hat der Beteiligte zu 1) Akteneinsicht beantragt (Bl. 118 ff. d.A.). Er hat vorgetragen, dass er von Frau A B beauftragt worden sei, die Immobilie des Erblassers zu erwerben. Hierzu sei es aber nicht gekommen, weil die Mutter von A B die Immobilie erworben habe. Frau A B sei nicht bereit, seine Honorarforderung zu begleichen und werde nun vom Beteiligten zu 2) anwaltlich vertreten. Dieser habe als Vertreter von Frau B im Honorarprozess mit Schadensersatzansprüchen aufgerechnet mit der Begründung, ihm, dem Beteiligten zu 1), sei ein Anwaltsverschulden vorzuwerfen, weil er, der Beteiligte zu 1), die Stellung und Funktion des Beteiligten zu 2) im Nachlasspflegschaftsverfahren missverstanden habe. Er, der Beteiligte zu 1), habe daher ein rechtliches Interesse an der Akteneinsicht. Es liege ein Fall von Parteiverrat im Sinne von § 356 StGB vor. Als Nachlasspfleger sei der Beteiligte zu 2) zunächst „Gegner“ von Frau B gewesen. Nun vertrete er sie als Mandantin. Es bestehe im Honorarprozess daher ein Interessenwiderstreit zu seiner vormaligen Stellung als Nachlasspfleger. Gegen seine Behauptung, er sei nur Nachlasspfleger gewesen, spreche, dass die Bestellungsurkunde auf „Rechtsanwalt C D“ laute. Es sei daher von Interesse, ob er bei seiner Abrechnung der Nachlasspflegervergütung auf seine besondere Qualifikation als Rechtsanwalt verwiesen und diese Stellung daher für sich reklamiert habe.
5Durch Verfügung vom 28.07.2020 hat die Rechtspflegerin dem Beteiligten zu 1) mitgeteilt, dass „ein berechtigtes Interesse an der gewünschten Akteneinsicht nicht vorliege, so dass dem Gesuch nicht entsprochen werden“ könne (Bl. 132 d.A.).
6Gegen diese Verfügung hat der Beteiligte zu 1) mit am 06.08.2020 beim Amtsgericht Königswinter eingegangenen Schriftsatz vom 05.08.2020, auf dessen Inhalt Bezug genommen wird, Beschwerde eingelegt (Bl. 134 ff. d.A.).
7Die Rechtspflegerin des Nachlassgerichts hat der Beschwerde durch Beschluss vom 10.09.2020 nicht abgeholfen und die Sache dem Oberlandesgericht Köln zur Entscheidung vorgelegt (Bl. 184 f. d.A.).
8II.
9Die Beschwerde ist nicht statthaft und daher als unzulässig zu verwerfen.
10Die Beschwerde gem. § 58 Abs. 1 FamFG ist grundsätzlich nur statthaft gegen Endentscheidungen der Amtsgerichte und Landgerichte in Angelegenheiten nach dem FamFG. Eine Endentscheidung liegt vor, wenn sie ein auf Antrag oder ein von Amtswegen eingeleitetes Verfahren insgesamt erledigt oder seine Anhängigkeit hinsichtlich eines einer selbständigen Erledigung zugänglichen Teils des Verfahrensgegenstands beendet (Keidel/Meyer-Holz, FamFG, 20. Aufl. 2020, § 58 Rn. 16 m.w.N.). Bei der angefochtenen Verfügung vom 28.07.2020 handelt es sich indes nicht um eine Endentscheidung in diesem Sinne, sondern um einen bloßen rechtlichen Hinweis. Denn die Rechtspflegerin des Nachlassgerichts hat den Antrag auf Akteneinsicht weder zurückgewiesen oder abgelehnt, sondern nur darauf hingewiesen, aus welchen Gründen dem Antrag nicht entsprochen werden könne. Eine Erledigung des Verfahrens ist damit noch nicht eingetreten. Die Anhängigkeit des Verfahrens ist auch nicht (teilweise) beendet worden. Dafür, dass es sich um einen bloßen rechtlichen Hinweis handelt, spricht auch, dass die Verfügung nicht in der Form eines Beschlusses gem. § 38 FamFG erfolgt ist und es an einer Rechtsmittelbelehrung fehlt, was auch für den Beteiligten zu 1) als Rechtsanwalt ohne weiteres erkennbar war.
11Zur Klarstellung weist der Senat darauf hin, dass die Beschwerde auch in der Sache keinen Erfolg hat.
12Dem Antragsteller steht kein Recht auf Akteneinsicht gem. § 13 Abs. 2 S. 1 FamFG zu. Nach dieser Vorschrift kann Personen, die – wie hier – nicht am Verfahren beteiligt sind, Einsicht in die Akten nur gestattet werden, soweit sie ein berechtigtes Interesse glaubhaft machen und schutzwürdige Interessen eines Beteiligten oder eines Dritten nicht entgegenstehen. Für die Annahme eines berechtigten Interesses im Sinne des § 13 Abs. 2 S. 1 FamFG genügt jedes vernünftigerweise gerechtfertigte Interesse tatsächlicher, wirtschaftlicher oder wissenschaftlicher Art. Befindet sich der Antragsteller aber bereits im Besitz aller notwendigen Informationen und ist nicht ersichtlich, dass die Einsicht zu weiteren Erkenntnissen führen könnte, fehlt insoweit das berechtigte Interesse (Keidel/Sternal, FamFG, 20. Aufl. 2020, § 13 Rn. 30). So liegt der Fall hier. Dem Antragsteller ist bekannt, dass der Beteiligte zu 2) vom Nachlassgericht als Nachlasspfleger für die unbekannten Erben des Erblassers mit den Wirkungskreisen der Sicherung und Verwaltung des Nachlasses sowie der Ermittlung der Erben bestellt worden ist. Dabei ergibt sich aus der Bestallungsurkunde vom 01.10.2015 ausdrücklich, dass der Beteiligte zu 2) Rechtsanwalt ist. Weiterhin ist dem Antragsteller auch bekannt, dass der Beteiligte zu 2) für die unbekannten Erben unter Verwendung seines anwaltlichen Briefkopfs in seiner Eigenschaft als Nachlasspfleger aufgetreten ist. In dieser Eigenschaft hat er auch mit Frau A B, die in diesem Zeitraum von dem Antragsteller vertreten wurde, Verhandlungen über den Kauf einer Nachlassimmobilie geführt, die letztlich gescheitert sind. Allein anhand dieses ihm bekannten Sachverhalts ist der Antragsteller aber in der Lage zu prüfen, ob – wie von ihm geltend gemacht wird - ein Fall des Parteiverrats vorliegt und ob der Beteiligte zu 2) in seiner Eigenschaft als Rechtsanwalt und/oder als Nachlasspfleger „als Gegner“ der von dem Beteiligten zu 1) damals vertretenen Frau B aufgetreten ist. Es ist daher nicht ersichtlich, zu welchen weiteren Erkenntnissen die beantragte Einsicht in die Nachlassakte führen soll. Ein berechtigtes Interesse an der Akteneinsicht ist daher nicht gegeben.
13Ein solches berechtigtes Interesse an der beantragten Akteneinsicht des Beteiligten zu 2) besteht auch nicht im Hinblick auf eine sich – möglicherweise - in der Akte befindliche Schlussabrechnung des Beteiligten zu 2). Soweit der Beteiligte zu 1) vorträgt, anhand der Schlussabrechnung ließe sich feststellen, wie weit das anwaltliche Engagement des Beteiligten zu 2) bei Ausübung seines Amtes als Nachlasspfleger gegangen sei, verhilft dies seinem Antrag nicht zum Erfolg. Ein Nachlasspfleger kann gegenüber dem Nachlassgericht nur die Tätigkeit abrechnen, die er in seinem Amt als Nachlasspfleger ausgeübt hat, unabhängig davon, ob er Rechtsanwalt ist oder nicht und ob seine Tätigkeit eine anwaltliche Qualifikation erfordert hat oder nicht. Es ist daher schon nicht nachvollziehbar, was der Beteiligte zu 1) der Akte entnehmen möchte, wenn er ausführt, es sei zu klären, wie weit das anwaltliche Engagement des Beteiligten zu 2) gegangen sei. Schließlich ist der Beteiligte zu 2) ausdrücklich als Rechtsanwalt bestellt worden. Auch wenn er Tätigkeiten ausgeübt haben sollte, die typischerweise von einem Rechtsanwalt ausgeübt werden, würde dies nichts daran ändern, dass er in seiner Eigenschaft als Nachlasspfleger gehandelt hätte. Im Übrigen richtet sich die Höhe des abzurechnenden Stundensatzes eines Nachlasspflegers nach den für die Führung der Pflegschaftsgeschäfte nutzbaren Fachkenntnissen des Pflegers sowie nach dem Umfang und der Schwierigkeit der Pflegschaftsgeschäfte. Bestellt das Nachlassgericht – wie hier – einen Rechtsanwalt wegen seines Berufs zum Nachlasspfleger, steht die Nutzbarkeit seiner Fachkenntnisse und seine besondere Qualifikation außer Zweifel (vgl. Palandt/Weidlich, BGB, 79. Aufl. 2020, § 1962 Rn. 23 m.w.N.). D.h., dass die etwaige Abrechnung eines für Rechtsanwälte angemessenen Stundensatzes durch den Beteiligten zu 2) schon deshalb gerechtfertigt wäre, weil er eben von Beruf Rechtsanwalt ist und in dieser Eigenschaft bestellt worden ist.
14III.
15Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 FamFG.
16Die Rechtsbeschwerde ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen gem. § 70 Abs. 2 FamFG nicht vorliegen.
17Geschäftswert des Beschwerdeverfahrens: 5.000,00 € (§ 36 Abs. 3 GNotKG)
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Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
1T a t b e s t a n d
2Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Beseitigung einer auf ihren Grundstücken Gemarkung K., Flur 00, Flurstücke 0000 und 0001, errichteten Bushaltestelle. Dem Rechtsstreit liegt im Wesentlichen folgender Sachverhalt zugrunde:
3Die klagende Gesellschaft hatte unter der vormaligen Firma L. S. GmbH am 6. Februar 2009 Insolvenzantrag beim Amtsgericht M. gestellt (91 IN 66/09). Daraufhin wurde mit Beschluss vom 6. Februar 2009 ein vorläufiger Insolvenzverwalter bestellt und die Wirksamkeit von Verfügungen der Insolvenzschuldnerin über Gegenstände ihres Vermögens von der Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters abhängig gemacht. Mit Beschluss vom 1. April 2009 wurde wegen Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung das Insolvenzverfahren über das Vermögen der L. S. GmbH eröffnet. Am 2. April 2009 erfolgte die Eintragung in das Handelsregister beim Amtsgericht M. (Registerblatt HRB 3324), dass über das Vermögen der Gesellschaft das Insolvenzverfahren eröffnet und die Gesellschaft aufgelöst sei. Nachdem am 15. Mai 2012 die Gesellschafterversammlung die Fortsetzung der Gesellschaft beschlossen hatte, wurde das Insolvenzverfahren unter dem 23. Mai 2012 aufgehoben. Mit weiterem Beschluss vom 24. Januar 2013 beschloss die Gesellschafterversammlung die Änderung der Firma in die von der Gesellschaft aktuell genutzte Firmenbezeichnung „B. GmbH“.
4Die Firma L. S. GmbH erwarb im Jahr 1993/1994 das Grundstück Gemarkung K., Flur 00, Flurstück 001 (postalische Anschrift: X.-Straße 1), das im Anfang der 1990er-Jahre entwickelten Gewerbegebiet „M. C.“ gelegen ist. Auf diesem Grundstück errichtete sie ein Verwaltungs- und Lagergebäude. Mit notariellem Kaufvertrag vom 5. März 2008 erwarb die Gesellschaft von der Stadt A. aus dem weiteren an der X.-Straße gelegenen Grundstück Gemarkung K., Flur 00, Flurstück 002, eine Teilfläche von 320 m², die nach Grundstücksteilung im Jahr 2011 die Flurstückbezeichnung 003 erhielt. Die Auflassung dieses Flurstücks datiert auf den 25. Januar 2012. Im Jahr 2012 wurden die von der Gesellschaft erworbenen und inzwischen in ihrem Eigentum stehenden Flurstücke geteilt; aus dem Flurstück 001 gingen die Flurstücke 0003, 0004 und das 152 m² große Flurstück 0000 hervor, aus dem Flurstück 0003 das Flurstück 0002 und das 12 m² große Flurstück 0001. Die streitgegenständlichen Flurstücke 0000 und 0001 sind mit der Wirtschaftsart „Verkehrsfläche“ im Grundbuch eingetragen. Eigentümerin ist die Klägerin. Nach Grundstücksvereinigung und -teilung im November 2014 entstanden überdies aus den im Eigentum der Klägerin stehenden Flurstücken 0004 und 0005 das 22.069 m² große Flurstück 0006, auf dem die wesentlichen Betriebsgebäude der Klägerin stehen, sowie das angrenzende und 15.174 m² große Flurstück 0007, das aktuell überwiegend als Abstell- und Lagerfläche genutzt wird.
5Die an das Betriebsgelände der Klägerin angrenzende X.-Straße wurde mit Verfügung vom 17. Dezember 1998, im Amtsblatt der Stadt A. veröffentlicht am 8. Januar 1999, als Gemeindestraße für den öffentlichen Verkehr gewidmet. Träger der Straßenbaulast war die Stadt A.. Mit der am 28. Juni 2005 beschlossenen und seit dem 30. September 2005 rechtskräftigen 2. Änderung des Bebauungsplans Nr. 009 „Gewerbegebiet M.er C.“ wurde die X.-Straße zur Kreisstraße als Teil einer „Osttangente“ bestimmt, die eine Verbindung zwischen der T.-Straße 000 und der nahegelegenen Bundesautobahn 00 schaffen und zur Entlastung der Ortsdurchfahrt K. sowie zur Entzerrung der Verkehrsverhältnisse im Gewerbegebiet dienen sollte.
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10Im Zuge der Baumaßnahmen der Kreisstraße kam es wiederholt zu Gesprächen zwischen der Klägerin und der Stadt A. sowie dem Kreis M. als Rechtsvorgänger der Beklagten über die Schaffung einer weiteren Zufahrt zum östlichen Teil des Betriebsgeländes der Klägerin (Flurstück 0007) über die im Eigentum der Stadt A. stehenden Flurstücke 0010 und 0011. Zu diesem Zweck sollte die ursprünglich für den Bereich der Flurstücke 0010 und 0011 vorgesehene Bushaltestelle an der Kreisstraße nach Süden verlagert und so eine Zufahrtmöglichkeit über diese Grundstücke geschaffen werden. Mit E-Mail vom 16. April 2009 bat der Kreis M. Herrn B. P., der als Fachberater der R. Europa auftrat, um die kurzfristige schriftliche Bestätigung einer nach Auffassung des Kreises bereits im Jahr 2005 getätigten Zusage zu einem für die Anlage der Bushaltestelle erforderlichen Grunderwerb. Mit Schreiben vom 21. April 2009 bestätigte Herr B. P. dem Kreis M. daraufhin „unsere Zustimmung zu dem von Ihnen vorgelegten Konzept vom 10.3.2009 (sh. Anlage 1): Optimierte Lage der Bushaltestelle an der östlichen L.-Grundstücksgrenze“ und stimmte weiterhin „dem dadurch notwendigen Grunderwerb“ zu. Er nahm insoweit („sh. Anlage 1“) Bezug auf eine beigefügte Planskizze, in der das Flurstück 0000 mit „Grunderwerb L.“ gekennzeichnet war. Zu einer Übereignung der Flurstücke 0000 und 0001 ist es in der Folgezeit ebenso wenig gekommen wie zur Schaffung einer Zufahrt zum Betriebsgelände der Klägerin über die Kreisstraße. Eine Klage der Klägerin, mit der sie die von ihr begehrte Zufahrt zur Erschließung des Flurstücks 0007 erreichen wollte, wurde mit Urteil des Verwaltungsgerichts M. vom 21. Januar 2020 - inzwischen rechtskräftig - abgewiesen (3 K 1602/15).
11Im Jahr 2009/2010 erfolgte im Zuge des Ausbaus der Kreisstraße die Überbauung der Flurstücke 0000 und 0001mit einer Bushaltestelle für den öffentlichen Personennahverkehr, welche aus einer Haltebucht mit Fahrgastunterstand, einer Ein- und Ausfahrtspur, einem Gehweg mit Straßenlampen sowie einem Verkehrszeichen „Haltestelle“ (Z 224 zu § 41 Abs. 1 StVO) besteht. Hierbei wurden die Grundstücksflächen mit einer Pflasterung mit Randsteinen in Erweiterung des Gehwegs sowie mit einer Asphaltierung für die Haltebucht und Fahrspur versiegelt. Der auf der östlichen Grundstücksaußengrenze der Grundstücksflächen 0000 und 0001 zuvor verlaufende Metallgitter-Grenzzaun wurde hinter die Bushaltestelle auf die Höhe der westlichen Parzellengrenzen zurückgesetzt.
12Mit der seit dem 21. Januar 2011 rechtskräftigen 13. Änderung des Bebauungsplans Nr. 009 sollte die planerische Grundlage für den veränderten Ausbau der Verkehrsflächen im Bereich D./X.-Straße/V.-Straße geschaffen werden. In der Begründung heißt es insoweit zu der vorliegend streitgegenständlichen Bushaltestelle (dort bezeichnet als Änderung „Nr. 5“): „Im nördlichen Plangebiet an der X.-Straße (K00) wird die westliche Bushaltestelle nach Süden verschoben und die Festsetzungen werden entsprechend angepasst.“
13Am 10. Juni 2011 wurde die „Kreisstraße/X.-Straße“ für den Verkehr freigegeben. Eine förmliche Widmung als Kreisstraße erfolgte zunächst nicht.
14Unter dem 10. August 2012 erkannte der Architekt J. H. im Namen der L. S. GmbH und mit dem Versprechen, eine Vollmacht nachzureichen, die Ergebnisse eines zuvor in deren Abwesenheit anlässlich der Teilung u. a. des Flurstücks 003 durchgeführten Grenztermins vom 7. August 2012 - ausweislich der hierüber angefertigten Niederschrift nach Erläuterung an Ort und Stelle - an. Unter dem 28. September 2012 bestätigte der Geschäftsführer der Klägerin schriftlich die zuvor mündlich erteilte Vollmacht für Herrn J. H., die L. S. GmbH im Grenztermin vom 10. August 2012 zu vertreten. Vorgelegt wurde überdies eine schriftliche Vollmacht vom 25. September 2012, durch die Herr H. im Namen der L. S. GmbH zur Beantragung und Vornahme von Akteneinsicht in behördliche Akten ermächtigt wurde.
15Am 5. Dezember 2013 erfolgte eine gemeinsame Besprechung der Beteiligten, in deren Rahmen die Frage einer Zufahrtsmöglichkeit zum Betriebsgelände der Klägerin über die Kreisstraße und die Anlage der Bushaltestelle an der Kreisstraße erörtert wurden. Den in diesem Gespräch „vermittelten Eindruck einer unberechtigten Inanspruchnahme des Grundstücks der Fa. L. durch die M.“ wies die Beklagte ausweislich eines undatierten Schreibens an die Klägerin, in dem sie u. a. die Ergebnisse dieses Gesprächs aus ihrer Sicht zusammenfasste (vgl. Beiakte I, Bl. 18), „nach Akteneinsicht als unberechtigt“ zurück. „In den überreichten Unterlagen“ seien „die Vereinbarung mit der SEW vom 02.03.2005 sowie die Zustimmung zur Verlegung der Busbucht und des Grunderwerbes vom 21.04.2009 enthalten“ gewesen.
16Mit Schreiben vom 19. Dezember 2013 bat die Beklagte den Notar Dr. O. in A., der zuvor die Grundstücksübertragungen im Zusammenhang mit dem Bau der Kreisstraße beurkundet hatte, die Grundstücke Flur 00, Flurstücke 0003, 0000 und 0012 auf sie zu übertragen, weil diese Bestandteile der neuen Kreisstraße bzw. der G.-Straße seien. Das Flurstück 0000 sei aus dem Flurstück 001 ebenfalls fortgeschrieben worden, jedoch im Kaufvertrag UR.-Nr. 319/2008 nicht aufgeführt. Zu einer Eigentumsübertragung auf die Beklagte ist es bezogen auf das Flurstück 0000 in der Folge nicht gekommen.
17Am 3. Februar 2014, veröffentlicht im Amtsblatt der Beklagten am 14. Februar 2014, erfolgte durch die Beklagte die Widmung der X.-Straße zwischen den Netzknoten 5102076 und Netzknoten 5103092 von km 0,T.-Straße (Knotenpunkt Kreisverkehr K) bis km 2,384 (Knotenpunkt Kreisverkehr L) ohne Beschränkung als Kreisstraße für den öffentlichen Verkehr, und zwar mit dem Hinweis darauf, dass die Beklagte nunmehr Trägerin der Straßenbaulast sei.
18Mit Schreiben vom 6. August 2015 forderte die Klägerin die Beklagte zur Herausgabe ihrer Grundstücke 0000 und 0001 sowie zur Beseitigung des Überbaus dieser Grundstücke mit einer Bushaltestelle auf. Diese Forderung wies die Beklagte mit Schreiben vom 24. August 2015 als unbegründet zurück.
19Die Klägerin hat am 14. Oktober 2015 Klage erhoben, zu deren Begründung sie im Wesentlichen geltend macht: Sie sei unstreitig Eigentümerin der streitgegenständlichen 0000 und 0001. Ebenso unstreitig seien diese Grundstücksflächen nach 2009 mit einer Verkehrsfläche und Bushaltestelle überbaut worden. Damit sei in das Eigentumsrecht der Klägerin eingegriffen und deren Besitz an den Grundstücksflächen entzogen worden. Dieser Eingriff sei ohne bauplanungsrechtliche Grundlage, schuldrechtliche Gestattung oder vorherige dingliche Sicherung erfolgt, sodass die Klägerin als Eigentümerin der Grundstücksflächen den auf diesen rechtswidrig errichteten Überbau nicht zu dulden brauche und von der Beklagten dessen Beseitigung und Herausgabe der rückgebauten Grundstücksflächen an sich verlangen könne. Denn diese sei als Trägerin der Straßenbaulast heute hierfür verantwortlich. Der Überbau der Grundstücksflächen sei insbesondere ohne planungsrechtliche Grundlage und ohne Zustimmung der Klägerin erfolgt. Etwaige Festsetzungen in einem Bebauungsplan begründeten grundsätzlich keine Duldungspflicht des Grundstückseigentümers für Eingriffe in den Bestand seines Grundeigentums. An einer einvernehmlichen und rechtsverbindlichen vertraglichen Regelung der Beteiligten zur Nutzung der überbauten Grundstücksfläche fehle es ebenso wie an einer Enteignung in Form der Eintragung einer Zwangsdienstbarkeit. Insbesondere sei keine rechtsverbindliche Zustimmung der Klägerin zu einem Überbau oder sogar zu der Veräußerung der Grundstücksflächen gegenüber der Beklagten oder der Stadt A. erfolgt. Dahingehende rechtsgeschäftliche Erklärungen seien namens der Klägerin weder durch den zwischenzeitlich verstorbenen Herrn P. noch durch den Insolvenzverwalter abgegeben worden. Herr P. sei im Übrigen nicht bevollmächtigt gewesen, im Namen der Klägerin grundstücksbezogene Erklärungen abzugeben oder entsprechende Vertragsabschlüsse in Grundstücksangelegenheiten zu tätigen. Sämtliche angeblichen grundstücksbezogenen Absprachen zwischen den Beteiligten betreffend die streitgegenständlichen Flächen seien während der Insolvenz der L. S. GmbH erfolgt. Diese sei nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens jedoch in ihrer Verfügungsbefugnis hinsichtlich ihres Vermögens und des bestehenden Grundeigentums gerichtlich beschränkt gewesen. Dies sei sowohl der Stadt A. als auch der Beklagten bekannt gewesen. Die L. S. GmbH sei im Zeitpunkt des Schreibens des Herrn P. am 21. April 2009 nicht zur Abgabe einer Zustimmungserklärung hinsichtlich in ihrem Eigentum stehender Grundstücke verfügungsbefugt gewesen, selbst wenn sie eine solche selbst oder durch einen Bevollmächtigten abgegeben hätte. Eine Zustimmung seitens des Insolvenzverwalters liege ebenfalls nicht vor. Dieser habe angebliche grundstücksbezogene Absprachen der Beteiligten weder nachträglich genehmigt noch selbst vertragliche Vereinbarungen betreffend die bauliche Anlage einer Bushaltestelle auf dem Grundstück der Insolvenzschuldnerin abgeschlossen. Die Widmung der Kreisstraße am 14. Februar 2014 sei vor diesem Hintergrund wegen eines Verstoßes gegen die Regelung des § 6 Abs. 5 StrWG NRW nichtig. Hiernach setze eine Widmung zwingend voraus, dass der Träger der Straßenbaulast Eigentümer des der Straße dienenden Grundstücks sei oder dass der Eigentümer und ein sonst zur Nutzung dinglich Berechtigter der Widmung zugestimmt hätten. Hieran fehle es. Weder sei die Beklagte oder die Stadt A. als deren Rechtsvorgängerin in der Funktion als Trägerin der Straßenbaulast der X.-Straße Eigentümerin der streitgegenständlichen Flurstücke 0000 und 0001 geworden, noch sei jemals eine rechtmäßige Zustimmung zur Widmung oder Besitzeinräumung seitens der Klägerin erfolgt. Eine verbindliche Zustimmung der L. S. GmbH als Grundstückseigentümerin zu dem Vorschlag einer Südverschiebung der Bushaltestelle anlässlich der baulichen Anlage einer weiteren Grundstückszufahrt zur Kreisstraße (sog. „Ostzufahrt“) sei zu keiner Zeit erteilt oder vereinbart worden. Ein solches bauliches Konzept sei nie realisiert worden, da sowohl die Stadt A. als Bauordnungsbehörde als auch die Beklagte als Zustimmungsbehörde der Anlage einer Grundstückszufahrt die Genehmigung verweigert hätten. Ungeachtet dessen hätte aufgrund vorhandener Ausführungsalternativen selbst eine Südverschiebung der Bushaltestelle nicht zwingend zur Folge gehabt, dass diese auf Grundstücksflächen der Klägerin habe baulich angelegt werden müssen. Vor einer genauen Vermessung der betroffenen Flächen habe sich der Klägerin auch nicht aufdrängen müssen, dass sich die streitgegenständliche Bushaltestelle bereits auf ihrem Grundstück befinde. Die katastermäßige Vermessung des tatsächlichen baulichen Straßenverlaufs der Verkehrsflächen ersetze zudem keine eigentums- und verfügungsrechtlichen Rechtsgeschäfte hinsichtlich einer Duldung oder Genehmigung des streitgegenständlichen Überbaus der Bushaltestelle. Im Übrigen sei Herr H., der die Ergebnisse des Grenztermins im Namen der Klägerin bestätigt haben solle, hierzu überhaupt nicht bevollmächtigt gewesen. Das Fehlen der erforderlichen Zustimmung und damit die Rechtswidrigkeit der gleichwohl vorgenommenen Widmung sei den handelnden Amtswaltern der Beklagten bewusst gewesen. Dies habe sich in Anbetracht der bekannten und offensichtlichen Umstände im Zusammenhang mit Planung und Ausbau der Kreisstraße geradezu aufgedrängt. Selbst Anfang 2012, als die streitgegenständlichen Grundstücke längst mit der Bushaltestelle überbaut und damit faktisch wertlos gewesen seien, seien diese der Klägerin sogar wider besseres Wissen noch mit der ausdrücklichen vertraglichen Zusicherung als „unbebaut“ und „dinglich unbelastet“ veräußert worden. Dies stelle eine vorsätzliche sittenwidrige Täuschung dar ebenso wie der Versuch der Beklagten im Dezember 2013 rechtsmissbräuchlich gewesen sei, das Eigentum hinsichtlich des Flurstücks 0000 „auf kaltem Weg“ zu erlangen. Im Anschluss an die bauliche Fertigstellung der Kreisstraße, deren Inbetriebnahme und die nachfolgende Verkehrsfreigabe sei die Widmung überdies missbräuchlich über vier Jahre lang hinausgezögert worden. Damit seien die Rechte der Klägerin in eklatanter Weise verletzt worden.
20Die Klägerin beantragt,
211. die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin die im Grundbuch beim AG M. eingetragenen Grundstücksflächen der Gemarkung K., Blatt 00013, Flur 00, Flurstück 0000, mit einer Fläche von 152 m², sowie Blatt 10200, Flur 00, Flurstück 0001, mit einer Fläche von 12 m², herauszugeben,
222. die Beklagte zu verurteilen, es zu unterlassen auf den Grundstücksflächen gemäß Ziffer 1. des Antrags eine Bushaltestelle, bestehend aus Haltebucht, Gehweg, Ein- und Ausfahrtspur, Fahrgastunterstand, Straßenlampe(n) und Verkehrszeichen „Haltestelle" 224 StVO für den öffentlichen Personennahverkehr zu betreiben, und
233. die Beklagte zu verurteilen, die auf den Grundstücksflächen gemäß Ziffern 1. und 2. des Antrags errichtete Bushaltestelle „V.-Straße 16 Q. M." zu beseitigen, soweit sich diese ganz oder teilweise auf den im Eigentum der Klägerin stehenden Grundstücksflächen befindet und deren ursprünglichen Zustand unter vollständiger Beseitigung der Aufbauten, Bodenversiegelung und Begradigung des Grenzzauns der Klägerin auf deren östliche Grundstücksaußengrenze sowie Anlage einer renaturierten Grünfläche (Rasen/Wiese) auf den entsiegelten Flächen wieder herzustellen,
24hilfsweise hierzu
25festzustellen, dass die Klägerin berechtigt ist, die auf den Grundstücksflächen gemäß Ziffern 1. und 2. des Antrags errichtete Bushaltestelle selbst zu beseitigen,
26hilfsweise,
27festzustellen, dass die am 14.02.2014 im Amtlichen Mitteilungsblatt - Amtsblatt - Nr. 3 der Beklagten veröffentlichte Widmung der X.-Straße (K00) nichtig ist, soweit diese mit der Bushaltestelle gemäß Ziffern 2. und 3. des Antrags auf den im Grundbuch beim AG M. eingetragenen Grundstücksflächen der Gemarkung K., Blatt 00013, Flur 00, Flurstück 0000, sowie Blatt 10200, Flur 00, Flurstück 0001, verläuft.
28Die Beklagte beantragt,
29die Klage abzuweisen.
30Zur Begründung ihres Klageabweisungsantrags trägt sie vor: Eine rechtswidrige Inanspruchnahme der streitgegenständlichen Grundstücksflächen habe es nicht gegeben. Im Rahmen der Ausführungsphase sei die Lage der Busbucht an der östlichen Seite des L.-Grundstücks vielmehr gemeinschaftlich besprochen und einvernehmlich in neuer Lage festgelegt worden. Mit Schreiben des Herrn B. P. vom 21. April 2009 sei die Zustimmung zum vorgelegten Konzept und dem damit verbundenen Grunderwerb ausdrücklich erteilt worden. Herr P. sei der zuständige Ansprechpartner der Firma L. gegenüber dem Kreis M. gewesen und habe in dieser Funktion die baulichen und grundstücksrechtlichen Angelegenheiten, die die Firma L. betroffen hätten und die im Rahmen des Baus der Kreisstraße gemeinsam mit dem damaligen Kreis M. zu regeln gewesen seien, fachlich begleitet und die notwendigen Entscheidungen in diesem Zusammenhang getroffen. Mit der Anerkennung der Grenzniederschrift am 10. August 2012 durch den von der L. S. GmbH hierzu bevollmächtigten Herrn J. H. sei die Lage der Busbucht auf den neu entstandenen Flurstücken 0000 und 0001 in vollem Umfang akzeptiert worden. Der notwendige Eigentumsübergang sei zudem mit dem an das Amtsgericht M. gerichteten Grundstücksteilungsantrag der L. S. GmbH vom 10. August 2012 bekräftigt worden. Die Firmenleitung und auch der Insolvenzverwalter seien mithin zu jeder Zeit eingebunden gewesen. Die Änderung der Verkehrsflächen sei schließlich im Rahmen der 13. Änderung des Bebauungsplans 009 durch die Stadt A. planungsrechtlich abgesichert worden. Aufgrund der Zustimmung der Klägerin zum einen zur Planänderung und zum anderen zur Grundstücksteilung sei nicht erkennbar, dass die Busbucht widerrechtlich auf dem Grundstück der Klägerin errichtet worden sei. Vor diesem Hintergrund sei die Widmung der Kreisstraße auch nicht etwa nichtig. Von einem missbräuchlichen Vorgehen der Beklagten könne keine Rede sein. Planung, Bauausführung und Widmung der Kreisstraße seien vielmehr im üblichen Verfahren erfolgt. Die Beklagte habe aufgrund der über einen langen Zeitraum geführten Gespräche mit der Klägerin von der Erteilung einer Zustimmung ausgehen dürfen. Ob sie möglicherweise fehlerhaft von einer wirksamen Zustimmung des Herrn P. ausgegangen sei, sei eine Frage der Rechtmäßigkeit der Widmung. Die Klägerin habe die Widmung jedoch nicht angefochten und müsse sich deren Bestandskraft nunmehr entgegenhalten lassen. Im Übrigen bestehe nach wie vor die Bereitschaft der Beklagten, die in Anspruch genommenen Grundstücksflächen von der Klägerin zum Verkehrswert zu erwerben.
31Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstrandes wird auf die Gerichtsakten sowie den beigezogenen Verwaltungsvorgang der Beklagten Bezug genommen.
32E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
33Die Klage hat keinen Erfolg. Sie ist zulässig, aber nicht begründet.
34A. Die Klage ist zulässig.
35Der Verwaltungsrechtsweg ist nach § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO eröffnet, weil die Klägerin die Beseitigung einer Eigentumsbelastung durch den Bau und die Nutzung einer Bushaltestelle an der Kreisstraße begehrt. Der behauptete Eingriff ist durch den Bau der öffentlichen Straße erfolgt, weshalb es sich unzweifelhaft um einen hoheitlichen Eingriff handelt.
36Vgl. u. a. OVG NRW, Beschluss vom 2. April 2009 - 11 E 469/08 -, juris, Rn. 3 ff., m. w. N.
37B. Die zulässige Klage ist jedoch nicht begründet.
38Die Klägerin hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung weder einen Anspruch auf Herausgabe der streitgegenständlichen Grundstücke noch auf eine Beseitigung der Bushaltestelle oder eine künftige Unterlassung ihres Betriebs (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Auch auf die hilfsweise begehrte Nichtigkeitsfeststellung hinsichtlich der Widmung der Kreisstraße besteht kein Anspruch.
39I. Der Sache nach macht die Klägerin mit ihrem Begehren in erster Linie einen Folgenbeseitigungsanspruch geltend. Dieser ist jedoch unbegründet.
40Der öffentlich-rechtliche Folgenbeseitigungsanspruch setzt voraus, dass durch einen hoheitlichen Eingriff in ein subjektives Recht ein noch andauernder rechtswidriger Zustand geschaffen worden ist. Der Beseitigungsanspruch, der ein Verschulden der Behörde nicht voraussetzt, ist auf die Wiederherstellung des ursprünglichen, durch einen hoheitlichen Eingriff veränderten (rechtmäßigen) Zustands gerichtet. Der Beseitigungsanspruch ist dann ausgeschlossen, wenn der Eigentümer aufgrund dinglicher Sicherung, vertraglicher Vereinbarung oder nach privatrechtlichen oder öffentlich-rechtlichen Vorschriften zur Duldung verpflichtet ist. Er ist außerdem ausgeschlossen, wenn die Wiederherstellung des früheren Zustands durch Beseitigung der unmittelbaren Folgen tatsächlich oder rechtlich nicht möglich oder dem Hoheitsträger nicht zumutbar ist.
41Vgl. (auch zur dogmatischen Herleitung des Folgenbeseitigungsanspruchs) BVerwG, u. a. Urteil vom 26. August 1993 - 4 C 24.91 -, juris, Rn. 23 ff.; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 17. Oktober 2018 - 5 S 1276/16 -, juris, Rn. 32 f., jeweils m. w. N.
42Die Voraussetzungen für den geltend gemachten Folgenbeseitigungsanspruch liegen nicht vor.
431. Zwischen den Beteiligten ist nicht streitig, dass die fragliche Bushaltestelle auf den Flurstücken 0000 und 0001 errichtet worden ist und diese Flurstücke im Eigentum der Klägerin stehen. Durch diesen Überbau liegt unzweifelhaft ein Eingriff in das durch Art. 14 Abs. 1 GG subjektiv-rechtlich geschützte Eigentum der Klägerin an diesen Grundstücken vor. Die Klägerin ist dadurch in der grundsätzlich vom Eigentumsrecht geschützten Möglichkeit zur Nutzung ihrer Grundstücke beschränkt. Dieser Eingriff ist auch hoheitlich erfolgt, da der Überbau Folge des Baus der Kreisstraße gewesen ist, für die die Beklagte Trägerin der Straßenbaulast und für deren Bauausführung sie als Straßenbaubehörde die Verantwortliche ist.
44Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 2. April 2009 - 11 E 469/08 -, juris, Rn. 7 f., m. w. N.
452. Dieser hoheitliche Eingriff hat jedoch keinen andauernden rechtswidrigen Zustand geschaffen. Denn die Klägerin ist aufgrund einer wirksamen Widmung der Kreisstraße zur Duldung des Gemeingebrauchs und der in diesem Umfang der Beklagten zustehenden Befugnis zur Ausübung der Rechte und Pflichten eines Eigentümers und in diesem Zusammenhang insbesondere zur Hinnahme der Nutzung ihrer Grundstücksflächen als Bushaltestelle verpflichtet. Deshalb muss weder die Beklagte die Bushaltestelle beseitigen, noch ist die Klägerin (hilfsweise) berechtigt, die Bushaltestelle selbst zu beseitigen.
462.1 Mit Verfügung vom 3. Februar 2014 ist die Kreisstraße ohne Beschränkung als Kreisstraße dem öffentlichen Verkehr gewidmet worden. Mit dem Tag der Veröffentlichung am 14. Februar 2014 ist die Widmung wirksam geworden.
47Die Widmung einer Straße begründet die öffentlich-rechtliche Sachherrschaft über sie. Durch die Widmung wird das Eigentum an dem Straßengrundstück zwar nicht entzogen. Die öffentlich-rechtliche Sachherrschaft überlagert das Eigentumsrecht jedoch und schränkt es kraft der staatlichen Hoheitsgewalt ein (sog. Grundsatz des modifizierten Privateigentums). Dem Träger der Straßenbaulast steht, wenn er nicht selbst Eigentümer des Straßengrundstücks ist, die Ausübung der Rechte des Eigentümers insoweit zu, als dies die Aufrechterhaltung des Gemeingebrauchs und die Verwaltung und Unterhaltung erfordern. In diesem Umfang obliegt es ihm, die Pflichten des Eigentümers zu erfüllen. Der Eigentümer des Straßengrundstücks kann eine bestimmte Nutzung im Rahmen des eröffneten Gemeingebrauchs hingegen nicht mehr untersagen und hat keinen Herausgabeanspruch gemäß § 985 BGB gegen den Straßenbaulastträger.
48Vgl. Sauthoff, Öffentliche Straßen, 2. Auflage 2010, Rn. 135; Herber, in: Kodal/Krämer, Straßenrecht, 7. Auflage 2010, Kapitel 6, Rn. 17 ff., Kapitel 8, Rn. 8.
49Durch die Widmung wird die Straße zur öffentlichen Straße (vgl. § 2 Abs. 1 StrWG NRW). Zur öffentlichen Straße gehören neben dem Straßenkörper auch der Luftraum über dem Straßenkörper und das Zubehör sowie etwaige Nebenanlagen (vgl. § 2 Abs. 2 StrWG NRW). Die zu der streitgegenständlichen Bushaltestelle zählenden baulichen Anlagen, insbesondere die Bushaltestellenbucht, der dort verlaufende Gehweg sowie die aufgestellten amtlichen Verkehrszeichen, Verkehrseinrichtungen und sonstigen Anlagen, zählen daher als Bestandteile des Straßenkörpers bzw. als Zubehör zur Kreisstraße und sind von ihrer Widmung als öffentliche Straße erfasst.
50Dass in der Widmungsverfügung die Flurstücke 0000 und 0001 nicht ausdrücklich aufgeführt sind, ist unschädlich. In einer Widmungsverfügung ist zwar mit der erforderlichen Deutlichkeit festzulegen, welchen räumlichen Umfang die Widmung hat. Insbesondere muss erkennbar sein, welche Grundflächen vom Geltungsbereich der Widmung erfasst werden. Zwingende und für alle Fallkonstellationen geltende Vorgaben für die Bestimmtheit einer Widmungsverfügung bestehen jedoch nicht. Im Zweifel ist die Frage, welche Verkehrsflächen von der Widmung erfasst werden, wie bei anderen Verwaltungsakten auch, durch eine Auslegung der Verfügung nach dem Empfängerhorizont zu ermitteln. Lassen sich die Lage und die räumliche Ausdehnung der Straße auch anhand von anderen Kriterien zweifelsfrei feststellen, etwa durch eine Beschreibung oder durch die Darstellung in einem Lageplan oder in einer Karte, reicht dies aus.
51Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 4. Juni 2012 - 11 A 1422/11 -, juris, Rn. 12; Bay. VGH, Beschluss vom 9. Januar 2018 - 8 ZB 17.473 -, juris, Rn. 15; Herber, in: Kodal/Krämer, Straßenrecht, 7. Auflage 2010, Kapitel 8, Rn. 3.1 f.
52Vorliegend ist in der Widmungsverfügung die bereits im Jahr 2011 für den Verkehr freigegebene und vollständig ausgebaute „im Stadtgebiet A. zwischen K und L gebaute Kreisstraße - Osttangente - […] zwischen den Netzknoten 5102076 und Netzknoten 5103092 von km 0,T.-Straße (Knotenpunkt Kreisverkehr K) bis km 2,384 (Knotenpunkt Kreisverkehr L) ohne Beschränkung als Kreisstraße dem öffentlichen Verkehr gewidmet“ worden. Der Widmungsverfügung war eine Karte beigefügt, in der der genaue Straßenverlauf gekennzeichnet worden war. Vor diesem Hintergrund bestehen keine Zweifel daran, dass mit dieser Widmung alle Grundstücksflächen als Straßenbestandteil gewidmet worden sind, die - wie die streitgegenständliche Bushaltestelle - für die Straße eine dienende Funktion haben. Damit finden die aufgezeigten Grundsätze zum sog. modifizierten Privateigentum auch auf die im Streit stehenden Grundstücksflächen der Klägerin Anwendung mit der Folge, dass die Klägerin den durch die Widmung eröffneten Gemeingebrauch und damit insbesondere die Nutzung ihrer Grundstücksflächen als Bushaltestelle grundsätzlich hinnehmen muss.
532.2 Soweit die Klägerin mit ihrer Klage die Widmung angreift und geltend macht, die Voraussetzungen für eine Widmung hätten nicht vorgelegen, insbesondere fehle es an der in § 6 Abs. 5 StrWG NRW geregelten Voraussetzung, dass sie als Eigentümerin der der Straße dienenden Flurstücke 0000 und 0001 der Widmung zugestimmt haben müsse, stellt dies ihre Duldungspflicht nicht in Frage.
54a. Da die Klägerin die Widmung der 0000 nicht angefochten hat, ist diese in Bestandskraft erwachsen. Der Einwand ihrer materiellen Rechtswidrigkeit ist damit grundsätzlich ausgeschlossen.
55Bei der Widmung handelt es sich um einen Verwaltungsakt in der Form einer Allgemeinverfügung i. S. d. § 35 Satz 2 VwVfG NRW (vgl. § 6 Abs. 1 Satz 1 StrWG NRW). Sie entfaltet ihre Wirksamkeit mit dem Zeitpunkt ihrer öffentlichen Bekanntmachung (vgl. hierzu § 41 Abs. 3 und 4 VwVfG NRW i. V. m. § 6 Abs. 1 Satz 2 StrWG NRW) allen Betroffenen gegenüber zeitgleich, und zwar zum einen unabhängig davon, ob diese sie zur Kenntnis genommen haben oder zur Kenntnis nehmen konnten, und zum anderen auch unabhängig davon, ob die getroffene Regelung mit dem materiellen Recht übereinstimmt.
56Vgl. Ramsauer, in: Kopp/Ramsauer, VwVfG, Kommentar, 20. Auflage 2019, § 43 Rn. 3 ff., m. w. N.
57Nach Ablauf der Rechtsbehelfsfrist eines mit einer - wie hier - ordnungsgemäßen Rechtsbehelfsbelehrung versehenen Verwaltungsakts tritt ohne Rücksicht auf Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts dessen Unanfechtbarkeit ein, soweit der Verwaltungsakt nicht nichtig ist. Die Unanfechtbarkeit ist Ausdruck des Gebots der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens und damit eine Folge des Rechtsstaatsprinzips. Aus ihr folgt in materieller Hinsicht, dass Behörden und Beteiligte (auch) nach Ablauf der regulären Anfechtungsfristen an die im Verwaltungsakt getroffene - auch rechtswidrige - Regelung gebunden bleiben und sich an diese halten müssen.
58Vgl. Ramsauer, in: Kopp/Ramsauer, VwVfG, Kommentar, 20. Auflage 2019, § 43 Rn. 1b und 29 ff., m. w. N.
59b. Entgegen der Annahme der Klägerin ist die Widmung der Kreisstraße auch nicht ausnahmsweise nichtig und deswegen nach § 43 Abs. 3 VwVfG NRW unwirksam.
60Ein Verwaltungsakt ist gemäß § 44 Abs. 1 VwVfG NRW nichtig, soweit er an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offensichtlich ist.
61Ein Rechtsfehler gilt dann als besonders schwerwiegend, wenn er von solchem Gewicht und solcher Bedeutung ist, dass er mit der Rechtsordnung unter keinen Umständen vereinbar ist. Hierfür genügt ein bloßer Verstoß auch gegen Rechtsnormen von herausragender Bedeutung wie die Bindung der Verwaltung an Gesetz und Recht gemäß Art. 20 Abs. 3 GG nicht. Der Fehler muss schlechthin unerträglich für die Rechtsordnung sein und die an eine ordnungsgemäße Verwaltung zu stellenden Anforderungen in einem solchen Maß verletzen, dass der Verwaltungsakt keine Geltung beanspruchen kann. Maßgebend insoweit ist der Verstoß gegen die der Rechtsordnung insgesamt oder in bestimmter Hinsicht zugrunde liegenden und diese tragenden Zweck- und Wertvorstellungen, insbesondere auch gegen tragende Verfassungsprinzipien, und das Ausmaß des Widerspruchs zu diesen. Der Verstoß muss nach Art und Ausmaß ein Gewicht haben, dass eine Einschränkung des Gebots der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung zugunsten der Rechtssicherheit nicht mehr gerechtfertigt erscheint. Selbst schwere Rechtsanwendungsfehler führen aber regelmäßig allein noch nicht zur Nichtigkeit, sofern nicht ein besonderes Unwerturteil (z. B. Willkür, Sittenwidrigkeit) hinzutritt. Der Fehler selbst und seine besondere Schwere müssen zudem „evident“ sein. Dies ist der Fall, wenn die schwere Fehlerhaftigkeit des Verwaltungsakts für einen unvoreingenommenen, urteilsfähigen, weder besonders sach- noch rechtskundigen, aber aufgeschlossenen Durchschnittsbetrachter ohne weiteres ersichtlich ist und sich geradezu aufdrängt. Dem Verwaltungsakt muss die Fehlerhaftigkeit gewissermaßen „auf die Stirn geschrieben“ sein.
62Vgl. Ramsauer, in: Kopp/Ramsauer, VwVfG, Kommentar, 20. Auflage 2019, § 44 Rn. 8 ff. und 12 ff., m. w. N.; Nds. OVG, Urteil vom 13. September 2012 - 7 LB 84/11 -, juris, Rn. 29 und 00.
63Ausgehend hiervon stellt eine ohne Zustimmung des Grundstückseigentümers erfolgende Widmung ohne Zweifel einen erheblichen Eingriff in dessen Eigentumsgrundrecht aus Art. 14 Abs. 1 GG dar, die einem enteignungsgleichen Eingriff ähnlich ist.
64Vgl. Nds. OVG, Urteil vom 13. September 2012 - 7 LB 84/11 -, juris, Rn. 30.
65Das Privateigentum wird, wie aufgezeigt, durch die Widmung modifiziert und von der öffentlich-rechtlichen Sachherrschaft überlagert. Aus diesem Grunde setzt § 6 Abs. 5 StrWG NRW die Zustimmung des Eigentümers oder sonst dinglich Berechtigten zu der Widmung voraus.
66Gleichwohl ist die fehlende Zustimmung des Grundstückseigentümers zur Widmung des in seinem Eigentum stehenden Straßengrundstücks regelmäßig nicht als besonders schwerwiegender „für die Rechtsordnung schlechthin unerträglicher“ Fehler anzusehen. Er macht die Widmung der Straße rechtswidrig und für den Eigentümer anfechtbar. Dieser wird hierdurch nicht rechtlos gestellt und kann seine Rechte verteidigen. Die fehlende Zustimmung führt im Regelfall jedoch nicht zur Nichtigkeit der Widmung.
67Vgl. Sauthoff, Öffentliche Straßen, 2. Auflage 2010, Rn. 50 und 80; Herber, in: Kodal/Krämer, Straßenrecht, 7. Auflage 2010, Kapitel 8, Rn. 30; Bachmeier/Müller/Rebler, Straßen- und Straßenverkehrsrecht für Kommunen, 2017, Kapitel 9., Ziffer 9.1.2; Grupp, in: Marshall, FStrG, Kommentar, 6. Auflage 2012, § 2 Rn. 16; Walprecht/Neutzer/Wichary, StrWG NRW, Kommentar, 2. Auflage 1986, § 6 Rn. 56; Fickert, Straßenrecht in Nordrhein-Westfalen, 3. Auflage 1989, § 6 Rn. 26; BGH, Urteil vom 12. Juli 1967 - V ZR 61/64 -, juris, Rn. 11 ff.; OVG Schl.-H., Beschluss vom 7. September 1995 - 4 M 84/95 -, juris, Rn. 2; VG Gera, Urteil vom 14. Januar 2004 - 2 K 1853/98.GE -, juris, Rn. 33; VG Köln, Beschluss vom 12. Mai 2016 - 18 L 682/16 -, juris, Rn. 21 ff. (jeweils m. w. N. auch zur Gegenmeinung); vgl. zum Streitstand überdies: Majcherek, in: Hengst/Majcherek, StrWG NRW, Kommentar, Loseblatt-Sammlung (Stand: Februar 2020), § 6 Rn. 6.4; Bay. VGH, Beschluss vom 8. August 2T.-Straße - 8 ZB 00.1744 -, juris, Rn. 7 f.; Nds. OVG, Urteil vom 13. September 2012 - 7 LB 84/11 -, juris, Rn. 30; Ramsauer, in: Kopp/ Ramsauer, VwVfG, Kommentar, 20. Auflage 2019, § 44 Rn. 21 und 30.
68Die Umstände des vorliegenden Einzelfalls gebieten keine hiervon abweichende Bewertung. Denn ein besonders grober, schlechthin unerträglicher Rechtsverstoß, der nicht nur die Rechtswidrigkeit der Widmung begründet, sondern zu ihrer Unwirksamkeit führt, lässt sich hier nicht feststellen. Die Bewertung der im Namen der Klägerin abgegebenen Erklärungen durch die Beklagte mag rechtsfehlerhaft gewesen sein. Dass sich die Beklagte aber willkürlich und missbräuchlich über die klägerischen Interessen hinweggesetzt und bewusst ohne deren erforderliche Zustimmung die Widmung vorgenommen und die Klägerin hierdurch ohne Rechtsgrund faktisch enteignet hat, ergibt sich zur Überzeugung der Kammer aus dem ihr bekannten Akteninhalt nicht.
69aa. Die Zustimmung des Eigentümers zur Widmung einer Straße auf seinem Grundstück ist eine empfangsbedürftige, grundsätzlich nach Zugang unwiderrufliche Willenserklärung, für die keine Form vorgeschrieben ist. Auch wenn sie dem öffentlichen Recht angehört, sind bei ihrer Auslegung die Grundsätze der §§ 133 ff. BGB anwendbar. Aus der Formfreiheit der Zustimmung folgt, dass sie sowohl schriftlich als auch mündlich oder durch schlüssiges Verhalten abgegeben werden kann. Schon im Hinblick auf die Auswirkungen der Zustimmung für den Grundstückseigentümer muss ihr aber ein dem Art. 6 Abs. 5 StrWG NRW entsprechender Erklärungsinhalt zu entnehmen sein, d. h., die - ausdrücklich oder konkludent gegebene - Zustimmung muss das Einverständnis des Grundstückseigentümers enthalten, dass auf einer näher bestimmten Fläche mit seiner Billigung öffentlicher Verkehr stattfinden soll. Ist eine Erklärung in sich widersprüchlich oder nicht hinreichend klar, so kann sie nicht die Voraussetzung für eine straßenrechtliche Widmung bilden.
70Vgl. Bay. VGH, Urteil vom 28. August 2002 - 8 B 97.2432 -, juris, Rn. 15, m. w. N. Herber, in: Kodal/Krämer, Straßenrecht, 7. Auflage 2010, Kapitel 8, Rn. 16 ff.; Sauthoff, Öffentliche Straßen, 2. Auflage 2010, Rn. 46 ff.
71bb. Dies zugrunde legend geht die Kammer nach dem Akteninhalt und dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung von Folgendem aus:
72(1) Eine Zustimmung der Klägerin zur Nutzung ihrer Grundstücksflächen 0000 und 0001 für den Betrieb einer Bushaltestelle ist - entgegen der im Verfahren geäußerten Annahme der Beklagten - nicht bereits dem Schreiben der Stadtentwicklung A. GmbH & Co. KG vom 2. März 2005 und der auf diesem Schreiben und im Auftrag der L. S. GmbH erfolgten „Bestätigung“ des Inhalts des Schreibens durch den Architekten J. H. zu entnehmen (vgl. Beiakte I, Bl. 5 f.). Denn zum damaligen Zeitpunkt war noch keine Rede davon, die ursprünglich für den Bereich der Flurstücke 0010 und 0011 vorgesehene Bushaltestelle nach Süden zu verlagern. Dies ergibt sich unzweifelhaft aus Ziffer 3. des Schreibens vom 2. März 2005. Denn die dort angesprochene „nach Abzug der für die Anlegung einer Bushaltestelle verbleibende Restfläche von 320 m²“ des Flurstücks 002, die von der L. S. GmbH erworben werden sollte, entspricht dem später tatsächlich erworbenen Flurstück 003, das nach Grundstücksteilung zu den Flurstücken 0002 und 0001 geworden ist. Die „für die Anlegung einer Bushaltestelle“ ausgenommenen Teilflächen entsprechen den im Eigentum der Stadt A. stehenden Flurstücken 0010 und 0011. Hier sollte nach damaliger Vorstellung die Bushaltestelle errichtet werden. Diese Planung ist später jedoch gerade nicht verwirklicht worden.
73(2) Im Zuge der im Jahr 2009 aufgenommenen Baumaßnahmen für die Kreisstraße kam es wiederholt zu Gesprächen zwischen der Klägerin und der Stadt A. sowie dem Kreis M. über die Schaffung einer weiteren Zufahrt zum östlichen Teil des Betriebsgeländes der Klägerin (Flurstück 0007) über die im Eigentum der Stadt A. stehenden Flurstücke 0010 und 0011. Zu diesem Zweck sollte die ursprünglich für den Bereich der Flurstücke 0010 und 0011 vorgesehene Bushaltestelle an der Kreisstraße nach Süden verlagert werden. Eine von der Klägerin im Verlauf der Gespräche signalisierte grundsätzliche Bereitschaft, für die Errichtung der nach Süden zu verlagernden Bushaltestelle ihre Flurstücke 0000 und 0001 zur Verfügung zu stellen, war ersichtlich getragen von der Erwartung, im Gegenzug die Zufahrtsmöglichkeit über die Flurstücke 0010 und 0011 zu erhalten. Offenbar vor diesem Hintergrund erteilte Herr B. P. dem Kreis M. mit Schreiben vom 21. April 2009 „unsere Zustimmung zu dem von Ihnen vorgelegten Konzept vom 10.3.2009 (sh. Anlage 1): Optimierte Lage der Bushaltestelle an der östlichen L.-Grundstücksgrenze“ und zu „dem dadurch notwendigen Grunderwerb“ (vgl. Beiakte I, Bl. 11 f.). Aufgrund dieser unter Bezugnahme auf eine beigefügte Planskizze, in der das streitgegenständliche Flurstück 0000 mit „Grunderwerb L.“ gekennzeichnet war, abgegebenen Erklärung war die Beklagte damals davon ausgegangen, dass Herr P. im Namen der L. S. GmbH einer Inanspruchnahme der Flurstücke 0000 und 0001 für den Betrieb einer Bushaltestelle zugestimmt hatte.
74Vgl. zur Berücksichtigung des maßgeblichen Empfängerhorizonts im Rahmen der Auslegung einer Willenserklärung Bay. VGH, Urteil vom 28. August 2002 - 8 B 97.2432 -, juris, Rn. 15.
75Die Vertretungsvollmacht des Herrn P. war allerdings ausweislich der Akten nicht durch die Vorlage einer schriftlichen Vollmacht nachgewiesen. Die Wirksamkeit der von ihm erteilten - und grundsätzlich bedingungsfeindlichen - Zustimmung war überdies angesichts der auch aus dem Betreff des Schreibens vom 21. April 2009 deutlich werdenden Verknüpfung der Zustimmung mit der Schaffung einer „Zufahrt zum L.-Grundstück an der östl. Grenze“ jedenfalls Bedenken ausgesetzt. Zutreffend weist die Klägerin überdies darauf hin, dass diese Zustimmung nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der L. S. GmbH erklärt worden ist. Dass der Insolvenzverwalter Herrn P. zur Abgabe der Erklärung ermächtigt oder diese nachträglich genehmigt hat, ergibt sich aus der Akte nicht. Da sich die Erklärung, die eine Zustimmung zur Inanspruchnahme der Grundstücksflächen 0000 und 0001 für den Betrieb einer Bushaltestelle und damit zu einer Einschränkung der Nutzbarkeit der Grundstücksflächen beinhaltete, wohl auf die Insolvenzmasse auswirkte, spricht Vieles dafür, dass die Zustimmung (jedenfalls) im Zeitpunkt ihrer Erklärung nach § 81 Abs. 1 InsO unwirksam war.
76Vgl. Vuia, in: Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, 4. Auflage 2019, § 81 Rn. 3 ff., 13, vgl. aber auch Rn. 18 (zum Wirksamwerden einer zunächst unwirksamen Verfügung nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens); vgl. überdies, die Unwirksamkeit für den Fall eines Veräußerungsverbots nach § 23 ZVG verneinend: VG Gera, Urteil vom 14. Januar 2004 - 2 K 1853/98.GE -, juris, Rn. 35.
77Dies hätte die Beklagte, die von der Eröffnung des Insolvenzverfahrens Kenntnis hatte, ohne weiteres erkennen können. Dass sie die Unwirksamkeit der Erklärung des Herrn P., der nach ihren nicht widerlegten Angaben in der Vergangenheit mehrfach und wiederholt als Ansprechpartner der L. S. GmbH aufgetreten war und nach einer ihr zur Kenntnis gebrachten E-Mail vom 26. März 2009 die Frage der Zustimmung zuvor mit dem Insolvenzverwalter hatte abstimmen wollen (vgl. Beiakte I, Bl. 8 = Gerichtsakte Bl. 136), tatsächlich kannte und sich bewusst und missbräuchlich hierüber hinweggesetzt hat, ist jedoch nicht erkennbar.
78(3) Zudem hatte am 10. August 2012 der Architekt J. H. im Namen der L. S. GmbH die Ergebnisse eines zuvor vor Ort durchgeführten Grenztermins vom 7. August 2012 anerkannt (vgl. Beiakte I, Bl. 22 f.). Damit war zwar keine ausdrückliche Zustimmung in eine damals - also mehr als ein Jahr nach der Freigabe der Kreisstraße für den öffentlichen Verkehr - vor Ort bereits ohne weiteres erkennbare Nutzung der Grundstücksflächen 0000 und 0001 als Bushaltestelle erklärt worden. Die Beklagte musste aber auch nach diesem Grenztermin, der zu einem Zeitpunkt stattgefunden hat, als das Insolvenzverfahren und damit auch das insolvenzrechtliche Verfügungsverbot bereits aufgehoben war, keinen Anlass haben, an einem Fortbestehen der aus ihrer Sicht bereits erteilten Zustimmung zur Nutzung der Grundstücksflächen als Bushaltestelle zu zweifeln. Soweit die Klägerin darauf verweist, die schriftliche Vollmacht vom 25. September 2012 habe Herrn H. allein zur Beantragung und Vornahme von Akteneinsicht in behördliche Akten ermächtigt, übersieht sie, dass ihr Geschäftsführer unter dem 28. September 2012 ausdrücklich die zuvor mündlich erteilte Vollmacht für Herrn J. H., die L. S. GmbH im Grenztermin vom 10. August 2012 - und zwar ohne eine Beschränkung auf Handlungen im Zusammenhang mit einer Einsichtnahme in Behördenakten - zu vertreten, schriftlich bestätigt hat (vgl. Beiakte I, Bl. 24).
79(4) Zweifel an der Erteilung einer Zustimmung mussten ausweislich des Akteninhalts allerdings am 5. Dezember 2013 aufkommen, als in einer gemeinsamen Besprechung der Beteiligten u. a. auch der Vorwurf einer unberechtigten Inanspruchnahme der Grundstücke der Klägerin für den Bau der Bushaltestelle erhoben wurde. Aus dem Umstand, dass die Beklagte diesen Vorwurf ausweislich des über die Besprechung gefertigten „Vermerks“ jedoch unter Verweis auf eine in den Jahren 2005 und 2009 erteilte Zustimmung der Klägerin zurückgewiesen hat (vgl. Beiakte I, Bl. 17 ff.), folgt zugleich, dass sie offenbar davon ausging, die Zustimmung sei wirksam erteilt.
80(5) Soweit die Klägerin sich darauf beruft, im Zeitpunkt der Auflassung des Flurstücks 002 (nach späterer Grundstücksteilung Flurstücke 0002 und 0001) im Januar 2012 sei dieses Grundstück bereits für die Anlage der Bushaltestelle in Anspruch genommen worden, weshalb es sich zum einen als rechtsmissbräuchlich erweise, dieses Flurstück als „unbebaut“ und „dinglich unbelastet“ zu übereignen, und zum anderen nicht nachvollziehbar sei, weshalb die Beklagte im Jahr 2009 überhaupt die Zustimmung der Klägerin habe erwirken wollen, die zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht Eigentümerin des Flurstücks 0001 gewesen sei, führt auch dieser Einwand nicht zur Annahme eines besonders schwerwiegenden Fehlers der Widmung. Das gleiche gilt für ihren Vortrag, die Beklagte habe im Dezember 2013 versucht, die Umschreibung des Flurstücks 0000 durch Einflussnahme auf den Notar „auf kaltem Wege“ und damit rechtsmissbräuchlich zu erreichen. Denn zum einen war die Beklagte hinsichtlich des Erwerbs des Flurstücks 0001 bereits nicht Vertragspartnerin der Klägerin, dies war vielmehr die Stadt A.. Zum anderen steht auch der für Dezember 2013 beschriebene Vorgang betreffend das Flurstück 0000 in keinem direkten Zusammenhang mit der vorliegend relevanten Frage, ob die Klägerin eine grundsätzlich unwiderrufliche Zustimmung zur Inanspruchnahme ihres Grundstücks bereits erteilt hatte bzw. die Beklagte - möglicherweise rechtswidrig - im Zeitpunkt der Vornahme der Widmung im Jahr 2014 von (dem Fortbestehen) einer solchen Zustimmung ausgegangen war.
81cc. Vor dem Hintergrund dieser Feststellungen ist der vorliegende Fall - anders als die Klägerin meint - nicht mit der Sachverhaltskonstellation vergleichbar, die der Entscheidung des Niedersächsischen OVG aus dem Jahr 2012 zugrunde lag. In dem dort zur Entscheidung stehenden Fall hatte sich u. a. aus einem internen Vermerk ergeben, dass nach Auffassung der Behörde die beabsichtigte Widmung rechtswidrig sei, da keine Zustimmung der Grundstückseigentümerin vorliege. Gleichwohl wurde die Widmung vorgenommen. Die Behörde hatte nach den Feststellungen des Niedersächsischen OVG in voller Kenntnis der Rechtswidrigkeit ihres Vorgehens gehandelt, um unter Missbrauch der Regelungen über die Bestandskraft von Verwaltungsakten und Umgehung der gesetzlichen Regelungen des Straßengesetzes die Eigentümerin faktisch entschädigungslos zu enteignen. Dass ein derart gravierender Verstoß gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten keinesfalls akzeptabel ist, wie das Niedersächsische OVG meint,
82vgl. Nds. OVG, Urteil vom 13. September 2012 - 7 LB 84/11 -, juris, Rn. 32 und 00,
83liegt auf der Hand und wird von der erkennenden Kammer nicht anders beurteilt. Im vorliegenden Fall fehlt es jedoch an belastbaren Anhaltspunkten für ein vorsätzliches und missbräuchliches Agieren der Beklagten. Dass sie möglicherweise rechtswidrig gehandelt hat, weil sie die Widmung ohne eine wirksame Zustimmung vorgenommen hat, reicht für eine Nichtigkeit - wie dargelegt - nicht aus. Ihr Vortrag, im Zeitpunkt der Widmung von der Wirksamkeit der Zustimmung ausgegangen zu sein, ist nicht widerlegt und wird vom Inhalt der Akten zudem gestützt.
843. Die Klägerin war und ist als Eigentümerin der in Anspruch genommenen Grundstücksflächen auch nicht rechtsschutzlos gestellt. Bis zu der im Jahr 2014 erfolgten und nach dem zuvor Gesagten eine Duldungspflicht begründenden Widmung hätte sie der seit dem Jahr 2011 und damit immerhin schon mehrere Jahre andauernden Nutzung als Bushaltestelle ausdrücklich widersprechen und unter Berufung auf eine nicht erteilte Zustimmung die Unterlassung der Nutzung und die Beseitigung der Bushaltestelle nebst Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands verlangen und ggf. im Klageweg durchsetzen können.
85Vgl. etwa Sauthoff, Öffentliche Straßen, 2. Auflage 2010, Rn. 171.
86Überdies sieht das Gesetz für den Fall des Auseinanderfallens von Eigentum am Straßengrundstück und Straßenbaulast auf Antrag des Eigentümers eine fristgebundene Erwerbspflicht des Straßenbaulastträgers vor (vgl. § 11 Abs. 2 StrWG NRW). Die für die Erwerbspflicht normierte Fünf-Jahres-Frist ist vorliegend zwar inzwischen abgelaufen. Die Beklagte hat im Klageverfahren jedoch deutlich gemacht, nach wie vor zu einem Erwerb der Grundstücke zum Verkehrswert bereit zu sein.
87Im Übrigen bleibt es der Klägerin unbenommen, gegebenenfalls etwaige Schadensersatz- oder Entschädigungsansprüche vor den ordentlichen Gerichten geltend zu machen.
88II. Aus den dargelegten Gründen bleiben auch der geltend gemachte Herausgabe- und der Unterlassungsanspruch ohne Erfolg, ohne dass es darauf ankäme, ob diesen Ansprüchen neben dem zur Entscheidung gestellten umfassenden Folgenbeseitigungsanspruch überhaupt eine eigenständige Bedeutung zukommt. Jedenfalls steht die dargelegte Duldungspflicht der Klägerin diesen Ansprüchen ebenfalls entgegen (vgl. auch §§ 986 Abs. 2, 1004 Abs. 2 BGB).
89Vgl. hierzu Sauthoff, Öffentliche Straßen, 2. Auflage 2010, Rn. 135.
90III. Soweit die Klägerin hilfsweise begehrt, die Nichtigkeit der Widmung der Kreisstraße festzustellen, bleibt auch diesem Antrag der Erfolg verwehrt. Wie zuvor bereits im Einzelnen ausgeführt, ist die Widmung entgegen der Auffassung der Klägerin nicht nichtig.
91C. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über ihre vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. § 709 Sätze 1 und 2 ZPO.
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Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei.
Gründe:
1I.
2Der Antragsteller in seiner Eigenschaft als Insolvenzverwalter wendet sich gegen die Festsetzung der auf die Masseverbindlichkeiten entfallenden Einkommensteuer für das Jahr 2018.
3Über das Vermögen der Frau K. (im Folgenden: Insolvenzschuldnerin) wurde mit Beschluss des Amtsgerichts R-Stadt vom 10.08.2018 (Az. x IK xxx/18) das Insolvenzverfahren eröffnet und der Antragsteller zum Insolvenzverwalter ernannt. Die Insolvenzschuldnerin bezog im Streitjahr ausschließlich Elterngeld und keine anderweitigen Einkünfte.
4Mit Zustimmung des Antragstellers wurde die Insolvenzschuldnerin im Streitjahr zusammen mit ihrem – im Streitjahr nichtselbständig erwerbstätigen – Ehemann zur Einkommensteuer veranlagt (§§ 26, 26b des Einkommensteuergesetzes - EStG -).
5Mit Bescheid über die Masseverbindlichkeiten (§§ 53, 55 der Insolvenzordnung - InsO -) für das Jahr 2018 zur Einkommensteuer und zum Solidaritätszuschlag vom 14.08.2019 setzte das Finanzamt R-Stadt die auf die Masseverbindlichkeiten entfallende Einkommensteuer auf 278,91 € fest, wovon nach Abzug der Lohnsteuer des Ehemannes der Insolvenzschuldnerin noch ein Betrag in Höhe von 121,10 € verblieb. Die der Steuerfestsetzung zugrunde liegende Verteilung der Einkünfte des Ehemannes der Insolvenzschuldnerin auf die verschiedenen insolvenzrechtlichen Vermögensbereiche ergab sich aus einem dem Steuerbescheid beigefügten Berechnungsblatt, auf das wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird.
6Ebenfalls mit Datum vom 14.08.2019 erließ das Finanzamt R-Stadt gegenüber dem Antragsteller, der zuvor einen entsprechenden Antrag gestellt hatte, einen Aufteilungsbescheid gemäß §§ 268 ff. der Abgabenordnung (AO), wonach die auf die Insolvenzschuldnerin entfallende, d.h. aus der Insolvenzmasse zu zahlende, Steuer 0,00 € betrug.
7Den gegen den Bescheid über die Masseverbindlichkeiten für das Jahr 2018 zur Einkommensteuer und zum Solidaritätszuschlag gerichteten Einspruch des Antragstellers, mit welchem dieser sich gegen die Festsetzung der auf die Masseverbindlichkeiten entfallenden Einkommensteuer wendete, wies das Finanzamt R-Stadt mit Einspruchsentscheidung vom 24.01.2020 als unbegründet zurück.
8In seinem isolierten Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe hat der Antragsteller angekündigt, sein Begehren durch Klageerhebung weiterverfolgen zu wollen.
9Der Antragsteller beantragt sinngemäß,
10ihm Prozesskostenhilfe für das beabsichtigte Klageverfahren unter Beiordnung der xxx zu bewilligen.
11Das Finanzamt R-Stadt ist der Auffassung, dass die beabsichtigte Klage keine Aussicht auf Erfolg habe, insbesondere, da diese aufgrund des erlassenen Aufteilungsbescheides unzulässig sei.
12II.
13Der Antrag hat keine Aussicht auf Erfolg.
14Gemäß § 142 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) erhält ein Antragsteller, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
15Eine hinreichende Erfolgsaussicht liegt vor, wenn nach Aktenlage bei summarischer Prüfung eine gewisse Wahrscheinlichkeit für ein Obsiegen des Antragstellers in der Hauptsache spricht; das Gericht muss bei überschlägiger Betrachtung den Rechtsstandpunkt des Antragstellers nach dessen Sachdarstellung und dem Inhalt der vorhandenen Akten für zutreffend oder zumindest vertretbar halten und/oder in tatsächlicher Hinsicht von der Möglichkeit der Beweisführung überzeugt sein (Beschluss des Bundesfinanzhofs vom 29.03.2000 XI B 147/99, BFH/NV 2000, 952).
16Das ist hier nicht der Fall. Die angekündigte Klage ist bei summarischer Prüfung unzulässig.
17Dem Antragsteller fehlt das Rechtsschutzbedürfnis. Denn das eigentliche Klageziel, aus der Insolvenzmasse keine Einkommensteuer entrichten zu müssen, hat der Antragsteller durch seinen Aufteilungsantrag und den anschließenden Erlass des Aufteilungsbescheides bereits erreicht (vgl. hierzu Sächsisches Finanzgericht, Urteil vom 13.08.2014 8 K 219/14, juris; Finanzgericht Berlin, Beschluss vom 30.08.1991 VI 342/88, EFG 1992, 150) . Ausweislich des Aufteilungsbescheides ist im Streitfall aus der Insolvenzmasse keine Einkommensteuer zu zahlen. Anhaltspunkte dafür, dass eine Steuererstattung angestrebt wird bzw. überhaupt möglich ist, sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
18Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass die Aufteilung der Gesamtschuld nach §§ 268 AO grundsätzlich dem Vollstreckungsverfahren zuzuordnen ist. Denn der Antrag auf Aufteilung der Gesamtschuld hat nicht nur vollstreckungsrechtliche Bedeutung. Er bewirkt vielmehr im Hinblick auf die gesamte Verwirklichung des Steueranspruchs eine Beschränkung auf den für jeden Ehegatten im Aufteilungsbescheid ausgewiesenen Betrag (vgl. Bundesfinanzhof – BFH – Beschluss vom 17.11.2009 VI B 118/09, BFH/NV 2010, 604).
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Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Duisburg vom 01.09.2020 wird zurückgewiesen.
1Gründe:
2Die zulässige Beschwerde ist unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Klageverfahren abgelehnt.
3Nach § 73a Abs. 1 SGG iVm § 114 ZPO erhält ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Eine hinreichende Erfolgsaussicht ist anzunehmen, wenn das Gericht den Rechtsstandpunkt des Klägers aufgrund der Sachverhaltsschilderung und der vorliegenden Unterlagen für zutreffend oder zumindest für vertretbar hält und in tatsächlicher Hinsicht von der Möglichkeit der Beweisführung überzeugt ist (Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl., § 73a Rn. 7, 7a). Zutreffend hat das Sozialgericht bereits das Rechtsschutzbedürfnis für die Klage und damit eine hinreichende Erfolgsaussicht verneint. Insoweit wird zunächst auf die Gründe der angefochtenen Entscheidung Bezug genommen (§ 142 Abs. 2 Satz 3 SGG).
4Daneben weist der Senat auf Folgendes hin:
5Die Klage ist auch unbegründet, denn die vom Kläger begehrte Beratung ist durch den Beklagten bereits durchgeführt worden. Der Kläger bat um Beratung hinsichtlich des Vollstreckungsbescheides der J Finance E, E1, vom 16.06.2020 bei dem Amtsgericht C über einen Betrag iHv 1.631,31 EUR. Diesem Vollstreckungsbescheid liegt eine Rechnung der Fa. M SE wegen Versorgungsleistungen für "Strom, Wasser, Gas, Wärme" vom 26.04.2019 iHv 1.345,31 EUR (Vertragsnummer: 000) zugrunde, die die J Finance E im Wege des Factorings erworben haben will. Der Kläger will wissen, warum es zu einer offenen Forderung der Fa. M SE gekommen ist und was er insoweit für die Zukunft zu beachten hat.
6Diesbezüglich hat der Beklagte dem Kläger mit Schreiben vom 21.07.2020 bereits mitgeteilt, dass die Erdgasversorgung in der Zeit vom 01.05.2017 bis 30.04.2018 über die Stadtwerke F AG (Kundennummer 00/ Vertragsnummer 000) und die Stromversorgung in der Zeit vom 01.08.2014 bis 28.02.2019 über die J1 SE (Vertragsnummer X 00) bzw. ab dem 01.03.2019 über die Fa. M SE (Vertragsnummer 00) erfolgte, wobei der monatliche Abschlag für Strom iHv 88,10 EUR für die Fa. M SE seit dem 01.03.2019 auf Wunsch des Klägers (persönliche Vorsprache vom 19.02.2019) unmittelbar vom Regelbedarf des Klägers und seiner Familie abgezweigt wird. Bereits mit Schreiben vom 08.07.2020 hat der Beklagte den Kläger ferner darüber unterrichtet, dass eine Übernahme etwaiger Stromschulden mangels drohender Versorgungssperre nicht in Betracht komme. Zwischen den Beteiligten ist weiter unstreitig, dass die Frischwasserzufuhr für die Wohnung des Klägers über den Vermieter als Betriebskostenposition abgerechnet wird (vgl. Abrechnung der T Verwaltung GmbH & Co. Grundstücks KG vom 06.02.2019).
7Soweit der Kläger mithin Aufklärung (Ursachenfeststellung, Klärung für die Zukunft) hinsichtlich der "Strom, Wasser, Gas"-Abrechnung der Fa. M SE vom 26.04.2019 erbat, ist zu konstatieren, dass eine Wasser- und Gasversorgung seitens der M SE ausscheidet, da insoweit andere Anbieter die Versorgung der klägerischen Wohnung sicherstellen. Hinsichtlich der Stromversorgung hat der Beklagte den Kläger umfassend und im Rahmen seiner Möglichkeiten zu dem Stromlieferungsvertrag mit der Vertragsnummer 000 beraten. Zu einer weiteren Beratung zu etwaigen weiteren Strombelieferungsverträgen mit der Fa. M SE unter der Vertragsnummer 000 war der Beklagte mangels entsprechender Unterrichtung durch den Kläger nicht in der Lage, u.a. weil der Kläger auf Mitwirkungsschreiben des Beklagten vom 21.01.2019, 13.02.2019 und 20.02.2019 nicht reagiert hat. Da der Kläger Originalunterlagen nicht mehr im Besitz haben will, sind auch weitere Beratungen zu der Ursache der Stromschulden unter der Vertragsnummer 000 derzeit nicht möglich. Hinsichtlich der Konsequenzen für die Zukunft hat der Beklagte den Kläger darüber unterrichtet, dass seit dem 01.03.2019 laufende Stromabschläge unter der Vertragsnummer 000 unmittelbar vom Beklagten an die Fa. M SE bis zur Klageerhebung erbracht worden sind und zuletzt angefragt, ob über August 2020 hinaus weiter abgezweigt werden soll (Schreiben vom 31.07.2020).
8Zu einer zivilrechtlichen Beratung zur Möglichkeit des Einspruchs gegen den Vollstreckungsbescheid und zur Berechtigung der Forderung und Forderungsabtretung war der Beklagte weder befugt noch verpflichtet (Lilge, SGB I, 4. Aufl., § 14 Rn 36).
9Die schriftliche Beratung durch den Beklagten ist ausreichend. Einen Formzwang sieht § 14 SGB I nicht vor (Lilge, SGB I, 4. Aufl., § 14 Rn. 25). Insbesondere in Fällen, in denen das Anliegen der Ratsuchenden im Rahmen einer mündlichen Beratung nicht zu klären ist oder zu viel Zeitaufwand erfordern würde, kann auf die Möglichkeit einer schriftlichen Anfrage verwiesen werden (vgl. BSG Urteil vom 24.06.1982 - 12 RK 11/81).
10Kosten im Beschwerdeverfahren gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe sind nicht erstattungsfähig (§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG iVm § 127 Abs. 4 ZPO).
11Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).
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Tenor
Die Beschwerde der Kläger gegen den Beschluss des Sozialgerichts Köln vom 09.09.2020 wird zurückgewiesen.
1Gründe:
2I.
3Die Kläger begehren im Wege der Beschwerde Prozesskostenhilfe für ein Untätigkeitsklageverfahren.
4Die am 00.00.1989 geborene Klägerin und der am 00.00.1990 geborene Kläger sind miteinander verheiratet. Am 27.02.2019 beantragten die Kläger Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. In den Antragsbögen gaben sie unter dem 15.03.2019 an, sie lebten zu einer Pauschalmiete von 500 EUR bei den Eltern der Klägerin. Die Klägerin arbeite auf Basis von 30 Stunden/Woche und verdiene monatlich gleichbleibend 1.550 EUR brutto/ 1.145,73 EUR netto. Sie sei schwanger; der ausgerechnete Entbindungstermin sei am 15.05.2019. Der Kläger sei arbeitslos und werde ab April 2019 auf geringfügiger Basis beschäftigt sein. Er sei beitragsfrei über die Klägerin familienversichert. Den Antragsvordrucken war eine Bescheinigung der Eltern der Klägerin vom 13.03.2019 beigefügt, die angaben, mit den Klägern in Haushaltsgemeinschaft zu leben. Die Kläger würden sich mit monatlich 500 EUR an den Wohn- und Lebenshaltungskosten beteiligen. Es bestehe eine getrennte Haushaltsführung, jedoch kein getrennter Wohnraum.
5Der Beklagte bat entsprechend § 9 Abs. 5 SGB II um die Darlegung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Eltern der Klägerin.
6Mit Schreiben vom 29.03.2019 teilte die Klägerin mit, dass sie bezugnehmend auf die Antragsbegründung vom 15.03.2019 nach reichlicher Überlegung gezwungen sei, ihren Antrag auf Leistungen des Jobcenters zurückzuziehen. Sie bat die Kosten für den Sprachkurs des Klägers zu übernehmen.
7Mit Schreiben vom 01.04.2019 teilte der Beklagte mit, dass er die Antragsrücknahme registriert habe. Den Antrag auf Durchführung des Sprachkurses habe er an die Arbeitsvermittlung weitergeleitet.
8Mit Schreiben vom 11.04.2019 bestellte sich die Prozessbevollmächtigte der Kläger für diese und erklärte, dass die Antragsrücknahme vom 29.03.2019 revidiert werde. Es würden weiterhin Leistungen ab Februar 2019 begehrt.
9Mit Bescheid vom 24.05.2019 bewilligte der Beklagte den Klägern daraufhin Leistungen für April 2019 iHv 331,14 EUR. Aufgrund des Schreibens der Rechtsanwältin vom 11.04.2019 würden Leistungen gemäß § 37 SGB II ab April 2019 erbracht. In dem Bewilligungsbescheid führte der Beklagte aus:
10"Bitte beachten Sie:
11Mit Schreiben vom 29.03.2019 haben Sie den Antrag vom 27.02.2019 ausdrücklich zurückgenommen, weshalb für Februar und März 2019 keine Bewilligung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts möglich ist. Die Rücknahme eines Antrags kann nicht widerrufen werden."
12Mit weiteren Bescheid vom 24.05.2019 bewilligte der Beklagte den Klägern und dem zwischenzeitlich am 15.05.2019 geborenen Sohn der Kläger Leistungen für Mai 2019 bis Oktober 2019.
13Auf die Widersprüche vom 04.06.2019 gegen die Bescheide vom 24.05.2019 half der Beklagte dem Widerspruch für die Monate Mai 2019 bis Oktober 2019 unter dem 26.09.2019 insoweit ab, als in diesen Monaten höhere Leistungen bewilligt wurden. Mit Widerspruchsbescheid vom 26.09.2019 wies der Beklagte den Widerspruch gegen den Bescheid vom 24.05.2019 hinsichtlich April 2019 als unbegründet zurück. Gegen diese Bescheide vom 26.09.2019 haben die Kläger nicht geklagt.
14Am 26.11.2019 haben die Kläger bei dem Sozialgericht Köln Untätigkeitsklage erhoben. Der Beklagte habe über den Antrag hinsichtlich der Monate Februar 2019 und März 2019 nicht entschieden. Für das Untätigkeitsklageverfahren haben die Kläger Prozesskostenhilfe beantragt.
15Am 03.03.2020 haben die Kläger hinsichtlich des Bescheides vom 24.05.2019 für April 2019 hilfsweise einen Überprüfungsantrag gestellt, weil der Beklagte in den Monaten Februar 2019 und März 2019 keine Leistungen bewilligt hat.
16Mit Beschluss vom 09.09.2020 hat das Sozialgericht den Antrag auf Prozesskostenhilfe abgelehnt. Eine Untätigkeit hinsichtlich des Antrags bezüglich Februar 2019 und März 2019 sei nicht gegeben.
17Gegen den ihnen am 14.09.2020 zugestellten Beschluss vom 09.09.2020 haben die Kläger am 21.09.2020 Beschwerde eingelegt. Die Kläger seien falsch beraten worden. Es sei erkennbar, dass die Klägerin nur wegen dieser falschen Beratung den Leistungsantrag zurückgenommen habe. Der Kläger habe keine Rücknahme erklärt.
18II.
19Die Beschwerde ist jedenfalls unbegründet. Im Ergebnis zu Recht hat das Sozialgericht den Antrag auf Prozesskostenhilfe abgelehnt.
20Nach § 73a Abs. 1 SGG iVm § 114 ZPO erhält ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Eine hinreichende Erfolgsaussicht ist anzunehmen, wenn das Gericht den Rechtsstandpunkt des Klägers aufgrund der Sachverhaltsschilderung und der vorliegenden Unterlagen für zutreffend oder zumindest für vertretbar hält und in tatsächlicher Hinsicht von der Möglichkeit der Beweisführung überzeugt ist (Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl., § 73a Rn. 7, 7a).
21Die Untätigkeitsklage hat in diesem Sinne keine hinreichende Erfolgsaussicht.
22Gemäß § 88 Abs. 1 Satz 1 SGG gilt: Ist ein Antrag auf Vornahme eines Verwaltungsakts ohne zureichenden Grund in angemessener Frist sachlich nicht beschieden worden, so ist die Klage nicht vor Ablauf von sechs Monaten seit dem Antrag auf Vornahme des Verwaltungsakts zulässig. Hier kann nicht konstatiert werden, dass der Beklagte sachlich nicht über den Leistungsantrag der Kläger für Februar 2019 und März 2019 entschieden hat. In dem Bescheid vom 24.05.2019, mit dem Leistungen für April 2019 bewilligt wurden, wurde zugleich ausdrücklich mitgeteilt, dass keine Leistungen für Februar 2019 und März 2019 bewilligt wurden, weil der Antrag insoweit zurückgenommen worden sei und ein Widerruf dieser Rücknahme nicht möglich sei. Damit hat der Beklagte sachinhaltlich (ablehnend) auch für die Monate Februar 2019 und März 2019 entschieden. Ob diese Entscheidung materiell-rechtlich zutreffend ergangen ist, ist nicht Gegenstand einer Untätigkeitsklage (Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl., § 88 Rn. 4). Das haben letztlich auch die Kläger eingeräumt, die im Hinblick auf den ablehnenden Teil des Bescheides vom 24.05.2019 für Februar 2019 und März 2019 zwischenzeitlich unter dem 03.03.2020 einen Überprüfungsantrag gestellt haben.
23Kosten im Beschwerdeverfahren gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe sind nicht erstattungsfähig (§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG iVm § 127 Abs. 4 ZPO).
24Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).
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Tenor
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Detmold vom 28.04.2020 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.
1Gründe:
2I.
3Der Antragsteller wendet sich mit Beschwerde gegen einen Beschluss, mit dem das Sozialgericht eine Verpflichtung des Antragsgegners zur Zahlung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts im Wege der einstweiligen Anordnung abgelehnt hat.
4Der 1968 im Libanon geborene Antragsteller bezog beim Antragsgegner Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Zuletzt bewilligte der Antragsgegner ihm Leistungen in Bedarfsgemeinschaft mit seiner Ehefrau C C1 und seiner Tochter N T C1 für die Zeit vom 01.10.2018 bis zum 30.09.2019. Im Sommer 2019 trennte sich der Antragsteller von seiner Familie. Im August 2019 übersandte er dem Antragsgegner auf Aufforderung Kontoauszüge seines Kontos bei der Commerzbank vom 05.01.2019 bis zum 05.07.2019. Diese wiesen am 16.01.2019 eine Gutschrift über 6000 EUR mit dem Verwendungszweck "B C1 Autokaufen" und am 21.01.2019 eine weitere Bareinzahlung über 19000 EUR mit dem Verwendungszweck "B C1 LMC Luxus 510 MD, Wohnwagen" aus. Den Einzahlungen folgten kurzfristig Barauszahlungen (am 17.01.2019 über 2000 EUR und 4000 EUR sowie am 21.01.2019 über 15000 EUR und am 23.01.2019 über 2000 EUR). Bis einschließlich Juli 2019 weisen die Kontoauszüge monatliche Zahlungen an die ING-DiBa AG über ca. 365 EUR aus (250 EUR zuzüglich 115 EUR Zinsen) Mit Schreiben vom 09.08.2019 forderte der Antragsgegner den Antragsteller auf, bis zum 21.08.2019 Stellung zu den Zahlungseingängen zu nehmen und Belege beizufügen. Sofern dies nicht geschehe, würden die Leistungen bis zur Nachholung der Mitwirkung entzogen. Mit Schreiben vom 16.08.2019 erklärte der Antragsteller, seine im Libanon lebende Mutter sei Ende 2018 schwer erkrankt. Daraufhin habe er bei der ING-DiBa AG einen Kredit über 25000 EUR beantragt. Er habe die Summe verwendet, um zu seiner Mutter in den Libanon zu fliegen, die dort entstandenen Krankenhauskosten zu zahlen und um nach ihrem Tod die Beerdigungskosten zu begleichen. Mit Schreiben vom 20.08.2019 teilte der Antragsteller dem Antragsgegner mit, die Leistungen würden ab September 2019 eingestellt.
5Am 26.08.2019 stellte der Antragsteller beim Antragsgegner einen Weiterbewilligungsantrag. Am 29.08.2019 beantragte der Antragsteller beim Sozialgericht Detmold die Verpflichtung des Antragsgegners zur Zahlung von Leistungen im Wege der einstweiligen Anordnung (S 19 AS 1124/19 ER). Im einstweiligen Rechtsschutzverfahren übersandte der Antragsteller einen Rahmenkreditvertrag mit der ING-DiBa AG vom 06.01.2019 über 25000 EUR. In dem Vertrag heißt es, der Antragsteller sei seit März 2011 bei demselben Arbeitgeber als Angestellter tätig und beziehe ein Nettogehalt von monatlich 2680 EUR. Der Kreditbetrag war hiernach mit einer monatlichen Rate von 250 EUR zurückzuzahlen.
6Am 29.11.2019 hob der Antragsgegner die vorläufige Zahlungseinstellung auf und zahlte dem Antragsteller die Leistungen für September 2019 nach.
7Mit Bescheid vom 09.12.2019 versagte der Antragsgegner die am 23.08.2019 beantragte Weiterbewilligung der Leistungen. Der Antragsteller habe die von ihm angeforderten Unterlagen nicht vorgelegt. Der Antragsteller könne seinen Vortrag durch die Vorlage der Versicherungsbestätigung, den Nachweis des Zahlungseingangs des Darlehens, Belege über die Überweisungen in den Libanon und der Krankenhausquittungen seiner Mutter bestätigen. Das aus den bekannten Unterlagen erkennbare Einkommen iHv monatlich 2680 EUR netto und das Vermögen iHv 25000 EUR reichten zur Bestreitung des Lebensunterhalts aus. Der Antragsteller erhob am 19.12.2019 Widerspruch gegen diesen Bescheid.
8Mit Beschluss vom 07.02.2020 lehnte das Sozialgericht den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ab. Nachdem der Antragsgegner die vorläufige Zahlungseinstellung aufgehoben und die Leistungen für September 2019 nachgezahlt habe, sei der Antrag nicht mehr begründet.
9Am 17.02.2020 hat der Antragsteller erneut beim Sozialgericht Detmold beantragt, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zur Zahlung von Leistungen zu verpflichten. Weiter hat er die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren beantragt. Er hat vorgetragen, er bestreite seinen Lebensunterhalt durch kleine Darlehen von Freunden und Familienmitgliedern. Der Kredit bei der ING-DiBa AG sei von einem Bekannten beantragt worden, der über gute Kontakte zur kreditgebenden Bank verfüge, weil er selbst als Leistungsbezieher keinen Kredit erhalten hätte. Nunmehr verfüge er über kein Geld mehr. Er habe über fünf Monate keine Miete entrichten und den Vermieter nur durch Gespräche von einer fristlosen Kündigung abhalten können. Da er über fünf Monate über kein Einkommen mehr verfüge, habe er mittlerweile mehr als 10 Kilogramm Körpergewicht verloren. Er könne die Raten bei der ING-DiBa AG nicht mehr bedienen.
10Zur Untermauerung seines Vortrags hat der Antragsteller ein Ratenzahlungsangebot der ING-DiBa AG vom 27.01.2020 beigefügt. Mit Schriftsatz vom 31.03.2020 hat der Antragsteller erklärt, er habe niemals einen Kreditvertrag unterschrieben. Er könne nur mutmaßen, dass seine Unterschrift in den Kreditvertrag hineinkopiert und sein Bruttolohn vom Vermittler angegeben worden sei. Ebenfalls am 31.03.2020 hat der Antragsteller eidesstattlich versichert, ein entfernter Bekannter habe zu ihm Kontakt aufgenommen und ihm mitgeteilt, einen Kreditvermittler zu kennen. Er habe diesem dann eine Bescheinigung der Krankenkasse über die Entrichtung von Sozialversicherungsbeiträgen, eine Kopie seines Ausweises und eine Blankounterschrift auf einem Blatt Papier zur Verfügung gestellt. In der Folge habe er Zahlungseingänge auf seinem Konto über 6000 EUR und 19000 EUR festgestellt. Er habe seinem Bekannten dann einen Betrag von 9000 EUR übergeben, der diesen wieder an den Kreditvermittler weitergegeben habe. 12500 EUR habe er verbraucht. Die Raten habe er aus dem Rest von 3500 EUR zurückzahlen wollen. Dies sei ihm bis Juli 2019 gelungen. Ihm sei nicht bekannt, wer den Kreditvertrag für ihn abgeschlossen habe. Ihm sei aber bekannt, dass dieser Vermittler auch für andere Personen tätig geworden sei.
11Mit Beschluss vom 28.04.2020 hat das Sozialgericht die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung und Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt. Der Antragsteller habe keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Dieser habe den Verbrauch des Betrages von 25000 EUR nicht nachgewiesen. Der erstmals am 31.03.2020 erfolgte Vortrag, der Antragsteller habe für einen Kredit von 25000 EUR eine Vermittlungsgebühr von 9000 EUR gezahlt, sei unglaubhaft. Auch dem Vortrag des Antragstellers zu einer beabsichtigten Rückführung des Kredits sei nicht zu folgen, denn mit 3500 EUR lasse sich ein Darlehen von 25000 EUR nicht zurückführen.
12Am 14.05.2020 hat der Antragsteller Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts vom 28.04.2020 erhoben. Er hat seinen Vortrag aus dem erstinstanzlichen Verfahren wiederholt. Die Einschaltung des Vermittlers sei trotz erheblicher Kosten notwendig gewesen, weil er als Bezieher von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ansonsten kein Darlehen bekommen hätte. Der Antragsteller hat der Beschwerdeschrift mehrere "Leihverträge" zwischen ihm und Herrn Z I I1, so vom 01.10.2019 und 01.04.2020 über jeweils 500 EUR und vom 01.01.2020 über 500 EUR, zwei Darlehensverträge zwischen ihm und Herrn B1 I1 vom 02.12.2019, 03.02.2020 und 01.05.2020 über 400, 300 und 380 EUR sowie zwei Bestätigungen von Herrn N S T1 O vom 03.11.2019 und 05.03.2020 über Darlehen über 250 EUR bzw. 300 EUR beigefügt. Weiter hat er einen Mahnbescheid des Amtsgerichts I2 vom 26.05.2020 beigefügt, wonach die ING - DiBa AG ihn auf die Zahlung von 26419,26 EUR in Anspruch nimmt. Auf Anforderung des Senats hat er überdies die Auszüge seines Kontos xxx bei der Sparkasse N1 vom 01.01.2020 bis zum 02.06.2020 übersandt. Mit Schriftsatz vom 03.07.2020 hat der Antragsteller weiter ausgeführt, er habe 9000 EUR für die Vermittlerprovision, 5000 EUR für die Behandlung seiner Mutter und 2800 EUR für die Bestattungskosten aufgewandt. Weiter habe er seiner Schwester im Libanon einen Betrag von 1500 EUR und seinem Bruder einen Betrag von 3000 EUR für den Erwerb eines Fahrzeugs übergeben. Zudem habe er die Flugkosten aufbringen müssen. Er hat die Bescheinigung einer libanesischen Rehabilitationsklinik über Behandlungskosten iHv 8040000 Libanesischen Pfund (ca. 4500 EUR) vom 23.05.2018 bis zum 12.01.2019 und Bestätigungen seiner Geschwister über die ihm überlassenen Beträge beigebracht. Auf Anforderungen hat er den Senat ermächtigt, bei der ING -DiBa AG Auskunft über die von ihm geschlossenen Verbraucherkreditverträge xxx und xx einzuholen. Die ING-DiBa AG hat mit Schreiben vom 03.09.2020 mitgeteilt, die Verträge seien vom Antragsteller unterzeichnet worden. Die Legitimation sei mittels PostIdent erfolgt. Eine Kopie des Personalausweises liege vor. Es existierten zwei Verträge, nämlich der Rahmenkreditvertrag xxx vom 06.01.2019 mit einer Kreditlinie von 25000 EUR und der Ratenkreditvertrag xx vom 10.07.2019 mit einem Darlehensbetrag von 20000 EUR. Die beigefügten Verträge weisen jeweils eine Unterschrift des Antragstellers aus. Gemäß den von der ING - DiBa AG übersandten Unterlagen sind aus dem Rahmenkreditvertrag die bereits bislang bekannten Überweisungen iHv 6000 EUR und 19000 EUR am 16.01.2019 und am 21.01.2019 erfolgt. Ein weiterer Betrag von 20000 EUR aus dem Ratenkreditvertrag ist im Juli 2019 auf das Konto des Antragstellers bei der Commerzbank überwiesen worden. Mit dem Schriftsatz ebenfalls beigefügten Schreiben vom 26.09.2019 und vom 22.01.2020 hat die ING-DiBa AG den Rahmenkreditvertrag und den Ratenkreditvertrag gekündigt und gegenüber dem Antragsteller die offenen Beträge von 24209,20 EUR und 20377,57 EUR fällig gestellt. Weiter hat die ING - DiBa AG ihrem Schreiben Verdienstabrechnungen aus einer Tätigkeit des Antragstellers bei der N2 E GmbH in N1 beigefügt, die der Antragsteller beim Abschluss der Kreditverträge übermittelt habe. Diese stammen aus den Monaten Oktober 2018 bis Dezember 2018 und April 2019 bis Juni 2019. Das hieraus ersichtliche Nettoeinkommen beläuft sich auf Beträge zwischen 2683,30 EUR und 2710,89 EUR monatlich. Gemäß den Verdienstbescheinigungen ist der Antragsteller am 01.09.2013 in den Betrieb eingetreten. Als Sozialversicherungsnummer ist die 000 bei der AOK Nordwest, als Steuer-ID die Nr. 0 angegeben. Die Bankverbindung des Antragstellers ist hiernach die auch bei der ING - DiBa AG angegebene Kontonummer 00 bei der Commerzbank.
13Die N2 E GmbH hat dem Senat mit Schreiben vom 17.09.2020 mitgeteilt, der Antragsteller sei dort nicht bekannt. Der Antragsteller hat mit Schreiben vom 17.09.2020 mitgeteilt, er habe für den dem Senat zuvor nicht bekannten weiteren Kredit über 20000 EUR wiederum eine Provision von 10000 EUR entrichtet, so dass ihm nur 10000 EUR zur Verfügung gestanden hätten. Der Senat hat den anwaltlich vertretenen Antragsteller mit Verfügung vom 18.09.2020 um Stellungnahme zu dem aus den Unterlagen der ING - DiBa AG ersichtlichen Konto bei der Commerzbank und um Übersendung der Kontoauszüge ab dem 01.04.2019 gebeten.
14Gemäß einer Anfrage des Senats beim Straßenverkehrsamt des Kreises N1 hat der Antragsteller am 20.08.2020 ein Kraftfahrzeug auf seinen Namen zugelassen. In den Jahren seit 2016 hat der Antragsteller diverse Kraftfahrzeuge auf sich zugelassen und wieder abgemeldet. Gemäß einer auf Anfrage des Senats erfolgten Mitteilung des Finanzamts N1 vom 22.09.2020 ist die auf den Verdienstbescheinigungen ausgewiesene Steuer-ID des Antragstellers zutreffend.
15Der Antragsteller hat mit Schriftsatz vom 01.10.2020 Kontoauszüge für das Konto 00 bei der Commerzbank von Oktober 2018 bis Dezember 2018 übersandt, die keine Überweisungen der N2 E GmbH ausweisen.
16II.
17Die zulässige Beschwerde ist unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung und Prozesskostenhilfe abgelehnt.
18Einstweilige Anordnungen sind nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung verlangt grundsätzlich Erfolgsaussichten in der Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung. Die Erfolgsaussichten in der Hauptsache (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG iVm § 920 Abs. 2 ZPO). Ob ein Anordnungsanspruch vorliegt, ist in der Regel durch summarische Prüfung zu ermitteln (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. nur Beschlüsse vom 20.02.2019 - L 7 AS 1916/18 B ER und vom 30.08.2018 - L 7 AS 1268/18 B ER). Können ohne Eilrechtsschutz jedoch schwere und unzumutbare Nachteile entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, ist eine abschließende Prüfung erforderlich (BVerfG Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05). Bei offenem Ausgang muss das Gericht anhand einer Folgenabwägung entscheiden, die die grundrechtlichen Belange der Antragsteller umfassend zu berücksichtigen hat (BVerfG Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05; ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. nur Beschlüsse vom 30.08.2018 - L 7 AS 1268/18 B ER, vom 05.09.2017 - L 7 AS 1419/17 B ER und vom 21.07.2016 - L 7 AS 1045/16 B ER).
19Der auf Verpflichtung des Antragsgegners zur Leistungszahlung ab dem 17.02.2020 gerichtete Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist nicht begründet. Es liegt kein Anordnungsanspruch vor. Der Antragsteller hat seine Hilfebedürftigkeit gemäß §§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, 9 Abs.1 SGB II nicht glaubhaft gemacht. Zwar kann das erkennende Gericht seine Überzeugung auf den Vortrag von Beteiligten stützen. Weiter ist im einstweiligen Rechtsschutzverfahren eine eidesstattliche Versicherung ein geeignetes Mittel zur Glaubhaftmachung. Der Beteiligtenvortrag muss jedoch schlüssig und in sich widerspruchsfrei sein und mit dem übrigen Akteninhalt und weiteren Beweisergebnissen in Übereinstimmung stehen (vgl. hierzu Senatsbeschluss vom 10.03.2017- L 7 AS 185/17 B ER).
20Dies ist hier nicht der Fall: Bereits der Vortrag des Antragstellers zum Zustandekommen des ursprünglich von ihm allein benannten Rahmenkreditvertrages xxx und der Verwendung des ihm hieraus zugeflossenen Betrages von 25000 EUR überzeugt nicht. Die Darstellung des Antragstellers, dieser habe einem ihm unbekannten Vermittler, der in der Folge ohne sein Wissen und seine Billigung gehandelt habe, seine Dokumente überlassen und in der Folge eine Vermittlungsgebühr von 9000 EUR zukommen lassen, ist unglaubhaft. Im Hinblick auf die wirtschaftliche Absurdität dieses Vorgehens verweist der Senat auf die überzeugenden Ausführungen des Sozialgerichts (§ 142 Abs. 2 Satz 3 SGG). Auch den Vortrag zur Verwendung des Betrages von 25000 EUR hat der anwaltlich vertretene Antragsteller "scheibchenweise" immer wieder der prozessualen Situation angepasst: Hat der Antragsteller noch im Verwaltungsverfahren, im einstweiligen Rechtsschutzverfahren S 19 AS 1124/19 ER und in der ursprünglichen Antragsschrift des hiesigen Verfahrens die vollständige Verwendung der Mittel für seine im Libanon erkrankte und verstorbene Mutter reklamiert, hat er in der eidesstattlichen Versicherung vom 31.03.2020 den Verbrauch des Betrages von 9000 EUR durch Zahlung an den ihm unbekannten Vermittler angegeben und im Beschwerdeverfahren erstmals vorgetragen, seinen Geschwistern im Libanon im März 2019 weitere 4500 EUR überlassen zu haben, insbesondere für den Erwerb eines Kraftfahrzeugs. Der letztgenannte Vortrag ist schon deshalb zweifelhaft, weil die schwierige wirtschaftliche Lage des Antragstellers bereits im Frühjahr 2019 absehbar war. Ebenso wenig überzeugt der Vortrag, der Antragsteller habe beim Abruf der Beträge aus dem Rahmenkredit die Verwendungszwecke "B C1 Autokaufen" und "B C1 LMC Luxus 510 MD, Wohnwagen" angeben müssen, denn der der Auszahlung von 25000 EUR zugrundeliegende Kreditvertrag vom 05.01.2019 sieht keinen Verwendungszweck vor.
21Vollends unglaubhaft wird der Vortrag des Antragstellers durch die erst durch Stellungnahme der ING - DiBa AG im Beschwerdeverfahren bekanntgewordene und vom Antragsteller zuvor verschwiegene Inanspruchnahme des weiteren Ratenkreditvertrages xx über 20000 EUR. Seine Darstellung hinsichtlich einer Ausnahmesituation bei der Inanspruchnahme des ersten Darlehens, die dessen Zustandekommen und Verbrauch erklären sollten, wird damit hinfällig. Es ist in keiner Weise erkennbar, zu welchem Zweck der Antragsteller das zweite Darlehen aufgenommen hat und wie es von ihm verbraucht wurde. Der Antragsteller hat die Summe jedenfalls nicht zur Ablösung des Rahmenkredits verwendet, denn nach Aktenlage stehen noch beide Forderungen der ING - DiBa AG offen. Der lapidare Hinweis des Antragstellers vom 17.09.2020, er habe auch für dieses Darlehen 10000 EUR Vermittlungsgebühr entrichtet, so dass ihm auch nur 10000 EUR verblieben seien, reicht nicht. Es ist überdies nicht erkennbar, warum der Antragsteller den äußerst kostenaufwändigen Vermittler auch bei der Inanspruchnahme des zweiten Kredits im Juli 2019 einschalten musste, denn er war der ING - DiBa AG zu diesem Zeitpunkt bekannt und führte zumindest bis zu diesem Monat auch die Raten für den zuerst in Anspruch genommenen Kredit zurück.
22Einer Glaubhaftmachung der Hilfebedürftigkeit steht auch entgegen, dass dem Senat trotz Aufforderung vom 08.06.2020 zur Übersendung der vollständigen Kontoauszüge für alle Konten des Antragstellers ab dem 01.01.2020, die mit Verfügung vom 17.09.2020 auf die Übersendung aller Kontoauszüge für das relevante Konto 00 bei der Commerzbank ab dem 01.04.2019 konkretisiert und erweitert wurde, kein einziger Kontoauszug für dieses Konto für die Zeit ab dem 05.07.2019 vorliegt.
23Gegen eine aktuelle Notlage des Antragstellers spricht auch die Tatsache, dass dieser am 20.08.2020 ein Kraftfahrzeug auf seinen Namen zugelassen hat. Welchen Hintergrund es hat, dass auf den Antragsteller seit 2015 insgesamt elf - zwischenzeitlich z.T. wieder abgemeldete - Fahrzeuge zugelassen waren, kann angesichts der vorstehenden Gesamtwürdigung ebenso dahinstehen wie der Ursprung der von der ING - DiBa AG zur Akte gereichten Verdienstbescheinigungen der N2 E GmbH.
24Der Senat sieht sich abschließend nicht veranlasst, dem Antragsteller Leistungen im Wege einer Folgenabwägung zuzusprechen. Der Antragsteller hat es selbst in der Hand, widerspruchsfrei und wahrheitsgemäß vorzutragen (vgl. auch hierzu Senatsbeschluss vom 10.03.2017- L 7 AS 185/17 B ER).
25Zu Recht hat das Sozialgericht mangels hinreichender Erfolgsaussicht auch den Antrag auf Prozesskostenhilfe gemäß § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG iVm § 114 ZPO abgelehnt. Entsprechend ist der Antrag auf Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren abzulehnen.
26Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG. Kosten im Beschwerdeverfahren gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe sind nicht erstattungsfähig (§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG iVm § 127 Abs. 4 ZPO).
27Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde angefochten werden (§ 177 SGG).
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Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil der 7. Kleinen Strafkammer des Landgerichts Hildesheim vom 3. März 2020 mit den Feststellungen aufgehoben
a) im Schuldspruch wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in den Fällen III. 3 bis 8 der Urteilsgründe und wegen Betruges in Tateinheit mit Urkundenfälschung im Fall III. 9 der Urteilsgründe;
b) im Ausspruch über die Gesamtstrafe.
2. Das Verfahren hinsichtlich der Fälle III. 3 bis 5 der Urteilsgründe wird eingestellt; insoweit trägt die Staatskasse die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten.
3. Im nach Teileinstellung verbleibenden Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die verbleibendenden Kosten des Rechtsmittels, an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Hildesheim zurückverwiesen.
4. Die weitergehende Revision wird verworfen.
Gründe
I.
1
Das Amtsgericht Alfeld hat den Angeklagten am 18. Juni 2019 wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in acht Fällen, wegen Unterschlagung und wegen Urkundenfälschung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt.
2
Auf die Berufung des Angeklagten hat die 7. kleine Strafkammer des Landgerichts Hildesheim mit Urteil vom 3. März 2020 das Urteil des Amtsgerichts im Schuld- und Rechtsfolgenausspruch geändert und insgesamt dahingehend neu gefasst, dass der Angeklagte wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in acht Fällen und wegen Betruges in Tateinheit mit Urkundenfälschung unter Einbeziehung der durch Urteil des Amtsgerichts Alfeld vom 6. November 2018 verhängten Strafe zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten verurteilt wird.
3
Nach den Feststellungen fuhr der Angeklagte, ohne im Besitz einer Fahrerlaubnis zu sein, am 16. und 19. Oktober 2017 jeweils mit dem Pkw … seiner Lebensgefährtin von seinem Wohnort E.. nach B. M., um dort auf dem Grundstück des Zeugen B. Arbeiten im Garten durchzuführen (Fälle III. 1 und 2). Weiterhin fuhr der Angeklagte mit dem besagten Pkw in dem Zeitraum von Februar bis Mitte April 2018 an mindestens drei Tagen von seinem Haus in E. zu dem Bauernhof der Eheleute H. und T. in D., um dort zu arbeiten, und anschließend wieder zurück (Fälle III. 3 bis 5). Am 15., 16. und 18. Mai 2018 lieh sich der Angeklagte jeweils den Pkw … der Eheleute aus, steuerte diesen vom Hof und brachte ihn an den genannten Tagen später wieder zurück, wobei er auch bei den Rückfahrten am Steuer des Fahrzeugs saß (Fälle III. 6 bis 8). Schließlich hat das Landgericht festgestellt, dass der Angeklagte im März 2018 von der Zeugin H. 250 € in bar erhielt, um an einem Pferdeanhänger anstehende Reparaturen und anschließend die fällige TÜV-Abnahme durchführen zu lassen. Nachdem der Angeklagte am 14. März 2018 den Pferdeanhänger ohne vorherige Reparatur zur TÜV-Abnahme vorgestellt hatte und die Plakette nicht erteilt worden war, entschloss er sich, den nach Begleichung der Gebühr verbleibenden Betrag von 176,88 € für sich zu behalten und den Eheleuten H. eine Reparatur und erfolgreiche TÜV-Abnahme vorzuspiegeln. Zu diesem Zweck brachte er eine von einem anderen Fahrzeug abgelöste TÜV-Plakette mit einer Laufzeit bis Dezember 2018 an dem Pferdeanhänger an (Fall III. 9).
4
Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision. Er rügt das Verfahren und die Verletzung materiellen Rechts.
II.
5
Die Revision des Angeklagten hat zum Teil Erfolg.
6
1. Soweit der Angeklagte in den Fällen III. 3 bis 5 der Urteilsgründe wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis verurteilt worden ist, ist das Urteil aufzuheben und das Verfahren gemäß§ 354 Abs. 1 StPO einzustellen, weil insoweit das im Revisionsverfahren nicht behebbare Verfahrenshindernis der Unwirksamkeit von Anklage und Eröffnungsbeschluss besteht.
7
Die Generalstaatsanwaltschaft hat ihren entsprechenden Antrag wie folgt begründet:
8
„Es fehlt an der Prozessvoraussetzung einer wirksamen Anklage, soweit es die in der Anklageschrift unter Ziffer 4. - 7. aufgeführten Taten des Fahrens ohne Fahrerlaubnis, wobei das Verfahren in der Hauptverhandlung in Bezug auf eine von Ihnen gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellt wurde (Bl. 102 Bd. I d.A.), und die diesen entsprechenden Taten 3. - 5. des Urteils betrifft. Hier war lediglich ein Zeitraum von Februar 2018 bis 12.05.2018 angegeben, in dem der Angeklagte die Fahrten „mindestens einmal monatlich“ unternommen haben soll. Die Anklageschrift hat die zur Last gelegte Tat sowie Ort und Zeit ihrer Begehung aber so genau zu bezeichnen, dass die Identität des geschichtlichen Vorgangs klargestellt und erkennbar wird, welche bestimmte Tat gemeint ist. Die Tat muss sich von anderen gleichartigen strafbaren Handlungen, die derselbe Täter möglicherweise auch begangen hat, unterscheiden lassen. Es darf nach der Anklageschrift nicht unklar bleiben, über welchen Sachverhalt das Gericht nach dem Willen der Staatsanwaltschaft urteilen soll. Fehlt es hieran, ist die Anklage unwirksam (BGH, Beschl. v. 15.12.1995 – 2 StR 501/95; zit. nach beck-online; Schmitt in Meier-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., 2020, § 200 Rn. 7). Diesen Anforderungen an die Konkretisierung der Taten wird die vorliegende Anklageschrift für die dort unter Ziffer 4. - 7.genannten Taten des Fahrens ohne Fahrerlaubnis im Hinblick auf den angegebenen weiten Tatzeitraum von mehr als drei Monaten und den unbestimmten Tattag nicht gerecht; sie ist insoweit unwirksam. Die Taten lassen sich gerade nicht hinreichend von anderen des Fahrens ohne Fahrerlaubnis, die der Angeklagte möglicherweise ebenfalls in dem angegebenen Tatzeitraum mit dem genannten Fahrzeug zwischen den angegebenen Orten begangen hat, was bereits durch das „mindestens einmal monatlich“ nahegelegt wird, unterscheiden.
9
Da die insoweit unwirksame Anklage unverändert zur Hauptverhandlung zugelassen wurde (Bl. 59 Bd. I d.A.), hat dies auch die Unwirksamkeit des Eröffnungsbeschlusses für die unter Ziffer 4. - 7. der Anklage genannten Taten zur Folge (Schmitt in Meier-Goßner/Schmitt, § 200 Rn 26).
10
Wegen des bestehenden Verfahrenshindernisses ist das angefochtene Urteil, soweit es die Taten zu 3. - 5. betrifft, aufzuheben und das Verfahren gemäß § 354Abs. 1 StPO einzustellen. Weil das Verfahrenshindernis bereits bei Entscheidung des Tatgerichts vorlag, kommt eine Einstellung nach § 206a StPO nicht in Betracht (OLG Celle, Beschluss vom 22.07.2007 – 32 Ss 20/07 –; zit. nach beck-online).“
11
Dem tritt der Senat bei.
12
Die Tatbeschreibung in der Anklage muss umso konkreter sein, je größer die allgemeine Möglichkeit ist, dass der Angeklagte verwechselbare weitere Straftaten gleicher Art verübt hat (BGH, Urteil vom 28. April 2006 – 2 StR 174/05, NStZ 2006, 649 mwN).
13
Zwar erfüllt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Anklageschrift in bestimmten Fällen von Serienstraftaten bereits dann ihre Umgrenzungsfunktion, wenn sie den Verfahrensgegenstand durch den zeitlichen Rahmen der Tatserie, die Nennung der Höchstzahl der nach dem Anklagevorwurf innerhalb dieses Rahmens begangenen Taten, das Tatopfer und die wesentlichen Grundzüge des Tatgeschehens bezeichnet (vgl. BGH, Urteil vom 22. Oktober 2013 – 5 StR 297/13, NStZ 2014, 49 m. Anm. Ferber; vom 11. Januar 1994 – 5 StR 682/93, BGHSt 40, 44; vom 29. Juli 1998 – 1 StR 94/98, BGHSt 44, 153). Diese Rechtsprechung ist indes für Fälle einer Vielzahl sexueller Übergriffe gegenüber Kindern entwickelt worden, die häufig erst nach längerer Zeit angezeigt werden und deshalb oftmals aufgrund von Erinnerungsproblemen eine Individualisierung nach Tatzeit und exaktem Geschehensablauf nicht ermöglichen. Sie hat Ausnahmecharakter und ist auf Fälle beschränkt, in denen „typischerweise“ bei einer Serie gleichartiger Handlungen einzelne Taten etwa wegen Zeitablaufs oder wegen Besonderheiten in der Beweislage nicht mehr genau voneinander unterschieden werden können und es anderenfalls zu „gewichtigen“ oder „erheblichen Lücken in der Strafverfolgung“ kommen würde (so BGH, Beschluss vom 12. Januar 2011 – GSSt 1/10, BGHSt 56, 109; Urteil vom 28. April 2006 – 2 StR 174/05, NStZ 2006, 649; Beschluss vom 29. Juli 1998 – 1 StR 94/98, BGHSt 44, 153; gegen Ausnahmecharakter: Becker in Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 243 Rn. 43). Diese Rechtsprechung kommt auch bei Betäubungsmitteldelikten zur Anwendung (vgl. BGH, Urteil vom 26. April 1995 – 3 StR 48/95, BGHR StPO § 200 Abs. 1 Satz 1 Tat 15; OLG Hamm, Urteil vom 22. November 2000 – 2 Ss 908/00, StraFo 2001, 92).
14
Auf Fälle des Fahrens ohne Fahrerlaubnis ist sie indes nicht zu übertragen (vgl. OLG Zweibrücken, Beschluss vom 25. Juni 1996 – 1 Ss 131/96, OLGSt StPO § 200 Nr. 5). Der Straftatbestand des § 21 StVG setzt eine Handlung im öffentlichen Verkehrsraum voraus (vgl. § 2 Abs. 1 StVG) und bringt daher schon aufgrund der äußeren Wahrnehmbarkeit nicht „typischerweise“ Besonderheiten in der Beweislage mit sich, wie sie häufig in Fällen des sexuellen Missbrauchs von Kindern oder des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln anzutreffen sind. Die Geltung des regulären Konkretisierungsmaßstabs für Straftaten nach§ 21 StVG lässt auch nicht befürchten, dass dadurch gewichtige oder erhebliche Lücken in der Strafverfolgung entstehen. Hinzu kommt, dass bei Ausdehnung der Rechtsprechung zu Serienstraftaten auf Delikte am unteren Rande der Strafbarkeit der nach der Entscheidung des Großen Senats zu beachtende Ausnahmecharakter in ein Regelverhältnis umgekehrt werden würde, was nach der Entscheidung des Großen Senats ersichtlich nicht gewollt ist.
15
2. Die Verurteilung wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in den Fällen III. 6 bis 8 und wegen Betruges in Tateinheit mit Urkundenfälschung im Fall III. 9 der Urteilsgründe hat keinen Bestand (§ 349 Abs. 4 StPO), weil die Beweiswürdigung insoweit einen durchgreifenden Rechtsfehler aufweist.
16
a) Zwar ist die Würdigung der Beweise vom Gesetz dem Tatgericht übertragen (§ 261 StPO). Das Revisionsgericht hat aber zu überprüfen, ob die Beweiswürdigung des Tatgerichts mit Rechtsfehlern behaftet ist, etwa, weil sie Lücken oder Widersprüche aufweist oder mit den Denkgesetzen oder gesichertem Erfahrungswissen nicht in Einklang steht. (vgl. BGH, Urteil vom 11. März 2014 – 1 StR 655/13, juris; Sander in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 261, Rn. 182; jew. mwN). Insbesondere in Fällen, in denen Aussage gegen Aussage steht und die Entscheidung im Wesentlichen davon abhängt, welchen Angaben das Gericht folgt, müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass das Tatgericht alle Umstände, die die Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat (BGH, Beschluss vom 22. April 1987 – 3 StR 141/87, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 1). Dabei darf sich das Tatgericht nicht darauf beschränken, Umstände, die gegen die Zuverlässigkeit einer Aussage sprechen können, gesondert und einzeln zu erörtern sowie getrennt voneinander zu prüfen, um festzustellen, dass sie jeweils nicht geeignet seien, die Glaubwürdigkeit in Zweifel zu ziehen (vgl. BGH, Urteil vom 19. November 2008 - 2 StR 394/08, juris; Beschluss vom 6. Februar 2014 – 1 StR 700/13, juris).
17
b) Diesen Anforderungen wird die Beweiswürdigung nicht gerecht.
18
Der Angeklagte hat die Tatvorwürfe bestritten. Das Landgericht hat die Feststellungen zu den Taten III. 6 bis 8 der Urteilsgründe maßgeblich auf die Aussage der Zeugin H. gestützt. Diese habe „in überzeugender Weise“ ausgesagt, dass dem Angeklagten an den drei genannten Tagen der PKW … auf seine Bitte hin leihweise überlassen worden sei. Bei den Daten sei sie „sich absolut sicher“, weil sie „die Überlassung des Fahrzeugs damals in einem Kalender vermerkt“ habe. Der Zeuge T. vermochte demgegenüber nur zu bestätigen, dass seine Ehefrau schon im Jahr 2018 die Angewohnheit gehabt habe, sich „viele Dinge“ in Ihrem Kalender zu notieren, und dass der Angeklagte sich den PKW … ausgeliehen habe, weil er damit Fahrten habe durchführen wollen. Der Zeuge könne „heute nicht mehr sagen“, wie oft und wann dies gewesen sei, es sei „aber mehrfach“ gewesen.
19
Zwar hat hiernach die Aussage des Zeugen T. diejenige der Zeugin H. in Randbereichen bestätigt, so dass eine reine „Aussage-gegen-Aussage“-Konstellation nicht vorliegt (vgl. BGH, Beschluss vom 12. November 2019 – 5 StR 451/19, juris; Urteil vom21. Januar 2004 – 1 StR 379/03, NStZ 2004, 635, 636). Dennoch ist die Aussage der Zeugin H. hier von so entscheidender Bedeutung, dass ihre Würdigung durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegnet, weil das Landgericht sich an dieser Stelle nicht mit der Entwicklung der Aussage auseinandergesetzt hat, die der Beweiswürdigung zu den Taten III. 3 bis 5 zu entnehmen ist. Danach hat die Zeugin H. nämlich „zuerst“ bekundet, dass es „nach ihrer Erinnerung“ zwischen ihr und dem Angeklagten nach dem auf ihrem Hof durchgeführten Fest keine direkten Kontakte mehr gegeben habe. Erst auf Vorhalt durch den Verteidiger, dass das Hoffest am 6. Mai 2018 stattgefunden habe und der Angeklagte nach dem Inhalt der Anklageschrift noch danach, nämlich am 15., 16. und 18. Mai 2018 ihren Pkw … geführt haben solle, habe sie sich korrigiert und ausgeführt, dass sie nach dem Hoffest „doch noch“ Kontakte zu dem Angeklagten gehabt habe. Sie sei sich nämlich aufgrund der von ihr vorgenommenen Kalendereintragungen „absolut sicher“, dem Angeklagten am 15., 16. und 18. Mai 2018 den Pkw … ausgeliehen zu haben.
20
Das Landgericht hat lediglich darauf abgestellt, dass es für die Glaubwürdigkeit der Zeugin spreche, dass sie „keine Scheu gehabt“ habe, „eingetretene Erinnerungsprobleme einzuräumen“. Angesichts der beschriebenen Aussageentwicklung wäre aber auch zu hinterfragen gewesen, ob die von der Zeugin bekundete „absolute Sicherheit“ in Bezug auf die Daten originär auf ihrer Erinnerung oder allein auf dem Vorhalt des Inhalts der Anklageschrift beruht. Denn schon nach der allgemeinen Lebenserfahrung ist die zeitliche Orientierung an herausragenden Ereignissen – hier dem Hoffest – in der Regel zuverlässiger als diejenige an Kalenderdaten. In diesem Zusammenhang wäre auch die Konstanz der Aussage über das Ermittlungsverfahren und das Verfahren erster Instanz zu beleuchten gewesen. Daran fehlt es. Die Urteilsgründe verhalten sich auch nicht dazu, was genau die Zeugin H. in ihren Kalender eingetragen hat, ob sie sich allein aufgrund des Vorgangs der Eintragung noch an die Daten erinnert oder diese später noch einmal – etwa zur Auffrischung ihrer Erinnerung – eingesehen hat, ob der Kalender den Ermittlungsbehörden vorgelegt worden ist und ob er noch existiert.
21
c) Da auch die Feststellungen zum Fall III. 9 der Urteilsgründe maßgeblich auf der Aussage der Zeugin H. beruhen, wirkt sich der vorstehend aufgezeigte Rechtsfehler in der Beweiswürdigung hier ebenfalls aus. Zwar müssen Defizite einer Zeugenaussage zu einer bestimmten Tat nicht in jedem Fall durchgreifende Auswirkungen auf die Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Zeugin insgesamt oder die Glaubhaftigkeit ihrer Aussage zu einer anderen Tat haben. Dies bedarf aber der gesamtwürdigenden Erörterung in den Urteilsgründen (vgl. BGH, Urteil vom 19. November 2008 - 2 StR 394/08, juris; Beschluss vom 6. Februar 2014 – 1 StR 700/13, juris). Daran fehlt es hier.
22
3. Im Übrigen ist die Revision unbegründet, weil die Nachprüfung des Urteils auf die Revisionsrechtfertigung insoweit keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat (§ 349 Abs. 2 StPO). Die Feststellungen tragen den Schuldspruch wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in den Fällen III. 1 und 2. Sie beruhen insoweit auf einer rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung. Auch gegen die Zumessung de1r Einzelstrafen für diese Fälle ist aus Rechtsgründen nichts zu erinnern.
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Tenor
Der Besetzungseinwand des Angeklagten Ö. vom 17. September 2020 wird als unbegründetverworfen.
Gründe
I.
1 Das Urteil des Landgerichts – 1. Große Jugendkammer – Hechingen vom 23. März 2018 gegen die Angeklagten Ö. und K. wurde auf die Revision des Angeklagten Ö. hin mit Wirkung für den Mitangeklagten K. durch Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 21. November 2018 bezüglich der Tat Ziff. 2 im Schuld- und Strafausspruch aufgehoben, wobei die Verurteilung, den Angeklagten Ö. betreffend, wegen Bedrohung bezüglich der Tat Ziff. 1 mit Tatzeit 1. Juni 2017 zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen rechtskräftig wurde. Im Umfang der Aufhebung wurde die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Jugendkammer des Landgerichts Hechingen zurückverwiesen und in der Folge vor der 2. Großen Jugendkammer des Landgerichts Hechingen verhandelt.
2 Das Urteil des Landgerichts – 2. Große Jugendkammer – Hechingen vom 12. Juli 2019 wurde wiederum auf die Revision des Angeklagten Ö. hin mit Wirkung für den Mitangeklagten K. durch Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 1. April 2020 im Schuldspruch dahin geändert, dass die Angeklagten Ö. und K. der Verabredung zum unerlaubten Erwerb der tatsächlichen Gewalt über Kriegswaffen schuldig sind, der Angeklagte Ö. darüber hinaus – insoweit bereits rechtskräftig – der Bedrohung, wobei es, soweit es den Angeklagten Ö. betrifft, im Ausspruch über die (für die Tat Ziff. 2 verhängte) Einzelstrafe und die Gesamtstrafe und, soweit es den Mitangeklagten K. betrifft, im Ausspruch über die Einheitsjugendstrafe aufgehoben wurde. Im Umfang der Aufhebung wurde die Sache wiederum zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Jugendkammer des Landgerichts Hechingen zurückverwiesen.
3 Nach dem Geschäftsverteilungsplan für das Jahr 2020 mit Stand zum 1. Januar 2020 waren drei Große Jugendkammern eingerichtet. Die 1. Große Jugendkammer unter dem Vorsitz von Vizepräsident des Landgerichts Dr. B. war demnach zuständig für erstinstanzliche Jugendsachen nach § 41 JGG und Jugendschutzsachen, an die große Jugendkammer des Landgerichts als anderes Gericht nach § 354 Abs. 2 StPO zurückverwiesene Verfahren und die nach § 354 Abs. 2 StPO an eine andere große Jugendkammer zurückverwiesenen zweitinstanzlichen Verfahren der 2. Großen Jugendkammer, sowie Verfahren nach § 74f Abs. 2, 3 GVG und in den Zuständigkeitsbereich einer Jugendkammer fallende Wiederaufnahmeverfahren nach § 140a Abs. 1, 2 GVG. Vorsitzender Richter am Landgericht Sch. führte sowohl den Vorsitz über die 2. Große Jugendkammer, die für Berufungen nach § 41 Abs. 2 JGG gegen Urteile des Jugendschöffengerichts und für die nach § 354 Abs. 2 StPO an eine andere große Jugendkammer zurückverwiesenen Verfahren der 1. Großen Strafkammer [Jugendkammer] zuständig war, als auch den Vorsitz über die 3. Große Jugendkammer, die für Beschwerden und Anträge nach § 73 GVG, Bußgeldsachen nach § 46 Abs. 7 OWiG sowie in den Zuständigkeitsbereich einer Jugendkammer fallende Entscheidungen, die auf Grund der §§ 14, 15, 27 Abs. 4 StPO erforderlich werden, zuständig war.
4 Mit Präsidiumsbeschluss vom 21. Januar 2020 wurden im Hinblick auf die Elternzeit eines Richters Regelungen getroffen, welche die Zuständigkeiten der Jugendkammern unberührt ließen.
5 Durch das Präsidium des Landgerichts wurde im Hinblick auf die Zuweisung einer Richterin am 20. Mai 2020 unter anderem beschlossen, dass fortan Vizepräsident des Landgerichts Dr. B. den Vorsitz über die 2. Große Jugendkammer, Vorsitzender am Landgericht Sch. den Vorsitz über die 1. Große Jugendkammer übernahm, wobei es mit Ausnahme der Zuständigkeit für Berufungen nach § 41 Abs. 2 JGG gegen Urteile des Jugendschöffengerichts, die auf die 1. Große Jugendkammer übergeleitet wurde, bei den bisherigen Zuständigkeiten der Kammern verblieb.
6 Am 24. Juni 2020 wurden im Hinblick auf die Zuweisung einer Richterin ab 1. Juli 2020 wiederum Regelungen getroffen, welche die Zuständigkeiten der Jugendkammern unberührt ließen.
7 Mit Präsidiumsbeschluss vom 30. Juni 2020 wurde „anlässlich des Bedarfs einer weiteren Strafkammer als Auffangkammer“ in Ergänzung des vorausgegangenen Präsidiumsbeschlusses vom 24. Juni 2020 beschlossen, die 4. Große Straf- und Jugendkammer zu bilden, die als 4. Große Jugendkammer für nach § 354 Abs. 2 StPO an eine andere große Jugendkammer zurückverwiesene Verfahren der 2. Großen Jugendkammer zuständig ist und der Vorsitzender Richter am Landgericht M., Richter am Landgericht K. und Richter S. zugewiesen wurden.
8 Die Mitteilung über die Besetzung vom 7. September 2020 ist dem Verteidiger des Angeklagten Ö. am 10. September 2020 zugestellt worden.
9 Mit der am 17. September 2020 durch seinen Verteidiger erhobenen und am selben Tag beim Landgericht eingegangenen Besetzungsrüge rügt der Angeklagte Ö. die Besetzung der 4. Strafkammer [Jugendkammer] mit dem Vorsitzenden Richter am Landgericht M., dem Richter am Landgericht K. und dem Richter S. als vorschriftswidrig. Die Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter nach Artikel 101 Abs. 1 Satz 2 GG liege zum einen darin, dass weder einer der in § 21e Abs. 3 GVG aufgezählten Fälle, noch einer, bei denen diese Vorschrift über ihren Wortlaut hinaus Anwendung finde, vorliege, so dass eine unterjährige Änderung des Geschäftsverteilungsplans nicht habe erfolgen dürfen, wenn auch Fehler oder versehentlich entstandene Lücken im Jahresgeschäftsverteilungsplan, die dessen Rechtswidrigkeit zur Folge haben, als anerkannte Fallgruppen einer entsprechenden Anwendung des § 21e Abs. 3 GVG vom Angeklagten genannt werden. Zum anderen liege die Verletzung im Recht auf den gesetzlichen Richter in einer fehlenden detaillierten Begründung des Beschlusses, obwohl die Übertragung einer bereits anhängigen Strafsache einer umfassenden Dokumentation und Darlegung der Gründe bedurft hätte, um eine fachgerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit zu ermöglichen.
10 Die Staatsanwaltschaft ist der Besetzungsrüge am 18. September 2020 entgegengetreten.
11 Das Landgericht Hechingen hat durch Beschluss vom 18. September 2020 die Besetzungsrüge als unbegründet zurückgewiesen, da die 4. Große Jugendkammer vorschriftsgemäß besetzt sei, und die Sache dem Oberlandesgericht gemäß § 222b Abs. 3 Satz 1 StPO in Verbindung mit § 121 Abs. 1 Nr. 4 GVG zur Entscheidung vorgelegt. In den Gründen wird dargetan, dass sich die erforderliche Befugnis zur Ergänzung des Geschäftsverteilungsplans für den Rest des Geschäftsjahres aus der entsprechenden Anwendung des § 21e GVG ergebe, da eine zweite Auffangkammer im Geschäftsverteilungsplan bislang nicht vorgesehen gewesen sei. Es verstehe sich von selbst, dass „Bedarf“ an einer zweiten Auffangkammer bestünde, zumal eine solche zweite Zurückverweisung nicht erneut zur Zuständigkeit der Ausgangskammer führen dürfe, die bereits mit der Sache befasst gewesen sei. Die Begründung sei daher ausreichend. Ein besonderer Begründungsbedarf entstünde auch nicht dadurch, dass sich diese Regelung auf das vorliegende, bereits anhängige Verfahren erstrecke, da die Zuweisungsregelung die nicht vorhergesehene Regelungslücke auch für alle künftigen nach § 354 Abs. 2 StPO an eine andere große Straf- und Jugendkammer zurückverwiesenen Verfahren schließe. Weitergehende Anforderungen an die Begründung, wie sie bei Übertragung anhängiger Verfahren aufgrund Arbeitsüberlastung, ohne dass eine solche Regelungslücke bestünde, ließen sich nicht auf vorliegende Konstellation übertragen.
12 Mit ergänzender Stellungnahme vom 28. September 2020 wies der Verteidiger des Angeklagten Ö. nochmals darauf hin, dass die Begründung „anlässlich des Bedarfs“ weder detailliert sei, noch eine fachgerichtliche Überprüfung erlaube.
II.
13 Die Besetzungsrüge ist form- und fristgerecht erhoben, insbesondere entspricht sie den Begründungsanforderungen des § 222b Abs. 1 Satz 2 und Abs. 3 StPO. Sie ist jedoch nicht begründet.
14 Die Kammer ist als 4. Große Jugendkammer in der am 7. September 2020 mitgeteilten Besetzung vorschriftsgemäß besetzt.
15 Ist die Sache vom Revisionsgericht an einen anderen Spruchkörper desselben Gerichts zurückverwiesen worden, obwohl ein solcher nicht besteht, so muss er nachträglich für den Rest des Geschäftsjahres eingerichtet werden (BGH, Urteil vom 8. April 1981 - 3 StR 88/81 -, juris, NStZ 1981, 489; BGH NJW 1975, 743; Franke in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2012, § 354 Rn. 65). Dass hier ein weiterer Spruchkörper als Auffangkammer für Verfahren, die nach Aufhebung des zweiten Urteils vom Bundesgerichtshof zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen werden, unterjährig eingerichtet wurde, ist rechtlich nicht zu beanstanden, da die Zuständigkeit für solche Zweitzurückverweisungen im Geschäftsverteilungsplan für das Jahr 2020 nicht geregelt war, eine Auffangkammer bislang nicht bestand und somit eine offensichtliche Regelungslücke geschlossen wurde. Folglich war die unterjährige Einrichtung einer Auffangkammer hier zwingend.
16 Eine solche, aus zwingenden Gründen erfolgte Änderung ist dann verfassungsrechtlich unbedenklich, wenn sie abstrakt eine Vielzahl möglicher zukünftiger Fälle regelt (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 16. März 2006 - 2 BvR 954/02 -, juris; BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 16. Februar 2005 - 2 BvR 581/03 -, juris; BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 27. September 2002 - 2 BvR 1843/00 -, juris). Denn es lässt sich nicht übersehen, auf wie viele und auf welche Fälle diese Regelung Anwendung findet (BVerfG, Urteil vom 25. Juni 1968 - 2 BvR 251/63 -, BVerfGE 24, 33-55, Rn. 52-53). Die mit Präsidiumsbeschluss vom 30. Juni 2020 getroffene Zuweisung von nach § 354 Abs. 2 StPO an eine andere große Jugendkammer zurückverwiesene Verfahren der 2. Großen Jugendkammer beansprucht in ihrer abstrakt gehaltenen Fassung Geltung für eine unbestimmte Vielzahl von Fällen, nämlich sämtlicher zum zweiten Mal zurückverwiesener Verfahren an eine andere große Jugendkammer, und begegnet daher keinen rechtlichen Bedenken.
17 Zudem muss jede Umverteilung während des laufenden Geschäftsjahres, gleichgültig, ob ausschließlich anhängige Verfahren oder daneben auch zukünftig eingehende Verfahren erfasst werden, geeignet sein, die Effizienz des Geschäftsablaufs zu erhalten oder wiederherzustellen, weshalb Änderungen der Geschäftsverteilung, die hierzu nicht geeignet sind, vor Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG keinen Bestand haben können (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 16. Februar 2005 - 2 BvR 581/03 -, juris). Auch unter diesen Gesichtspunkten begegnet die unterjährige Einrichtung der 4. Großen Jugendkammer als Auffangkammer keinen Bedenken, denn allein sie ermöglicht einen ordnungsgemäßen Geschäftsablauf.
18 Dabei ist § 354 Abs. 2 StPO zu beachten, der gewährleisten soll, dass eine vom Revisionsgericht zurückverwiesene Sache jedenfalls in der Regel von anderen Richtern bearbeitet wird, um so den Anschein der Voreingenommenheit zu vermeiden, der entstehen könnte, wenn stets dieselben Richter, die an dem angefochtenen Urteil mitgewirkt haben, auch gehalten wären, über die zurückverwiesene Sache zu entscheiden.Zwar hat der Gesetzgeber insofern bewusst in Kauf genommen, dass im Einzelfall an der neuen Entscheidung auch ein Richter mitwirkt, der schon an der aufgehobenen Entscheidung beteiligt war (BGH, Entscheidung vom 27. April 1972 - 4 StR 149/72 -, BGHSt 24, 336-339; OLG Stuttgart, Beschluss vom 25. September 1985 - 5 (2) I StE 5/81 -, juris). Durch eine Geschäftsverteilung, die dies zur Regel macht und so in die Beteiligung eines bereits an der aufgehobenen Entscheidung mitwirkenden Richters an den zurückverwiesenen Verfahren einer Strafkammer einmündet, wird indessen der Regelungsgehalt des § 354 Abs. 2 StPO bezogen auf Verfahren der betroffenen Strafkammer vollständig ausgehöhlt. Denn selbst dann, wenn aufgrund eines Geschäftsverteilungsplans die Bearbeitung vom Revisionsgericht zurückverwiesener Sachen einer bestimmten Strafkammer, ohne dass hierzu eine durch personelle Engpässe oder sonstige besondere Umstände begründete Notwendigkeit bestanden hätte, einer mit solchen Richtern besetzten Strafkammer zugewiesen wird, die zuvor aufgrund einer anderen Kammerzugehörigkeit regelmäßig an den in Rede stehenden zurückverwiesenen Sachen beteiligt waren, liegt die Annahme einer rechtswidrigen Umgehung der Vorschrift des § 354 Abs. 2 StPO ausgesprochen nahe (BGH, Beschluss vom 28. November 2012 - 5 StR 416/12 -, juris). Hier wäre eine Zuweisung von zum zweiten Mal zurückverwiesener Verfahren an die 1. bzw. 2. Große Jugendkammer offensichtlich rechtswidrig, da diese immer als erster bzw. zweiter Spruchkörper bereits mit der Sache befasst waren und somit schon nach dem Wortlaut keine „andere“ Kammer gemäß § 354 Abs. 2 StPO sind. Aber auch eine Zuweisung an die als Beschwerdekammer ausgestattete 3. Große Jugendkammer scheidet wegen rechtswidriger Umgehung der Vorschrift des § 354 Abs. 2 StPO aus, da der Vorsitzende der 3. Großen Jugendkammer als Vorsitzender der 2. Großen Jugendkammer bzw. mit Wirkung des Präsidiumsbeschlusses vom 20. Mai 2020 als Vorsitzender der 1. Großen Jugendkammer immer an den zurückverwiesenen Verfahren beteiligt war. Somit blieb nur die unterjährige Einrichtung einer weiteren Jugendkammer als Auffangkammer.
19 Um dem Anschein einer willkürlichen Zuständigkeitsverschiebung entgegenzuwirken, muss die Dokumentation der Gründe, die eine Umverteilung von Geschäftsaufgaben während des laufenden Geschäftsjahrs erfordern, so detailliert ausgestaltet sein, dass dem Rechtsmittelgericht eine Prüfung der Rechtmäßigkeit möglich ist (BGH, Urteil vom 21. Mai 2015 - 4 StR 577/14 -, juris). Eine weitergehende Dokumentations- und Begründungspflicht wurde angenommen für Fälle, bei denen etwa eine Richterin ausgewechselt werden sollte (BGH a.a.O.), ausschließlich bereits anhängige Verfahren umverteilt wurden (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 16. Februar 2005 - 2 BvR 581/03 -, juris, NJW 2005, 2689, 2690) oder eine Umverteilung wegen Überlastung eines Spruchkörpers erfolgt ist (BGH, Urteil vom 09. April 2009 - 3 StR 376/08 -, BGHSt 53, 268-283). Hier erfolgte aber keine Umverteilung wegen personellen Wechsels, Arbeitsüberlastung oder aus irgendeinem anderen Gesichtspunkt, der sich nicht bereits vollumfänglich aus dem Geschäftsverteilungsplan und den gesetzlichen Vorschriften ergeben würde. Das Erfordernis der unterjährigen Einrichtung einer anderen Jugendkammer ergibt sich nämlich schon aus § 354 Abs. 2 StPO und die Reglung erstreckt sich nicht nur auf das bereits anhängige Verfahren gegen den Angeklagten Ö. und seinen Mitangeklagten K., sondern erfasst eine unbestimmte Vielzahl künftiger Verfahren. Eine fachgerichtliche Prüfung ist ohne weiteres möglich, wobei „anlässlich des Bedarfs einer Auffangkammer“ als Begründung für die Zuweisung sowohl anhängiger als auch künftiger Verfahren an die unterjährig eingerichtete 4. Große Jugendkammer ausreichend ist.
20 Der Angeklagte Ö. hatte zu keinem Zeitpunkt einen berechtigten Anlass zu der Annahme, die Gerichtszuständigkeit sei zu seinen Lasten manipuliert worden, vielmehr hat das Präsidium durch die unterjährige Einrichtung der 4. Großen Jugendkammer die einzige Möglichkeit ergriffen, um die gesetzwidrige Regelungslücke im Geschäftsverteilungsplan für alle – auch künftige – Verfahren, die zum zweiten Mal vor eine andere große Strafkammer oder eine andere große Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen wurden, zu schließen und gleichzeitig das Ziel des § 354 Abs. 2 StPO zu wahren, dass eine solche zurückverwiesene Sache jedenfalls in der Regel von anderen Richtern bearbeitet wird, was bei keinem der am Landgericht Hechingen bis dato bestehenden Spruchkörpern der Fall gewesen wäre, da diese sämtlich bereits als Spruchkörper bzw. jedenfalls deren Vorsitzende mit dem Verfahren befasst waren.
III.
21 Einer Kostenentscheidung bedarf es nicht, da weder das KVGKG noch das RVG für das Vorabentscheidungsverfahren eine Gebühr vorsehen und Auslagen nicht entstehen (vgl. für den Verwerfungsbeschluss im Revisionsverfahren Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 63. Auflage, § 346 Rn. 12). Eine Vorlagepflicht nach § 121 Absatz 2 Nummer 4 GVG wird durch eine divergierende Kostenentscheidung nicht ausgelöst (vgl. Kissel/Mayer, GVG, 9. Auflage, § 121 Rn. 20).
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Tenor
Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Arnsberg vom 6. August 2019 wird abgelehnt.
Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 50.000 Euro festgesetzt.
1G r ü n d e :
2Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Die geltend gemachten Zulassungsgründe liegen nach den insoweit maßgeblichen und innerhalb der Frist zur Begründung des Zulassungsantrags erfolgten Darlegungen der Klägerin (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) nicht vor.
31. Die Berufung ist nicht wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen. Ernstliche Zweifel sind begründet, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt werden.
4Vgl. BVerfG, Beschluss vom 9. Juni 2016 - 1 BvR 2453/12 -, juris, Rn. 16.
5Hieran fehlt es.
6Das Verwaltungsgericht hat ausgeführt, aus § 8 KHG sei abzuleiten, dass ein geeignetes - d.h. bedarfsgerechtes, leistungsfähiges und kostengünstig wirtschaftendes - Krankenhaus einen Anspruch auf Feststellung der Aufnahme in den Krankenhausplan habe, wenn es anbiete, einen anderweitig nicht gedeckten Bedarf zu befriedigen. Sei - wie hier für die Geriatrie - das Bettenangebot jedoch größer als der Bedarf - gebe es also konkurrierende Krankenhäuser, die ebenfalls geeignet seien - stehe die Auswahlentscheidung nach § 8 Abs. 2 Satz 2 KHG im pflichtgemäßen Ermessen der zuständigen Landesbehörde mit der Folge, dass das einzelne Krankenhaus lediglich einen Anspruch auf fehlerfreie Ermessensentscheidung habe. Die gerichtliche Kontrolle beschränke sich auf die Nachprüfung, ob die Behörde bei ihrer Entscheidung darüber, welches Krankenhaus den Zielen der Krankenhausbedarfsplanung des Landes am besten gerecht werde, von einem zutreffenden und vollständig ermittelten Sachverhalt ausgegangen sei, ob sie einen sich sowohl im Rahmen des Gesetzes wie auch im Rahmen der Beurteilungsermächtigung haltenden Beurteilungsmaßstab zutreffend angewandt habe und ob für ihre Entscheidung keine sachfremden Erwägungen bestimmend gewesen seien. Bei der Auswahlentscheidung seien zudem die in § 1 KHG genannten Ziele in den Blick zu nehmen und angemessen zu berücksichtigen (§ 6 Abs. 1 Halbsatz 1 KHG). Danach sei das beklagte Land bei der von ihm zu treffenden Auswahlentscheidung in nicht zu beanstandender Weise davon ausgegangen, dass das Krankenhaus der Beigeladenen die Voraussetzungen für die Ausweisung einer Geriatrie besser erfülle als die übrigen Krankenhäuser.
7a) Hiergegen wendet die Klägerin ein, das Verwaltungsgericht sei zu Unrecht von einer fehlerfreien Ermessensentscheidung des Beklagten ausgegangen. Es habe verkannt, dass es sich bei ihrem Krankenhaus und dem der Beigeladenen nicht um gleich geeignete Krankenhäuser gehandelt habe. Der Krankenhausplan NRW 2015 erfordere den Nachweis der Einbindung in einen geriatrischen Versorgungsverbund als Voraussetzung für die Planaufnahme. Die Beigeladene hätte deshalb entsprechende Vereinbarungen vorzulegen gehabt. Daran habe es bis zum Abschluss der mündlichen Verhandlung gefehlt. Das Krankenhaus der Beigeladenen sei deshalb wegen geringerer Leistungsfähigkeit schon nicht als gleich geeignetes Krankenhaus anzusehen.
8aa) Soweit die Klägerin mit diesem Vortrag (schon) die Leistungsfähigkeit des Krankenhauses der Beigeladenen als Voraussetzung für ihre Beteiligung am Auswahlverfahren in Frage stellen will, lässt der Senat dahinstehen, ob dies in der Zulassungsbegründung hinreichenden Ausdruck findet. Aus der behaupteten geringeren Eignung des Krankenhauses der Beigeladenen würde nicht folgen, dass dieses an der Auswahlentscheidung nicht hätte beteiligt werden dürfen, denn für die Teilnahme an der Auswahlentscheidung wäre nur erforderlich, dass das Krankenhaus der Beigeladenen überhaupt geeignet (leistungsfähig) ist, nicht aber, dass es mehr oder weniger geeignet ist als das der Klägerin.
9Die Bezugnahme der Klägerin auf das Urteil des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 27. Januar 2017 - 21 K 341/15 - (juris) ist insoweit unergiebig. Die Klägerin weist zwar zutreffend darauf hin, dass der Beklagte in jenem Fall bereits die Leistungsfähigkeit des klagenden Krankenhauses wegen des fehlenden Nachweises einer dauerhaften Beteiligung an einem über die stationären Strukturen hinausgehenden geriatrischen Versorgungsverbund verneint (juris, Rn. 105) und dieses deshalb auch nicht in die Auswahlentscheidung nach § 8 Abs. 2 Satz 2 KHG einbezogen hatte. In der Sache trägt die Klägerin aber lediglich vor, der Beklagte messe mit unterschiedlichen Maßstäben, weil in jenem Verfahren - anders als hier - Absichtserklärungen nicht genügt hätten, vielmehr Nachweise für eine bereits bestehende Einbindung in den geriatrischen Versorgungsverbund verlangt worden seien.
10bb) Für die Annahme, die Beigeladene habe entgegen der Einschätzung des Verwaltungsgerichts zum Nachweis der Teilnahme an einem geriatrischen Versorgungsverbund unzureichende Unterlagen vorgelegt, bietet das Zulassungsvorbringen jedenfalls keinen hinreichenden Anlass. Offen bleiben kann deshalb, ob die Beteiligung an einem geriatrischen Versorgungsverbund überhaupt in zulässiger Weise zum Gegenstand einer Planaufnahmevoraussetzung, etwa der Leistungsfähigkeit, gemacht werden kann, wovon Ziffer 5.3.1.3 cf) des keine Außenwirkung entfaltenden Krankenhausplans NRW 2015 offensichtlich ausgeht,
11danach werden über die Teilnahme an einem geriatrischen Versorgungsverbund zwischen den beteiligten Einrichtungen Kooperationsvereinbarungen getroffen, die Screening- und Assessmentverfahren einschließen, wobei diese Organisation Voraussetzung für die Aufnahme in den Krankenhausplan und die Teilnahme an der stationären Versorgung in diesem Leistungsbereich ist; vgl. auch Verwaltungsgericht Düsseldorf, Urteil vom 27. Januar 2017 - 21 K 341/15 -, Rn. 105, 173, das davon ausgegangen ist, dass die Beteiligung an einem geriatrischen Versorgungsverbund zum Nachweis der Leistungsfähigkeit erforderlich ist; vgl. zur Definition der Leistungsfähigkeit hingegen BVerfG, Beschluss vom 12. Juni 1990 - 1 BvR 355/86 -, juris, Rn. 72,
12oder ein erst bei der Auswahlentscheidung zu berücksichtigendes Kriterium darstellt, wovon - so die Klägerin - das Verwaltungsgericht ohne dies zu begründen wohl ausgegangen sei.
13Vgl. hierauf möglicherweise hindeutend § 12 Abs. 4 Satz 3 KHGG NRW in der seit dem 30. März 2018 geltenden Fassung des Artikel 14 des Gesetzes zum Abbau unnötiger und belastender Vorschriften im Land Nordrhein-Westfalen - Entfesselungspaket I - vom 22. März 2018 (GV. NRW. S. 172) zur Berücksichtigung von Kooperationen des Krankenhauses mit der Ärzteschaft, Rehabilitations- und Pflegeeinrichtungen sowie übrigen an der Patientenversorgung beteiligten ambulanten stationären Einrichtungen bei der Auswahlentscheidung,
14(1) Der Senat hat bezogen auf die vom Krankenhaus nachzuweisende Leistungsfähigkeit in seinem Beschluss vom 13. Oktober 2015 - 13 B 839/15 -, juris, Rn. 11 f., ausgeführt, im Fall eines erst geplanten Krankenhauses oder einer konzipierten Fachabteilung genüge es, hinreichend konkretisierte Pläne vorzulegen, aus denen sich insbesondere die Zahl der zu beschäftigenden Fachärzte und anderen Ärzte im Verhältnis zur geplanten Bettenzahl und die weitere personelle sowie räumliche und medizinisch-technische Ausstattung ergebe. Ferner müsse der Krankenhausträger nachweisen, dass er die Gewähr für die Dauerhaftigkeit der zu erbringenden angebotenen pflegerischen und ärztlichen Leistungen biete.
15So auch Sächs. OVG, Urteil vom 21. Juni 2018 - 5 A 684/17 -, juris, Rn. 40; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 5. Dezember 2012 - 9 S 2770/10 -, juris, Rn. 26.
16Dem liegt die Erwägung zu Grunde, dass von einem Krankenhaus auch mit Blick auf Art. 12 Abs. 1 GG nicht unter allen Umständen erwartet werden kann, wirtschaftliche Investitionen und oder sonstige verbindliche Absprachen zu treffen, die sich als nutzlos erweisen, wenn die Planaufnahme scheitert. Soweit es als Planaufnahmevoraussetzung oder für die Auswahlentscheidung maßgeblich auf den nach Ziffer 5.3.1.3 cf) des Krankenhausplans NRW 2015 erforderlichen Nachweis der Teilnahme an einem geriatrischen Versorgungsverbund ankommt, gilt nichts anderes. Nach den obigen Erwägungen ausreichend ist auch dann die Vorlage eines hinsichtlich seines Inhalts und seiner Realisierbarkeit hinreichend konkreten und schlüssigen Konzepts, das Gewähr für die Dauerhaftigkeit der erforderlichen Leistungen des geriatrischen Versorgungsverbundes bietet.
17(2) Das Verwaltungsgericht ist davon ausgegangen, die Beigeladene habe diesen Vorgaben genügende Unterlagen vorgelegt. Hierzu hat es ausgeführt (Urteilsabdruck Bl. 22 f.), die Beurteilung der Bezirksregierung B. , das von der Beigeladenen im Verwaltungsverfahren vorgelegte Konzept des beabsichtigten geriatrischen Versorgungsverbunds sei im Zeitpunkt der Ermessensbetätigung hinreichend konkretisiert, um zukünftig den Anforderungen des Krankenhausplans NRW 2015 gerecht zu werden, unterliege keinen Ermessensfehlern. Die Beigeladene habe bereits im Planungsverfahren konkrete Pläne und Konzepte vorgelegt. Von den 30 potentiellen Mitgliedern des Versorgungs-Verbunds Geriatrie-Hochsauerland, der in der Rechtsform eines eingetragenen Vereins geführt werden solle, hätten 15 Mitglieder eine Absichtserklärung abgegeben. Die näheren beabsichtigten Maßnahmen zur Umsetzung des Versorgungsverbundes seien von der Beigeladenen in ihrer Stellungnahme vom 30. Oktober 2014 hinreichend dargelegt worden. Weiter hat das Verwaltungsgericht ausgeführt, es verkenne nicht, dass der Verein „Versorgungs-Verbund Geriatrie Hochsauerland e.V.“ bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht zustande gekommen sei; die Ermessenserwägungen des beklagten Landes beruhten jedoch weiterhin auf dem für tragfähig befundenen Konzept der Beigeladenen. Die Beigeladene habe in der mündlichen Verhandlung vertiefend ausgeführt, dass in ihrem Hause eine Kooperation aller beteiligten Abteilungen bereits stattfinde (vgl. Abschnitt 5.3.1.3 Unterabschnitte cf) und ci) des Krankenhausplans NRW 2015).
18Diesen Ausführungen setzt die Klägerin im Zulassungsverfahren nichts Durchgreifendes entgegen. Dass es, obgleich die Beigeladene unterschriebene Erklärungen über den beabsichtigten Beitritt in den Verein von diversen Kooperationspartnern (namentlich aufgeführte ambulante Pflegedienste, Einrichtungen über betreutes Wohnen, zahlreiche Arztpraxen, Apotheken und sonstige Einrichtungen (Physiotherapie, Logopädie, Sanitätshäuser, Caritasverband Brilon betreffend einen Hausnotrufdienst, Essen auf Rädern und Tagesbegleitungen, vgl. dazu Verwaltungsvorgang Bl. 1360)) vorgelegt und weitere in Aussicht gestellt hatte, an fachlich geeigneten externen Kooperationspartnern gefehlt haben könnte, legt die Klägerin nicht in substantiierter Weise dar. Eine fehlende Realisierbarkeit des Konzepts zeigt sie nicht auf. Anlass, an der Dauerhaftigkeit der Kooperation zu zweifeln, bestehen ebenfalls nicht.
19Im Übrigen folgt auch aus dem Urteil des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 27. Januar 2017 - 21 K 341/15 - nicht, dass die Beigeladene im Planungsverfahren Vertragsunterlagen, welche die Einbindung in einen bereits bestehenden geriatrischen Versorgungsverbund belegen, vorzulegen gehabt hätte. Das Verwaltungsgericht Düsseldorf hatte in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Senats ausgeführt, im Fall eines erst geplanten Krankenhauses oder einer konzipierten Fachabteilung müssten hinreichend konkretisierte Pläne vorgelegt werden (juris, Rn. 101). Das Vorliegen dieser Voraussetzungen hatte es jedoch in dem von ihm entschiedenen Einzelfall verneint und dazu ausgeführt, es sei nicht nachvollziehbar, ob die Klägerin Gewähr für die Dauerhaftigkeit der zu erbringenden angebotenen pflegerischen und ärztlichen Leistungen böte. Dies gelte insbesondere mit Blick auf den Nachweis der dauerhaften Beteiligung an einem über die stationären Strukturen hinausgehenden geriatrischen Versorgungsverbund (juris, Rn. 105). Derartige Bedenken hatten im vorliegenden Fall aber weder die Bezirksregierung B. noch das Verwaltungsgericht. Weshalb „Absichtserklärungen“ generell die Ernsthaftigkeit der Kooperationspartner, sich dauerhaft an einem geriatrischen Versorgungsverbund zu beteiligen, in Frage stellen müssten, zeigt auch die Klägerin nicht auf.
20b) Die gegen die Rechtmäßigkeit der Auswahlentscheidung im Übrigen gerichteten Einwände der Klägerin verhelfen dem Zulassungsantrag ebenfalls nicht zum Erfolg.
21aa) Die Rüge, die Ermessensentscheidung habe nicht allein unter Berücksichtigung der Wohnortnähe zu Gunsten der Beigeladenen ausfallen dürfen, lässt unberücksichtigt, dass das Verwaltungsgericht ausgeführt hat (Urteilsabdruck Bl. 19 f.), es sei nicht zu beanstanden, wenn sich die Bezirksregierung B. von den Rahmenvorgaben des im Zeitpunkt der Entscheidung maßgeblichen Krankenhausplans 2015 des Landes Nordrhein-Westfalen habe leiten lassen. In diesem Plan sei unter Abschnitt 2.2.2.4 ausgeführt, dass gerade für ältere und hoch betagte Menschen ein wohnortnahes, bedarfsgerechtes und flächendeckendes stationäres Versorgungsangebot sehr wichtig sei. Hierauf aufbauend sei es ohne weiteres sachgerecht und rechtlich zulässig, dass sich die Bezirksregierung B. bei ihrer Entscheidung - u.a. neben den Erwägungen, dass die Beigeladene auch eine Teildisziplin Kardiologie vorhalte und Brilon eine höhere Einwohnerzahl habe als Marsberg und als Winterberg -, von der geographischen Lage des Krankenhauses in Brilon habe leiten lassen und maßgeblich darauf abgestellt habe, dass das Krankenhaus zentraler im östlichen Teil des Versorgungsgebiets 15 liege als das Krankenhaus der Klägerin (vgl. Vorlagebericht der Bezirksregierung B. vom 24. Mai 2017, Verwaltungsvorgang Bl. 749, sowie Vorlagebericht vom 22. November 2017, Verwaltungsvorgang Bl. 1256 f.).
22Dass die geographische Lage, anders als die Klägerin meint, tatsächlich nicht alleiniges Kriterium für die Auswahlentscheidung war, folgt im Übrigen aus dem den Antrag der Klägerin auf Planaufnahme ablehnenden Feststellungsbescheid (27/18) vom 17. Mai 2018, Bl. 6.), in dem es heißt, die geriatrischen Konzepte der drei konkurrierenden Krankenhäuser seien hinsichtlich der personellen Strukturen, der räumlichen Ausstattung, der Prozessqualität, der Qualitätssicherung geriatrischer Einrichtungen, der jeweiligen geriatrischen Versorgungsverbünde sowie Kooperationen mit einer Psychiatrie miteinander verglichen und bewertet worden. Nach abschließender Bewertung sei das städtische Krankenhaus Maria-Hilf Brilon besser geeignet als das der Klägerin.
23Ausgehend hiervon ist nicht ersichtlich, weshalb Entfernungskilometer und zeitliche Komponenten für die Überbrückung der Entfernung für den Ausgang der Ermessensentscheidung von ausschlaggebender Bedeutung waren oder hätten sein müssen. Im Übrigen wäre eine Geriatrie in Winterberg jedenfalls für Bewohner des nordöstlichen Teils des Versorgungsgebiets 15 (Marsberg) auch weiter entfernt als eine Geriatrie in zentralerer Lage des östlichen Hochsauerlandkreises in Brilon. Schon dies legt nicht nahe, dass die Auswahlentscheidung wegen der zurückzulegenden Entfernungen zu Gunsten der Klägerin hätte ausfallen müssen.
24bb) Anders als die Klägerin meint, sind die Fallzahlen bei der Entscheidungsfindung des Beklagten nicht unberücksichtigt geblieben. Hierzu hatte die Bezirksregierung B. bereits erstinstanzlich ausgeführt, sämtliche abgerechneten Fälle der OPS 8-550 (geriatrische frührehabilitative Komplexbehandlung) für die Jahre 2014 bis 2017 seien festgestellt worden. Da es sich bei den drei konkurrierenden Anträgen aber um Anträge auf Neuausweisung einer Hauptabteilung Geriatrie gehandelt habe, lasse sich aus der sich aus den Fallzahlen ergebenden „gelebten Versorgung“ kein gesetzlicher Vorrang gegenüber neu hinzutretenden Bewerbern ableiten, weil es ansonsten einem Krankenhaus, welches die Neuausweisung einer Geriatrie beantrage, ohne bisher geriatrische Leistungen erbracht zu haben, unmöglich wäre, in den Krankenhausplan aufgenommen zu werden. Dies sei mit Art. 12 Abs. 1 GG nicht vereinbar (vgl. Widerspruchsbescheid vom 29. November 2018, Seite 7). Ermessensfehlerhaft sind diese Erwägungen nicht.
25cc) Die Rüge der Klägerin, im angefochtenen Bescheid fehlten Erwägungen der Bezirksregierung B. zur Frage der Ausweisung mehrerer geriatrischer Abteilungen, rechtfertigt nicht die Annahme, die Ausweisung nur einer weiteren geriatrischen Abteilung im östlichen Teil des Versorgungsgebiets 15 sei wegen eines Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG rechtswidrig. Die Bezirksregierung hat hierzu erläutert, nach Maßgabe des Krankenhausplans NRW 2015 sei nicht an jedem Krankenhaus eine Geriatrie auszuweisen. Eine Ausweisung von mehreren geriatrischen Abteilungen im östlichen Teil des Versorgungsgebiets hat sie deshalb nicht als notwendig und bedarfsgerecht erachtet. Für die Ausweisung nur eines Krankenhauses bestand insofern ein sachlicher Grund. Im Übrigen heißt es in dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. Juli 1985 - 3 C 25.84 -, juris, Rn. 67, auch lediglich, letztlich sei auch zu erwägen, ob der Grundsatz der Gleichbehandlung gemäß Art. 3 Abs. 1 GG dazu führen könne, dass mehrere in gleichem Maße geeignete Krankenhäuser anteilig berücksichtigt werden müssten. Von einer gleichen Eignung der Krankenhäuser ist die Bezirksregierung B. jedoch nicht ausgegangen.
26dd) Anlass zur Annahme, der Bedarf sei in unzutreffender Weise ermittelt worden, bietet das Zulassungsvorbringen ebenfalls nicht. Hierzu hat die Bezirksregierung B. im Klageverfahren mit Schriftsatz vom 29. Oktober 2018 (Bl. 2) unter Verweis auf ihre an das Ministerium übersandten Vorlageberichte vom 24. Mai 2017 (Verwaltungsvorgang Bl. 748) und vom 22. November 2017 (Verwaltungsvorgang Bl. 1256 f.) ausgeführt, der rechnerische Bedarf für das Versorgungsgebiet 15 betrage nach der Hill-Burton-Formel unter Verwendung der Parameter des Krankenhausplans NRW 2015 für die Geriatrie 77 Betten. Unter Berücksichtigung der altersbereinigten Krankenhaushäufigkeit ergebe sich nach der Hill-Burton-Formel ein Bedarf von 89,8 geriatrischen Betten. Der tatsächlich nachgefragte Bedarf an geriatrischen Betten im Versorgungsgebiet 15, ermittelt anhand der abgerechneten OPS 8-550 (dazu Verwaltungsvorgang Blatt 1.257 sowie 1.367-1.369) habe in den Jahren 2014 - 2016 im Durchschnitt zwar bei 124 Betten gelegen. Da geriatrische Leistungen innerhalb der Inneren Medizin von Krankenhäusern im Versorgungsgebiet 15 erbracht würden, halte sie einen Bedarf von insgesamt 90 geriatrischen Betten (davon 60 für das Klinikum B. für den westlichen Teil des Hochsauerlandkreises) für erforderlich und bedarfsgerecht. Durchgreifende Einwände gegen diese Ausführungen erhebt die Klägerin nicht. Soweit sie auf die hohe Auslastung der Krankenhäuser verweist, hat die Bezirksregierung B. die tatsächlich nachgefragten Leistungen bei der Bedarfsberechnung berücksichtigt, eine über 90 Betten hinausgehende Bettenausweisung gleichwohl aber wegen weiterhin in der Inneren Medizin erbrachter geriatrischer Leistungen nicht als bedarfsgerecht angesehen. Weshalb dies fehlerhaft sein sollte, zeigt die Klägerin nicht auf.
272. Die Berufung ist nicht wegen besonderer tatsächlicher oder rechtlicher Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO zuzulassen. Der Begriff der besonderen Schwierigkeiten im Sinne dieser Norm ist funktionsbezogen dahin auszulegen, dass besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten dann vorliegen, wenn die Angriffe des Rechtsmittelführers begründeten Anlass zu Zweifeln an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung geben, die sich nicht ohne weiteres im Zulassungsverfahren klären lassen, sondern die Durchführung eines Berufungsverfahrens erfordern. Solche begründeten Zweifel bestehen, wie sich aus den Ausführungen unter 1. ergibt, nicht.
283. Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO liegt ebenfalls nicht vor.
29Die von der Klägerin aufgeworfene Frage,
30„ob ein Krankenhaus in NRW nur dann leistungsfähig ist, wenn es die Einbindung in einen geriatrischen Versorgungsverbund nachweist, wie es der Krankenhausplan NRW verlangt, oder aber bloße Absichtserklärungen und Pläne im Hinblick auf die beabsichtigte Gründung eines Vereins „Versorgungs-Verbund-Hochsauerland“ ausreichend sind, die aus § 1 Abs. 1 KHG abgeleitete notwendige Leistungsfähigkeit für die geriatrische Versorgung zu belegen,“
31bedarf keiner Entscheidung in einem Berufungsverfahren. Das Verwaltungsgericht hat, wie aus den Ausführungen zu 1. folgt, im Einklang mit der Rechtsprechung des Senats zutreffend zu Grunde gelegt, dass es im Fall eines erst geplanten Krankenhauses oder einer konzipierten Fachabteilung genügt, hinreichend konkretisierte Pläne über die dauerhafte Einbindung in einen geriatrischen Versorgungsverbund vorzulegen. Soweit die Frage darauf abzielt, zu klären, ob die (nachgewiesene) Teilnahme an einem geriatrischen Versorgungsverbund für die Leistungsfähigkeit eines Krankenhauses erforderlich ist, ist dies im vorliegenden Fall nicht entscheidungsrelevant.
32Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 3 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 1 GKG.
33Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG). Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).
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Tenor
Die sofortige Beschwerde der Antragsgegnerin vom 23. September 2020 gegen den Akteneinsichtsbeschluss der Vergabekammer N. beim N. Ministerium für Wirtschaft, Arbeit, Verkehr und Digitalisierung in L. vom 11. September 2020 (VgK-34/2020) wird auf Kosten der Antragsgegnerin als unzulässig verworfen.
Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der zur zweckentsprechenden Rechtsverteidigung notwendigen außergerichtlichen Auslagen der Antragstellerin zu tragen.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf bis 5.000 € festgesetzt.
Gründe
1
I. Die Antragsgegnerin schrieb mit EU-weiter Auftragsbekanntmachung Leistungen der Straßenreinigung im Gebiet der Stadt L. aus. Diese Leistungen sollen ab dem 1. Januar 2021 für drei Jahre erbracht werden. Einziges Zuschlagskriterium ist der Preis. Insgesamt gaben drei Unternehmen fristgerecht ein Angebot ab, darunter die Antragstellerin. Am 26. August 2020 informierte die Antragsgegnerin auf elektronischem Wege die Antragstellerin, dass sie beabsichtige, den Zuschlag einem der anderen Unternehmen zu erteilen. Unter dem 31. August 2020 erhob die Antragstellerin eine Rüge und machte geltend, dass diesem Unternehmen kein Zuschlag erteilt werden könne, weil es mehrere Kriterien aus der Leistungsbeschreibung nicht erfülle: Nach Informationen der Antragstellerin habe es in seinem Fahrzeug keinen Kehrstaubfilter verbaut; es halte keine Ersatzmaschine(n) vor, die die Euro-6-Norm erfüllten; wahrscheinlich fehle eine GPS-gestützte Positionsaufzeichnung für die Einschaltung des Kehrbesens; es habe nicht angegeben, wie und wo der Kehricht zur Verwertung aufbereitet werden solle. Noch am selben Tage teilte die Antragsgegnerin der Antragstellerin mit, der Rüge nicht abzuhelfen. Daraufhin hat die Antragstellerin am 3. September 2020 den Nachprüfungsantrag gestellt und Einsicht in die Vergabeakten der Antragsgegnerin beantragt. Die Antragsgegnerin ist mit Schriftsatz vom 9. September 2020 dem Nachprüfungsantrag und dem Akteneinsichtsgesuch entgegengetreten: Der Nachprüfungsantrag sei bereits unzulässig, weil sowohl die Rüge als auch der Nachprüfungsantrag auf Behauptungen ins Blaue hinein gestützt seien. Daraus wiederum folge, dass der Antragstellerin auch kein Recht auf Akteneinsicht zustehe.
2
Mit dem angefochtenen Beschluss will die Vergabekammer erstens der Antragstellerin Einsicht in zwei – dann ungeschwärzte – Dateien („Gesamtvermerk geschwärzt“, „Vermerk Fachamt geschwärzt“) gewähren, zweitens sich vorbehalten, weitere Dateien je nach Ablauf des Nachprüfungsverfahrens offenzulegen, diese jedoch vorher auf Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse zu prüfen und bei Bedarf im erforderlichen Umfang zu schwärzen, und drittens den Verfahrensbeteiligten bei Bedarf Auszüge aus den Vergabeunterlagen (Matrix und Vergabedokumentation), in denen jeder Verfahrensbeteiligte nur die Wertung des eigenen Angebots vollständig erkennen kann und fremde Wertungen vollständig geschwärzt werden, zu übersenden. Der Nachprüfungsantrag sei nicht unzulässig, weil die Behauptungen der Antragstellerin nicht fernlägen. Zudem könne sich die Antragsgegnerin nicht darauf berufen, dass die Akteneinsicht Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse der Beizuladenden verletze.
3
Dagegen richtet sich die sofortige Beschwerde der Antragsgegnerin vom23. September 2020, die daran festhält, dass der Nachprüfungsantrag unzulässig sei und der Antragstellerin daher kein Recht auf Akteneinsicht zustehen, und ihr Vorbringen vertieft.
4
Die Antragsgegnerin beantragt,
5
1. den Akteneinsichtsbeschluss der Vergabekammer N. vom 11. September 2020 (Az. VgK-34/2020) aufzuheben,
6
2. der Antragstellerin die Akteneinsicht in die Vergabeakte zu versagen,
7
3. den Suspensiveffekt der sofortigen Beschwerde gegen den Akteneinsichtsbeschluss bis zur Entscheidung über die sofortige Beschwerde zu verlängern.
8
Die Antragstellerin beantragt,
9
1. die sofortige Beschwerde zu verwerfen,
10
2. hilfsweise: die sofortige Beschwerde zurückzuweisen,
11
3. die Hinzuziehung der Verfahrensbevollmächtigten auf Seiten der Antragstellerin für notwendig zu erklären.
12
Sie verteidigt die Entscheidung der Vergabekammer und verweist darauf, dass die Antragsgegnerin bereits nicht geltend mache, dass durch die gewährte Einsicht ihre eigenen Geheimschutzbereiche berührt seien, und dass die Vergabekammer zum Schutz etwaiger Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse der Bieter ohnehin nur eingeschränkt Akteneinsicht gewähre.
13
II. Die sofortige Beschwerde der Antragsgegnerin ist bereits nicht zulässig, weil ihr das Rechtsschutzbedürfnis fehlt:
14
Zwar ist anerkannt, dass die Entscheidung der Vergabekammer, dass bestimmte Informationen, für die Schutz als Geschäfts- oder Betriebsgeheimnis beansprucht wird, offenzulegen sind, rechtsmittelfähig ist (BGH, Beschluss vom 31. Januar 2017 – X ZB 10/16, juris, Rn. 51 f.).
15
Ein Beteiligter kann sich aber nur dann mit der sofortigen Beschwerde gegen die Entscheidung der Vergabekammer wenden, wenn er geltend machen will, dass durch einen Vollzug der Akteneinsicht seine Rechte auf Schutz seiner Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse in einer durch die Hauptsacheentscheidung nicht wiedergutzumachender Weise beeinträchtigt werden (OLG Frankfurt, Beschluss vom 12. Dezember 2014 – 11 Verg 8/14, juris, Rn. 34; OLG München, Beschluss vom 28. April 2016 – Verg 3/16, juris, Rn. 40; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 5. März 2008 – VII-Verg 12/08, juris, Rn. 9, 15; Ziekow/Völlink/Dicks, 4. Auflage 2020, GWB § 165 Rn. 13; Beck VergabeR/Vavra, 3. Auflage 2017, GWB§ 165 Rn. 39; Röwekamp/Kus/Portz/Prieß, GWB-Vergaberecht, 5. Auflage,§ 165 GWB Rn. 63). Der Beschwerdeführer hat in seiner Beschwerde zu begründen, welche konkreten Daten weshalb besonders schützenswert sein sollen
16
(Beck VergabeR/Vavra, 3. Auflage 2017, GWB § 171 Rn. 22). Beteiligt an den Zwischenverfahren sind regelmäßig nur der jeweilige Bieter und das die Einsicht begehrende Unternehmen; der Auftraggeber kann nur dann ein Beteiligter sein, wenn eigene Geheimschutzbereiche berührt sind (BGH, a. a. O., Rn. 44).
17
Die Möglichkeit der sofortigen Beschwerde gegen diese Zwischenentscheidung dient entsprechend nicht dazu, bereits vorab über die Zulässigkeit oder Begründetheit des Nachprüfungsantrags selbst zu befinden und damit indirekt die Entscheidung der Vergabekammer über den Nachprüfungsantrag zu beeinflussen, für deren Überprüfung die sofortige Beschwerde in der Hauptsache offensteht. Sie dient stattdessen dazu, die Abwägungsentscheidung über die Akteneinsicht einer gerichtlichen Kontrolle zugänglich zu machen, um schwerwiegenden Schäden, die einem Bieter durch eine unberechtigte Offenlegung seiner Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse einem Wettbewerber gegenüber entstehen könnten, vorzubeugen – unabhängig vom Ausgang der Nachprüfung in der Hauptsache.
18
Wie die Antragsgegnerin in ihrer ergänzenden Stellungnahme vom1. Oktober 2020 selbst einräumt, hat sie hier keine eigenen Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse, die sie geltend machen könnte.
19
Im Übrigen ergibt sich aus dem Vorbringen der Antragsgegnerin auch nicht, welche konkreten Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse der Mindestbietenden und des dritten Unternehmens die beiden bislang geschwärzten Dateien enthalten konnten, deren Offenlegung sie im Verhältnis zur Antragstellerin im Wettbewerb künftig benachteiligen könnte. Solche sind auch nach Einsichtnahme in die Datei „Gesamtvermerk geschwärzt“ in ungeschwärzter Fassung nicht ersichtlich. Die Vergabekammer hat sich gerade vorbehalten, vor der Gewährung weitergehender Akteneinsicht die Inhalte anderer Dateien vorher auf Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse zu prüfen.
20
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von §§ 97 Abs. 1, 91 Abs. 1 ZPO in Verbindung mit § 175 Abs. 1 Satz 1 GWB. Einer gesonderten Entscheidung über die Notwendigkeit der Hinzuziehung der Verfahrensbevollmächtigten der Antragstellerin bedarf es nicht: Vor dem Oberlandesgericht besteht Anwaltszwang.
21
Der Streitwertfestsetzung nach § 50 Abs. 2 GKG hat der Senat gerundet ein Zehntel des am Auftragswert ausgerichteten Gegenstandswert zugrunde gelegt. Dadurch ist berücksichtigt worden, dass nicht schon die Gewährung der Akteneinsicht als solche über den Erfolg oder Misserfolg des Nachprüfungsantrags entscheidet.
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Tenor
Der Rechtsweg zu den Sozialgerichten ist zulässig.
1Gründe:
2I.
3Der Kläger wendet sich in der Sache gegen ein vom beklagten Jobcenter verhängtes Hausverbot.
4Der Kläger steht bei der Beklagten im Leistungsbezug nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II). Die Beklagte verhängte gegen ihn ein Hausverbot, gültig bis 20.01.2020 (Verfügung vom 22.01.2019). Den hiergegen erhobenen Widerspruch verwarf die Beklagte als unzulässig. Der Widerspruch sei nicht statthaft, sondern es sei unmittelbar Klage zum zuständigen Verwaltungsgericht zu erheben (Widerspruchsbescheid vom 20.01.2020).
5Der Kläger hat am 24.01.2020 Klage zum Sozialgericht Duisburg erhoben.
6Mit der Klage hat er im Hauptantrag begehrt, (nur) den Widerspruchsbescheid vom 20.01.2020 aufzuheben und die Beklagte zur erneuten Bescheidung seines Widerspruchs zu verurteilen. Hilfsweise hat er beantragt, den Bescheid vom 22.01.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides aufzuheben und festzustellen, dass das Hausverbot rechtswidrig gewesen sei.
7Das Sozialgericht hat die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 14.05.2020). Die Klage sei als kombinierte Anfechtung- und Verpflichtungsklage zulässig; Klagegegenstand seien die isolierte Aufhebung des Widerspruchsbescheides sowie die Zurückverweisung an die Beklagte zur erneuten Entscheidung. Die Klage sei aber unbegründet. Die Beklagte habe den Widerspruch gegen das Hausverbot zu Recht mit Hinweis auf das nicht vorgesehene Vorverfahren als unzulässig verworfen. Das Hausverbot stelle keine Angelegenheit der Grundsicherung für Arbeitsuchende i.S.d. § 51 Abs. 1 Nr. 4a Sozialgerichtsgesetz (SGG) dar und ein Widerspruch daher nicht vorgesehen. Der Rechtsweg führe unmittelbar zu den Verwaltungsgerichten.
8Der Kläger hat am 20.05.2020 Berufung eingelegt.
9Der einschlägigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG Beschluss vom 21.07.2014, B 14 SF 1/14 R; Beschluss vom 01.04.2009, B 14 SF 1/08 R), sei im Ergebnis zu folgen und der Sozialrechtsweg daher eröffnet. Außerdem habe das Sozialgericht die Beteiligten weder zur Frage der Rechtswegeröffnung angehört noch den Rechtsstreit (nach § 17a Gerichtsverfassungsgesetz (GVG)) verwiesen.
10Die Beklagte verteidigt den angegriffenen Gerichtsbescheid.
11II.
12Der Senat entscheidet über die Zulässigkeit des Sozialrechtsweges vorab durch Beschluss (§ 17a Abs. 3 S. 1 GVG). Eine solche Vorabentscheidung erscheint dem Senat angezeigt, weil die Frage der Rechtswegeröffnung zwischen den Beteiligten auch im Berufungsverfahren in der Sache zuletzt streitig war.
13Der Senat ist an einer Entscheidung nach § 17a Abs. 3 S. 1 GVG auch nicht deshalb gehindert, weil das SG den Sozialrechtsweg in dem angegriffenen Gerichtsbescheid (für den Hauptantrag) bejaht hat. Zwar prüft das Gericht, das über ein Rechtsmittel gegen eine Entscheidung in der Hauptsache entscheidet, grundsätzlich nicht, ob der beschrittene Rechtsweg zulässig ist (§ 17a Abs. 5 GVG). Das Rechtsmittelgericht ist an die Rechtswegentscheidung der Vorinstanz gebunden und zwar auch dann, wenn diese den Rechtsweg erst in ihrer Endentscheidung bejaht hat (vgl. BAG Beschluss vom 21.08.1996, 5 AZR 1011/94, amtl. Ls. 2; BGH Urteil vom 12.11.1992, V ZR 230/91, juris Rn. 11). Eine Bindungswirkung tritt jedoch dann nicht ein, wenn die Vorinstanz bei ihrer Rechtswegentscheidung gegen § 17a Abs. 3 S. 2 GVG verstoßen hat (BSG Beschluss vom 03.08.2011, B 11 SF 1/10 R, juris Rn. 14; Beschluss vom 20.10.2010, B 13 R 63/10 B, juris Rn. 26; BGH Urteil vom 23.09.1992, I ZB 3/92, juris Rn. 15; Urteil vom 25.02.1993, III ZR 9/92, juris Rn. 21; BAG a.a.O.). So liegt es hier: Das SG hätte gemäß § 17 Abs. 3 S. 2 GVG vorab durch Beschluss über die Zulässigkeit des Rechtsweges entscheiden müssen und nicht erst in seinem Gerichtsbescheid, weil zumindest die Beklagte die Zulässigkeit des Rechtsweges (mit Schriftsatz vom 04.02.2020) ausdrücklich gerügt hat. Der Kläger hat sich hierzu (mit Schriftsatz vom 15.02.2020) dahingehend eingelassen, dass er die Rechtsauffassung der Beklagten nicht teile; er "bitte um Entscheidung". Dass die Beklagte im weiteren Verlauf mitgeteilt hat, gegen die vom SG angekündigte Entscheidung durch Gerichtsbescheid bestünden keine Bedenken (Schriftsatz vom 19.03.2020), rechtfertigt nicht ohne weiteres den Schluss, die Beklagte hätte von ihren Bedenken hinsichtlich des Rechtsweges Abstand genommen. Dies könnte allenfalls dann angenommen werden, wenn die Beklagte auch für ein etwaiges Berufungsverfahren im Fall einer für sie ungünstigen Entscheidung des SG endgültig auf die Rüge des nicht eröffneten Rechtswegs verzichten wollte. Dies ist indes nicht ersichtlich. Vielmehr ist in diesem Zusammenhang zu beachten, dass das SG den Beteiligten mit der Anhörung zum Gerichtsbescheid eine Klageabweisung in Aussicht gestellt hatte. Dass die Beklagte sich mit einer für sie günstigen Entscheidung einverstanden erklärt, lässt sich mit prozesstaktischen Erwägungen ohne weiteres schlüssig erklären. Inwieweit eine Rüge i.S.d. § 17a Abs. 3 S. 2 GVG überhaupt "zurückgenommen" werden könnte, mag nach allem dahinstehen.
14In der Sache hat das SG den Sozialrechtsweg aber im Ergebnis zu Recht bejaht. Dabei geht der Senat - mit der Rechtsprechung des BSG - davon aus, dass bei einem Streit über ein Hausverbot der Sozialrechtsweg gegeben ist, wenn ein Rechtsverhältnis zwischen der Behörde, die das Hausverbot ausspricht, und dem Adressaten des Hausverbotes besteht und für Streitigkeiten aus diesem Rechtsverhältnis der Rechtsweg zur Sozialgerichtsbarkeit eröffnet ist (BSG Beschluss vom 21.07.2014, B 14 SF 1/14 R, juris Rn. 6 ff.; Beschluss vom 01.04.2009, B 14 SF 1/08 R, juris Rn. 8 ff.; dem folgend LSG NRW Beschluss vom 08.09.2017, L 2 AS 1437/17 B, juris Rn. 2 ff.; LSG Sachsen-Anhalt Beschluss vom 01.04.2020, L 2 AS 664/19 B, juris Rn. 6; Sächsisches LSG Beschluss vom 01.10.2014, L 3 AL 19/13 B, juris Rn. 11 ff.; Sächsisches OVG Beschluss vom 28.05.2015, 5 E 49/15, juris Rn. 2); jedenfalls dann, wenn das Hausverbot im Rahmen oder aus Anlass eines zwischen den Beteiligten geführten Verwaltungsverfahrens (§ 8 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X)) ausgesprochen werde, sei ein die Rechtswegzuständigkeit der Sozialgerichte begründender Sachzusammenhang zu den Angelegenheiten der Grundsicherung für Arbeitsuchende i.S.d. § 51 Abs. 1 Nr. 4a SGG zu bejahen (BSG Beschluss vom 01.04.2009, B 14 SF 1/08 R, juris Rn. 18). Nach diesen Maßstäben ist vorliegend der Sozialrechtsweg für den Hauptantrag eröffnet. Zwischen den Beteiligten besteht ein Sozialrechtsverhältnis nach dem SGB II. Dies ergibt sich bereits aus dem Leistungsbezug des Klägers. Dass die Vorsprachen des Klägers, im Rahmen derer sich die Geschehnisse ereignet haben sollen, auf die die Beklagte ihr Hausverbot gestützt hat, einen anderen Anlass als das Sozialrechtsverhältnis nach dem SGB II hatten und damit ein Sachzusammenhang zu einer Angelegenheit der Grundsicherung für Arbeitsuchende nicht bestand, ist weder von den Beteiligten vorgetragen noch anderweitig ersichtlich.
15Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass der Kläger mit seinem Hauptantrag die isolierte Aufhebung des Widerspruchsbescheides begehrt. Zwar verhält sich der Widerspruchsbescheid nicht zur Rechtmäßigkeit des Hausverbotes. Stattdessen hat die Beklagte den Widerspruch des Klägers gerade deshalb als unzulässig verworfen, weil sie den Widerspruch für unstatthaft gehalten hat; es sei unmittelbar Klage zum VG zu erheben. Dies macht die Streitsache vorliegend aber nicht zu einer Angelegenheit der Grundsicherung für Arbeitsuchende i.S.d. § 51 Abs. 1 Nr. 4a SGG. Vielmehr folgte - die Rechtsansicht der Beklagten zugrunde gelegt - die Unstatthaftigkeit des Widerspruchsbescheides ggf. gerade daraus, dass das allgemeine Verwaltungsprozessrecht einen solchen hier nicht vorsieht (§ 68 Abs. 1 S. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) i.V.m. § 110 Abs. 1 S. 1 Justizgesetz Nordrhein-Westfalen (JustG NRW)). Dies aber ist letztlich eine Frage der Auslegung des Verwaltungsprozessrechts und obliegt den Verwaltungsgerichten. Die Frage nach Statthaftigkeit und Zulässigkeit eines Widerspruchs ist im selben Rechtsweg zu beantworten, in dem ggf. auch über die Rechtmäßigkeit des zugrundeliegenden Verwaltungsaktes in der Sache zu befinden ist.
16Dass die genannte Rechtsprechung des BSG weiterhin und mit beachtlichen Gründen in Zweifel gezogen wird (LSG NRW Beschluss vom 04.03.2014, L 19 AS 2157/13 B, juris Rn. 13 ff.; LSG Hamburg Beschluss vom 15.07.2013, L 4 AS 175/13 B, juris Rn. 3 ff.; Hamburgisches OVG Beschluss vom 17.10.2013, 3 So 119/13, juris Rn. 8 ff.; OVG Bremen Beschluss vom 25.03.2013, 1 B 33/13, juris Rn. 12 ff.; OVG NRW Beschluss vom 13.05.2011, 16 E 174/11, juris Rn. 7 ff.; Ulmer in Hennig, SGG, Stand: Jan. 2020, § 51 Rn. 93 unter "Hausverbot"; Hintz in Hintz/Lowe, SGG, 1. Auflage 2012, § 51 Rn. 16; Nolte, NZS 2014, 919; Rennert in Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, § 40 Rn. 66; kritisch auch Reichel, jurisPR-SozR 1/2015 Anm. 5; zur Klage gegen ein Hausverbot in einem Finanzamt vgl. FG Münster Beschluss vom 30.08.2010, 14 K 3004/10, juris Rn. 2 ff., das den Verwaltungsrechtsweg für eröffnet ansieht), ändert nichts daran, dass mit der Rechtsprechung des BSG die Frage des Rechtsweges bei Hausverboten im für den Senat maßgeblichen Instanzenzug höchstrichterlich geklärt ist.
17Über den Hilfsantrag ist - obschon er von einer Verweisung des Hauptantrages erfasst würde - an dieser Stelle nicht zu befinden, weil er nur für den Fall der Abweisung des Hauptantrags gestellt ist (zum Ganzen vgl. BAG Beschluss vom 03.12.2014, 10 AZB 98/14, juris Rn. 19; OVG NRW Urteil vom 30.11.1992, 23 A 1471/90, juris Rn. 38).
18Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 17a Abs. 4 S. 4 GVG). Anlass, die Beschwerde zum BSG zuzulassen (§ 17a Abs. 4 S. 5 GVG), besteht nicht, nachdem die Frage der Rechtswegzuständigkeit für ein von einem Jobcenter verhängtes Hausverbot in dessen Rechtsprechung geklärt ist. Entscheidungen anderer oberster Gerichtshöfe des Bundes, die diese Frage anders beurteilten und von denen die vorliegende Entscheidung daher abwiche, sind nicht bekannt (zum gleichsam umgekehrten Fall vgl. Hamburgisches OVG Beschluss vom 17.10.2013, 3 So 119/13, juris Rn. 12; die dort zugelassene Beschwerde zum BVerwG wurde offenbar nicht eingelegt).
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Tenor
Der Bescheid der Beklagten vom 15.01.2020 wird aufgehoben.
Die Kosten des Verfahrens tragen die Beklagte und der Beigeladene jeweils zu ½.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Der Beklagten und dem Beigeladenen bleibt nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages ab-zuwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages leistet.Die Berufung wird zugelassen.
Der Streitwert wird auf 25.000,00 € festgesetzt.
1Tatbestand:
2Der am 00.00.1967 geborene Beigeladene ist als Rechtsanwalt und durch Bescheid der Beklagten vom 14.03.2016 als Syndikusrechtsanwalt im Bezirk der Beklagten zugelassen.Die Zulassung zum Syndikusrechtsanwalt erfolgte für die Tätigkeit des Beigeladenen bei der I KGaA. Diese Tätigkeit endete am 30.06.2019. Per „Dienstvertrag“ vom 23.03.2019 ist der Beigeladene seit dem 01.07.2019 bei der J-GmbH (im Folgenden J GmbH) in K beschäftigt. Unternehmensgegenstand der J GmbH ist die Vermögensverwaltung. Die Einstellung erfolgte als Geschäftsführer zunächst befristet auf den 30.06.2022. Neben dem Beigeladenen sind zwei weitere Geschäftsführer bestellt. Als Geschäftsführer der J GmbH hat der Beigeladene nach dem Dienstvertrag die Geschäfte mit der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns zu führen. Nach § 1 Abs.3 S.2 des Vertrages nimmt er die Rechte eines Arbeitgebers im Sinne des Arbeits-, Sozial- und Steuerrechts wahr. Das Gehalt des Beigeladenen beläuft sich auf 250.000,00 € zzgl. einer erfolgs- und leistungsabhängigen variablen Vergütung gem. einer Zielvereinbarung. Wegen der weiteren Einzelheiten der vertraglichen Regelungen wird auf den Dienstvertrag vom 23.03.2019 verwiesen.Mit dem bei der Beklagten am 27.07.2019 eingegangenen Antrag hat der Beigeladene unter Beifügung der Tätigkeitsbeschreibung auf dem Formblatt der Beklagten die Erstreckung seiner Zulassung als Syndikusrechtsanwalt auf die seit dem 01.07.2019 ausgeübte Tätigkeit beantragt. Nach der dem Antrag beigefügten Tätigkeitsbeschreibung vom 22.07.2019 befasst sich Beigeladene als Geschäfts-führer mit der Auflegung von Fonds im nationalen und internationalen Umfeld. Nach der Tätigkeitsbeschreibung berät die Gesellschaft auf den Gebieten des Investment-rechts, des Wertpapierrechts, des Vertragsrechts und des Gesellschaftsrechts und ist er rechtsberatend, rechtsgestaltend sowie rechtsvermittelnd tätig, wobei er zur Vertretung der Gesellschaft berechtigt ist. Der Umfang der außerdem wahrzunehmenden nichtanwaltlichen Tätigkeiten ist in der Tätigkeitsbeschreibung mit einem Anteil von 35 % angegeben. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Tätigkeitsbeschreibung vom 22.07.2019 verwiesen.Die Beklagte hat die Zulassung mit dem angefochtenen Bescheid vom 15.01.2020 antragsgemäß erstreckt und die sofortige Vollziehung des Bescheids angeordnet. Zur Begründung hat sie unter Bezugnahme auf die Tätigkeitsbeschreibung vom 22.07.2019 ausgeführt, die Tätigkeit für die J GmbH erfülle die Zulassungsvoraussetzungen zum Syndikusrechtsanwalt gem. § 46 Abs.2 - 5 BRAO. Insbesondere präge die anwaltliche Tätigkeit des Beigeladenen das Beschäftigungs-verhältnis.Gegen den ihr am 17.01.2020 zugestellten Bescheid hat die Klägerin Anfechtungsklage erhoben.Sie hält den Bescheid für rechtswidrig. Sie macht – unter anderem - geltend, die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Erstreckung der Zulassung nach § 46b Abs.3 BRAO lägen schon deshalb nicht vor, weil keine Tätigkeitsänderung des Beigela-denen innerhalb eines fortbestehenden Arbeitsverhältnis gegeben sei. Im Übrigen sei der Beigeladene seit dem 01.07.2019 per Dienstverhältnis als Geschäftsführer tätig und stehe deshalb nicht in einem Arbeitsverhältnis i.S.d. § 46 Abs.2 BRAO, das allein Gegenstand der Syndikuszulassung sein könne.Sie beantragt,
3den angefochtenen Bescheid der Beklagten vom 15.01.2020 aufzuheben.
4Die Beklagte und der Beigeladene beantragen,
5die Klage abzuweisen.
6Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze nebst deren Anlagen, die in Auszügen vorliegende Personalakte der Beklagten (Mitglieds-Nr.: 00000) sowie auf die Verwaltungsakte der Klägerin (Nr.:00 000000 W 001) Bezug genommen.
7Entscheidungsgründe:
8Die gem. §§ 68 VwGO, 110 JustG NRW ohne Vorverfahren zulässige, fristgerecht erhobene Anfechtungsklage hat Erfolg.1. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 15.01.2020 ist aufzuheben, da er rechtswidrig ist und die Klägerin in ihren Rechten verletzt (§§ 112c Abs.1 BRAO, 113 Abs.1 S.1 VwGO).a) Die Klage hat allerdings nicht schon deshalb Erfolg, weil die Beklagte die für die frühere Tätigkeit des Beigeladenen für die I KGaA erteilte Zulassung als Syndikusrechtsanwalt auf die seit dem 01.07.2019 ausgeübte Tätigkeit des Beigeladenen bei der J GmbH erstreckt hat. Zwar ist der Erstreckungsbescheid objektiv rechtswidrig. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs liegen die Voraussetzungen des § 46b Abs.3 BRAO für eine Erstreckung der Syndikuszulassung im Falle eines Arbeitgeberwechsels nicht vor. Auf den Arbeitgeberwechsel ist § 46b Abs. 3 BRAO weder unmittelbar noch analog anwendbar, vielmehr ist ein Widerruf der bisherigen Zulassung nach § 46b Abs. 2 BRAO und die Erteilung einer neuen Zulassung nach § 46a BRAO auch dann geboten, wenn die Zulassungsvoraussetzungen der §§ 46a, 46 Abs. 2 bis 5 BRAO durchgehend erfüllt sind (BGH, Urt. v. 30.03.2020, AnwZ (Brfg) 49/19, Tz.10 - juris).Hierauf kann die Klägerin ihre Klage jedoch nicht stützen, weil rechtswidrige Verwaltungsakte nach § 113 Abs.1 S.1 VwGO nur dann zu kassieren sind, wenn die klagende Partei hierdurch in ihren Rechten verletzt wird. Der Umstand, dass die Beklagte die Zulassung nicht hätte erstrecken dürfen, sondern durch Widerruf der früheren und Erteilung einer neuen Zulassung hätte entscheiden müssen, berührt die Rechte der klagenden Rentenversicherung nicht. Denn der angefochtene Er-streckungsbescheid entfaltet keine andere oder weitergehende Bindungswirkung für die Befreiungsentscheidung der Klägerin, als es ein rechtmäßiger Widerrufs- und neuer Zulassungsbescheid nach § 46b Abs. 2, § 46a BRAO getan hätte (vgl. BGH, Urt. v. 30.03.2020, AnwZ (Brfg) 49/19, Tz.32 - juris).
9b) Die Beklagte hat den Beigeladenen jedoch auch in der Sache zu Unrecht als Syndikusrechtsanwalt für seine jetzt ausgeübte Tätigkeit zugelassen. Die Zulassung als Syndikusrechtsanwalt ist zu erteilen, wenn Angestellte für ihren Arbeitgeber im Rahmen ihres Arbeitsverhältnisses anwaltlich tätig sind (§ 46 Abs.2 BRAO) und die anwaltliche Tätigkeit das Arbeitsverhältnis prägt (§ 46 Abs.3 S.1 BRAO). Die Tätigkeit des Beigeladenen bei der J GmbH entspricht nicht den Anforderungen des § 46 Abs.2 BRAO. Die Zulassungsentscheidung verletzt die Klägerin auch in ihren Rechten, da mit der Zulassung des Beigeladenen als Syndikusrechtsanwalt die Befreiung von der allgemeinen Versicherungspflicht verbunden ist (§ 231 Abs.4b SGB VI).Der Beigeladene ist als Geschäftsführer der J GmbH im Rahmen eines Dienstvertrages tätig. Dies ergibt sich ausdrücklich aus der vertraglichen Vereinbarung des Beigeladenen mit der J GmbH selbst und entspricht der rechtlichen Bewertung und Einordnung des Geschäftsführervertrags
10durch den Bundesgerichtshof (vgl. BGH, Urt. v. 09.02.1978, II ZR 186/76, Tz.12 – juris; Urt. v. 29.01.1981, II ZR 92/80, Tz.7 – juris; Urt. v. 26.03.1984, II ZR 120/83, Tz.13 – juris; Urt. v. 10.05.2010, II ZR 70/09, Tz.7 – juris).Ein solches Dienstverhältnis ist kein Arbeitsverhältnis.aa) In einem Arbeitsverhältnis nach § 611a BGB steht derjenige, der durch einen Arbeitsvertrag im Dienste eines anderen zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet ist. Das Weisungsrecht kann Inhalt, Durchführung, Zeit und Ort der Tätigkeit betreffen. Weisungsgebunden ist, wer nicht im Wesentlichen frei seine Tätigkeit gestalten und seine Arbeitszeit bestimmen kann (BAG, Beschl. v. 21.01.2019, Az.: 9 AZB 23/18, Tz.23 - juris). Das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses zwischen Geschäftsführer und Gesellschaft ist hiernach nur dann denkbar, wenn die Gesellschaft eine - über ihr gesellschaftsrechtliches Weisungsrecht hinausgehende - Weisungsbefugnis auch bezüglich der Umstände hat, unter denen der Geschäftsführer seine Leistung zu erbringen hat, und die konkreten Modalitäten der Leistungserbringung durch arbeitsbegleitende und verfahrensorientierte Weisungen bestimmen kann (BAG, a.a.O.,Tz.24).Das Beschäftigungsprofil des Beigeladenen entspricht dieser Ausnahmekonstellation nicht. Dies ergibt sich aus dem als Dienstvertrag bezeichneten Anstellungsvertrag vom 23.03.2019. Darin ist unter § 1 Abs.3 S.2 ausdrücklich geregelt, dass der Beigeladene selbst die Rechte und Pflichten eines Arbeitgebers im Sinne des Arbeits-, Sozial- und Steuerrechts wahrnimmt, was der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs entspricht, nach der der GmbH-Geschäftsführer als Organ der Gesellschaft Arbeitgeberfunktion ausübt (BGH, Urt. v. 09.02.1978, II ZR 189/76, Tz.12 – juris). Nach dem Dienstvertrag vom 29.03.2019 spricht auch sonst nichts dafür, dass der Beigeladene in einem Arbeitsverhältnis steht. Nach § 1 Abs.2 des Dienstvertrages führt der Beigeladene die Geschäfte der Gesellschaft, er trägt die Verantwortung für die ihm per Geschäftsverteilungsplan zugewiesenen Aufgabengebiete („Real Assests-Geschäft“) und ist nicht an die Einhaltung bestimmter Zeiten zur Erbringung seiner Tätigkeit gebunden (§ 4). Dafür erhält er ein Geschäftsführergehalt von 250.000,00 € p.a. zzgl. einer erfolgs- und leistungsabhängigen variablen Vergütung gem. einer Zielvereinbarung.bb) Der Begriff des Arbeitsverhältnisses aus § 46 Abs.2 BRAO kann nicht im Sinne eines Oberbegriffs verstanden werden, der das Dienstverhältnis umfasst. Der Gesetz-geber hat die Anforderung des Bestehens eines Arbeitsverhältnisses bewusst in § 46 Abs.2 BRAO aufgenommen und den im Entwurf zunächst vorge-sehenen Begriff des Anstellungsverhältnisses in der endgültigen Fassung des Gesetzes ersetzt (vgl. hierzu BT Drucks. 18/6915 S.15 u. 23). Diese Entscheidung des Gesetzgebers kann nicht übergegangen werden, da sie offensichtlich nicht auf redaktionellen sondern auf sachlich-rechtlichen Erwägungen gründet, die mit haftungsrechtlichen Aspekten verbunden sind.Der Syndikusrechtsanwalt ist anders als der freiberuflich tätige Rechtsanwalt nicht verpflichtet, eine Berufshaftpflichtversicherung zu unterhalten (§ 46a Abs.4 Nr.1 BRAO). Die fehlende Unterhaltung einer Berufshaftpflichtversicherung führt beim freiberuflich tätigen Rechtsanwalt zum Entzug der Zulassung (§ 14 Abs.2 Nr.9 BRAO). Für den Syndikusrechtsanwalt stellt sich die Frage der Versicherungspflicht nicht, weil die Haftung des Syndikusrechtsanwalts gegenüber dem Arbeitgeber als Mandanten im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses nach den Grundsätzen der Arbeitnehmerhaftung beschränkt ist. Für den im Rahmen eines Dienstvertrags tätigen organschaftlichen Geschäftsführer gelten die Grundsätze der beschränkbaren Arbeitnehmerhaftung nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs jedoch nicht (vgl. BGH, Urt. v. 25.06.2001, II ZR 38/99, Tz.10 - juris). Der GmbH-Geschäftsführer haftet für die Anwendung der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmannes nach § 43 Abs.1 u. 2 GmbHG auch für leichte Fahrlässigkeit (vgl. Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 20. Aufl., § 43 Rn.38). Wegen des hierdurch ent-stehenden Haftungsrisikos besteht die Möglichkeit der Gesellschaft, den Geschäfts-führer durch eine D&O Versicherung abzusichern. Zum Abschluss einer Ver-sicherung ist die Gesellschaft jedoch nicht verpflichtet, weshalb die haftungs-rechtliche Situation der die Zulassung des GmbH-Geschäftsführers als Syndikus-rechtsanwalt widerspricht.Auch aus der bisher zu der Frage, ob ein GmbH-Geschäftsführer grundsätzlich als Syndikusrechtsanwalt zugelassen werden kann, vorliegenden Rechtsprechung kann nicht gefolgert werden, dass der Begriff des Arbeitsverhältnisses in § 46 Abs.2 BRAO primär auf die Abgrenzung der Berufsbilder des angestellten und des freiberuflich tätigen Rechtsanwalt zielt und es deshalb auf die rechtliche Einordnung des Anstellungsverhältnisses für die Zulassung als Syndikusrechtsanwalt nicht ankommt.Insbesondere kann aus den Urteilen des Senats vom 18.04.2017, 1 AGH 26/16, und vom 13.02.2017, 1 AGH 32/16, nicht gefolgert werden, dass der Senat die Zulassung eines GmbH-Geschäftsführers als Syndikusrechtsanwalt generell für rechtmäßig hält. Die aus dem Bestehen eines Dienstverhältnisses i.S.d. § 611 BGB resultierenden haftungsrechtlichen Fragen sind in den vorangegangenen Verfahren weder aufge-worfen noch vom Senat beantwortet worden. Auch der Beschluss des Bundes-gerichtshofs vom 18.04.2018, AnwZ (Brfg) 20/17, geht auf diese Frage nicht ein, weshalb der Senat dieser Entscheidung für die hier aufgeworfene Problematik keine grundsätzliche Bedeutung beimisst.Die haftungsrechtliche Problematik hat der Bundesgerichtshof erstmals in dem Urteil vom 18.03.2019, AnwZ (Brfg) 22/17, erörtert. Aus dem vorgenannten Urteil ergibt sich jedoch nicht, dass die Tätigkeit als GmbH-Geschäftsführer einer Zulassung prinzipiell nicht entgegensteht. Tatsächlich hat der Bundesgerichtshof die Frage nach einer grundsätzlichen Vereinbarkeit von Geschäftsführer- und Syndikustätigkeit nicht beantwortet. Vielmehr hat er die von der klagenden S aufgezeigten Bedenken gegen die Zulassung bezogen auf den vorliegenden Fall ausnahmsweise nicht für durchgreifend gehalten, da über eine zeitweilige, mittlerweile beendete Mitgeschäftsführertätigkeit zu befinden war, die durch eine anwaltliche Tätigkeit i.S.d § 46 Abs.3 u. 4 BRAO derart geprägt war, dass die zeitweilige Mitgeschäftsführertätigkeit wertungsmäßig in den Hintergrund trat (BGH a.a.O., Tz.7 u. 20 - juris). Dies ergibt sich im vorliegenden Fall nicht, da der Dienstvertrag dem Beigeladenen eindeutig die Funktion als Geschäftsführer und Arbeitgeber zuweist. Aus diesem Grund kann für die Entscheidung des Verfahrens dahin stehen, ob die Tätigkeit des Beigeladenen für die J GmbH auch anwaltlicher Art ist.2. Die Nebenentscheidungen folgen aus §§ 112c Abs.1 BRAO, 154 Abs.3 VwGO und §§ 167 Abs.2 VwGO, 708 Nr.11, 711 ZPO. Die Festsetzung des Streitwerts hat ihre Grundlage in §§ 194 Abs.1 u. 2 BRAO.Der Senat hat die Berufung gem. §§112c Abs.1 BRAO, 124 Abs.2 Nr.3 VwGO wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Fragen, ob und unter welchen Voraussetzungen die auf einem Dienstvertrag beruhende Geschäftsführertätigkeit eine Tätigkeit im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses gem. § 46 Abs.2 BRAO darstellen kann, zuge-lassen. Eine Entscheidung durch den Bundesgerichtshof liegt aus Gründen der Rechtssicherheit im allgemeinen Interesse.
11Rechtsmittelbelehrung:
12Gegen dieses Urteil kann innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils Berufung eingelegt werden. Die Berufung ist bei dem Anwaltsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen, Heßlerstraße 53, 59065 Hamm, einzulegen. Sie muss das angefochtene Urteil bezeichnen. Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils ist die Berufung zu begründen. Die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, bei dem Bundesgerichtshof, Herrenstraße 45 a, 76133 Karlsruhe, einzureichen.
13Vor dem Anwaltsgerichtshof und dem Bundesgerichtshof müssen sich die Beteiligten, außer Prozesskostenhilfeverfahren, durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Das gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bundesgerichtshof eingeleitet wird. Als Bevollmächtigte sind Rechtsanwälte und Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, der die Befähigung zum Richteramt besitzt, zugelassen. Ferner sind die in § 67 Abs. 2 S. 2 Nr. 3-7 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) bezeichneten Personen und Organisationen als Bevollmächtigte zugelassen. Ein nach dem Vorstehenden Vertretungsberechtigter kann sich selbst vertreten; es sei denn, dass die sofortige Vollziehung einer Widerrufsverfügung angeordnet und die aufschiebende Wirkung weder ganz noch teilweise wieder hergestellt worden ist. Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zu Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse können sich durch eigene Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt oder durch Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zu Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse vertreten lassen.
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"jurisdiction": "Germany",
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Tenor
1. Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Mainz vom 9. Juli 2020 wird als unbegründet verworfen.
2. Der Betroffene hat die Kosten seines erfolglosen Rechtsmittels zu tragen (§ 46 Abs. 1 OWiG iVm. § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO).
Gründe
I.
1.
1
Mit Bußgeldbescheid vom 26. August 2019 hat die Zentrale Bußgeldstelle beim Polizeipräsidium … gegen den Betroffenen wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 31 km/h eine Geldbuße von 150,- Euro festgesetzt und ein einmonatiges Fahrverbot verhängt. Zuvor hatte sie den Betroffenen, der Halter des gemessenen Pkws mit dem amtlichen Kennzeichen … ist, mit Schreiben vom 24. Juni 2019 angehört. Nachdem dieser sich zu dem Tatvorwurf nicht geäußert hatte, bat die Bußgeldbehörde mit Schreiben vom 16. Juli 2019 die Einwohnermeldebehörde der Stadt … um Übersendung eines Vergleichsfotos des Betroffenen zum Zwecke der Fahreridentifizierung, dem diese Behörde am 22. Juli 2019 nachkam.
2.
2
Mit dem im Tenor genannten Urteil hat das Amtsgericht gegen den Betroffenen wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 31 km/h auf die bereits im Bußgeldbescheid festgesetzten Rechtsfolgen erkannt.
3
Gegen das Urteil hat der Betroffene am 14. August 2020 Rechtsbeschwerde eingelegt. Er rügt, dass die Bußgeldbehörde sein Personalausweisfoto angefordert habe, was einen Verstoß gegen § 24 Abs. 2 Personalausweisgesetz (PAuswG) darstelle. Dieser vorsätzlich begangene, erhebliche Gesetzesverstoß gebiete unter dem Gedanken des Opportunitätsgrundsatzes die Einstellung des Verfahrens. Eine Sanktionierung mittels der Rechts- und Regelfolgen der Bußgeldkatalogverordnung sei damit nicht vereinbar. Darüber hinaus beanstandet der Betroffene, dass die Bußgeldakte elektronisch geführt worden sei, da es in Rheinland-Pfalz mangels Rechtsverordnung zu § 110a OWiG an einer Rechtsgrundlage hierfür fehle. Insoweit werde sein Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 4a Abs. 1 Satz 1 der Landesverfassung Rheinland-Pfalz verletzt. Des Weiteren wendet der Betroffene ein, dass das Messfoto nicht geeignet gewesen sei, ihn als Fahrer zu identifizieren. Er rügt ferner die Erhöhung der Regelgeldbuße von 120,- Euro auf 150,- Euro und beanstandet, dass das Gericht die von ihm vorgetragenen Gründe, nach denen vom Fahrverbot ausnahmsweise gegen angemessene Erhöhung der Geldbuße gemäß § 4 Abs. 4 BKatV hätte abgesehen werden können, nicht ausreichend beachtet habe.
4
Die Generalstaatsanwaltschaft hat in ihrer Stellungnahme vom 11. September 2020 beantragt, die Rechtsbeschwerde gemäß § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG iVm. § 349 Abs. 2 StPO als offensichtlich unbegründet zu verwerfen. Hierauf hat der Verteidiger mit Schriftsatz vom 22. September 2020 erwidert.
3.
5
Der Einzelrichter des Senats hat die Sache gemäß § 80a Abs. 3 Satz 1 OWiG durch
6
Beschluss vom heutigen Tag auf den Senat zur Entscheidung übertragen, da es geboten ist, das Urteil zur Fortbildung des Rechts nachzuprüfen.
II.
7
Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 79 Abs. 1 Satz 2 OWiG statthaft und auch sonst zulässig, insbesondere in der gesetzlich vorgeschriebenen Form eingelegt und begründet worden.
8
In der Sache hat sie keinen Erfolg. Die Überprüfung des Urteils nach Maßgabe der Rechtsbeschwerdebegründung und der Gegenerklärung vom 22. September 2020 hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Betroffenen ergeben.
1.
9
Verfahrenshindernisse, die aufgrund der ordnungsgemäß erhobenen Sachrüge vom Senat von Amts wegen zu berücksichtigen wären (vgl. OLG Koblenz, Beschl. 2 SsBs 128/12 v. 26.08.2013 - NStZ-RR 214, 189; 2 SsBs 22/11 v. 15. Juni 2011), liegen nicht vor. Insbesondere ging dem Urteil ein ordnungsgemäß erlassener Bußgeldbescheid voraus und die Übersendung des Anhörungsbogens gemäß § 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 OWiG hatte verjährungsunterbrechende Wirkung, so dass die Ordnungswidrigkeit nicht verjährt ist. Dem steht nicht entgegen, dass die Zentrale Bußgeldstelle die Bußgeldakten in elektronischer Form führt, auch wenn die Landesregierung es bisher versäumt hat, die dazu notwendige Rechtsverordnung im Sinne des § 110a Abs. 1 Satz 2, 3 OWiG zu erlassen. Denn mit vollständigem Ausdruck der gespeicherten Verfahrensunterlagen ist die Bußgeldbehörde zu einer Aktenführung in Papierform übergegangen. Die Ausdrucke bilden eine ausreichende Grundlage des weiteren Verwaltungs- und des gerichtlichen Verfahrens, zumal ein Großteil der Unterlagen von vornherein nur in digitaler Form ohne Papierurschrift – wie etwa die Messdaten – oder jedenfalls nicht als Originalurkunde – wie etwa der Eichschein oder Schulungsnachweise – vorlagen. Der Anhörungsbogen und der Bußgeldbescheid sind vorliegend ausgedruckt und in Papierform an den Betroffenen versandt worden; in dieser Gestalt bilden sie die nach §§ 65 f. OWiG erlassene Urschrift. Einer Unterschrift oder besonderen aktenmäßigen Dokumentation seines Erlasses bedarf es nicht. Dass der Bescheid auf einem individuellen Entschluss des bei der Bußgeldbehörde befassten Sachbearbeiters beruht, geht aus der Akte hinlänglich hervor (vgl. OLG Koblenz, Beschl. 1 OWi 6 SsBs 19/18 v. 14.07.2018; 1 OWi 6 SsBs 19/18 v. 17.07.2018; 2 OWi 4 SsRs 122/17 v. 12.12.2017).
2.
10
Der als Verfahrensrüge zu behandelnde Einwand, die Verwaltungsbehörde habe gegen § 24 Abs. 2 und 3 PAuswG verstoßen und damit einen Verfahrensverstoß begangen, der die Einstellung des Verfahrens gebiete, ist nicht geeignet, der Rechtsbeschwerde zum Erfolg zu verhelfen.
11
Denn das Beschaffen des Personalausweisfotos des Betroffenen durch die Bußgeldbehörde beim zuständigen Einwohnermeldeamt stellt keinen Verstoß gegen das PAuswG dar.
12
Gemäß § 24 Abs. 2 PAuswG, der § 22 Abs. 2 Passgesetz entspricht, dürfen Personalausweisbehörden anderen Behörden auf deren Ersuchen Daten aus dem Personalausweisregister übermitteln, wenn 1. die ersuchende Behörde aufgrund von Gesetz oder Rechtsverordnung berechtigt ist, solche Daten zu erhalten, 2. die ersuchende Behörde ohne Kenntnis der Daten nicht in der Lage wäre, eine ihr obliegende Aufgabe zu erfüllen und 3. die ersuchende Behörde die Daten bei dem Betroffenen nicht oder nur mit unverhältnismäßig hohem Aufwand erheben kann oder wenn nach der Art der Aufgabe, zu deren Erfüllung die Daten erforderlich sind, von einer solchen Datenerhebung abgesehen werden muss. Nach § 24 Abs. 3 Satz 1 PAuswG trägt die ersuchende Behörde die Verantwortung dafür, dass die Voraussetzungen des Abs. 2 vorliegen.
13
Die Voraussetzung des § 24 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 PAuswG ist vorliegend erfüllt, da die Bußgeldbehörde gemäß § 161 Abs. 1 Satz 1 StPO iVm. §§ 46 Abs. 1 und 2 OWiG berechtigt ist, von allen Behörden zum Zweck der Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten Auskünfte zu verlangen (OLG Stuttgart, Beschl. 1 Ss 230/2002 v. 26.08.2002 - NStZ 2003, 93; OLG Rostock, Beschl. 2 Ss OWi 302/04 v. 28.11.2004 - juris; OLG Bamberg, Beschl. 2 Ss OWi 147/05 v. 02.08.2005 - DAR 2006, 336). Darüber hinaus ist in § 25 Abs. 2 Satz 1 PAuswG ausdrücklich normiert, dass die Übermittlung von Lichtbildern an die Ordnungsbehörden im Rahmen der Verfolgung von Verkehrsordnungswidrigkeiten im automatisierten Verfahren erfolgen kann.
14
Des Weiteren ist auch die Voraussetzung des § 24 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 PAuswG erfüllt, da die Daten bei dem Betroffenen nur mit unverhältnismäßig hohem Aufwand hätten erhoben werden können. Es hätte zwar zur Klärung der Fahrereigenschaft die Möglichkeit bestanden, den Betroffenen durch Behördenbedienstete oder durch die Polizei in seiner Wohnung oder an seinem Arbeitsplatz aufzusuchen und ihn zum Vergleich mit dem Messfoto in Augenschein zu nehmen oder insoweit sogar eine Nachbarschaftsbefragung durchzuführen; jedoch wären solche Ermittlungshandlungen sowohl für die Behörden als auch für den Betroffenen unverhältnismäßig; selbst aus Sicht des Betroffenen dürften sie wesentlich stärker in seine Persönlichkeitssphäre eingreifen als die Erhebung seines Lichtbildes beim Pass- oder Personalausweisregister (OLG Stuttgart, aaO.; Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschl. 1 Ss 54 B/02 v. 19.04.2002 - VRS 105, 221; Bayerisches Oberstes Landesgericht, Beschl. 2 OB OWi 727/97 v. 20.02.1998 - NJW 1998, 3656; OLG Hamm, Beschl. 3 Ss OWi 416/09 v. 30.06.2009 - ZfSch 2010, 111).
15
Nach dem Wortlaut des § 24 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 PAuswG ist weitere Voraussetzung, dass die ersuchende Behörde, hier die Bußgeldstelle, ohne Kenntnis der Daten, vorliegend des Personalausweisfotos, nicht in der Lage wäre, eine ihr obliegende Aufgabe zu erfüllen. Da die Bußgeldbehörde aber die Fahrereigenschaft fast ausnahmslos auch durch Ermittlungen am Wohn- oder Arbeitsort des Betroffenen, gegebenenfalls auch durch Befragung von Nachbarn und Arbeitskollegen, erforderlichenfalls nach mehrmaligen Aufsuchen klären kann, würde dies bedeuten, dass die Übermittlung von Lichtbildern durch die Personalausweis- oder Passbehörde an die Bußgeldbehörden zur Verfolgung von Verkehrsordnungswidrigkeiten fast ausnahmslos unzulässig wäre. Dies würde aber zu einem nicht auflösbaren Wertungswiderspruch im Hinblick auf § 22 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 PAuswG führen und ist im Übrigen mit der spezielleren Vorschrift des § 25 Abs. 2 Satz 1 PAuswG nicht vereinbar. Gemäß § 25 Abs. 2 Satz 1 PAuswG dürfen die Ordnungsbehörden Lichtbilder zum Zwecke der Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten (sogar) im automatisierten Verfahren abrufen. Der Gesetzgeber hat, in dem er sogar das automatisierte Verfahren zugelassen hat, mit dieser spezielleren Norm zum Ausdruck bringen wollen, dass die Übermittlung von Lichtbildern durch die Passbehörden an die Ordnungsbehörden im Rahmen der Verfolgung von Verkehrsordnungswidrigkeiten zulässig sein soll. Dies lässt sich den Gesetzesmaterialien zu § 25 PAuswG in der Fassung vom 18. Juni 2009 entnehmen, in denen die Bundesregierung darauf hinweist, dass ein Abruf des Lichtbildes im automatisierten Verfahren nur bei Verkehrsordnungswidrigkeiten und nicht bei Ordnungswidrigkeiten insgesamt zulässig sei (BT-Drucksache 16/10489 v. 07.10.2008), folglich dies privilegiert werden soll. Die Einschränkung in § 24 Abs. 2 Nr. 3 PAuswG, wonach eine Übermittlung nur zu erfolgen habe, wenn die ersuchende Behörde die Daten bei dem Betroffenen nur mit unverhältnismäßig hohem Aufwand erheben kann, wäre im Hinblick auf die Übersendung von Lichtbildern nicht mehr verständlich, wenn man aus § 24 Abs. 2 Nr. 2 PAuswG bereits ein generelles Verbot dafür entnehmen würde.
16
Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass selbst ein Verstoß gegen die Vorschriften des PAuswG weder zu einem Verfahrenshindernis noch zu einem Beweisverwertungsverbot führen würde. Verfahrenshindernisse kommen bei Verfahrensmängeln nur dann in Betracht, wenn sie nach dem aus dem Zusammenhang ersichtlichen Willen des Gesetzgebers so schwer wiegen, dass von ihrem Vorhandensein die Zulässigkeit des Verfahrens im Ganzen abhängig gemacht werden muss (vgl. OLG Rostock, aaO.). Ein derartig schwerwiegender Verfahrensmangel kann bei möglichen Verfahrensfehlern im Zusammenhang mit dem Übersenden eines Ausweisfotos von der Meldebehörde zum Bildabgleich nicht gesehen werden, insbesondere im Hinblick auf § 25 PAuswG (vgl. OLG Rostock, aaO., OLG Bamberg, aaO.). Soweit die von der Meldebehörde der Bußgeldbehörde übermittelten Lichtbilder überhaupt in die Hauptverhandlung eingeführt werden - da eine Fahreridentifizierung in der Hauptverhandlung in der Regel nach Inaugenscheinnahme des Betroffenen durch Abgleich mit dem Messfoto erfolgt -, würde dies auch zu keinem Beweisverwertungsverbot führen, da ein Verfahrensfehler bei der Übermittlung des Personalausweisbildes nicht den Kernbereich der Privatsphäre des Betroffenen berührt und daher hinter dem Interesse an einer Tataufklärung zurückstehen muss, zumal die Identifizierung des Betroffenen jederzeit auch auf andere Weise erfolgen kann (vgl. Brandenburgisches Oberlandesgericht, aaO.; Bayerisches Oberstes Landesgericht, aaO.; OLG Frankfurt, Beschl. 2 Ws 331/97 v. 18.06.1997 - NJW 1997, 2963). Bei Vorliegen eines Verfahrensfehlers käme vorliegend auch keine Einstellung des Verfahrens nach § 47 Abs. 2 OWiG in Betracht. Soweit der Betroffene darauf hinweist, dass schon bei einem Verstoß gegen Richtlinien die Einstellung anerkannt sei, so kann dies nur bei weniger gravierenden Verstößen oder geringer Schuld geboten sein (vgl. OLG Oldenburg, Beschl. Ss 10/96 v. 29.01.1996 - VRs 93, 478). Eine Einstellung nach § 47 Abs. 2 OWiG müsste hier aber bereits daran scheitern, dass ein gravierender Verkehrsverstoß mit Regelfahrverbot vorliegt und eine geringe Schuld bei drei einschlägigen Voreintragungen nicht angenommen werden kann.
3.
17
Das Urteil weist auch keinen sachlich-rechtlichen Fehler zum Nachteil des Betroffenen auf.
18
So hat das Tatgericht auf das in der Akte befindliche Fahrerfoto gemäß § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO iVm. § 46 OWiG ausreichend Bezug genommen (vgl. hierzu BGH, Beschl. 4 StR 376/17 v. 07.02.2018 - StV 2018, 399; BGHSt 41, 376 <382 ff.>; 3 StR 425/15 v. 28.01.2016 - StV 2016, 778; OLG Koblenz, Beschl. 2 SsBs 100/09 v. 02.10.2009 - NZV 2010, 212).
19
Der Rechtsfolgenausspruch erweist sich ebenfalls als rechtsfehlerfrei. Bei der Verhängung der Geldbuße hat das Gericht sich an den Vorgaben der Bußgeldkatalogverordnung orientiert und die Geldbuße unter Berücksichtigung mehrerer einschlägiger Voreintragungen des Betroffenen angemessen um 30,- Euro erhöht. Auch die Verhängung
20
des Fahrverbots begegnet keinen rechtsbeschwerderechtlich beachtlichen Bedenken. Die Verhängung eines Fahrverbotes war wegen grober Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers (§§ 25 Abs. 1 Satz 1 StVG) angezeigt. Das Urteil enthält auch ausreichende Ausführungen dazu, warum der Tatrichter nicht ausnahmsweise gemäß § 4 Abs. 4 BKatV von der Verhängung des vorgesehenen einmonatigen Fahrverbots gegen angemessene Erhöhung der Geldbuße abgesehen hat.
21
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 46 Abs. 1 OWiG iVm. § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.
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Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung des Beklagten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vor Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Tatbestand
1
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit eines Widerrufs einer der Klägerin von der Beklagten erteilten Bewilligung für die Gewinnung von Kies und Sand im Feld XX in der Nordsee.
2
Die Klägerin ist ein Unternehmen mit der Zielsetzung u.a. Kies und Sand zu fördern.
3
Am 9.12.2001 beantragte die damals noch unter dem Namen XX GmbH firmierende Klägerin die Erteilung einer Bewilligung für die Gewinnung von Kies und Sand im Feld XX in der Nordsee im Bereich des Festlandsockels in der deutschen Bucht. Die ursprünglichen Antragsunterlagen, in denen auch die Lage des Gebiets bezeichnet war, wurden im Jahr 2002 durch neue, überarbeitete Antragsunterlagen ausgetauscht. Am 28.7.2003 wurde ihr für die Dauer von 30 Jahren die Bewilligung erteilt, in einem 532.125.400 m² großen Feld im vom Land Schleswig-Holstein beanspruchten Teil des Festlandsockels Sand und Kies aufzusuchen und zu gewinnen. Im Jahr 2004 reichte die Klägerin Unterlagen für die Durchführung eines Scoping-Verfahrens zur Vorbereitung des für die Zulassung eines Rahmenbetriebsplans erforderliche Planfeststellungsverfahren mit UVP und FFH-Verträglichkeitsprüfung beim Beklagten ein. Die Antragskonferenz diesbezüglich fand im März 2004 statt. In Folge dieser Konferenz führte die Klägerin noch Untersuchungen durch und erarbeitete einen vom 23.10.2006 datierten Rahmenbetriebsplan, welcher im Dezember 2006 zur Stellungnahme an die betroffenen Behörden und Träger öffentlicher Belange übersandt wurde. Das Bundesamt für Naturschutz (BfN) legte eine ablehnende Stellungnahme vor. Es rügte mehrere schwerwiegende natur- und artenschutzfachliche Mängel. Zudem wurden erhebliche Bedenken gegen die Zulässigkeit geäußert. Eine Zulassung des geplanten Abbaus trotz der festgestellten Unverträglichkeiten sei nur im Rahmen eines Ausnahmeverfahrens nach Art. 6 Abs. 4 FFH-RL, sofern dieses anwendbar sei, möglich. Im März 2007 übersandte der Beklagte die eingegangenen Stellungnahmen der Träger öffentlicher Belange und forderte die Klägerin auf, Stellung zu nehmen. Durch Schreiben vom 27.8.2009 informierte die Klägerin den Beklagten darüber, dass die Fortführung des Verfahrens beschlossen worden sei und dass Änderungen des Abbaukonzepts geplant wären, die unter anderem die Vorlage eines auf das Abbaukonzept angepassten UVS und FFH-Verträglichkeitsstudie sowie die Erarbeitung einer Studie zum Artenschutz umfassen würde. Über die geplante Änderung des Abbaukonzepts fanden im Dezember 2009 sowie September 2010 Gespräche zwischen dem Beklagten, dem BfN und der Klägerin statt. Dabei wurde festgehalten, dass dem BfN auch unter Berücksichtigung des von der Klägerin vorgelegten Rahmenbetriebsplans weder ausreichende eigene Untersuchungen noch solche der Klägerin vorlägen, um das naturschutzfachliche Potenzial im Abbaufeld XX einschätzen zu können. Die Klägerin stelle dem BfN die bis dato zusätzlich vorgenommenen Untersuchungen für eine Ersteinschätzung zur Verfügung. Zur Vermeidung erheblicher Beeinträchtigung von Riffen und Artenreichen Kies, Grobsand- und Schillbiotopen im Abbaufeld XX würde die Klägerin prüfen, ob ein Abbau mit Sand überdeckten und somit unbesiedelten Kiesschichten möglich sei. Das Verfahren zur Aufstellung des Rahmenbetriebplans für das Abbaufeld XX solle zwischen Beklagte und Klägerin gesondert abgestimmt werden. Aus Sicht des BfN hätten noch diverse Beiträge bzw. Untersuchungen vorgelegt werden müssen. Nachfolgend wurde das laufende Planfeststellungsverfahren zur Zulassung des Rahmenbetriebsplans nicht abgeschlossen. Die Klägerin legte dem Beklagten keine weiteren Unterlagen vor. Bis zum Jahr 2017 erfolgten auch keine bergbaulichen Aktivitäten.
4
Mit Schreiben vom 9.7.2015 teilte die Klägerin gegenüber der Beklagten mit, dass sie weiter beabsichtige die Bewilligung auszunutzen und den im Oktober 2006 gestellten Antrag weiterverfolgen zu wollen. Sie hätte das Bewilligungsfeld mit ganz erheblichen Kosten exploriert und untersucht. Sie würde sich nach wie vor in der Überarbeitung und Anpassung des im Oktober 2006 eingereichten Antrags auf Planfeststellung und Zulassung des Rahmenbetriebsplans befinden. Dessen weitere Durchführung müsse unter Berücksichtigung der sich verändernden öffentlich-rechtlichen Vorschriften und naturschutzrechtlicher Belange zwischen den Verfahrensbeteiligten immer wieder abgestimmt werden. Nicht zuletzt, weil sich die Rahmenbedingungen auf nationaler sowie europäischer Ebene fortlaufend ändern würden.
5
Durch Schreiben vom 19.4.2016 kündigte die Beklagte an, die Bewilligung für die Aufsuchung sowie Gewinnung von Sand und Kies in dem Feld XX gemäß § 18 Abs. 3 BBergG zu widerrufen. Daraufhin nahm die Klägerin Stellung. Für den Inhalt dieser Stellungnahme wird auf das entsprechende Anhörungsschreiben vom 14.10.2017 Bezug genommen (Beiakte E).
6
Mit Bescheid vom 2.2.2017 wiederrief die Beklagte wie angekündigt die Aufsuch- und Abbaugenehmigung. Zur Begründung führte sie u.a. aus, dass bergbauliche Aktivitäten bislang nicht erfolgt seien. In 2009/10 vorgestellte Überlegungen zur Ausräumung zuvor festgestellter Defizite seien offenkundig nicht weiterverfolgt worden. Da die Gewinnung nicht innerhalb von drei Jahren aufgenommen worden sei, sei die Bewilligung deshalb nach § 18 Abs. 3 BBergG zu widerrufen. Es sei auch unter Berücksichtigung der Ausführungen der Klägerin im Anhörungsverfahren nicht ersichtlich, warum diese nicht zu vertreten habe, dass sie bislang noch nicht mit dem Aufsuchen bzw. dem Gewinnen von Bodenschätzen begonnen habe. Es sei Sache des Unternehmers genehmigungsfähige Betriebspläne vorzulegen. Im Übrigen sei die Behauptung, dass nicht zuverlässig habe festgestellt werden können, welche Anforderungen im Hinblick auf die natur- und artenschutzrechtlichen Vorgaben erfüllt werden müssten, um einen zulassungsfähigen Rahmenbetriebsplan erstellen zu können, nicht zu treffend. Auch der Hinweis auf die noch nicht erfolgte förmliche Schutzgebietsausweisung gehe ins Leere; bekanntlich würden sich die Behörden insoweit mit den Angaben aus den Standarddatenbögen behelfen, die die Grundlage der Anerkennung gemeldeter FFH-Gebiete bilden würden. Eine Untätigkeit im Sinne des § 18 Abs. 3 BBergG könne dementsprechend nicht mit der ausstehenden Ausweisung des FFH-Gebiets „XX begründet werden.
7
Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin binnen eines Monats Widerspruch ein. Zur Begründung wiederholte die Klägerin den bisherigen Vortrag. Ergänzend führte sie aus, dass da der vorgelegte Rahmenbetriebsplan nicht abschlägig beschieden worden sei, nicht davon ausgegangen werden könne, dass er nicht zulassungsfähig sei. Wegen der mangelnden Schutzgebietsausweisung sei nicht zu ermessen gewesen, welche Inhalte ein zulassungsfähiger Betriebsplan haben müsse. Der Hinweis der Bergbehörde auf die Praxis in benachbarten Feldern sei zu unspezifisch. Weiter führte sie aus, dass gemäß dem Protokoll der Besprechung beim BfN am 1.9.2010 die Klägerin prüfen sollte, ob zur Vermeidung der Zerstörung oder erheblichen Beeinträchtigung von Riffen und artenreichen Kies, Grobsand- und Schillbiotopen im Abbaufeld XX ein Abbau von aktuell mit Sand überdeckten und deshalb unbesiedelten Kiesschichten möglich sei. Diesem Prüfauftrag sei sie nachgekommen. Die technischen Voraussetzungen eines Abbaus entsprechend der Forderungen des BfN seien derzeit nur im Versuchsmaßstab möglich. Ein Widerruf der Bewilligung hätte letztlich nur eine weitere Verzögerung der Abbaubemühungen zur Folge.
8
Mit Widerspruchsbescheid vom 29.5.2017 wies der Beklagte den Widerspruch als zulässig aber unbegründet zurück. Ergänzend zur Begründung des Ausgangsbescheides führte der Beklagte dabei aus, dass es Sache des Unternehmers sei genehmigungsfähige Betriebspläne vorzulegen und technische Probleme zu lösen. Mit Hinblick auf § 18 Ab. 3 Satz 2 BBergG spiele es keine Rolle, ob die Gewinnung vor dem Hintergrund eines beschiedenen oder eines nicht beschiedenen Betriebsplans unterbleibe. Entscheidend sei, dass aus vom Unternehmer zu verantwortenden Gründen ein Abbau nicht stattfinde. Es sei unzutreffend, dass nicht zuverlässig habe festgestellt werden können, welche Anforderungen im Hinblick auf die natur- und artenschutzrechtlichen Vorgaben erfüllt werden müssten. Zudem zeige auch die im Zeitpunkt des Widerspruchsbescheides noch stattfindende Gewinnung von Sand und Kies im Schutzgebiet XX, dass trotz gestiegener Anforderungen Bergbau im Schutzgebiet möglich sei. Auch die Bezugnahme auf Kabelverlegungen und die Errichtung von Windparks sei ohne Relevanz, da es vom Einzelfall abhänge, ob ein FFH-Gebiet unter Wahrung der Schutzziele möglich ist oder nicht. Zwar verlange die Bergbehörde, dass geschützte Riffe großzügig zu umfahren seien. Wenn dies nicht möglich sei, sei eine Sandgewinnung in dem Gebiet ohnehin nicht denkbar. Ein weiteres Zuwarten sei fachlich nicht nachvollziehbar und stünde im Widerspruch zur Intention des § 18 Abs. 3 BBergG, rohstoffhöffige Gebiete zügig aufzusuchen und abzubauen. Es möge zwar so sein, dass durch den Widerruf kurzfristig die Rohstoffgewinnung eher verzögert werde, diese stehe aber im Einklang mit der Gesetzeslage. Zudem würden sich perspektivisch eine neue Konkurrenzsituation ergeben, die möglicherweise neue Ansätze der Rohstoffgewinnung kreieren würde.
9
Seit dem 28.9.2017 wurde das XX Außenriff durch die Verordnung über die Festsetzung des Naturschutzgebiets XX als FHH-Gebiet gemäß § 20 Abs. 2 BNatSchG nach mehrjährigem Vorlauf (2004: Meldung u.a. des Gebiets XX Außenriff als Gebiet nach der FFH-RL durch die BRD; Aufnahme des Gebietes in die Liste der Gebiete mit gemeinschaftlicher Bedeutung durch die Kommession im Jahr 2007) geschützt. Das Abbaufeld XX liegt in diesem Gebiet.
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Gegen den Ausgangsbescheid in Gestalt des Widerspruchsbescheides hat die Klägerin am 27.6.2017 Klage erhoben. Zur Begründung wiederholt und vertieft sie ihr Vorbringen aus dem Verwaltungsverfahren. Ergänzend führt umfangreich zur Entwicklung der Unterschutzstellung des XX Außenriffs aus. Im Weitern führt sie aus, dass durch den Widerruf der Bewilligung wichtige Rohstoffe über viele Jahre hinaus nicht gewonnen werden könnten. Die Klägerin ist der Auffassung, dass bereits keine Nichtaufnahme bzw. Unterbrechung der Gewinnung von mehr als drei Jahren vorläge, da unter dem Begriff Gewinnung nicht der bloße technische Abbauvorgang zu verstehen sei. Dieser Umfasse auch die Durchführung des bergrechtlichen Zulassungsverfahren. Angesichts des Umstandes, dass in vielen Fällen die Bodenschätzegewinnung die Aufstellung und Zulassung eines Rahmenbetriebsplans iSd § 52 Abs. 2a BBergG erfordere und dafür die Durchführung eines Planfeststellungsverfahrens nach § 57a BBergG erforderlich sei, könne regelmäßig nicht davon ausgegangen werden, dass mit dem technischen Abbau innerhalb von drei Jahren nach Erteilung der Bewilligung begonnen werden könne. Es sei gesetzessystematisch verfehlt, zeitliche Verluste bei der Durchführung des bergrechtlichen Zulassungsverfahren erst im Rahmen der „sonstigen Gründe“ im Sinne des § 18 Abs. 3 Satz 3 BBergG zu berücksichtigen. Diese Auffassung würde auch von der Legaldefinition des § 4 Abs. 2 BBergG gestützt. Es seien jedenfalls Vorbereitungshandlungen unter den Begriff zu fassen. Solche hätte die Klägerin 2004 begonnen, um einen Rahmenbetriebsplan erstellen zu können, der 2006 eingereicht worden sei. Die Gewinnung sei demnach spätestens mit Einreichung der Scoping Unterlagen im Jahr 2004 begonnen worden. Jedenfalls hätte die Klägerin die Nichtaufnahme bzw. Unterbrechung der Gewinnung nicht zu vertreten. So habe die Beklagte es unterlassen, das Planfeststellungsverfahren zu fördern; sie habe nach den Besprechungen beim BfN 2009/10 nichts mehr getan, um eine Entscheidung im Planfeststellungsverfahren für die Rahmenbetriebsplanzulassung zu treffen. Zwar habe die Klägerin die in der Besprechung im Jahr 2010 geforderten Unterlagen nicht eingereicht, eine Behörde dürfe aber nicht die Nichtvorlage von ihr verlangter Unterlagen zum Anlass nehmen einen gestellten Antrag nicht zu entscheiden. Durch die vorgelegten Unterlagen habe es der Beklagten oblegen das Planfeststellungsverfahren durchzuführen und abzuschließen. Im Falle einer Ablehnung hätte die Klägerin sich mit den konkreten Ablehnungsgründen auseinandersetzen können und so Schlüsse für das Verfahren ziehen können. Ohne eine exakte Positionierung der Beklagten zu den Voraussetzungen der Zulassung des Rahmenbetriebplans sei der Klägerin auch nicht zur Erhebung einer Untätigkeitsklage zuzumuten gewesen. Dieser seien nur die Forderungen des BfN bekannt gewesen; die Beklagte selbst habe sich nicht zu den Genehmigungsvoraussetzungen abschließend positioniert. Zumindest ergebe sich eine entsprechende Äußerung nicht aus den Verwaltungsakten und nur darauf käme es an. Die Beklagte hätte die Klägerin jedenfalls rechtzeitig informieren müssen, dass sie nicht beabsichtigte das Planfeststellungsverfahren zu beenden und die Bewilligung nach Ablauf der Drei-Jahres-Frist zu widerrufen. Im Weiteren sei es für die Klägerin unzumutbar gewesen das Planfeststellungsverfahren fortzusetzen. Der Stillstand seit 2010 sei nicht von der Klägerin zu vertreten. Es wäre ihr nicht zumutbar gewesen vor Erlass der Schutzgebietverordnung „XXAußenriff – Östliche deutsche Bucht“ vom 28.9.2017 „ins Blaue“ hinein Antragsunterlagen für den Rahmenbetriebsplan umfassend zu überarbeiten bzw. zu ergänzen. Es sei der Klägerin nicht bekannt, dass nach dem Jahr 2004 nochmals der Abbau von Sand und Kies im XX Außenriff zugelassen worden sei, so dass auch der Verweis auf noch stattfindenden Abbau der Beklagten nicht „weiter helfen“ könne. Jedenfalls ergebe sich aus dem Urteil des entscheidenden Gerichts vom 30.3.2017 (6 A 179/15), dass die Rechtslage in Bezug auf die Gewinnung von Sand und Kies in dem FFH-Gebiet XX Außenriff jedenfalls bis zum Inkrafttreten der Schutzgebietsverordnung sehr umstritten gewesen sei und ein Antrag auf Zulassung der Bodenschätzegewinnung in dem „neuen“ Bewilligungsfeld XX keine realistischen Erfolgsaussichten gehabt hätte. Die Klägerin habe dem Beklagten im Jahr 2009 Vorschläge für das weitere Vorgehen in dem Planfeststellungsverfahren gemacht. Auch nach den darauffolgenden Besprechungsterminen seien aber weiter wesentliche Fragen offengeblieben bzw. seien nur rudimentär angesprochen worden. Erst mit Erlass der Schutzgebietsverordnung wäre klar gewesen, dass der Abbau von Bodenschätzen im FFH-Gebiet unter Beachtung bestimmter Voraussetzungen zulässig sein kann. Darüber hinaus seien die gesetzgeberischen Versäumnisse zu berücksichtigen. So sei bei der Abgrenzung der Verantwortungssphären im Rahmen des § 18 Abs. 3 Satz 2 BBergG zu berücksichtigen, dass es der Gesetz- und Verordnungsgeber über Jahre hinweg europarechtswidrig unterlassen habe, das FFH-Gebiet XX Außenriff durch verbindliche gesetzliche Regelungen zu schützen und damit gleichzeitig die Voraussetzungen für die Bodenschatzgewinnung in diesem Gebiet zu regeln. In jedem Fall wären die rechtlichen Rahmenbedingungen im Zeitpunkt der Öffentlichkeitsbeteiligung im Jahr 2007 bei ordnungsgemäßer Erfüllung der europarechtlichen Verpflichtungen der BRD bereits existent gewesen. In diesem Fall hätte das Planfeststellungsverfahren im Anschluss an die Beteiligung der Öffentlichkeit und der Träger öffentlicher Belange zielgerichtet anhand der Abarbeitung der gesetzlichen Vorgaben erfolgen können. Doch selbst wenn man eine durch die Klägerin verschuldete Nichtaufnahme bzw. Unterbrechung des Abbaus innerhalb der Drei-Jahres-Frist annehmen würde, wäre jedenfalls nicht die einjährige Widerrufsfrist des § 48 Abs. 4 VwVfG i.V.m. § 49 Abs. 2 Satz 2 VwVfG eingehalten. Diese Vorschrift sei auch bei einem Widerruf nach § 18 Abs. 3 BBergG anzuwenden. Die Widerrufsfrist wäre spätestens im Jahr 2015 abgelaufen. In jedem Fall sei der Widerruf jedoch unverhältnismäßig. Es sei kein Regelfall gegeben, in dem davon auszugehen wäre, dass bei einer gebundenen Entscheidung auf Gesetzgebungsebene die verfassungsrechtlichen Konflikte hinreichend berücksichtigt worden seien. Hier sei insbesondere zu berücksichtigen, dass das Abwarten der Klägerin der verantwortungsvollen Rohstoffgewinnung entspräche. Zudem sei die Rechtslage unklar gewesen und der Beklagte habe die Klägerin nicht zur Fortsetzung des Verfahrens aufgefordert; auch dies spreche für eine Unverhältnismäßigkeit.
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Die Klägerin beantragt,
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den Bescheid des Beklagten vom 2.2.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.5.2017 aufzuheben.
13
Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung führt die Beklagte aus, dass die Bewilligung aufzuheben war, da seit dem Jahr 2009 kein neuer Sachstand mehr zu verzeichnen war. Im Jahr 2007 habe das BfN und Naturschutzvereinigungen ablehnend auf das Vorhaben wegen unzureichenden Schutz für Schweinswale und Riffe reagiert. Daraufhin sei ein Erörterungstermin im Einvernehmen mit der Klägerin nicht durchgeführt worden, da diese noch Zeitbedarf für die Klärung naturschutzrechtlicher Fragen geltend gemacht habe. In den Jahren 2009/10 seien alternative Abbaukonzepte diskutiert worden, um den naturschutzfachlichen Bedenken Rechnung zu tragen. Diese Gespräche seien im September 2010 mit der Erklärung der Klägerin geendet, dass diese ein überarbeitetes Abbaukonzept präsentieren wolle. Dazu sei es dann nie gekommen. Die zur Begründung der Klage vorgebrachten Argumente würden keine durchgreifenden Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide begründen. Die Lage am Rohstoffmarkt sei nicht von Relevanz. Eine gewisse Berechtigung hätte zwar der Einwand, dass die Zeit für die Erstellung der Antragsunterlagen nicht bei der Berechnung der Drei-Jahres-Frist zu berücksichtigen seien, jedenfalls ab 2010 seien aber keine erkennbaren Aktivitäten mehr von der Klägerin erfolgt, so dass insofern die Voraussetzungen des § 18 Abs. 3 BBergG gegeben seien. Auch habe die Klägerin selbst diesen Stillstand zu vertreten. Zum einem habe sich der Beklagte durchaus verbal eindeutig zu dem eingereichten Antrag geäußert. Es sei an das Gespräch im September 2010 zu erinnern, welches mit einer Äußerung des Vertreters des Klägers geendet habe, Überlegungen zu einem neuen Abbaukonzept anstellen zu wollen und diese ggf. in einem neuen Antrag einarbeiten zu wollen. Für die Beklagte habe es keinen Anlass gegeben anzunehmen, dass der alte Bescheid – abschlägig – beschieden werden solle. Die Klägerin selbst habe nichts unternommen um das Verfahren voranzutreiben. Es sei Sache des Unternehmers die notwendigen Unterlagen beizubringen (§ 52 Abs. 4 BBergG). Es sei der Klägerin auch zumutbar gewesen vor Erlass der Schutzgebietsausweisung das Verfahren weiter voranzutreiben. Diese Argumentation hätte zum einem zur Konsequenz, dass § 18 BBergG angesichts der sich ständig wandelnden rechtlichen Anforderungen faktisch bedeutungslos würde. Zum anderen habe der Klägerin aufgrund der Angaben im Standarddatenbogen zur Meldung und späteren Listung der Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung bewusst sein müssen, welche Lebensraumtypen und Arten im Bewilligungsgebiet zu schützen waren, nämlich insbesondere Sandbänke, Riffe und Schweinswale. Im Übrigen sei es unplausibel, dass ein Rohstoffunternehmen jahrelang auf eine umweltrechtliche Präzisierung zuwarte, obwohl offenkundig sei, dass die umweltrechtlichen Anforderungen ständig steigen würden. Zudem würde auch in den benachbarten Gebieten weiter Sand und Kies gewonnen. Bei diesen sei es in Folge der nur beschränkten Bindungswirkungen von Rahmenbetriebsplänen bei den folgenden Hauptbetriebsplan-Zulassungen mehrfach zu Anpassungen an aktuelle naturschutzfachliche Anforderungen gekommen. Im Weiteren bestünde auch kein Zusammenhang zwischen Stillhalten der Klägerin und der Dauer der Schutzgebietsausweisung bestehe ebenfalls nicht. Im Übrigen hätte ein Bergbauunternehmer, der eine bergrechtliche Gewinnungspflicht ernst nehme, bei Zweifeln an der Rechtslage bzw. deren Weiterentwicklung sich mit der Bergbehörde abgestimmt. Die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 VwVfG i.V.m. § 49 Abs. 2 Satz 2 VwVfG finde vorliegend schließlich keine Anwendung, da § 18 Abs. 3 BBergG insofern die speziellere Regelung darstelle.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtskate sowie den beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage ist unbegründet. Der angefochtene Aufhebungsbescheid vom 2.2.2017 in Gestalt des Widerspruchbescheides vom 29.5.2017 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Maßgeblicher Zeitpunkt zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Bescheide ist der Zeitpunkt der letzten behördlichen Entscheidung, hier also der Erlass des Widerspruchbescheides.
18
Rechtsgrundlage des angefochtenen Widerrufs der Bewilligung nach § 8 BBergG ist § 18 Abs. 3 BBergG. Nach § 18 Abs. 3 Satz 1 BBergG ist eine Bewilligung zu widerrufen, wenn die Gewinnung nicht innerhalb von drei Jahren nach Erteilung der Bewilligung aufgenommen oder wenn die regelmäßige Gewinnung länger als drei Jahre unterbrochen worden ist. Dies gilt gemäß § 18 Abs. 3 Satz 2 BBergG nicht, solange Gründe einer sinnvollen technischen oder wirtschaftlichen Planung des Bewilligungsinhabers es erfordern, dass die Gewinnung im Bewilligungsfeld erst zu einem späteren Zeitpunkt aufgenommen oder wiederaufgenommen wird oder wenn sonstige Gründe für die Unterbrechung vorliegen, die der Bewilligungsinhaber nicht zu vertreten hat.
19
Die Aufhebung ist zunächst in formeller Hinsicht rechtmäßig. Insbesondere ist der Beklagte für die Aufhebung zuständig gewesen. Gemäß § 1 Abs. 2 BergRzustBehV SH ist der Beklagte sowohl für die Erteilung einer entsprechenden Bewilligung als auch für deren Widerruf zuständig.
20
Die Aufhebung ist im Weiteren auch in materieller Hinsicht rechtmäßig.
21
Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 18 Abs. 3 BBergG liegen vor.
22
Die Klägerin hat nicht innerhalb von drei Jahren nach Erteilung der Bewilligung die Gewinnung aufgenommen. Als Gewinnung gilt nach § 4 Abs. 2 BBergG das Lösen oder Freisetzen von Bodenschätzen einschließlich der damit zusammenhängenden vorbereitenden, begleitenden und nachfolgenden Tätigkeiten. Ob eine Gewinnung vorliegt, bestimmt sich nach rein tätigkeitsbezogenen, objektiven Kriterien. Vom Begriff der Gewinnung umfasst ist der eigentliche Abbau bzw. die Förderung von Bodenschätzen und damit eine Tätigkeit, die sich nicht mehr als Aufsuchung i.S.d. § 4 Abs. 1 BBergG und noch nicht als Aufbereitung i.S.d. § 4 Abs. 3 BBergG darstellt. Zu den vorbereitenden und begleitenden Tätigkeiten zählen auch Untersuchungsmaßnahmen wie die Erkundung der Grundwasserverhältnisse (z.B. im Bergbau) oder vorbereitend die exakte Erkundung der Lagerverhältnisse. Wegen der bestehenden Betriebsplanpflicht nach § 51 Abs. 1 BBergG gehören die vorgenannten Tätigkeiten allerdings nur dann zur Gewinnung i.S.d. § 18 Abs. 3 Satz 1 BBergG, wenn sie von einem behördlich zugelassenen – und noch bestehenden – (Rahmen-)Betriebsplan umfasst sind. Zudem geht § 18 Abs. 3 BBergG von der tatsächlichen Aufnahme der Arbeiten und damit von einer bestehenden Zulassung von Betriebsplänen aus. Nach dem gesetzgeberischen Ziel der vorgenannten Regelung muss eine über dreijährige Nichtaufnahme der regelmäßigen Gewinnung grundsätzlich ausreichen, um festzustellen, dass der Inhaber der Berechtigung nicht bereit oder in der Lage ist, den mit der Erteilung der Bewilligung verfolgten, im öffentlichen Interesse liegenden Zwecken nachzukommen, es sei denn, es liegt ein Ausnahmetatbestand nach § 18 Abs. 3 Satz 2 BBergG vor. Die Widerrufsgründe des § 18 BBergG stehen in einem engen Bezug zu der gemäß § 1 Nr. 1 BBergG beabsichtigten Ordnung und Förderung der Gewinnungstätigkeit, die letztlich dem öffentlichen Interesse an einer Sicherung der Rohstoffversorgung dient. Über den allgemeinen Zweck der Beendigung einer öffentlich-rechtlichen Berechtigung wegen deren Nichtausnutzung hinaus kommen vorliegend rohstoffwirtschaftliche Aspekte hinzu wie das sich gerade aus dem Förderzweck des § 1 Nr. 1 BBergG ergebende Gebot der Zügigkeit der Aufsuchung und Gewinnung. Der Widerrufstatbestand und das entsprechende Verfahren sollen dazu beitragen, das von einer Bewilligung umfasste Feld möglichst intensiv und zügig auszubeuten (vgl. OVG Schleswig, Urteil vom 19.12.2018 - 4 LB 10/18 -, Juris Rn. 53, 55 f. m.w.N.).
23
Nach den vorstehenden Maßstäben kommt es – anders als die Klägerin meint – für den Beginn der Gewinnung im Sinne des § 18 Abs. 3 BBergG nicht darauf an, ob zur rechtlichen Ermöglichung einer Gewinnung vorbereitende Maßnahmen getroffen werden. Das heißt, dass Vorbereitungen für das Planfeststellungsverfahren zur Zulassung eines Rahmenbetriebplans nach dem Vorstehenden nicht unter den Begriff der Gewinnung fällt, da diese Arbeiten gerade nicht von einem bestehenden Rahmenbetriebsplan umfasst sind, weil ein solcher nicht existiert. Demnach sind Verzögerungen im Bewilligungsverfahren allenfalls im Rahmen einer „Ausnahme“ nach § 18 Abs. 3 Satz 2 BBergG zu berücksichtigen.
24
Die Klägerin hat allerdings die Nichtaufnahme der Abbautätigkeit nicht im Sinne des § 18 Abs. 3 Satz 2 BBergG nicht zu vertreten.
25
Die Gründe einer sinnvollen technischen oder wirtschaftlichen Planung werden dabei im Gesetz besonders hervorgehoben, um klarzustellen, dass darauf zurückzuführende Verzögerungen in keinem Falle vom Inhaber der Bewilligung zu vertreten sind. Die Widerrufsgründe des § 18 BBergG stehen in einem engen Bezug zu der gemäß § 1 Nr. 1 BBergG beabsichtigten Ordnung und Förderung der Gewinnungstätigkeit, die letztlich dem öffentlichen Interesse an einer Sicherung der Rohstoffversorgung dient. Über den allgemeinen Zweck der Beendigung einer öffentlich-rechtlichen Berechtigung wegen deren Nichtausnutzung hinaus kommen vorliegend rohstoffwirtschaftliche Aspekte hinzu wie das sich gerade aus dem Förderzweck des § 1 Nr. 1 BBergG ergebende Gebot der Zügigkeit der Aufsuchung und Gewinnung. Der Widerrufstatbestand und das entsprechende Verfahren sollen dazu beitragen, das von einer Bewilligung umfasste Feld möglichst intensiv und zügig auszubeuten. Aus den vorgenannten Motiven und Gesetzeszwecken ergibt sich, dass die Gewinnung von Bodenschätzen nicht allein im privaten Interesse des Unternehmers, sondern vorrangig im öffentlichen Interesse liegt. Die Bewilligung begründet für den Unternehmer nicht nur das Recht zum Tätigwerden, sondern vielmehr auch die Pflicht zu einem bestimmten Tätigwerden. Dem Widerruf kommt damit die Funktion einer Gegensicherung zu, um über den Zeitpunkt der Bewilligungserteilung hinaus für die Wirtschaftsordnung nicht hinnehmbare Nachteile vermeiden zu können; sie wird als Instrument zur Anpassung des bergbaulichen Konzessionssystems an die jeweilige Entwicklung betrachtet (vgl. OVG Schleswig, Urteil vom 19.12.2018 - 4 LB 10/18 -, Juris Rn. 55 ff. m.w.N.).
26
Für die Annahme von Gründen einer „sinnvoll technischen oder wirtschaftlichen Planung“, die die Aufnahme der Gewinnungstätigkeit im vorliegenden Fall hindern, dürfte es zum einen erforderlich sein, dass solche Gründe tatsächlich vorliegen und zum anderen, dass sie für die Nichtaufnahme auch kausal geworden sind. Berücksichtigungsfähig dürften dabei die unternehmerische Konzeption für die Gewinnungstätigkeit und solche notwendigen Tätigkeiten, die auf eine technische und wirtschaftlich sachgemäße Betriebsplanung und Betriebsführung gerichtet sind, sein (vgl. OVG Schleswig, Urteil vom 19.12.2018 - 4 LB 10/18 -, Juris Rn. 61). Maßgeblich dürfte insofern des Weiteren sein, ob sich die Klägerin kontinuierlich um die Beseitigung dieses von etwaigen rechtlichen Hindernisses bemüht und hierfür ergebnisorientierte Tätigkeiten einer wirtschaftlich sachgemäßen Betriebsplanung unternommen hat. Gründe einer sinnvollen technischen oder wirtschaftlichen Planung können sich zunächst aus den konkreten technischen und wirtschaftlichen Umständen des Einzelfalles ergeben. Dabei genügt allerdings die Klärung von rechtlichen Rahmenbedingungen dieser Anforderung im Einzelfall auch unter Berücksichtigung der behördlichen Pflichten zur Erörterung im Hinblick auf eine schnelle Abwicklung des Verfahrens nicht (vgl. OVG Schleswig, Urteil vom 19.12.2018 - 4 LB 10/18 -, Juris Rn. 63 ff.). Dies soll nach der insoweit überzeugenden Rechtsprechung des OVG Schleswig etwa dann nicht der Fall sein, wenn sich die Bergbaubehörde die einer Genehmigung/Zulassung entgegenstehende Rechtsauffassung des BfN zu eigen gemacht hat. In einem solchen Fall obliegt es nach der Rechtsprechung des OVG Schleswig wegen der im öffentlichen Interesse bestehenden Pflicht zu intensiven und zügigen Bemühungen um eine Wiederaufnahme bzw. Beginn mit der Abbautätigkeit wohl dem Bergbauunternehmen konkrete Schritte zur Ermöglichung des Abbaus zu unternehmen (vgl. OVG Schleswig, Urteil vom 19.12.2018 - 4 LB 10/18 -, Juris Rn. 65).
27
Unter Berücksichtigung der vorstehend dargelegten Maßstäbe gilt, unabhängig davon, ob die Einwände der Klägerin wirklich unter den Begriff der Gründe einer sinnvollen technischen oder wirtschaftlichen Planung subsumiert werden können, vorliegend das Folgende:
28
Soweit die Klägerin einwendet, dass es Aufgabe der Beklagte gewesen wäre das Planfeststellungsverfahren voranzubringen, es ihr nicht zuzumuten wäre eine Untätigkeitsklage zu erheben und zudem nicht klar gewesen wäre, ob sich die Beklagte den Anforderungen des BfN anschließe, kann sie damit nicht durchdringen. Aus dem in den Verwaltungsvorgang des Beklagten vorliegenden Gesprächsvermerk über das Gespräch im Dezember 2009 ist zwar nicht ausdrücklich zu entnehmen, dass sich der Beklagte eindeutig zu den zuvor geäußerten Bedenken des BfN äußerte, allerdings ist durchaus vermerkt, dass die Klägerin ggf. weitere Maßnahmen durchführen bzw. Unterlagen vorlegen wollte und vor allem noch über das weitere Vorgehen entscheiden wolle. Damit ergibt sich hinreichend schon aus diesem Vermerk, dass diese Frage zum einem Gesprächsthema von allen Beteiligten war und sich zum anderen offenbar alle einig waren, dass die geäußerten Bedenken des BfN auszuräumen wären. Auch war offensichtlich deutlich, dass nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden könnte, dass der Zulassungsantrag der Klägerin auf Grundlage bis zum Gespräch vorgelegten Unterlagen entschieden werden solle. Unter Berücksichtigung dessen wäre eine nochmalige ausdrückliche Äußerung der Beklagten zur Frage der Genehmigungsfähigkeit bzw. zum weiteren Vorgehen reiner Formalismus gewesen, da offensichtlich allen Beteiligten klar war, dass Nacharbeiten nötig waren. Zumal dies auch von der Klägerin nicht wirklich ausdrücklich bestritten wird – diese trägt nur vor, dass sich Entsprechendes aus dem Vermerk nicht ergebe. Insofern dürfte es auch auf die von der Klägerin aufgeworfenen Frage der Vollständigkeit der Akte bzw. deren Bedeutung auch nicht ankommen. Nach dem Vorstehenden dürfte es grundsätzlich also durchaus Aufgabe der Klägerin gewesen sein, das Verfahren durch Vorlage geeigneter Unterlagen fortzuführen. Das VG Potsdam führt zu dieser Frage – wobei dieses allerdings davon ausgeht, dass ein entsprechender Einwand allenfalls bei einer Unterbrechung eine Rolle spielen dürfte – das Folgende aus:
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Um dem Bergbauunternehmer für den Fall, dass eine Verzögerung im Planfeststellungsverfahren eintritt, die Möglichkeit zu geben, nicht tatenlos den Ablauf der in § 18 Abs. 3 BBergG geregelten Frist abwarten zu müssen und den Widerruf der Bewilligung in Kauf nehmen zu müssen, hat der Gesetzgeber mit der Regelung des § 57b BBergG dem Bergbauunternehmer die Möglichkeit eingeräumt, bei der zuständigen Behörde einen Antrag auf vorzeitigen Beginn zu stellen. Unter den dort geregelten Voraussetzungen kann die zuständige Behörde unter dem Vorbehalt des Widerrufs zulassen, dass bereits vor der Planfeststellung mit der Ausführung des Vorhabens begonnen wird. Einen solchen Antrag hat die Antragstellerin nicht gestellt, obwohl im Protokoll des Erörterungstermins vom 30. Juni 2006 der vorherige Bewilligungsinhaber ein solches Vorgehen angekündigt hatte. Durch die Beantragung eines vorzeitigen Beginns des Vorhabens war der Klägerin somit eine Möglichkeit gegeben, entsprechend dem Zweck der Regelung des § 18 Abs. 3 BBergG, die Gewinnung innerhalb der vom Gesetzgeber vorgesehenen Frist zu beginnen. Die sonstigen von der Klägerin vorgebrachten Einwendungen, die sich auf das Planfeststellungsverfahren und die dort geforderten Unterlagen beziehen, sind für das Widerrufsverfahren unbeachtlich. Es handelt sich vielmehr um zwei eigenständige Verwaltungsverfahren. Soweit die Klägerin der Auffassung ist, sie habe in dem Planfeststellungsverfahren alle erforderlichen Unterlagen eingereicht, hätte sie die Möglichkeit gehabt, im Wege der Untätigkeitsklage gegen den Beklagten auf Genehmigung des Rahmenbetriebsplans vorzugehen. Würde man Einwendungen gegen das Planfeststellungsverfahren entgegen dem ausdrücklichen Wortlaut des Gesetzes zulassen, würde dies zu einer Umgehung der Regelung des § 18 Abs. 3 BBergG führen.
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(VG Potsdam, Urteil vom 2.7.2015 - 1 K 484/13 -, Juris Rn. 18)
31
Die Kammer erachtet die Ausführungen des VG Potsdam für überzeugend und macht sie sich insoweit auch für den vorliegenden Fall zu eigen. Die Klägerin war insofern unter Berücksichtigung der letzten Absprachen zwischen den Beteiligten in der Verantwortung, das Verfahren fortzuführen. Doch selbst wenn, wie von der Klägerin vorgetragen, jedenfalls im vorliegenden Einzelfall ein Antrag nach § 57b BBergG von vornherein erfolglos und eine Untätigkeitsklage – auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten – sinnlos wäre und man deshalb davon ausgehen wollte, dass entsprechende Handlungen unzumutbar wären (so im Hinblick auf eine Untätigkeitsklage für den Fall, dass vollständige Unterlagen vorlagen: VG Halle, Urteil vom 24.9.2014 - 5 A 160/13 -, Juris Rn. 41), wäre es der Klägerin in jedem Fall ohne weiteres möglich und zumutbar gewesen, bei der Beklagte zunächst einmal die Fortführung bzw. Entscheidung des Planfeststellungsverfahrens auf Grundlage der bis dahin vorgelegten Unterlagen zu erbitten bzw. anzumahnen. Entsprechendes hat die Klägerin allerdings nicht getan. Dabei macht es – entgegen der Auffassung der Klägerin – auch keinen Unterschied, ob es um die Verlängerung eines bestehenden Betriebsplans oder die erstmalige Zulassung eines Rahmenbetriebsplan geht. § 18 Abs. 3 BBergG erfasst sowohl die Nichtaufnahme als auch die Unterbrechung. Warum die beiden Konstellationen hinsichtlich der vorliegenden Fragestellung unterschiedlich behandelt werden sollten, erschließt sich nicht. Es bleibt dabei, dass – auch unter Berücksichtigung des zuletzt an die Beklagte gesandten Schreibens – nicht erkennbar ist, dass die Klägerin irgendwelche Schritte unternommen hätte, um eine Aufnahme der Abbautätigkeiten gewährleisten zu können. Unter diesen Bedingungen war es auch nicht Aufgabe des Beklagten, von sich aus im Hinblick auf eine Fortführung des Planfeststellungsverfahrens tätig zu werden.
32
Auch soweit die Klägerin auf die Verzögerung hinsichtlich des Erlasses einer Schutzgebietsverordnung bzgl. des FFH-Gebiets sowie das Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland abstellt, kann sie damit nicht durchdringen. Dieser Umstand führt insbesondere nicht zu einer Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Planfeststellungsverfahrens. Gegenstand des Vertragsverletzungsverfahrens ist zwar der Rechtsrahmen für den weiteren Abbau in der Außenwirtschaftszone der Nordsee, doch machte und macht dies eine konkrete Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten einer Zulassung des Abbaus im verfahrensgegenständlichen Feld durch Aufstellung eines Rahmenbetriebsplans nicht entbehrlich, solange die Klägerin an diesem Feld festhält (vgl. OVG Schleswig, Urteil vom 19.12.2018 - 4 LB 10/18 -, Juris Rn. 70). Es trifft zwar zu, dass die Einstufung des „XX Außenriffs“ als FFH-Gebiet, die Einleitung eines EU-Vertragsverletzungsverfahrens gegen die Bundesrepublik Deutschland und die dazu geführten Gespräche auf Bundes- und Landesebene außerhalb der Sphäre der Klägerin liegen; aber auch dies hindert sie nicht durchgreifend daran, die zur Aufnahme der Gewinnung erforderlichen Schritte weiter zu betreiben. Dies gilt auch in Anbetracht der Tatsache, dass sich dadurch die naturschutzrechtlichen Anforderungen an den weiteren Abbau von Rohstoffen erhöht haben, denn diese betreffen nur die Durchführung der Maßnahme. Ob etwa weitergehende FFH-Verträglichkeitsprüfungen unter Beteiligung der Naturschutzverbände durchzuführen sind oder weitergehende Schutzmaßnahmen zu treffen sind, kann im Rahmen des anzustrebenden Zulassungsverfahrens geklärt werden (vgl. dazu: OVG Schleswig, Urteil vom 19.12.2018 - 4 LB 10/18 -, Juris Rn. 81). Ob und unter welchen Voraussetzungen ein Rahmenbetriebsplan zuzulassen gewesen wäre, hätte insofern im Rahmen des Zulassungsverfahrens unter Rücksprache mit der Beklagten geklärt werden müssen. Da die Beteiligten aber zuletzt – im Übrigen zu einem Zeitpunkt in dem die Bundesrepublik Deutschland das XX Außenriff bereit als FFH-Gebiet gemeldet hatte und auch noch die nach Art. 4 Abs. 4 FFH-RL vorgesehene Umsetzungsfrist gerechnet ab der Meldung nicht abgelaufen war – besprochen hatten, dass die Klägerin über das weitere Vorgehen bzgl. des Planfeststellungsverfahrens entscheide, bestand für die Beklagte keine Verpflichtung, von sich aus weitere, konkrete Unterlagen abzufordern. Es hätte von der Klägerin – wie gesagt – zumindest der Kontakt mit der Beklagten gesucht werden müssen, um zu klären, ob und ggf. welche „neuen“ Anforderungen aus der Aufnahme des XX Außenriffs als FFh-Gebiet resultieren.
33
Aus den vorstehenden Gründen sind vorliegend auch etwaige gesetzgeberische Versäumnisse nicht zu Gunsten der Klägerin zu berücksichtigen.
34
Auch sonstige Gründen einer „sinnvoll technischen oder wirtschaftlichen Planung“ sind vorliegend nicht anzunehmen. Insbesondere ist aus dem klägerischen Vortrag nicht erkennbar, inwieweit der bestehende Rohstoffbedarf insoweit von Bedeutung sein könnte. Dieser spricht unter Berücksichtigung des Sinns und Zwecks des § 18 Abs. 3 BBergG eher dafür, die der Klägerin erteilte Bewilligung „zu entziehen“, damit die abbaufähigen Rohstoffe tatsächlich auch abgebaut werden. Dasselbe gilt im Hinblick auf den Vortrag, dass das Abwarten einem verantwortungsvollen Rohstoffabbau entspräche. Zumal der Klägerin – wie ausgeführt – jedenfalls zumutbar gewesen wäre, sich bei dem Beklagten für eine Fortsetzung des Planfeststellungsverfahrens einzusetzen, in welchem gegebenenfalls offene Fragen geklärt oder zumindest besprochen hätten werden können. Ein einfaches, „kommentarloses“ Zuwarten der Klägerin stellt jedenfalls keine sinnvolle technische oder wirtschaftliche Planung im vorgenannten Sinne dar.
35
Ebenso wenig liegen sonstige Gründe, die der Unternehmer nicht zu vertreten hat, im Sinne des § 18 Abs. 3 Satz 2 Alt. 2 BBergG vor. Sonstige Gründe, die der Unternehmer nicht zu vertreten hat, sind solche, die außerhalb seiner Einflusssphäre liegen und die den Unternehmer daran hindern, die zur (Wieder-)Aufnahme der Gewinnung erforderlichen Schritte wie z.B. die Einreichung eines den Vorschriften des Gesetzes entsprechenden Betriebsplanes einzuleiten; Gründe, die allein gegen die Durchführung der Maßnahme sprechen, zählen hierzu nicht (vgl. OVG Schleswig, Urteil vom 19.12.2018 - 4 LB 10/18 -, Juris Rn. 75 m.w.N.). Auf solche sonstigen Gründe kann sich die Klägerin aber im vorliegenden Verfahren von vornherein nicht berufen. Dem steht schon der Wortlaut der Regelung entgegen, nach dem diese Gründe nur bei der Unterbrechung zu berücksichtigen sind (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18.7.2018 - 2 L 96/16 -, Juris Rn. 111 m.w.N.). Im Übrigen würden die von der Klägerin geltend gemachten Einwendungen – selbst, wenn es sich bei diesen nicht um Gründe einer sinnvollen technischen oder wirtschaftlichen Planung, sondern um sonstige Gründe im Sinne des § 18 Abs. 3 Satz 2 Alt. 2 BBergG handeln würde und sich die Klägerin vorliegend auch auf solche berufen könnte – aus den zuvor dargelegten Gründen nicht ein Nichtvertretenmüssen der Nichtaufnahme der Abbautätigkeit durch die Klägerin begründen können, da es der Klägerin – wie ausgeführt – zumutbar gewesen wäre, erforderliche Schritte zum Beginn der Abbautätigkeit einzuleiten.
36
Der ausgesprochene Widerruf ist im Weiteren auch ohne Verstoß gegen die in § 49 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 48 Abs. 4 VwVfG vorgesehene Jahresfrist erfolgt, da diese Regelung vorliegend nicht anwendbar ist. Nach § 5 BBergG gilt das Verwaltungsverfahrensgesetz nur, soweit im Bundesberggesetz nichts anderes bestimmt ist. Die Unanwendbarkeit einzelner Normen wie hier des § 49 VwVfG kann sich darüber hinaus mittelbar aus Sinn und Zweck der Regelung sowie aus dem Regelungszusammenhang ergeben. So liegt es hier. Anders als nach § 49 VwVfG steht ein Widerruf nach § 18 Abs. 3 BBergG nicht im behördlichen Ermessen, sondern ist zwingend vorgeschrieben. Damit hat der Gesetzgeber zu erkennen gegeben, dass er einen gesetzwidrigen Zustand zum Schutz anderer Interessen nicht hinnehmen will. Entsprechend könnte einem Bewilligungsinhaber zwar in den Fällen des Widerrufs nach § 49 Abs. 2 Nr. 3 bis 5 VwVfG Vertrauensschutz zugebilligt werden, doch nicht im Falle der bergbauspezifischen Zulassung eines Widerrufs nach § 18 Abs. 3 BBergG und deren differenzierte Regelung. Sie schreibt den Widerruf einer Bewilligung zwingend vor. Die Tatsachen, die den Widerruf auslösen, liegen, wenn sie denn tatsächlich gegeben sind, zwingend in der Sphäre des Bewilligungsinhabers und sind ihm daher bekannt. Da er deshalb mit der Möglichkeit eines Widerrufes rechnen muss, ist ein Vertrauensschutz nicht geboten (OVG Schleswig, Urteil vom 19.12.2018 - 4 LB 10/18 -, Juris Rn. 83 m.w.N.; vgl. auch OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18.7.2018 - 2 L 96/16 -, Juris Rn. 116 und Beschluss vom 8.6.2015 - 2 L 20/14 -, Juris Rn. 10, 23; a.A. wohl Kühne, in: Boldt/Weller/Kühne/von Mäßenhausen, BBergG, 2. Aufl. 2016, § 18 Rn. 37). Insofern macht es auch keinen Unterschied, ob der Wiederruf in Folge einer Unterbrechung oder in Folge einer Nichtaufnahme erfolgt. Entscheidend ist insofern jeweils, dass in jedem der in § 18 Abs. 3 BBergG geregelten Fälle, bei Vorliegen der Voraussetzungen, ein Unterlassen des Bewilligungsinhabers Grund für den Widerruf ist und deshalb auch Vertrauensschutz ausscheidet.
37
§ 18 Abs. 3 BBergGG sieht als Rechtsfolge eine gebundene Entscheidung vor. Dahinstehen kann für den vorliegenden Fall bleiben, ob unter bestimmten Voraussetzungen auch bei gebundenen Entscheidungen eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchzuführen ist (siehe dazu: Schönenbroicher, in: Mann/Sennekamp/Uechtritz, VwVfG, 2. Aufl. 2019, VwVfG, § 40 Rn. 236), da hier ein Regelfall einer gebundenen Entscheidung anzunehmen ist, bei dem eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durch die Behörde jedenfalls nicht mehr durchzuführen ist. Soweit die Klägerin diesbezüglich vorträgt, dass sie kein unzulässiges Vorrathalten betrieben habe, sondern ihre Untätigkeit mit der unsicheren Rechtslage im Zusammenhang gestanden habe, ist dieser Vortrag – wie geschehen – allenfalls im Zusammenhang mit einem Verschulden zu prüfen. Eine Berücksichtigung im Ermessen, wenn dieser Umstand schon das Verschulden nicht entfallen lässt, hat nicht zu erfolgen. Auch soweit sie vorträgt, dass das Abwarten einem verantwortlichen Rohstoffabbau entspreche, ist sie damit nicht zu hören, da auch dieser Aspekt – wie erfolgt – im Rahmen des Verschuldens geprüft werden kann. Auch die Ausführungen zur Drei-Jahres-Frist vermögen insofern nicht zu überzeugen, da – wie gesagt – Verzögerungen im Planfeststellungsverfahren, sofern sie nicht durch das Bergbauunternehmen zu vertreten sind, im Rahmen des Vertretenmüssens zu berücksichtigen wären. Wenn die Klägerin die Verzögerung jedoch selbst zu vertreten hat, ist der Widerruf auch nicht unverhältnismäßig. Dasselbe gilt für die unklare Rechtslage. Soweit die Klägerin insoweit auf den Beschluss des OVG Münster vom 5.10.2018 (- 11 B 1129/18 -, Juris Rn. 36) verweist, kann ihr das auch nicht helfen, da die zitierte Stelle nur Ausführungen dazu enthält, dass komplexe Rechtsfragen nicht im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes zu klären sind. Dies stellt aber keine naturschutzrechtliche Besonderheit dar. Auch der Hinweis auf ein fehlendes Auffordern zu Betreibung des Planfeststellungsverfahrens hilft insoweit nicht weiter, da diese Frage – wie geschehen – ebenfalls bereits erschöpfend unter dem Punkt des „Verschuldens“ erörtert werden kann.
38
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.
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"language": "de"
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Tenor
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Trier vom 10. August 2020 wird zurückgewiesen.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstands wird für das Beschwerdeverfahren auf 3.750,00 € festgesetzt.
Gründe
1
Die Beschwerde ist unbegründet.
2
Die Ausführungen des Antragstellers im Beschwerdeverfahren, auf die sich die Prüfung beschränkt, enthalten keine Gründe, aus denen der angegriffene Beschluss abzuändern oder aufzuheben ist (§ 146 Abs. 4 Satz 3 und 6 VwGO).
3
1. Das Verwaltungsgericht hat es im Ergebnis zu Recht abgelehnt, den Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO zu verpflichten, dem Antragsteller die begehrte Ausbildungsduldung zu erteilen. Zutreffend ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass es am erforderlichen Anordnungsanspruch fehlt. Einem etwaigen Anspruch auf Erteilung einer solchen Duldung stehen zwar nicht die von ihm angenommenen Gründe entgegen (2.), der Anspruch scheitert jedoch an einem anderen Hindernis (3.).
4
2. § 60c Abs. 1 Satz 2 AufenthG und § 60c Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 60a Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 AufenthG hindern die Erteilung der begehrten Ausbildungsduldung nicht.
5
a) Nach § 60c Abs. 1 Satz 2 AufenthG kann diese Duldung in Fällen offensichtlichen Missbrauchs versagt werden. Zwar spricht einiges dafür, dass bestimmte Handlungen des Antragstellers rechtsmissbräuchlich sein könnten. So scheint der Asylfolgeantrag vom 10. September 2019 nur der Überbrückung bis zum Erhalt eines aufenthaltsgesetzlichen Titels und nicht asylrechtlichen Zielen zu dienen. Ferner hat der Kläger gegen seine Mitwirkungspflichten aus § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und § 82 Abs. 1 Satz 1 AufenthG verstoßen. Danach hat ein Ausländer seinen Pass oder entsprechende Nachweise, die er erbringen kann, unverzüglich vorzulegen. Der Antragsteller kannte diese Pflicht, denn der Antragsgegner hatte ihn zur Vorlage von Personalpapieren aufgefordert. Trotzdem legte der Antragsteller seine National Identify Card und seinen Reisepass nicht sofort vor.
6
Es kann aber nicht ohne weiteres angenommen werden, dass er mit dem fraglichen – zweiten – Antrag auf Erteilung einer Duldung für die Ausbildung zum Verkäufer Rechtsnormen missbrauchen oder wissentlich umgehen wollte. Vor allem steht die Entscheidung, eine Ausbildungsduldung wegen offensichtlichen Missbrauchs zu versagen, im Ermessen der Behörde. Der Antragsgegner hat von dieser Möglichkeit nicht Gebrauch gemacht, sondern seine ablehnende ausländerbehördliche Entscheidung vom 13. Juli 2020 auf einen anderen Versagungsgrund gestützt. Das Verwaltungsgericht darf die fehlende Ermessensbetätigung nicht ersetzen.
7
b) Nach § 60c Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 60a Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 AufenthG wird eine Ausbildungsduldung dann nicht erteilt, wenn bei dem betroffenen Ausländer aufenthaltsbeendende Maßnahmen aus Gründen, die er zu vertreten hat, nicht vollzogen werden können. Eine Abschiebung des Antragstellers scheitert seit dem 31. Januar 2020 nicht mehr an einem fehlenden Nachweis seiner Identität. An diesem Tag hat er seine National Identify Card vorgelegt. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts ist die Ablehnung der beantragten Ausbildungsduldung nicht deshalb gerechtfertigt, weil frühere Versäumnisse des Antragstellers bei der Klärung seiner Identität fortwirken würden. Eine solche Fortwirkung besteht nicht. Der Antragsgegner ist inzwischen im Besitz von Identitätspapieren des Antragstellers, die seine Abschiebung ermöglichen (s. Auskunft der Zentralstelle für Rückführungsfragen Rheinland-Pfalz vom 11. Februar 2020, Bl. 192 d. VwA). Das Verwaltungsgericht kann seine gegenteilige Auffassung nicht auf den von ihm genannten Beschluss des Senats vom 20. November 2019 stützen. Diesem und dem Parallelbeschluss vom selben Tag (– 7 A 11161/19.OVG –, juris) lagen ein anderer Sachverhalt zu Grunde. In diesen beiden Fällen weigerten sich die Antragsteller fortwährend, ihren Mitwirkungspflichten bei der Beschaffung von Passersatzpapieren nachzukommen. Ihr Verhalten war so weiterhin – im Hintergrund – kausal für die Unmöglichkeit einer Abschiebung, auch wenn diese vorübergehend nach § 60a Abs. 2b AufenthG ausgesetzt war. Im Fall des Antragstellers entfaltet sein früheres Verhalten nach Vorlage seiner Identitätsdokumente keine Wirkung mehr.
8
3. Dem Antragsteller ist die begehrte Ausbildungsduldung nach § 60c Abs. 2 Nr. 3 Halbs. 1 Buchst. a AufenthG zu verwehren.
9
a) Danach wird eine Ausbildungsduldung nicht erteilt, wenn bei Einreise nach Deutschland bis zum 31. Dezember 2016 die Identität bis zur Beantragung der Ausbildungsduldung nicht geklärt ist.
10
Diese Vorschrift ist hier einschlägig, da der Antragsteller am 11. September 2015 nach Deutschland einreiste. Seine Identität war bis zur ersten Beantragung einer Duldung für die jetzt angestrebte Ausbildung nicht geklärt.
11
Der Antragsteller beantragte bereits mit Schriftsatz vom 20. Dezember 2019 eine Duldung für diese Ausbildung. Schon dieser Antrag bezog sich auf den Berufsausbildungsvertrag vom 2. Dezember 2019. Danach sollte er zum 1. August 2020 eine Ausbildung als Verkäufer bei der ... Lebensmittelfilialbetrieb Stiftung & Co. KG beginnen. Auf diesen ersten Antrag und nicht auf den zweiten von 24. Juni 2020 ist abzustellen. Entscheidend ist dabei, dass es sich um denselben Ausbildungsvertrag handelt. Der jeweilige Ausbildungsvertrag ist Anknüpfungspunkt für die Bewertung, ob eine Ausbildungsduldung zu erteilen ist. Nach seinem Inhalt ist die Frage zu beantworten, ob die Ausbildung den Mindestanforderungen genügt, es sich also zum Beispiel um eine qualifizierte Berufsausbildung handelt (§ 60c Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a, Abs. 3 Satz 3 AufenthG). Zudem gibt der Ausbildungsvertrag Aufschluss über die Dauer der Berufsausbildung, für die eine Duldung erteilt werden soll (§ 60c Abs. 3 Satz 4 AufenthG).
12
Zudem würde die Regelung in § 60c Abs. 2 Nr. 3 Halbs. 1 Buchst. a AufenthG umgangen, wenn bei wiederholter Beantragung einer Duldung für dieselbe Ausbildung auf die letzte Antragstellung abgestellt würde. Aus dem Zusammenhang mit den anderen Buchstaben in § 60c Abs. 2 Nr. 3 Halbs. 1 AufenthG lässt sich ersehen, dass der Gesetzgeber Unklarheiten bei der Identität nicht zeitlich unbegrenzt hinnehmen wollte; er setzte dafür Fristen. Diesem Ansatz widerspräche es, wenn man es zuließe, dass die Identität nicht schon beim ersten Antrag, sondern erst bei weiteren Anträgen mit dem gleichen Inhalt geklärt ist.
13
b) Auf § 60c Abs. 2 Nr. 3 Halbs. 2 AufenthG kann sich der Antragsteller nicht berufen.
14
Danach gilt eine in § 60c Abs. 2 Nr. 3 Halbs. 1 AufenthG bestimmte Frist zur Klärung der Identität als gewahrt, wenn der betroffene Ausländer innerhalb der Frist alle erforderlichen und ihm zumutbaren Maßnahmen für die Identitätsklärung ergriffen hat. Diese Obliegenheit hat der Antragsteller nicht erfüllt. Nachvollziehbar belegt hat er seine Identität erst mit der Vorlage seiner National Identify Card am 31. Januar 2020, also nach dem ersten Antrag auf Erteilung der fraglichen Duldung am 30. Dezember 2019 und damit nach Ablauf der hier maßgeblichen Frist in § 60c Abs. 2 Nr. 3 Halbs. 1 Buchst. a AufenthG. Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass ihm die Vorlage dieses bereits am 18. April 2019 ausgestellten Identitätsnachweises vorher nicht zumutbar gewesen wäre. Die Urkunde war auch erforderlich, um seine Identität mit der für eine Abschiebung nötigen Sicherheit zu klären. Dazu genügte das vom Antragsteller zuvor zu den Akten gereichte Universitätszeugnis nicht. Es kann nicht als Identitätsnachweis gelten. Dazu sind grundsätzlich Identitätsdokumente wie Pass oder Personalausweis erforderlich. Können diese nicht vorgelegt werden, so kann die Identität mittels Dokumenten belegt werden, die biometrische Merkmale und Angaben zur Person enthalten. Andere Dokumente sind nur dann zum Nachweis der Identität geeignet, wenn auf ihrer Basis Pässe oder Passersatzpapiere beschafft werden können (vgl. die Begründung im Entwurf eines Gesetzes über Duldung bei Ausbildung und Beschäftigung, BT-Drs. 18/8286, S. 15). Das fragliche Universitätszeugnis ist weder ein Identitätsdokument noch enthält es biometrische Merkmale und es war zur Beschaffung von Passersatzpapieren unzureichend. Letzteres ergibt sich daraus, dass der Antragsgegner den Antragsteller zur Mitwirkung bei der Beschaffung solcher Papiere aufforderte.
15
c) Die Regelung in § 60c Abs. 7 AufenthG führt zu keinem anderen Ergebnis.
16
Danach kann eine Ausbildungsduldung trotz § 60c Abs. 2 Nr. 3 AufenthG erteilt werden, wenn der Ausländer die erforderlichen und ihm zumutbaren Maßnahmen für die Identitätsklärung ergriffen hat. Zwar kann angenommen werden, dass der Antragsteller mit der Vorlage seiner beiden Identitätsdokumente den Tatbestand dieser Ausnahmeregelung erfüllt. Sie eröffnet indes dem Antragsgegner Ermessen. Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass dieses Ermessen im Fall des Antragstellers in Richtung Erteilung der Ausbildungsduldung reduziert wäre. Zudem lässt sich der ausländerbehördlichen Entscheidung vom 13. Juli 2020 entnehmen, dass der Antragsgegner nicht gewillt ist, von der Ausnahmevorschrift zu Gunsten des Antragstellers Gebrauch zu machen. Denn der Antragsgegner misst der früher fehlenden Mitwirkung des Antragstellers bei der Identitätsklärung weiter große Bedeutung bei.
17
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
18
Die Festsetzung des Streitwertes ergibt sich aus § 47 Abs. 1, § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG.
19
Dieser Beschluss ist gemäß § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.
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Tenor
Der Antrag auf Aussetzung des Verfahrens wird abgelehnt.
Die Anträge der Beklagten und der Beigeladenen auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts – 6. Kammer – vom 20. April 2018 werden abgelehnt.
Die Kosten des Zulassungsverfahrens werden den Beteiligten wie folgt auferlegt: Die Beklagte und die Beigeladene tragen die Gerichtskosten und die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu je der Hälfte. Ihre eigenen außergerichtlichen Kosten tragen sie jeweils selbst.
Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000 Euro festgesetzt.
Gründe
1
Gegenstand des Rechtsstreits ist das Akteneinsichtsbegehren des Klägers in den Schriftverkehr zwischen der Beklagten und der Beigeladenen bezüglich der von der Beklagten gegenüber der Beigeladenen erlassenen Rückrufanordnung von VW-Dieselfahrzeugmodellen der Motorbaureihe EA 189 EU5. Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides verpflichtet, dem Kläger Akteneinsicht zu gewähren in den gesamten Schriftverkehr aus der Zeit vom 18. September 2015 bis 15. Oktober 2015 betreffend der am 15. Oktober 2015 erfolgten Anordnung zum Rückruf von VW-Dieselfahrzeugmodellen inklusive des dazu geführten Verwaltungsvorganges und der als Beiakte B geführten Akte, unter Ausnahme personenbezogener Daten.
2
Hiergegen wenden sich die Beklagte und die Beigeladene mit ihren Anträgen auf Zulassung der Berufung.
3
A. Soweit die Beigeladene angeregt hat, das Verfahren analog § 94 VwGO auszusetzen, bis das Bundesverwaltungsgericht über die zugelassene Revision im Verfahren „DUH./.BRD“ (Az. 10 B 19.19 (10 C 2.20)) entschieden hat, besteht hierzu keine Veranlassung.
4
I. Das Gericht kann gem. § 94 VwGO anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung eines anderen Rechtsstreits auszusetzen ist, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand dieses anderen anhängigen Rechtsstreits bildet. Diese Norm findet vorliegend keine unmittelbare Anwendung, da sie ein vorgreifliches Rechtsverhältnis voraussetzt, wofür hier nichts ersichtlich ist. Es kann dahinstehen, inwieweit eine entsprechende Anwendung des § 94 VwGO hier überhaupt in Betracht käme. Denn jedenfalls fehlt die Vorgreiflichkeit.
5
In einem Berufungszulassungsverfahren ist nämlich über das Vorliegen hinreichend dargelegter Zulassungsgründe gemäß § 124 Abs. 2 VwGO zu entscheiden. Die Beantwortung materieller Rechtsfragen durch das Bundesverwaltungsgericht kann die vorliegend maßgebliche Darlegungsfrage nicht entscheidungserheblich klären.
6
II. Es kommt auch nicht in Betracht, das Verfahren in entsprechender Anwendung des § 251 ZPO ruhend zu stellen, da der Kläger um Sachentscheidung gebeten hat.
7
B. In der Sache bleiben die Anträge auf Zulassung der Berufung erfolglos, da sich die geltend gemachten Zulassungsgründe aus den fristgerecht erfolgten Begründungen nicht ergeben. Jedenfalls haben die Antragstellerinnen die Voraussetzungen hierfür nicht ausreichend dargelegt (§ 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO).
8
I. Die von der Beklagten erhobenen Rügen greifen nicht durch.
9
1. Die Beklagte macht einen Verfahrensmangel gemäß § 124 Abs. 1 Nr. 5 VwGO geltend. Das Verwaltungsgericht habe weder die streitgegenständlichen Akten angefordert und geprüft, noch ein „in camera“-Verfahren durchgeführt und damit die Pflicht zur Amtsaufklärung verletzt.
10
Wer die Verletzung der Aufklärungspflicht rügt, muss substantiiert darlegen, welche Tatsachen auf der Grundlage der materiell-rechtlichen Auffassung des Verwaltungsgerichts aufklärungsbedürftig gewesen wären, welche für erforderlich oder geeignet gehaltenen Aufklärungsmaßnahmen hierfür in Betracht gekommen wären, welche tatsächlichen Feststellungen dabei voraussichtlich getroffen worden wären und inwiefern diese unter Zugrundelegung der materiell-rechtlichen Auffassung des Verwaltungsgerichts zu einer für den Zulassungsantragsteller günstigeren Entscheidung hätten führen können. Überdies ist zu berücksichtigen, dass die Aufklärungsrüge kein Mittel darstellt, um Versäumnisse eines Verfahrensbeteiligten in der ersten Instanz, vor allem das Unterlassen der Stellung von Beweisanträgen, zu kompensieren. Deshalb muss entweder dargelegt werden, dass bereits im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht, insbesondere in der mündlichen Verhandlung, auf die Vornahme der Sachverhaltsaufklärung, deren Unterbleiben nunmehr gerügt wird, hingewirkt worden ist oder aufgrund welcher Anhaltspunkte sich dem Gericht die bezeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken hätten aufdrängen müssen (OVG Schleswig, Beschluss vom 22. März 2016 – 14 LA 2/15 –, juris Rn. 4; vgl. ferner – die Revision betreffend – BVerwG, Urteil vom 27. Februar 2020 – 8 C 13.19 –, juris Rn. 26).
11
Diese Voraussetzungen sind in mehrfacher Hinsicht nicht erfüllt.
12
a) Die Beklagte hat schon nicht dargelegt, welche Tatsachen auf Grundlage der materiell-rechtlichen Auffassung des Gerichts aufklärungsbedürftig wären. Die bloße pauschale Bezugnahme auf sämtliche streitgegenständlichen Akten reicht für die Darlegung des Zulassungsgrundes nicht aus.
13
b) Die Beklagte zeigt zudem weder in Bezug auf den Ausschlussgrund des § 8 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UIG noch in Bezug auf den des § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UIG auf, warum nach Maßgabe der Rechtsauffassung des Gerichts eine Aufklärung des geschwärzten Akteninhalts der streitbefangenen Unterlagen geboten war. Die Rüge, das Gericht habe dem Vortrag der Beteiligten nicht ohne Überprüfung anhand der streitgegenständlichen Akten folgen dürfen, genügt dem ebenso wenig wie der Hinweis darauf, dass das Gericht die Darstellung der Ausschlussgründe in der Tabelle der Beklagten zu Unrecht als nicht ausreichend substantiiert angesehen habe. Anlass für gerichtliche Ermittlungen besteht immer nur dann, wenn entscheidungserhebliche Tatsachen aus der Sicht des Gerichts unklar sind, selbst wenn diese Rechtsauffassung rechtlichen Bedenken begegnen sollte (ständige Rechtsprechung des BVerwG, Beschluss vom 1. Juni 1979 – 6 B 33.79 –, juris Rn. 7).
14
aa) Das Gericht ist unter Zugrundelegung seines materiell-rechtlichen Standpunkts nicht davon ausgegangen, dass die inhaltliche Kenntnis von den Unterlagen und Auskünften zur vollständigen Sachverhaltsaufklärung und Streitentscheidung benötigt werde, da es die Frage, ob ein Betriebs- oder Geschäftsgeheimnis vorliegt, letztlich offengelassen hat. Denn jedenfalls habe dieses wegen eines überwiegenden öffentlichen Interesses an der Bekanntgabe zurück zu treten. Die hierfür erforderliche Abwägung hat das Verwaltungsgericht auch unter Hinweis darauf, dass das Verhalten der Beklagten vor dem Hintergrund möglicher Versäumnisse einer Überwachung bedürfe, ausführlich dargelegt. Dabei hat das Gericht in seine Abwägung die hohe Anzahl an Nachfragen und das konstant hohe mediale Interesse ebenso miteinbezogen, wie das besondere Interesse der rund 2,5 Millionen Halter der betroffenen Fahrzeuge, die ein besonderes Interesse an der Wirksamkeit des Softwareupdates sowie seiner Auswirkungen auf die Lebensdauer der Motoren und auf die Umwelt hätten. Dies gelte nach Auffassung des Gerichts insbesondere vor dem Hintergrund der großen Anzahl von Verfahren vor den Zivilgerichten und der Befassung zweier Untersuchungsausschüsse mit der Problematik. Insoweit sei gerade der Kommunikationsvorgang zwischen der Beklagten und der Beigeladenen bezüglich der technischen Beseitigung der Abschalteinrichtung von besonderem öffentlichem Interesse. In welcher Hinsicht und aus welchen Gründen danach eine Kenntnis des Akteninhalts aus Sicht des Verwaltungsgerichts geboten war, zeigt der Zulassungsantrag nicht auf.
15
bb) Auch im Hinblick auf nachteilige Auswirkung auf das Ermittlungsverfahren legt die Zulassungsschrift einen Verstoß gegen die Amtsermittlungspflicht nicht substantiiert dar. Der bloße Hinweis darauf, dass die Ausführungen des Verwaltungsgerichts zur Erschütterung der Vermutungswirkung tatsächlich und rechtlich unrichtig seien, genügt den Darlegungsanforderungen an einen Verfahrensfehler nicht.
16
Soweit dem Zulassungsvorbringen insoweit ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung zu entnehmen sind, kann damit der geltend gemachte Zulassungsgrund eines Verfahrensmangels nicht begründet werden.
17
c) Der Zulassungsantrag lässt zudem die erforderliche Bezeichnung von tatsächlichen Feststellungen vermissen, die das als zu Unrecht unterblieben gerügte „in camera“-Verfahren voraussichtlich gebracht hätte. Zur entsprechenden Darlegung eines Verfahrensmangels gehören Ausführungen auch dazu, welches mutmaßliche Ergebnis die vermisste Verfahrenshandlung gebracht und welche Tatsachen sie hervorgebracht hätte, die – nach der materiell-rechtlichen Auffassung der Vorinstanz – zu einer für die Beklagte günstigeren Entscheidung hätten führen können. Die Benennung von Wertungen und Schlussfolgerungen durch die Beklagte reicht insoweit nicht aus.
18
d) Nach dem eigenen Vortrag der Beklagten wäre die als fehlend gerügte Aufklärungsmaßnahme zudem nicht geeignet, eine für sie günstigere Entscheidung herbeizuführen. Nach Einschätzung der Beklagten hätte das „in camera“-Verfahren die noch einzuholende Sperrerklärung bestätigt mit der Folge, dass das Verwaltungsgericht die Informationen, deren Aufklärung die Beklagte vermisst, eben nicht erlangt hätte. Auch im Falle einer Entscheidung des „in camera“-Verfahrens im Sinne einer Aktenvorlagepflicht im Prozess legt die Beklagte keine durch erfolgreiche Aufklärung bedingte, für sie günstigere Prozesssituation dar. Die Verpflichtung zur uneingeschränkten Aktenvorlage hätte eine ungeschwärzte Übersendung der Unterlagen an das Verwaltungsgericht bedeutet und in der Folge eine Befriedigung des Klagebegehrens durch Akteneinsichtnahme seitens des Klägers.
19
e) Darüber hinaus hat die Beklagte nicht dargelegt, erstinstanzlich durch Vorlage einer Sperrerklärung und entsprechender Antragstellung auf die Durchführung eines „in camera“-Verfahrens hingewirkt oder einen Beweisantrag gestellt zu haben. Ein solches Versäumnis kann nicht durch eine Verfahrensrüge im Rechtsmittelverfahren kompensiert werden (BVerwG, Beschluss vom 18. Dezember 2019 – 10 B 14.19 –, juris Rn. 21).
20
f) Die Beklagte hat auch nicht aufgezeigt, warum sich dem Gericht aus seiner für den Umfang der verfahrensrechtlichen Sachaufklärung maßgeblichen materiell-rechtlichen Sicht die Notwendigkeit einer weiteren Sachaufklärung in der gezeigten Richtung hätte aufdrängen müssen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 5. März 2010 – 5 B 7.10 –, juris Rn. 9).
21
g) Auch die Rüge, das Gericht habe die Amtsermittlungspflicht verletzt, indem es die Akten und Vorgänge als Umweltinformationen i. S. d. § 2 UIG gewertet habe, ohne den streitgegenständlichen Vorgang in Augenschein genommen zu haben, verhilft dem Zulassungsvorbringen nicht zum Erfolg. Auch insoweit erschöpfen sich die Ausführungen der Beklagten in Wertungen und Schlussfolgerungen, ohne aufzuzeigen, welches mutmaßliche Ergebnis die vermisste Verfahrenshandlung gebracht und inwiefern die so gewonnenen Tatsachen zu einer für die Beklagte günstigeren Entscheidung hätte führen können.
22
2. Es werden auch keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils dargelegt, § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
23
a) Die Beklagte vertritt die Auffassung, das Gericht habe in tatsächlich wie rechtlich nicht haltbarer Weise, aufgrund der Umstände des Falls, die von der seitens der Staatsanwaltschaft im Rahmen des Ermittlungsverfahrens praktizierten Nichtgewährung der Akteneinsicht ausgehende Vermutung dafür, dass durch die Bekanntgabe der Informationen nachteilige Auswirkungen auf die strafrechtlichen Ermittlungen ausgehen, als erschüttert angesehen und in der Folge zu Unrecht den Ausschlussgrund des § 8 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Var. 3 UIG abgelehnt.
24
Die Darlegung ernstlicher Zweifel erfordert eine substantiierte Auseinandersetzung mit der angegriffenen Entscheidung, durch die der Streitstoff durchdrungen und aufbereitet wird (Rudisile, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, 38. EL, § 124a Rn. 100; Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2019, § 124a Rn. 194). Daraus folgt, dass die bloße Wiederholung erstinstanzlichen Vorbringens ebenso wenig genügt wie die schlichte Darstellung der eigenen Rechtsauffassung (vgl. BayVGH, Beschluss vom 26. Mai 2020 – 15 ZB 19.2231 –, juris Rn. 14). Ernstliche Zweifel in diesem Sinne sind anzunehmen, wenn gegen die Richtigkeit des angefochtenen Urteils nach summarischer Prüfung gewichtige Gesichtspunkte sprechen, wovon immer dann auszugehen ist, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird (BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2000 – 1 BvR 830/00 –, juris Rn.15). Dabei muss der Erfolg des Rechtsmittels nach summarischer Prüfung allerdings nicht wahrscheinlicher sein als der Misserfolg (BVerfG, Beschluss vom 16. Januar 2017 – 2 BvR 2615/14 –, juris Rn.19; Beschluss des Senats vom 26. April 2017 – 4 LA 12/17 –, juris Rn. 9). Dabei hängt der maßgebliche Zeitpunkt für die Berücksichtigung einer nachträglichen Änderung der Sach- oder Rechtslage nach Abschluss der ersten Instanz zunächst vom maßgeblichen materiellen Recht ab (Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO-Kommentar, 5. Aufl. 2018, § 124 Rn. 92, 97 m.w.N.).
25
Unter Beachtung dieses Maßstabs vermögen die Argumente der Beklagten die Entscheidung des Gerichts, dass dem Informationszugang keine Ablehnungsgründe gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UIG entgegenstehen, nicht schlüssig in Frage zu stellen.
26
Die Beklagte beanstandet nicht, dass das das Verwaltungsgericht in seiner Entscheidung den vom Bundesverwaltungsgericht entwickelten Maßstab herangezogen hat (BVerwG, Urteil vom 27. November 2014 – 7 C 18.12 –, juris Rn. 17 ff.), wonach die Anforderungen an die Darlegung des Ausschlussgrundes herabgesetzt sind, soweit sich die Behörde bei Akten, die wegen ihres thematischen Bezugs zum Untersuchungsgegenstand bereits in die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen einbezogen worden sind, auf eine Vermutungswirkung berufen kann, und die Behörde in diesen Fällen ihre Darlegungslast bereits genügt, indem sie eine auf Prüfung der Sachlage gegründete Einschätzung der Staatsanwaltschaft vorlegt, dass der Untersuchungszweck durch Preisgabe der begehrten Information gefährdet würde.
27
Die Beklagte stützt den Zulassungsantrag darauf, dass das Gericht zu Unrecht die Vermutungswirkung der staatsanwaltschaftlichen Erklärung als erschüttert angesehen habe mit der Folge, dass das Gericht eine nähere Darlegung der Gründe, warum von einer Gefährdung der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen auszugehen sei, zu Unrecht gefordert habe.
28
aa) Soweit die Beklagte es für nicht nachvollziehbar hält, dass das Gericht nur von technischen und organisatorischen Inhalten der streitgegenständlichen Akten ausgegangen ist, ist das Vorbringen nicht relevant. Es fehlt eine Auseinandersetzung mit der Begründung des Gerichts, insbesondere dem Hinweis, dass die Beklagte in ihrem Bescheid vom 1. Juli 2016 selbst ausgeführt habe, dass sich zu Personen, die zum Ist-Zustand beigetragen hätten, keinerlei Informationen fänden. Auch die bloße Behauptung, das Gericht hätte die verfahrensgegenständlichen Akten einsehen müssen, lässt die erforderliche Auseinandersetzung mit der angezweifelten Urteilsbegründung vermissen.
29
bb) Auch die Rüge, das Gericht habe nicht näher begründet, warum davon auszugehen sei, dass die Akten ohnehin den Beschuldigten bereits bekannt seien, verhilft dem Zulassungsantrag nicht zum Erfolg. Zum einen hat das Gericht seine Zweifel an der Kenntnis sämtlicher Informationen seitens der Beschuldigten begründet und ausgeführt, dass es sich um interne Vorgänge handle. Zum anderen setzt sich die Beklagte argumentativ nicht mit den Ausführungen des Gerichts auseinander. Dass die Informationen, insbesondere die internen Vorgänge, den Beschuldigten bekannt sein dürften, stellt die Antragsbegründung nicht als falsch dar. Das bloße Äußern von Zweifeln genügt den Darlegungsanforderungen nicht.
30
cc) Die Beklagte greift zudem die Feststellung in dem Urteil an, im Hinblick auf den Informationsausschlussgrund des § 8 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Var. 3 UIG der gerichtlichen Verfügung vom 15. September 2017 nicht ausreichend nachgekommen zu sein. Mit der Verfügung wurde sie zur Vorlage der staatsanwaltschaftlichen Einschätzung vom 3. Mai 2016 aufgefordert und gebeten darzulegen, inwieweit die Unterlagen im Einzelnen nachteilige Auswirkungen auf die Durchführung straf- bzw. ordnungswidrigkeitenrechtlicher Ermittlungen haben könnten oder eine Aussonderung in Betracht zu ziehen sei. Das Verwaltungsgericht stellt detailliert dar, warum es unter Beachtung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu seiner Auffassung gelangt, die Vermutungswirkung als erschüttert anzusehen. Mit dem Hinweis darauf, die Aufforderung an die ermittlungsführende Staatsanwaltschaft weitergeleitet zu haben, die den kompletten streitgegenständlichen Aktenbestand geprüft und unter dem 27. November 2017 mitgeteilt habe, dass das vorzeitige Bekanntwerden des kompletten Aktenbestands die dortigen Ermittlungen gefährden würde, stellt die Beklagte die Richtigkeit der Entscheidung nicht ernstlich in Zweifel. Der Hinweis lässt eine kritische Auseinandersetzung mit den Ausführungen des Gerichts vermissen. Das einfache Bestreiten, selektive Zitieren und Darstellen der eigenen Rechtsauffassung stellt kein Durchdringen der Urteilsbegründung dar und genügt den Darlegungsanforderungen nicht.
31
dd) Soweit die Beklagte den Informationsausschluss damit zu begründen versucht, dass neben dem ordnungsgemäßen Verfahrensablauf zugleich die Unabhängigkeit der Entscheidungsfreiheit der Rechtspflegeorgane geschützt sei, ergibt sich daraus nicht schlüssig, inwiefern von einer Offenlegung der streitgegenständlichen Informationen Druck auf Entscheidungsträger auszugehen vermag und damit der Schutz der Rechtspflege tangiert würde. An der Rechtsauffassung der Beklagten, dass die Zuständigkeit der Ermittlungsbehörden bezüglich des Informationszugangs zu Akten und Beweismitteln in Ermittlungsverfahren sich nach der StPO regle und nicht durch andere Möglichkeiten des Informationszugangs ausgehebelt werden solle, bestehen zudem inhaltliche Zweifel. Die Beklagte beruft sich für den gesetzgeberischen Willen auf die Entstehungsgeschichte zu § 7 Abs. 1 Nr. 2 UIG a.F. Diese ist jedoch – abgesehen vom unverändert gebliebenen Schutzgut des Ablehnungsgrundes – für die gegenwärtige Fassung des Gesetzes unergiebig. War es unter der Geltung des früheren Rechts konsequent, dass ein Zugang zu Informationen während eines laufenden Ermittlungsverfahrens ausschließlich nach den dafür geltenden strafprozessualen Regelungen erfolgen konnte, ist die informationspflichtige Behörde nun zu einer eigenständigen Entscheidung über den Ablehnungsgrund berufen (OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29. März 2019 – 12 B 13.18 –, juris Rn. 50, OVG Schleswig, Beschluss vom 27. April 2020 – 4 LA 251/19 –, juris Rn. 16).
32
ee) Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Verneinung nachteiliger Auswirkungen auf das Ermittlungsverfahren sind nach der den Verteidigern dort im Juli 2018 gewährten Akteneinsicht jedenfalls nicht mehr gegeben. Die Staatsanwaltschaft hatte ihre Negativprognose einzig darauf gestützt, dass wegen der laufenden Ermittlung den Verfahrensbeteiligten die Akteneinsicht versagt werde. Hiervon ist die Staatsanwaltschaft zwischenzeitlich abgewichen. Dass gleichwohl durch die Bekanntgabe der begehrten Informationen an den Kläger nachteilige Auswirkungen auf die strafrechtlichen Ermittlungen zu befürchten seien, ist weder ersichtlich noch dargelegt.
33
Diese erst nach Abschluss der ersten Instanz veränderte Tatsachenlage ist nach Maßgabe des materiellen Rechts vorliegend berücksichtigungsfähig. Im Falle eines Verpflichtungsbegehrens hat sich die informationspflichtige Stelle in einem Verwaltungsstreitverfahren, in dem eine auf die Vermutungswirkung gestützte Verweigerung des Informationszugangs angegriffen wird, zu vergewissern, dass die Vermutungswirkung im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung noch greift. Das gilt insbesondere, wenn Anhaltspunkte dafür vorhanden sind, dass die Vermutungswirkung entfallen sein könnte. Aktuelle, von früheren abweichende Einschätzungen der Strafverfolgungsbehörden zu nachteiligen Auswirkungen einer Bekanntgabe der Informationen sind in ein laufendes Verwaltungsverfahren über den Informationszugang unverzüglich einzuführen (OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29. März 2019 – 12 B 13.18 –, juris Rn. 48). Dies ist vonseiten der Beklagten nicht erfolgt.
34
Im Zulassungsverfahren sind nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch solche nach materiellem Recht entscheidungserheblichen Tatsachen zu berücksichtigen, die erst nach Erlass der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung eingetreten sind und vom Antragsteller innerhalb der Antragsfrist vorgetragen werden, wenn sie für den Erfolg des angestrebten Rechtsmittels entscheidungserheblich sein könnten. Denn das Zulassungsverfahren ermöglicht den Zugang zur Rechtsmittelinstanz mit Blick auf das prognostizierte Ergebnis des angestrebten Rechtsmittels und soll die Richtigkeit der Entscheidung über den Streitgegenstand im Einzelfall gewährleisten (BVerwG, Beschluss vom 11. November 2002 – 7 AV 3.02 –, juris Rn. 11 f.). Dem schließt sich der erkennende Senat an. Zu ergänzen bleibt, dass dies auch losgelöst von den Darlegungen des Antragstellers erfolgt, wenn sich das angegriffene Urteil aufgrund einer geänderten Sach- oder Rechtslage (auch) aus anderen Gründen als richtig erweist (Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO-Kommentar, 5. Aufl. 2018, § 124 Rn. 97 m.w.N.).
35
b) Ohne Erfolg schließt sich die Beklagte nach Ablauf der Begründungsfrist mit Schriftsatz vom 16. November 2018 den Ausführungen der Beigeladenen zu den dem begehrten Informationszugang entgegenstehenden Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen und den damit gerügten ernstlichen Zweifeln an der Richtigkeit des Urteils an. Die Ausführungen der Beklagten im Schriftsatz vom 16. November 2018 sind im Zulassungsverfahren nicht zu berücksichtigen. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung des Zulassungsantrags ist bezüglich der fristgebundenen Anforderungen wie der Darlegungs- und Begründungspflichten der Zeitpunkt des Fristablaufs (Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO-Kommentar, 5. Aufl. 2018, § 124a Rn. 56). Nach Fristablauf eingereichter Vortrag ist unbeachtlich (Rudisile, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO-Kommentar, § 124a Rn 116).
36
Die Beklagte hat es entgegen der verwaltungsprozessualen Obliegenheit unterlassen, den Zulassungsgrund fristgerecht innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils darzulegen (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO). Die Frist zur Begründung des Zulassungsantrags ist eine nicht verlängerbare gesetzliche Frist, § 124a Abs. 4 Satz 4 i. V. m. § 57 Abs. 2 VwGO, § 224 Abs. 2 ZPO.
37
Aber auch sonst beruft sich die Beklagte ohne Erfolg auf die Ausführungen der Beigeladenen zu den Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen und daraus resultierender ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils, da das Verwaltungsgericht seine Entscheidung zumindest auch darauf gestützt hat, dass das öffentliche Interesse überwiegt (dazu unten B.II.1.b)).
38
II. Der Zulassungsantrag der Beigeladenen bleibt ebenfalls ohne Erfolg.
39
1. Es bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils, § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Dass dem Informationszugang der Ablehnungsgrund des § 8 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Var. 3 UIG nicht entgegensteht, wird vom Zulassungsvorbringen nicht mit schlüssigen Argumenten in Frage gestellt.
40
a) Die Beigeladene rügt, das Gericht habe zu Unrecht die für den Ausschlussgrund des § 8 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Var. 3 UIG streitende Vermutungswirkung als aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls erschüttert und die die Beklagte treffende Darlegungslast als nicht erfüllt angesehen. Das Gericht habe verkannt, dass dem Informationsbegehren des Klägers nachteilige Auswirkungen auf die strafrechtlichen Ermittlungen entgegenstünden. An die Einschätzung der Staatsanwaltschaft im Schreiben vom 27. November 2017 und der daraus resultierenden herabgesetzten Darlegungslast sei das Gericht gebunden. Dem stünde auch nicht entgegen, dass den Beschuldigten zwischenzeitlich Akteneinsicht gewährt worden sei.
41
Die Zulassungsbegründung verfehlt die Darlegungsanforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO, die eine Auseinandersetzung mit den entscheidungstragenden Feststellungen des angefochtenen Urteils verlangen.
42
aa) Die Antragsbegründung legt den Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel nicht substantiiert dar. Die Beigeladene stellt eigenen Bewertungen an, ohne die des Gerichts ernsthaft in Zweifel zu ziehen. Die erforderliche Auseinandersetzung mit den entscheidungserheblichen Gründen unterbleibt. Auch der Hinweis darauf, dass das Verwaltungsgericht A-Stadt die Darlegung der Staatsanwaltschaft als ausreichend erachtet habe, genügt den Anforderungen nicht. Ebenso wenig resultieren ernstliche Zweifel aus der Einschätzung der Beigeladenen, eine detaillierte Aufschlüsselung seitens der Staatsanwaltschaft zu verlangen, wäre unangemessen und würde die Gefahr bergen, dass so Rückschlüsse auf die Ermittlung und den Tatvorwurf möglich seien. Die Beigeladene unterlässt es schon, die behaupteten negativen Konsequenzen schlüssig zu benennen. Des Weiteren zeigt sie auch nicht auf, aufgrund welcher Erwägungen die Feststellung des Gerichts, dass besonderen Umstände vorliegen, die die Vermutungswirkung entfallen lassen, unrichtig sei. Das Verwaltungsgericht geht in seiner Entscheidung davon aus, dass die Behörde aufgrund besonderer Umstände die volle Darlegungslast für die Gefährdung des Untersuchungszwecks treffen könne. Die aus der Einschätzung der Staatsanwaltschaft resultierende Vermutungswirkung könne insbesondere dann entfallen, wenn es sich um „interne Unternehmenszahlen“ oder andere Informationen handle, die dem Beschuldigten bekannt seien. Im Weiteren stellt das Urteil detailliert dar, welche Unterlagen aus welchem Grunde nicht als geheim zu werten sind, weil sie öffentlich zugänglich oder bekannt sind. Dies zieht das Zulassungsvorbringen nicht in Zweifel.
43
bb) Die Beigeladene zeigt auch keine ernstlichen Zweifel am Ergebnis der gerichtlichen Entscheidung auf. Die für den Ausschlussgrund erforderlichen nachteiligen Auswirkungen auf das Ermittlungsverfahren durch die Bekanntgabe der begehrten Informationen an den Kläger sind nach der den Verteidigern im Strafverfahren zwischenzeitlich im Juli 2018 gewährten Akteneinsicht jedenfalls nicht mehr erkennbar. Insoweit kann auf die Ausführungen unter B. I. 2. a) ee) verwiesen werden. Dass gleichwohl nachteilige Auswirkungen auf die strafrechtlichen Ermittlungen zu befürchten seien, hat die Beigeladene in der Zulassungsbegründungsschrift nicht überzeugend dargelegt. Aus der Antragsbegründung ergibt sich nicht schlüssig, inwiefern von einer Offenlegung der streitgegenständlichen Informationen als Teil der Ermittlungsakte Druck auf Entscheidungsträger, insbesondere auf unabhängige Gerichte auszugehen vermag und damit den Schutz der Rechtspflege tangiert würde. Die Unbefangenheit der Schöffen in Strafprozessen kann durch den Hinweis darauf, dass das Gericht über das Ergebnis der Beweisaufnahme nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung zu entscheiden hat und sich nicht durch äußere Umstände wie die mediale Berichterstattung leiten lassen darf, gewährleistet werden. Dass und warum Zeugen trotz Belehrung über ihre Wahrheitspflicht und über die strafrechtlichen Folgen einer unrichtigen oder unvollständigen Aussage durch die Bekanntgabe von Informationen beeinflusst würden, legt die Beigeladene nicht dar. Dass schlichte Äußern vager Befürchtungen genügt nicht.
44
Nachteilige Auswirkungen auf das Strafverfahren legt die Beigeladene auch nicht in ihren ergänzenden Ausführungen dar, insbesondere nicht mit Schriftsatz vom 3. Dezember 2018. Die in Bezug genommene, nach Ablauf der Begründungsfrist für den Zulassungsantrag gefertigte Stellungnahme der Staatsanwaltschaft vom 29.11.2018 bestätigt nicht die Behauptung der Beigeladenen, dass der Schutzzweck des Ausschlussgrundes trotz der zwischenzeitlich erfolgten Akteneinsicht bezüglich der streitgegenständlichen Unterlagen fortbestehe. Die Staatsanwaltschaft hat vielmehr klargestellt, dass sie sich nicht mehr auf die Gefährdung des Untersuchungszwecks beruft. Im Übrigen hat sich der Senat bereits zum Sinngehalt dieser Stellungnahme geäußert (Beschluss vom 27. April 2020 – 4 LA 251/19 –, juris Rn. 17 f.).
45
cc) Auch die Auffassung der Beigeladenen, dass der Ausschlussgrund des § 8 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Var. 3 UIG einen Gleichlauf zwischen den Akteneinsichts- bzw. Informationszugangsvorschriften der StPO und dem UIG bezwecke und ein etwaiger Konflikt zwischen dem Umweltinformationsgesetz und den Verfahrensvorschriften zugunsten der Verfahrensvorschriften zu lösen sei, verhilft dem Antrag nicht zum Erfolg. Auf die Ausführungen unter B. I. 2. a) dd) wird Bezug genommen. Auf einen entgegenstehenden Rechtssatz hat das Verwaltungsgericht seine Entscheidung im Übrigen auch nicht gestützt.
46
dd) Soweit die Beigeladene mit Schriftsatz vom 3. Dezember 2018 rügt, dass Verwaltungsgericht habe zu Unrecht den Versagungsgrund des Anspruchs einer Person auf ein faires Verfahren im Sinne des § 8 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Var. 2 UIG nicht als einschlägig gewertet, ist die Begründung nicht fristgemäß erfolgt.
47
Die Beigeladene hat aber auch sonst nicht ausreichend dargelegt, warum die behauptete Vorverurteilung Beschuldigter aufgrund der Akteneinsichtsgewähr zu erwarten sein sollte. Sie bezeichnet weder die Verfahren oder den Betroffenen noch die Information, von der eine solche verfahrensrelevante Wirkung nachvollziehbar ausgehen könnte. Allgemeine Ausführungen zur Unschuldsvermutung vermögen das Argument des Verwaltungsgerichts nicht zu entkräften.
48
Ebenso wenig legt das verspätete Vorbringen schlüssig dar, inwiefern von einer Offenlegung der streitgegenständlichen Informationen Druck auf potentielle Zeugen und Entscheidungsträger, insbesondere das zur Entscheidung berufene Gericht und Schöffen, auszugehen vermag oder die Waffengleichheit gefährdet würde.
49
ee) Nach alledem ergibt sich aus dem Zulassungsvorbringen schon nicht, dass die Bekanntgabe der begehrten Informationen nachteilige Auswirkungen auf die durch § 8 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UIG geschützten Belange der Rechtspflege haben könnte. Die Frage, ob das öffentliche Interesse an der Informationsgewährung diese Belange überwiegt (§ 8 Abs. 1 Satz 1, 2. Halbsatz UIG), stellt sich damit nicht mehr. Dessen ungeachtet würde eine bloße Bezugnahme auf eine entsprechende Wertung des Verwaltungsgericht Berlins für eine entsprechende Darlegung nicht ausreichen.
50
Auch sonst verhelfen die Ausführungen der Beigeladenen zum Fehlen eines überwiegenden öffentlichen Interesses dem Zulassungsantrag nicht zum Erfolg. Eine entgegenstehende Rechtsauffassung hat die Kammer nicht vertreten, weil es hierauf aus Sicht des Gerichts nicht ankam.
51
b) Der Zulassungsantrag der Beigeladenen legt auch keine ernstlichen Zweifel in Bezug auf die Feststellung des Verwaltungsgerichts dar, wonach der Ablehnungsgrund entgegenstehender Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UIG nicht einschlägig ist.
52
aa) Ohne Erfolg rügt die Beigeladene insoweit, das Gericht habe ihr Interesse an der Geheimhaltung tatsächlich und rechtlich unzutreffend bewertet. Die Anforderungen an die Darlegung seien in der Entscheidung in einer den Schutzzweck des Ausschlussgrundes nicht mehr gerechtfertigten Weise überspannt worden. Hiermit zieht die Beigeladene die Richtigkeit der Entscheidung nicht ernstlich in Zweifel.
53
Das Verwaltungsgericht hat Zweifel an der ausreichenden Substantiiertheit und der Geheimhaltungsbedürftigkeit geäußert, letztlich aber offengelassen, ob und in welchem Umfang die streitbefangenen Unterlagen tatsächlich Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse enthalten, ob ein berechtigtes Interesse an der Geheimhaltung vor dem Hintergrund der Rechtsverstöße besteht, ob die Informationen bereits bekannt sind und ob es sich um „Umweltinformationen über Emissionen“ im Sinne von § 9 Abs. 1 Satz 2 UIG handelt. Im Ergebnis hat das Gericht auch für den Fall, dass diese Fragen in einem für die Beigeladenen vorteilhaften Sinne zu beantworten sind, ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Bekanntgabe i. S. d. § 9 Abs. 1 Satz 1 2.Halbsatz UIG angenommen mit der Folge, dass sich die Beklagte jedenfalls nicht auf das Vorliegen von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen berufen kann. Dass diese Annahme des Gerichts unzutreffend ist, zeigt die Zulassungsschrift nicht auf. Die Beigeladene legt keine Gründe dar, die die selbständig tragende Feststellung des Gerichts zum erheblichen öffentlichen Interesse an der Bekanntgabe der Unterlagen im Sinne des § 9 Abs. 1 Satz 1, 2. Halbsatz UIG in Zweifel ziehen.
54
bb) Der Vortrag der Beigeladenen, dass es sich bei den streitbefangenen Unterlagen um besonders wettbewerbssensible Informationen handle, die durch Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG und Art. 14 Abs. 1 GG besonders geschützt seien, stellt die Richtigkeit der Feststellung auch nicht in Zweifel. Das Verwaltungsgericht hat hierzu keine Ausführungen gemacht. Warum dies ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils begründen soll, legt die Beigeladene nicht dar. Sie stellt keine konkrete Verbindung zwischen den in Bezug genommenen Grundrechten und der Argumentation des Verwaltungsgerichts her. Insbesondere zeigt sie nicht auf, durch welche verfassungsrechtlichen Maßstäbe die Auslegung von § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UIG beeinflusst wird, wie sich dies fallbezogen auswirkt und warum das angefochtene Urteil hiervon abweicht (vgl. OVG Schleswig, Beschluss vom 27. April 2020 – 4 LA 251/19 –, juris Rn. 34).
55
cc) Die Zulassungsschrift legt auch nicht dar, warum das Verwaltungsgericht der Beigeladenen den „verfassungsrechtlichen Schutz“ abgesprochen habe. Das Verwaltungsgericht hat detailliert dargestellt, aus welchen Gründen das öffentliche Interesse erheblich ist und deshalb die Schutzwürdigkeit des Kommunikationsvorgangs überwiege, zumal die Kommunikation nicht intern, sondern mit der Beklagten stattgefunden habe und die Schutzwürdigkeit wegen des Zusammenhangs mit einem nicht gesetzeskonformen Verhalten erheblich reduziert sei. Es ist auch nichts dafür ersichtlich, dass das Verwaltungsgericht nicht von einer wirksamen Typgenehmigung ausgeht. Das Urteil stützt sich vielmehr darauf, dass die Beklagte (unbeschadet der Typgenehmigung) die Abschalteinrichtungen der Beigeladenen als nicht gesetzeskonform eingestuft hat. Die Antragsbegründung lässt auch insoweit die erforderliche substantiierte Auseinandersetzung mit den Ausführungen des Gerichts vermissen.
56
2. Die Rechtssache weist darüber hinaus auch keine besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten auf, § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO.
57
Für diesen Zulassungsgrund müssen die darzulegenden Schwierigkeiten dergestalt sein, dass ihre Beantwortung im Zulassungsverfahren nicht ohne weiteres möglich ist. Besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten weist eine Rechtssache dann auf, wenn sie voraussichtlich in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht größere, d. h. überdurchschnittliche, das normale Maß nicht unerheblich überschreitende Schwierigkeiten verursacht. Im Tatsächlichen ist dies besonders bei wirtschaftlichen, technischen und wissenschaftlichen Zusammenhängen, im Rechtlichen bei neuartigen oder ausgefallenen Rechtsfragen der Fall. Die besonderen Schwierigkeiten müssen sich ferner auf Fragen beziehen, die für den konkreten Fall und das konkrete Verfahren entscheidungserheblich sind (OVG Schleswig, Beschluss vom 14. Mai 1999 – 2 L 244/98 –, juris Rn. 17).
58
a) Die Beigeladene begründet die besonderen tatsächlichen Schwierigkeiten vor dem Hintergrund der Vielzahl von Dokumenten und Informationen, die einen umfassenden Vortrag zu den Ausschlussgründen und eine entsprechende Subsumtion unter den Begriff des Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisses erfordern.
59
Dass die Sache wegen der Vielzahl an streitgegenständlichen Informationen und technischen Zusammenhängen besondere Schwierigkeiten aufweist, ist damit nicht dargelegt. Der Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO muss sich auf die entscheidungstragenden Bestandteile des verwaltungsgerichtlichen Urteils beziehen (Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 124 Rn. 125). Das Verwaltungsgericht hat bei seiner Entscheidung zu dem Ausschlussgrund des § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UIG letztlich offengelassen, ob die Unterlagen Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse enthalten und die Entscheidung selbständig tragend darauf gestützt, dass jedenfalls das öffentliche Interesse an der Bekanntgabe der Informationen überwiege. Zu einer umfassenden Subsumtion der Informationen unter den Ausschlussgrund des Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisses sah sich das Gericht nicht veranlasst.
60
Aber auch sonst ist das Verwaltungsgericht bei der Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an der Bekanntgabe wegen fehlender Entscheidungserheblichkeit nicht auf technische Einzelheiten eingegangen, da es sich nicht um interne Konzernkommunikation handle, sondern um Schriftverkehr zwischen der Beigeladenen und der Beklagten zur Beseitigung des Problems und zur Herstellung eines ordnungsgemäßen Zustands. Das Gericht hat zudem detailliert dargestellt, warum das Geheimhaltungsbedürfnis seitens der Beigeladenen nicht umfassend, nachvollziehbar und plausibel dargelegt worden sei und warum lediglich pauschal gehaltene Darlegungen den Anforderungen nicht gerecht werden. Welche konkreten Nachteile der Beigeladenen durch die Veröffentlichung der Kommunikation drohen, sei nicht ersichtlich. Dass die Beigeladene die Erwägungen des Gerichts für falsch erachtet, genügt den aufgezeigten Darlegungsanforderungen nicht.
61
b) Die Beigeladene hat auch keine besonderen rechtlichen Schwierigkeiten der Sache dargelegt. Der pauschale Hinweis auf eine uneinheitliche verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung ohne weitergehende Konkretisierung reicht dafür jedenfalls nicht aus.
62
3. Die Rechtssache hat auch keine grundsätzliche Bedeutung, § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO.
63
Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung liegt nur dann vor, wenn die im Zulassungsantrag dargelegte Rechts- oder Tatsachenfrage für die Entscheidung der Vorinstanz von Bedeutung war, auch für die Entscheidung im Berufungsverfahren erheblich wäre, bisher höchstrichterlich oder durch die Rechtsprechung des Berufungsgerichts nicht geklärt und über den zu entscheidenden Einzelfall hinaus bedeutsam ist (OVG Schleswig, Beschluss vom 31. Juli 2017 – 2 LA 51/16 –, juris Rn. 7). In der Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung muss deutlich werden, warum prinzipielle Bedenken gegen einen vom Verwaltungsgericht in einer konkreten Rechts- oder Tatsachenfrage eingenommenen Standpunkt bestehen, warum es also erforderlich ist, dass sich das Berufungsgericht noch einmal klärend mit der aufgeworfenen Frage auseinandersetzt und entscheidet, ob die Bedenken durchgreifen (OVG Schleswig, Beschluss vom 12. Februar 2016 – 2 LA 16/16 –, juris Rn. 2). Daran fehlt es hier.
64
a) Die Beigeladene hält die Frage für klärungsbedürftig,
65
welche Anforderungen an die Darlegung des Ablehnungsgrundes der entgegenstehenden Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse nach § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UIG durch die informationspflichtige Beklagte sowie die Beigeladenen zu stellen sind.
66
Der Frage kommt schon keine über den Fall hinausgehende verallgemeinerungsfähige Bedeutung zu. Sie bezieht sich nur auf den konkreten Fall, da sie die Frage betrifft, welche Darlegungsanforderungen gerade die Beklagte und die Beigeladene zu erfüllen haben.
67
Soweit sich die Frage allgemeiner formulieren lässt, ist sie nicht klärungsbedürftig. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist geklärt, dass die prognostische Einschätzung nachteiliger Auswirkungen im Falle des Bekanntwerdens von Informationen nachvollziehbar und plausibel darlegt werden muss (BVerwG, Beschluss vom 25. Juli 2013 – 7 B 45.12 –, juris Rn. 16). Die Frage des Maßstabs, nach dem sich entscheidet, ob einzelne Umstände zu den Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen zählen, entscheidet sich nach den Gegebenheiten des Einzelfalls und entzieht sich einer fallübergreifenden Beantwortung (vgl. BVerwG, Beschluss vom 25. Juli 2013 – 7 B 45.12 –, juris Rn. 12).
68
Die Frage war für das Verwaltungsgericht zudem nicht entscheidungserheblich. Das Urteil erachtet die Darlegung zu den streitgegenständlichen Unterlagen als Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse zwar als nicht plausibel, stützt die Entscheidung aber selbständig tragend darauf, dass das öffentliche Interesse an der Bekanntgabe überwiegt und die Beklagte sich schon deshalb nicht auf das Vorliegen von Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen berufen kann.
69
b) Auch in Bezug auf die weitere Frage
70
welche Anforderungen an die Darlegung des Ablehnungsgrundes des Schutzes laufender staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen vor nachteiligen Auswirkungen nach § 8 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UIG durch die informationspflichte Beklagte zu stellen sind,
71
fehlt die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung. Die Formulierung bezieht sich auf die Beklagte und kann daher nur fallbezogen beantwortet werden.
72
Selbst wenn man die Frage auf die Darlegungslast einer informationspflichtigen Behörde generell bezöge, wäre die Frage nicht klärungsbedürftig.
73
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist bereits geklärt, dass die informationspflichtige Behörde ihrer Darlegungslast in Fällen, in denen die Akten wegen ihres thematischen Bezugs zum Untersuchungsgegenstand in staatsanwaltschaftliche Ermittlungen einbezogen worden sind, aufgrund der dann eintretenden Vermutungswirkung grundsätzlich bereits dann genügt, wenn sie eine auf Prüfung der Sachlage gegründete Einschätzung der Staatsanwaltschaft vorlegt, dass neue Ermittlungsansätze denkbar sind und der Untersuchungszweck durch Preisgabe der begehrten Informationen gefährdet würde (BVerwG, Urteil vom 27. November 2014 – 7 C 18.12 –, juris Rn. 19 und 25 betreffend die inhaltsgleiche Regelung des § 3 Satz 1 Nr. 1 Buchst. g IFG).
74
Das Gericht hat detailliert dargestellt, warum die Vermutungswirkung erschüttert und eine nähere Darlegung durch die Beklagte und Staatsanwaltschaft damit geboten ist. Die Frage, welche Anforderungen gelten, wenn die Vermutungswirkung nicht greift, hat die Beigeladene nicht gestellt.
75
Die Beigeladene erfüllt die Darlegungsanforderungen auch deshalb nicht, weil sie nicht aufzeigt, warum die Frage vor dem Hintergrund der zwischenzeitlich im Strafverfahren den Verteidigern gewährten Akteneinsicht und der Stellungnahme der Staatsanwaltschaft vom 29. November 2018 überhaupt im Berufungsverfahren erheblich wäre und für das Verfahren von Bedeutung ist. Die nachträgliche Änderung der Sach- oder Rechtslage bis zum Zeitpunkt der Entscheidung ist – wie bereits aufgezeigt – grundsätzlich zu berücksichtigen.
76
4. Mit Schriftsatz vom 3. Dezember 2018 rügt die Beigeladene erstmals die Verletzung rechtlichen Gehörs unter Hinweis darauf, das Gericht habe die Ausführungen der Beigeladenen zum Ausschlussgrund wegen des Rechts auf ein faires Verfahren mit nur einem Satz abgetan und schließt sich ergänzend den Ausführungen der Beklagten zum Verfahrensmangel wegen fehlender Durchführung eines „in camera“-Verfahrens an. Auch diese neuen Rügen verhelfen ihrem Antrag nicht zum Erfolg. Sie bleiben unberücksichtigt, da die Beigeladene den Zulassungsgrund eines Verfahrensmangels nicht rechtzeitig innerhalb der gesetzlichen Frist (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) geltend gemacht hat.
77
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
78
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 3, § 52 Abs. 2 GKG.
79
Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).
80
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG)
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Tenor
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts - 1. Kammer - vom 21. August 2020 geändert und die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 29. Juni 2020 gegen die unter I. Ziffer 1-7, 9-11 und 14 enthaltenen tierschutzrechtlichen Anordnungen in der Ordnungsverfügung vom 17. Juni 2020 wiederhergestellt.
Die Antragsgegnerin trägt 53 % und der Antragsteller 47 % der Kosten des gesamten Verfahrens.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 5.000,- Euro festgesetzt.
Gründe
1
Die Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 21. August 2020 hat nur zum Teil Erfolg.
2
II. Unzulässig ist die Beschwerde insoweit, wie sie mit ihrem Antrag über den erstinstanzlich gestellten Antrag hinausgeht. Gegenstand des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens waren letztlich nur die Anordnungen in I. Ziffer 1-7, 9-11 und 14 aus der tierschutzrechtlichen Ordnungsverfügung der Antragsgegnerin vom 17. Juni 2020. In Bezug auf die Ziffern 8, 12, 13 und 15 hatten die Beteiligten das Verfahren zuvor übereinstimmend für erledigt erklärt. Obwohl insoweit für das vorläufige Rechtsschutzverfahren keine Beschwer mehr besteht, wird mit der Beschwerde beantragt, die aufschiebende Wirkung des Widerspruches gegen den Bescheid vom 17. Juni 2020 wiederherzustellen, ohne ziffernmäßig eine Eingrenzung vorzunehmen.
3
Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung in Bezug auf die Zwangsgeldandrohung wird demgegenüber offenbar nicht mehr verfolgt. Diese findet weder im Antrag noch in der Begründung Erwähnung.
4
II. Im Übrigen ist die Beschwerde auch nur zum Teil begründet. Die zu ihrer Begründung dargelegten Gründe, die allein Gegenstand der Prüfung durch den Senat sind (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), stellen das Ergebnis des angefochtenen Beschlusses nur in Bezug auf die tierschutzrechtlichen Anordnungen unter I. Ziffer 1, 5-7, 9-11 und 14 der Ordnungsverfügung vom 17. Juni 2020 in Frage.
5
1. Die Rüge des Antragstellers, dass die Antragsgegnerin im Rahmen der Anordnung des Sofortvollzuges ein besonderes Vollziehungsinteresse nicht hinreichend dargelegt habe, obwohl dies auch im Bereich der Gefahrenabwehr bezogen auf den Einzelfall erforderlich sei, wenn der Gesetzgeber auf eine gesetzliche Anordnung des Sofortvollzuges verzichtet habe, hat in Bezug auf die vorgenannten tierschutzrechtlichen Anordnungen Erfolg. Insoweit fehlt es bereits an einer ausreichenden, den formellen Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO genügenden Begründung des Sofortvollzuges (zu den Anforderungen wird auf den der Antragsgegnerin bekannten Beschluss des Senats v. 18.06.2020 - 4 MB 21/20 -, juris Rn. 4 m.w.N. verwiesen). Soweit das Verwaltungsgericht meint, dass die Antragsgegnerin unter Wiederholung der auch den Grundverwaltungsakt rechtfertigenden Gründe ausreichend deutlich gemacht habe, dass ein Ausnahmefall vorliege, der aufgrund der gebotenen Dringlichkeit, die tierschutzwidrigen Haltungszustände abzustellen, auch die sofortige Vollziehung rechtfertige, kann dem nicht gefolgt werden. Dabei ist in Rechnung zu stellen, dass der Gesetzgeber allein das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen der Eingriffsnorm nicht zum Anlass genommen hat, die aufschiebende Wirkung von Rechtsmitteln auszuschließen. An diese Wertung haben sich sowohl die Verwaltungsbehörden als auch die Gerichte zu halten (Beschluss des Senats v. 18.06.2020 - 4 MB 21/20 -, juris Rn. 8 a.E.).
6
Zur Begründung der sofortigen Vollziehung entsprechend § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO unter II. der Ordnungsverfügung wird – teilweise gekürzt, teilweise wortgleich – vor allem der Sachverhalt wiedergegeben, wie er zur Begründung des Grundverwaltungsaktes unter IV. nochmals dargestellt wird. In Bezug auf die rechtliche Bewertung dieses Sachverhaltes und die Dringlichkeit des Vollzuges findet sich einleitend der Hinweis, dass die getroffenen Anordnungen keinen Aufschub duldeten, um die Tiere davor zu bewahren, weiterhin tierschutzwidrig gehalten zu werden und deshalb schnellstmöglich umgesetzt werden müssten (S. 3). Am Ende der Begründung (S. 5) wird dies in anderen Worten wiederholt: Es sei geboten, umgehend sicherzustellen, dass eine tierschutzgerechte Tierhaltung der Hühner und des Kaninchens gesichert ist, um diese vor weiteren vermeidbaren Schmerzen, Leiden und Schäden zu bewahren. Ob die Antragsgegnerin dabei in Rechnung gestellt hat, dass für die Anordnung der sofortigen Vollziehung ein besonderes öffentliches Interesse erforderlich ist, das über jenes Interesse hinausgehen und sich qualitativ von dem Interesse unterscheiden muss, das den streitgegenständlichen Verwaltungsakt selbst rechtfertigt, wird daraus nicht ersichtlich. Zur Begründung der Sofortvollzugsanordnung wird zusammenfassend nicht mehr angegeben, als der gesetzliche Tatbestand des § 16a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 TierSchG für ein behördliches Eingreifen überhaupt verlangt, nämlich eine den Anforderungen des § 2 TierSchG nicht gerecht werdende Haltung. Allein die Verletzung der tierschutzrechtlichen Pflichten des § 2 TierSchG hat der Gesetzgeber aber nicht zum Anlass genommen, darauf gestützte Anordnungen allein wegen des andauernden Leidens der Tiere gesetzlich für sofort vollziehbar zu erklären. Diese Ausnahme von der Regel, dass Widerspruch und Klage grundsätzlich aufschiebende Wirkung haben, hat der Gesetzgeber nicht einmal für den Fall der erheblichen Vernachlässigung oder schwerwiegender Verhaltensstörungen angenommen, die die Fortnahme und anderweitigen Unterbringung nach § 16a Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 TierSchG rechtfertigen können. Der Gesetzgeber hat damit zum Ausdruck gebracht, dass der Grundsatz der aufschiebenden Wirkung auch dann gilt, wenn tierschutzwidrige Zustände mit Leiden für die Tiere einhergehen. Die Begründung der ausnahmsweise im Einzelfall erforderlichen Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit durch die zuständigen Behörden muss dementsprechend ersichtlich machen, dass besondere Umstände des Einzelfalls es erfordern, dem tierschutzrechtswidrigen Zuständen sofort vollziehbar entgegen zu treten. Daran fehlt es vorliegend, da die Antragsgegnerin die sofortige Vollziehbarkeit unter Verweis auf vermeidbare weitere Schmerzen anordnet, ohne zu begründen, warum dies im Einzelfall entgegen der gesetzlichen Annahme, dass weitere Schmerzen gerade nicht automatisch zur sofortigen Vollziehbarkeit führen, erforderlich ist.
7
Richtig ist zwar, dass die Angabe qualitativ anderer Gründe ausnahmsweise verzichtbar ist und die Erwägungen wiederholt werden dürfen, wenn schon die gegebene Begründung des Verwaltungsaktes selbst die besondere Dringlichkeit der sofortigen Vollziehung und die von der Behörde insoweit vorgenommene Interessenabwägung erkennen lässt (Beschluss des Senats v. 18.06.2020 - 4 MB 21/20 -, juris Rn. 9 m.w.N.). Unter dem Aspekt der Gefahrenabwehr hat der Senat dies etwa bei Fahrerlaubnisentziehungen angenommen und insoweit auf die hohe Bedeutung der Sicherheit des Straßenverkehrs durch eine Kraftfahrzeugnutzung nach Rauschmittelkonsum verwiesen. Hier bestehe eine häufig anzutreffende, aufgrund der Fahreignungsmängel zudem nur abstrakte Gefahrenlage, die sich nicht bei jeder Fahrt realisieren müsse, so dass eine gewisse Standardisierung der Formulierungen kaum zu vermeiden sei (Beschluss des Senats v. 23.01.2017 - 4 MB 2/17 -, NZV 2017, 294, in juris Rn. 5 m.w.N.).
8
Ob dies auf das Tierschutzrecht übertragen werden kann, obwohl insoweit keine abstrakte, sondern eine konkrete Gefährdung im Raum steht, bedarf indes keiner Klärung. Auch wenn man mit dem Verwaltungsgericht davon ausginge, dass die Gefahr weiterer Verstöße gegen Anforderungen des Tierschutzrechts und die damit verbundene Gefahr von Schmerzen, Leiden oder Schäden des Tieres als Begründung des Sofortvollzugs in der Regel ausreichen müsse (VG Schleswig, Beschl. v. 30.04.2020 - 1 B 23/20 -, juris Rn. 45 m.w.N. aus der Literatur), so dass auch vorliegend ein inhaltlich identisches öffentliches Interesse ausreiche, ist damit den Anforderungen des § 80 Abs. 3 VwGO noch nicht genüge getan. Denn um die mit den gestellten Anforderungen verbundene Warnfunktion der Begründungspflicht aus § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO zu erfüllen, bedürfte es immer noch einer entsprechenden ausdrücklichen Feststellung (auch dazu Beschluss des Senats v. 18.06.2020 - 4 MB 21/20 -, juris Rn. 9 m.w.N.), an der es hier jedenfalls fehlt.
9
Insgesamt lässt sich daher nicht feststellen, dass die Antragsgegnerin sich bei Erlass der streitgegenständlichen Verfügung den verfassungsrechtlichen Stellenwert des Suspensiveffekts von Widerspruch und Klage gegen belastende Verwaltungsakte (§ 80 Abs. 1 VwGO) und den Ausnahmecharakter des Ausschlusses der aufschiebenden Wirkung ausreichend bewusst gemacht hat. Eine konkrete und schlüssige Auseinandersetzung mit den Umständen des Einzelfalls unter substantiierter Darlegung der wesentlichen rechtlichen und tatsächlichen Erwägungen, die zur Annahme eines besonderen öffentlichen Interesses an der sofortigen Vollziehung und damit zum Gebrauch der Anordnungsmöglichkeit nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO geführt haben, ist nicht zu erkennen. Hierzu hätte im Übrigen auch gehört, bei der Dringlichkeit auf die acht hier im Streit befindlichen tierschutzrechtlichen Einzelanordnungen im Einzelnen näher einzugehen.
10
In Bezug auf die tierseuchenrechtlichen Anordnungen unter I. Ziffer 2-4 der Ordnungsverfügung vom 17. Juni 2020 kann dem Verwaltungsgericht hingegen darin gefolgt werden, dass den gesetzlichen Anforderungen des § 80 Abs. 3 VwGO Genüge getan ist, nachdem die Antragsgegnerin durch Bescheid vom 15. Juli 2020 die Sofortvollzugsanordnung aus der Ordnungsverfügung vom 17. Juni 2020 aufgehoben und erneuert hat.
11
Die Annahme, dass eine solche Aufhebung und Erneuerung der Sofortvollzugsanordnung während des gerichtlichen Eilverfahrens und vor Bescheidung des Widerspruches zulässig ist, bleibt unbeanstandet. Entgegen der Auffassung des Antragstellers hat die Anordnung inhaltlich nunmehr Substanz. Sie wiederholt nicht nur die den Anordnungen zugrundeliegenden gesetzlichen Bestimmungen und die hierauf bezogenen Begründungselemente, sondern weist darüber hinaus auf die Gefahren hin, die gerade im Falle der schnell fortschreitenden, akut verlaufenden und leicht übertragbaren Geflügelpest nicht nur dem vom Antragsteller gehaltenen Geflügel, sondern darüber hinaus der Allgemeinheit droht. Betroffen seien insoweit nicht nur die Geflügelhalter Schleswig-Holsteins und hier insbesondere die Wirtschaftsgeflügelhalter, sondern – davon abhängend – auch Handel und Wirtschaft. Selbst wenn man darin nur die Wiederholung derjenigen Gründe sehen wollte, die die Anordnungen selbst erst rechtfertigen, wäre dies nicht zu beanstanden. Denn im Unterschied zu der Sofortvollzugsanordnung aus der Ordnungsverfügung vom 17. Juni 2020 weist die Antragsgegnerin zusätzlich darauf hin, dass sich die Dringlichkeit der sofortigen Vollziehung zugleich aus den in der Ordnungsverfügung dargelegten tierseuchenrechtlichen Gründen ergibt. Im Übrigen führt die beschriebene Seuchengefahr nur zu einer abstrakten Gefahrenlage, die sich nicht zwangsläufig sofort realisieren muss und bei der deshalb eine gewisse Standardisierung der Formulierungen nicht zu beanstanden wäre.
12
2. Die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass die angefochtene Ordnungsverfügung vom 17. Juni 2020 offensichtlich rechtmäßig sei und die im Rahmen des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO anzustellende Interessenabwägung deshalb zulasten des Antragstellers ausgehe, greift die Beschwerde allein in Bezug auf die tierschutzrechtlichen Anordnungen unter I. Ziffer 1, 5-7, 9-11 und 14 an. Da die aufschiebende Wirkung seines dagegen erhobenen Widerspruches schon aus den Gründen zu 1. wiederherzustellen ist, kommt es auf die – weiterhin gegebene – Rechtmäßigkeit dieser Anordnungen nicht mehr an. Bedenken gegen die Annahme, dass die auf § 28 Abs. 3 i.V.m. § 3 Nr. 1 TierGesG und § 3 Nr. 1 bis 3 sowie § 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 GeflPestSchV beruhenden Anordnungen unter I. Ziffer 2-4 der Ordnungsverfügung rechtmäßig erscheinen, werden mit der Beschwerde nicht geltend gemacht und sind deshalb auch nicht Gegenstand dieser Entscheidung.
13
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2, § 52 Abs. 2 GKG.
14
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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Tenor
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen die Zwangsgeldandrohung in Ziff. 1 des Bescheids der Antragsgegnerin vom 17.04.2020 wird angeordnet.Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.Der Streitwert wird auf 1.250,- EUR festgesetzt.
Gründe
1 Die Antragstellerin wendet sich gegen ein ihr von der Antragsgegnerin mit Bescheid vom 17.04.2020 angedrohtes Zwangsgeld in Höhe von 5.000,- EUR wegen der Nichtbefolgung einer Auflage zur Errichtung eines Kinderspielplatzes auf dem Grundstück ... in ..., Flst.-Nr. ..., die in einer für das genannte Grundstück am 05.12.1997 erteilten Baugenehmigung enthalten ist. Diese lautet: „Auf dem Baugrundstück ist ein Kinderspielplatz anzulegen (§ 9 Abs. 2 LBO). Der Kinderspielplatz ist nach § 1 LBOAVO auszuführen.“2 Der Antrag der Antragstellerin auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs gegen die Zwangsgeldandrohung in Ziffer 1 des angegriffenen Bescheids ist nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 12 Satz 1 LVwVG statthaft, da es sich bei der Zwangsgeldandrohung um eine Vollstreckungsmaßnahme handelt, die von Gesetzes wegen sofort vollziehbar ist.3 Der Antrag ist auch im Übrigen zulässig und begründet.4 Im Rahmen eines Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO trifft das Gericht aufgrund der sich im Zeitpunkt seiner Entscheidung darstellenden Sach- und Rechtslage eine eigene Ermessensentscheidung darüber, ob das private Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs oder das öffentliche Interesse am sofortigen Vollzug des angefochtenen Verwaltungsakts überwiegt. Im Rahmen dieser Interessenabwägung sind vor allem die Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu berücksichtigen. Ein überwiegendes Aussetzungsinteresse des Antragstellers ist in der Regel anzunehmen, wenn die im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur mögliche summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage ergibt, dass der in der Hauptsache eingelegte Rechtsbehelf gegen den angegriffenen Verwaltungsakt voraussichtlich erfolgreich sein wird. Hingegen überwiegt in der Regel das öffentliche Vollzugsinteresse, wenn der in Hauptsache eingelegte Rechtsbehelf voraussichtlich keinen Erfolg haben wird. Sind die Erfolgsaussichten offen, nimmt das Gericht eine allgemeine, von den Erfolgsaussichten in der Hauptsache unabhängige Abwägung der für und gegen den Sofortvollzug sprechenden Interessen statt (st. Rspr., vgl. zum Ganzen etwa VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 13.03.1997 - 13 S 1132/96 -, juris Rn. 3 und jüngst Bayer. VGH, Beschl. v. 13.08.2020 - 15 CS 20.1512 -, juris Rn. 31).5 Vorliegend überwiegt das private Interesse der Antragstellerin daran, von der Vollstreckung des ihr angedrohten Zwangsgelds einstweilen verschont zu bleiben, gegenüber dem öffentlichen Interesse an der mit der Zwangsgeldandrohung bezweckten Durchsetzung der Verpflichtung zur Anlage eines Kinderspielplatzes. Denn die Kammer hat ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Zwangsgeldandrohung:6 Es liegen zwar – unstreitig – die allgemeinen Vollstreckungsvoraussetzungen (vgl. § 2 Nr. 1, §§ 18, 20, 23 LVwVG) vor. Insbesondere ist die als Auflage nach § 36 Abs. 2 Nr. 4 LVwVfG zu qualifizierende Nebenbestimmung in Ziff. 1.6.00 der Baugenehmigung von 1997 bestandskräftig geworden, so dass der Zwangsgeldandrohung eine vollstreckbare Handlungsverpflichtung zugrunde liegt. Die Antragstellerin handelt dieser Verpflichtung auch zuwider, da sie einen Kinderspielplatz auf dem betroffenen Grundstück bis heute nicht errichtet hat.7 Allerdings spricht Einiges dafür, dass die Vollstreckung unzulässig (geworden) ist, weil sich seit dem Erlass der bestandskräftigen Auflage die Rechtslage hinsichtlich der Pflicht zur Herstellung von Kinderspielplätzen durch die am 01.08.2019 in Kraft getretene Neufassung des § 9 Abs. 2 LBO womöglich maßgeblich verändert hat. § 9 Abs. 2 Satz 1 LBO n.F. sieht zwar weiterhin vor, dass bei der Errichtung von Wohngebäuden auf dem Baugrundstück oder in unmittelbarer Nähe auf einem anderen geeigneten Grundstück ein ausreichend großer Spielplatz für Kleinkinder anzulegen ist. Neu eingefügt wurde mit der LBO-Novelle 2019 aber die Regelung in § 9 Abs. 2 Satz 3 LBO n.F.: „Es genügt auch, eine öffentlich-rechtlich gesicherte, ausreichend große Grundstücksfläche von baulichen Anlagen, Bepflanzung und sonstiger Nutzung freizuhalten, die bei Bedarf mit festen oder mobilen Spielgeräten für Kleinkinder belegt werden kann.“8 Die Beteiligten streiten im Wesentlichen darüber, wie diese Vorschrift zu verstehen ist: Der Antragsteller ist der Auffassung, dass nach neuer Rechtslage die Baurechtsbehörde die Anlage eines Kinderspielplatzes nicht mehr verlangen kann, sondern nach § 9 Abs. 2 Satz 3 LBO alternativ auch die Freihaltung einer Grundstücksfläche genüge. Der novellierte § 9 Abs. 2 LBO gebe dem Bauherrn ein Wahlrecht zwischen Anlage eines Spielplatzes und Freihaltung einer Grundstücksfläche. Dies gelte auch dann, wenn – wie im vorliegenden Fall – ein Bedarf an einem Kinderspielplatz bestehe, da ein (vorübergehend) fehlender Spielplatzbedarf kein Tatbestandsmerkmal der Freihaltepflicht nach § 9 Abs. 2 Satz 3 LBO sei. Denn andernfalls müsste die Vorschrift lauten: „Wenn kein Bedarf an einem Spielplatz besteht, genügt es auch, eine ausreichend große Grundstücksfläche ... freizuhalten.“9 Die Antragsgegnerin ist hingegen der Auffassung, dass bei einem tatsächlich bestehenden Spielplatzbedarf die Freihaltepflicht nach § 9 Abs. 2 Satz 3 LBO gegenüber der Anlagepflicht nach § 9 Abs. 2 Satz 1 LBO subsidiär sei. Denn andernfalls verbleibe für die Anlagepflicht praktisch kein eigener Anwendungsbereich mehr, da sich der Bauherr oder Gebäudeeigentümer dann stets auf eine bloße Freihaltung nach Satz 3 der Vorschrift beschränken könnte. Die Regelung in § 9 Abs. 2 Satz 1 LBO wäre damit faktisch sinnlos, was der Gesetzgeber nicht gewollt haben könne. In diese Richtung geht auch die Kommentierung von Sauter zur Landesbauordnung, die – ohne nähere Begründung – von folgendem Regel-Ausnahme-Verhältnis ausgeht: Im Grundsatz habe der Bauherr bis zur Bezugsfertigkeit der Wohnungen einen Kinderspielplatz anzulegen. Ob durch den Bezug der Wohnungen tatsächlich schon ein Spielplatzbedarf entstehe, sei dabei unerheblich, da die Spielplatzanlagepflicht nach § 9 Abs. 2 Satz 1 LBO an die Nutzbarkeit von Wohnungen zum Wohnen mit Kindern anknüpfe und nicht an einen tatsächlichen Spielplatzbedarf. Diesem Umstand trage § 9 Abs. 2 Satz 3 LBO dadurch Rechnung, dass er (nur) für den Fall, dass es vorübergehend an einem tatsächlichen Bedarf fehle, statt der Anlagepflicht eine bloße Freihaltepflicht vorsehe (vgl. Sauter, Landesbauordnung für Baden-Württemberg, 3. Aufl., 55. EGL, Stand: September 2019, § 9 Rn. 35 und 50).10 Der Wortlaut von § 9 Abs. 2 LBO legt ein solches Regel-Ausnahme-Verhältnis bzw. eine Subsidiarität der Freihaltepflicht aber nicht nahe. Vielmehr spricht die Formulierung „Es genügt auch“ in Satz 3 der Vorschrift stark dafür, dass es sich bei der Freihaltepflicht um eine echte Alternative zur Anlagepflicht nach Satz 1 handelt. Dafür spricht auch die Gesetzesbegründung. Hierin heißt es: „Zur Erfüllung der Pflicht soll es genügen, eine ausreichend große Grundstücksfläche freizuhalten, die bei Bedarf mit Spielgeräten ausgestattet werden kann. Der Gebäudeeigentümer kann dann entscheiden, wann ein Bedarf vorliegt.“ (LT-Drs. 16/6293, S. 34). Dass ein (vorübergehend) fehlender Spielplatzbedarf eine Tatbestandsvoraussetzung der Freihaltepflicht nach Satz 3 wäre, geht damit aus der Gesetzesbegründung gerade nicht hervor. Hätte der Gesetzgeber die Freihaltepflicht auf die Fälle (zunächst) fehlenden Spielplatzbedarfs beschränken wollen, wäre zudem zu erwarten gewesen, dass er dies durch eine entsprechend klare Formulierung im Gesetzeswortlaut zum Ausdruck bringt; hierauf weist die Antragstellerin zutreffend hin. Hinzu kommt, dass auch der mit der Gesetzesänderung verfolgte Zweck nicht für eine Nachrangigkeit der Freihaltepflicht gegenüber der Anlagepflicht spricht. Denn nach der Gesetzesbegründung soll durch die „Vereinfachung und Modifizierung der Kinderspielplatzpflicht“ in § 9 Abs. 2 LBO das Bauen von Wohnungen verbilligt werden, indem „künftig Spielgeräte nur noch bei Bedarf aufgestellt werden“ müssen (vgl. LT-Drs. 16/6293, S. 11 und S. 1).11 Nach alledem spricht Einiges dafür, dass der Bauherr bzw. Gebäudeeigentümer nach neuer Rechtslage nur alternativ zur Spielplatzanlage oder zur Freihaltung einer geeigneten Grundstücksfläche verpflichtet werden kann und somit die Auflage Ziff. 1.6.00 in dieser Form heute nicht mehr erlassen werden dürfte. Die abschließende Klärung dieser Rechtsfrage muss dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.12 Die Frage, ob sich die Rechtslage hinsichtlich der Anlagepflicht von Kinderspielplätzen durch die LBO-Novelle 2019 maßgeblich verändert hat, ist im vorliegenden Vollstreckungsverfahren aller Voraussicht nach auch entscheidungserheblich. Zwar hängt die Rechtmäßigkeit der Zwangsgeldandrohung, um die es im hiesigen Verfahren allein geht, grundsätzlich nicht von der Rechtmäßigkeit der zumal bestandskräftigen Grundverfügung ab. Ist der zu vollstreckende Verwaltungsakt – wie hier – bestandskräftig geworden, kann ein Vollstreckungsschuldner die Vollstreckung in der Regel nur dann verhindern, wenn es ihm gelingt, den vollstreckbaren Verwaltungsakt im Wege des Wiederaufgreifens des Verfahrens nach § 51 LVwVfG aus der Welt zu schaffen. Als Ausnahme von diesem Grundsatz können Einwendungen gegen die Rechtmäßigkeit der Grundverfügung, die auf einer nachträglichen Änderung der Sach- oder Rechtslage beruhen, welche dazu führt, dass sich der zu vollstreckende Verwaltungsakt nun als rechtswidrig erweist, nach verbreiteter Auffassung in Rechtsprechung und Literatur aber auch im Anfechtungsprozess gegen eine Vollstreckungsmaßnahme (analog § 767 Abs. 2 ZPO) geltend gemacht werden (so zuletzt VG Berlin, Beschl. v. 04.07.2018 - 19 L 73.18 -, juris Ls. 3 und Rn. 8 unter Verweis auf BVerwG, Urt. v. 08.05.1958 - I C 181.57 -, juris Rn. 7 f.; Urt. v. 19.01.1977 - IV C 31.75 -, juris Ls.; vgl. zum Ganzen auch OVG Münster, Urt. v. 18.03.1965 - 65 VII A 753/64 -, juris Ls. 2: Unzulässigkeit einer Zwangsgeldandrohung wegen der Nichtschaffung von Einstellplätzen für Kraftfahrzeuge, wenn sich die Rechtslage zwischenzeitlich geändert hat und keine Rechtsgrundlage für eine solche Auflage mehr bietet; VGH Bad,-Württ., Urt. v. 20.02.1980 - III 13333/79 -, juris Rn. 14: Unverhältnismäßigkeit der Vollstreckung einer Abbruchanordnung, wenn sich nachträglich eine Möglichkeit zur Legalisierung der baulichen Anlage abzeichnet; Beschl. v. 12.03.1996 - 1 S 2856/95 -, juris Rn. 17; VG München, Urt. v. 05.06.2008 - M 11 K 08.665 -, juris Rn. 31; Sadler/Tillmanns, VwVG/VwZG, 10. Aufl. 2020, § 13 Rn. 6 und § 15, Rn. 73; Troidl, in: Engelhardt/App/Schlatmann, 11. Aufl. 2017, § 15 VwVG, Rn. 9; offenlassend OVG Berlin-Brbg., Beschl. v. 16.05.2012 - OVG 2 S 4.12 -, juris Rn. 3; a.A. Pietzner/Möller, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 167 Rn. 62, Fn. 155 und OVG NRW, Beschl. v. 20.01.2012 - 4 B 1425711 -, juris Rn. 2 ff. unter Verweis auf BVerwG, Urt. v. 16.12.2004 - 1 C 30.03 -, juris Ls. 2 und Rn. 15). Im Übrigen hat die Antragstellerin auch bereits am 11.05.2020 bei der Antragsgegnerin eine Abänderung der Spielplatzauflage in eine bloße Freihalteverpflichtung beantragt und damit in der Sache einen Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 LVwVfG gestellt, dem die Antragsgegnerin mit Schriftsatz vom 28.08.2020 entgegengetreten ist.13 Nachdem die Erfolgsaussichten hiernach jedenfalls offen sind bzw. nach summarischer Prüfung sogar mehr für die Auffassung der Antragstellerin spricht, misst die Kammer dem Interesse der Antragstellerin an der Aussetzung der womöglich unzulässigen Zwangsvollstreckung ein größeres Gewicht bei, auch wenn der Sofortvollzug von Vollstreckungsmaßnahmen nach § 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 12 LVwVG der gesetzliche Regelfall ist. Denn in Anbetracht der unklaren Rechtslage und des Umstands, dass die Antragsgegnerin die Spielplatzauflage seit mehr als 20 Jahren nicht durchgesetzt hat, ist ein überwiegendes öffentliches Interesse daran, dass die Auflage nun vor einer abschließenden Klärung im Hauptsacheverfahren vollstreckt wird, nicht erkennbar.14 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.15 Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG i.V.m. Nr. 1.5, Nr. 1.7.1 Satz 1 und 3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013. Hiernach ist in selbstständigen Vollstreckungsverfahren bei der Androhung von Zwangsmitteln die Hälfte des festgesetzten Zwangsgelds festzusetzen (5.000,- EUR: 2 = 2.500,- EUR) und der sich daraus ergebende Streitwert wegen der Vorläufigkeit des Rechtsschutzes nochmals zu halbieren (2.500,- EUR: 2 = 1.250,- EUR). | {
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Tenor
I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragstellerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Gründe
I.
Die Antragstellerin begehrt vom Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung die Einsichtnahme in die beim Jugendamt zu ihrem Sohn M. geführten Akten.
Die Antragstellerin ist Mutter des am 26. Mai 2016 geborenen Sohns M., für den sie nicht sorgeberechtigt ist.
Die Antragstellerin wendete sich mit E-Mail vom 24. März 2020 an den Antragsgegner und beantragte einen Termin zur Akteneinsicht gemäß § 25 SGB X. Auf Nachfrage des Antragsgegners konkretisierte die Antragstellerin dieses Ansinnen dahingehend, dass sie alle beim Antragsgegner befindlichen Akten in Bezug auf ihren Sohn M einsehen wolle.
Der Antragsgegner teilte der Antragstellerin daraufhin mit E-Mail vom 25. März 2020 mit, dass die Terminvorschläge noch etwas Zeit in Anspruch nehmen würden.
Mit Schreiben vom 27. Juli 2020 teilte der Antragsgegner der Antragstellerin mit, dass aufgrund des breiten Aufgabenspektrums des Jugendamts sich in verschiedenen Bereichen Akten über ihren Sohn M. befänden und insofern unterschiedliche rechtliche Anforderungen für die Gewährung der Akteneinsicht bestünden.
Betreffend die Akten aus den Fachbereichen Unterhaltsbeistandschaft, Unterhaltsvorschuss und wirtschaftliche Hilfen seien sämtliche zugehörige Verfahren längstens bis Mitte 2018 aktiv gewesen und seitdem rechtskräftig abgeschlossen. Nach Abschluss eines Verwaltungsverfahrens bestehe grundsätzlich kein Anspruch nach § 25 Abs. 1 SGB X mehr, Einsicht in die Verfahrensakten zu nehmen. Eine andere Entscheidung komme nur dann in Betracht, wenn ein besonderes berechtigtes Interesse an der Einsichtnahme geltend gemacht werde. Dieses müsse substantiiert vorgetragen werden, was bislang nicht erfolgt sei.
Hinsichtlich der Akten des allgemeinen Sozialdienstes sowie im Bereich Trennung und Scheidung würden spezielle Regelungen für den Datenschutz gelten. Mit § 65 SGB VIII bestehe ein besonderes Weitergabeverbot, wonach anvertraute Sozialdaten nur in klar definierten Ausnahmefällen vom Jugendamt an Dritte weitergegeben werden dürften.
Mit Beschluss des Amtsgerichtes Neuburg a. d. Donau vom 22. Oktober 2018 sei die elterliche Sorge für das Kind dem Kindsvater übertragen worden. Die hiergegen gerichtete Beschwerde sei zurückgewiesen worden. Das Recht auf Akteneinsicht nach § 25 Abs. 1 SGB X stehen nur den Beteiligten eines Verfahrens zu. Vorliegend läge schon kein Verfahren im Sinne der Norm vor, da die Tätigkeit des Jugendamtes insoweit nicht auf den Erlass eines Verwaltungsaktes gerichtet sei. Der Antragsgegner beabsichtige daher, den Antrag auf Akteneinsicht abzulehnen. Die Antragstellerin habe die Möglichkeit, sich im Rahmen dieser Anhörung zu der beabsichtigten Entscheidung zu äußern und ggf. berechtigte Gründe zu nennen.
Die Antragstellerin wandte sich am 27. Juli 2020 erneut per E-Mail an den Antragsgegner. Es seien zwei Verfahren am Amtsgericht Neuburg und eines am OLG München anhängig. In der Vergangenheit habe ihr der Antragsgegner bereits bei anhängigen Verfahren sämtliche Auskunft verwehrt. Auch auf eine schriftliche Aufforderung ihres Anwalts habe der Antragsgegner nicht reagiert. Es sei anzumerken, dass die Gegenpartei offensichtlich durch den Antragsgegner über sämtliche Gespräche oder Schriftverkehr informiert werde. Außerdem würden offensichtlich falsche Behauptungen seitens der Mitarbeiter des Antragsgegners weitergegeben werden. Es sei bekannt, dass der Kindsvater, Herr H., in einem Vertragsverhältnis zum Antragsgegner stehe und sich deshalb öfters in den Räumlichkeiten des Jugendamtes aufhalte. Er stehe auch mit dessen Mitarbeitern in direktem Kontakt und sei für diese auch „privat“ tätig. Der Antragstellerin stehe gemäß § 25 Abs. 1 SGB X der Anspruch auf Akteneinsicht zur Verteidigung ihrer rechtlichen Interessen zu. Das rechtliche Interesse ergebe sich aus den aktuellen anhängigen Verfahren. Es werde nochmals gebeten, ihr Akteneinsicht zu gewähren.
Mit Bescheid vom 31. Juli 2020 lehnte der Antragsgegner den Antrag vom 24. März 2020 auf Akteneinsicht ab.
Für Akteneinsicht sei das Vorliegen eines Verwaltungsverfahrens Voraussetzung. Dies sei hier nicht der Fall. Es sei zu keinem Zeitpunkt der Erlass eines Verwaltungsaktes beantragt worden, sondern das Jugendamt sei vielmehr auf Veranlassung der Eltern und des Amtsgerichts Neuburg a.d. Donau in dem Aufgabenbereich der Mitwirkung und Unterstützung im familiengerichtlichen Verfahren nach § 50 SGB VIII tätig geworden. Dieses sog. „schlichte Verwaltungshandeln“ sei jedoch nicht vom Akteneinsichtsanspruch des § 25 SGB X umfasst.
Die Versagung der Akteneinsicht auch in Aktenbestandteile, die nicht nur die Daten der Antragstellerin, sondern Daten Dritter, beispielsweise die Korrespondenz mit dem Kindsvater bzw. Gesprächsvermerk über Gespräche mit den Eltern und den Kindern enthielten, sei nicht ermessensfehlerhaft. § 25 Abs. 3 SGB X sei analog anzuwenden. Es könne offenbleiben, ob und inwieweit der spezielle Sozialdatenschutz des § 65 Abs. 1 Satz 1 SGB X greife. Danach dürften Sozialdaten, die dem Mitarbeiter eines Trägers der öffentlichen Jugendhilfe zum Zweck persönlicher und erzieherischer Hilfe anvertraut worden sein, von diesem nur in den dort aufgeführten Fällen weitergegeben werden. Bei allen Informationen in den Akten, die den Sohn M. und die Eltern beträfen, handele es sich um Sozialdaten von Vater, Mutter und des Kindes. Diese Regelung diene der Sicherstellung des Kindeswohls, welches in einer Abwägung höher zu veranschlagen sei als das über die dort genannten Ausnahmetatbestände hinausgehende Informationsbedürfnis einer anderen Person. Insgesamt sei daher der Antrag abzulehnen.
Mit Schreiben vom 26. August 2020, bei Gericht eingegangen am 27. August 2020, beantragte die Antragstellerin beim Verwaltungsgericht München Prozesskostenhilfe für die beabsichtigte Beantragung, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, der Antragstellerin Akteneinsicht in die Jugendamtsakte betreffend ihren Sohn M., geboren am 26. Mai 2016, zu gewähren (Verfahren M 18 E0 20.3970). Überschrieben war die Antragsschrift mit „Widerspruch gegen den Bescheid des Landratsamtes Neuburg-Schrobenhausen, Abteilung Jugendamt, […] vom 31.7.2020, Antrag auf Akteneinsicht einstweilige Anordnung und Antrag auf Prozesskostenhilfe.“
Mit Schriftsatz vom 29. August 2020 führte die Antragstellerin zur Begründung aus, dass ihr gemäß § 25 Abs. 1 SGB X ein Anspruch auf Akteneinsicht zustehe. Das rechtliche Interesse hieran ergebe sich aus aktuell anhängigen Gerichtsverfahren. In mehreren Schreiben in unterschiedlichen Verfahren am Amtsgericht Neuburg und am OLG München habe die anwaltliche Vertretung des Kindsvaters immer wieder angegeben, Informationen betreffend die Antragstellerin erhalten zu haben. Die Akteneinsicht sei für die Geltendmachung der Rechte der Antragstellerin erforderlich, weil sie in dem das Umgangsrecht betreffenden Verfahren vor dem Amtsgericht Neuburg a.d. Donau weiterhin das Interesse verfolge, dass sie mehr Umgang zu ihrem Sohn erhalte. Der Vater ihres Kindes führe im Landratsamt/Jugendamt des Antragsgegners Handwerksarbeiten aus und erledige auch privat für die Angestellten Arbeiten. Außerdem sei der Kindsvater mit der Mitarbeiterin des Jugendamtes Frau E. S. privat befreundet. So würden auch diverse Informationen außerhalb der offiziellen Sprechzeiten des Jugendamtes besprochen und in die Wege geleitet werden. Diese Mitarbeiterin habe auch dafür gesorgt, dass ihr Sohn M. in einem Kindergarten untergebracht worden sei, in dem der Antragstellerin Hausverbot erteilt worden sei. Der Antragsgegner habe vorsätzlich und mutwillig den bestehenden Umgang der Antragstellerin zu ihrem Sohn verhindert.
Mit Schreiben vom 7. September 2020 beantragte der Antragsgegner unter Bezugnahme auf die Ausführungen im Bescheid vom 31. Juli 2020:
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe sowie der Antrag auf einstweilige Anordnung werden abgewiesen.
Der Antragsgegner nahm mit Schreiben vom 23. September 2020 zu dem angekündigten Antrag auf Akteneinsicht ergänzend Stellung. Zur Aussage der Antragstellerin, dass der Kindsvater mit dem Antragsgegner in einem „engen Arbeitsverhältnis“ stehen würde, sei festzustellen, dass die Firma, bei welcher der Kindsvater Geschäftsführer sei, teilweise auch für das Landratsamt des Antragsgegners tätig gewesen sei, die Beauftragung jedoch durch ein anderes Sachgebiet, nicht durch das Jugendamt, erfolgt sei. Dass auch private Arbeiten bei den Mitarbeitern ausgeführt worden seien, sei nicht bekannt. Auch die Behauptung, es bestünde eine private Freundschaft zwischen dem Kindsvater und einer Frau „E. S.“ entbehre jeder Grundlage. Die infrage kommenden Mitarbeiterinnen hätten auf Nachfrage ausdrücklich bestätigt, dass sie keinerlei private Kommunikation mit dem Kindsvater betreiben würden und auch sonst in keiner Beziehung zu diesem stünden. Zwar sei die Mitarbeiterin S. bei der Beratung hinsichtlich eines Kindergartenplatzes beteiligt gewesen, jedoch könne nichts Ungewöhnliches festgestellt werden, wenn das Kind einen Kindergarten am Wohnort des Vaters besuche. Die Entscheidung, welchen Kindergarten das Kind besuchen solle, treffe im Übrigen nicht das Jugendamt, sondern der Inhaber des Sorgerechts. Das Jugendamt habe auch nicht den Umgang mit der Kindsmutter beschränkt; Fragen des Umgangs würde vielmehr das Familiengericht regeln.
Des Weiteren führte der Antragsgegner aus, dass der Antrag bereits unzulässig sei, da die Antragstellerin keinen Klageantrag in der Hauptsache gestellte habe und daher der ablehnende Bescheid bestandskräftig geworden sei.
Hinsichtlich der Akten des Fachdienstes „Trennung und Scheidung“ werde das Jugendamt im Rahmen der Familiengerichtshilfe nach § 50 SGB VIII tätig. In diesem Verfahren komme der Antragstellerin keine Beteiligteneigenschaft und demnach kein Recht auf Akteneinsicht nach § 25 SGB X zu. Auch in entsprechender Anwendung des § 25 SGB X komme ein Anspruch nicht in Betracht, da diesem das Sozialgeheimnis nach § 35 Abs. 3 SGB I bzw. § 25 Abs. 3 SGB X entgegenstehe.
Was die in den anderen Fachbereichen „Beistandschaft“, „Unterhaltsvorschuss“ und „Wirtschaftliche Hilfen“ geführten Akten anbelange, seien die zugrundeliegenden Verwaltungsverfahren spätestens seit Juli 2018 abgeschlossen. Einen Grund für die Akteneinsicht habe die Antragstellerin weder im Antrag noch in der Anhörung oder im gerichtlichen Verfahren vortragen können, weswegen auch für diese Bereiche die Akteneinsicht abzulehnen sei.
Auch habe die Antragstellerin keinen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Es sei nicht ersichtlich, welche konkreten Fragen sich in dem Verfahren vor dem Familiengericht stellen würden, die eine Akteneinsicht erforderlich machen sollten. Der Antrag auf Akteneinsicht sei trotz mehrmaliger Nachfrage nicht spezifiziert worden. Zudem sei die Vorwegnahme der Hauptsache zu befürchten.
Nachdem das Gericht mit Schreiben vom 1. und 18. September 2020 darauf hingewiesen hatte, dass für den Antrag auf Prozesskostenhilfe im vorliegenden Verfahren kein Rechtsschutzbedürfnis gesehen werde, nahm die Antragstellerin mit Schreiben vom 24. September 2020 den Prozesskostenhilfeantrag zurück und beantragte,
über ihren Antrag auf Akteneinsicht nunmehr zu entscheiden.
Das Gericht stellt daraufhin mit Beschluss vom 25. September 2020 das Verfahren M 18 E0 20.3970 ein und führte das Verfahren in der Hauptsache unter dem Aktenzeichen M 18 E 20.3970 fort.
Der Antragsgegner legte mit Schreiben vom 1. Oktober 2020 in Ergänzung zur Antragserwiderung eine Übersicht mit allen bei ihm geführten Akten und deren Aktenbestandteilen betreffend das Kind M. vor.
Wegen des weiteren Sachverhalts und zum Vorbringen der Beteiligten im Einzelnen wird auf die Gerichtsakte und die vorgelegte Behördenakte ergänzend Bezug genommen.
II.
Der Antrag ist zulässig, hat jedoch in der Sache keinen Erfolg.
Das Gericht geht dabei - zumindest im vorliegenden Eilverfahren - davon aus, dass der Verwaltungsrechtsweg auch insoweit eröffnet ist, als der Antrag auf Einsicht in die im Bereich Trennung und Scheidung im Rahmen der Familiengerichtshilfe gemäß § 50 SGB VIII geführte Akte gerichtet ist (so konkludent OVG Koblenz, B.v. 2.4.2020 - 12 F 11033/19 - juris; VG Würzburg, U.v. 26.1.2017 - W 3 K 16.885 - juris; offen gelassen: BVerwG, B.v. 3.3.2014 - 20 F 12/13 - juris Rn. 7; ablehnend BayVGH, B.v. 2.12.2011 - 12 ZB 11.1386 - juris Rn. 10; siehe hierzu auch Hoffmann, FamRZ 2020, 1155, 1157). Denn da die Akten insoweit nicht Bestandteil des familiengerichtlichen Verfahrens sind und auch dem Familiengericht nicht vorliegen dürften, dürften sie auch nicht von einer Akteneinsicht gemäß § 13 FamFG im dortigen Verfahren mitumfasst sein.
Der zulässige Antrag ist insbesondere auch als statthaft anzusehen.
Entgegen der Auffassung des Antragsgegners ist der Ablehnungsbescheid vom 31. Juli 2020 noch nicht bestandskräftig geworden. Zugunsten der Antragstellerin ist davon auszugehen, dass mit dem Schreiben vom 27. August 2020 zugleich auch Widerspruch gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 31. Juli 2020 eingelegt werden sollte. Denn die Antragsschrift wurde ausdrücklich auch mit „Widerspruch gegen den Bescheid […] vom 31. Juli 2020“ betitelt.
Unschädlich ist dabei, dass dieses zumindest auch als Widerspruch zu wertende Schreiben entgegen § 70 Abs. 1 Satz 1 VwGO nicht an den Antragsgegner als Ausgangsbehörde adressiert war, sondern an das Verwaltungsgericht München. Denn das Gericht hat dieses am 1. September 2020 an den Antragsgegner weitergeleitet, so dass er wirksam Kenntnis von dem Widerspruch erlangt hat. Die Weiterleitung erfolgte schließlich auch innerhalb der Rechtsbehelfsfrist nach § 70 Abs. 1 Satz 1 VwGO, wonach der Widerspruch innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Verwaltungsaktes zu erheben ist. Der Ablehnungsbescheid wurde vom Antragsgegner am 3. August 2020 zur Post gegeben und gilt damit gemäß § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X am 6. August 2020 als der Antragstellerin bekannt gegeben. Gemäß § 57 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 222 Abs. 1 ZPO, § 187 Abs. 1 BGB begann die Rechtsbehelfsfrist damit am 7. August 2020 zu laufen und endete gemäß § 188 Abs. 2 BGB mit Ablauf des 6. Septembers 2020. Unter Annahme der üblichen Postlaufzeiten ist davon auszugehen, dass der „Widerspruch“ beim Antragsgegner vor diesem Datum eintraf.
Das im Bereich des Kinder- und Jugendhilferecht gemäß Art. 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AGVwGO fakultative Widerspruchsverfahren hindert den Eintritt der formellen Bestandskraft (Rennert in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 69 Rn. 1). Da somit eine gegen den Ablehnungsbescheid vom 31. Juli 2020 zu erhebende Versagungsgegenklage noch nicht verfristet wäre, ist auch der diesbezügliche Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz vorliegend statthaft (vgl. zu dieser Voraussetzung des Antrags nach § 123 VwGO Schoch/Schneider/Bier/Schoch, 38. EL Januar 2020, VwGO § 123 Rn. 102a).
Der Antrag ist jedoch unbegründet.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO sind einstweilige Anordnungen zu Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheinen. Voraussetzung ist, dass der Antragsteller das von ihm behauptete streitige Recht (den Anordnungsanspruch) und die drohende Gefahr seiner Beeinträchtigung (den Anordnungsgrund) glaubhaft macht, § 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO. Ein Anordnungsanspruch liegt vor, wenn der Antragsteller in der Hauptsache bei summarischer Prüfung voraussichtlich Erfolg haben wird. Für das Vorliegen eines Anordnungsgrunds ist darüber hinaus grundsätzlich Voraussetzung, dass es dem Antragsteller unter Berücksichtigung seiner Interessen, aber auch der öffentlichen Interessen und der Interessen anderer Personen nicht zumutbar ist, die Hauptsacheentscheidung abzuwarten. Maßgebend sind dabei die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.
Die Antragstellerin konnte bereits keinen Anordnungsanspruch glaubhaft machen. Ein Anspruch auf die beantragte Akteneinsicht besteht nicht.
1. Ein Anspruch ergibt sich nicht aus § 25 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Nach dieser Vorschrift hat die Behörde den Beteiligten Einsicht in die das Verfahren betreffenden Akten zu gestatten, soweit deren Kenntnis zur Geltendmachung oder Verteidigung ihrer rechtlichen Interessen erforderlich ist.
1.1. Soweit die Antragstellerin geltend macht, Einsicht in die Jugendhilfeakten in den Bereichen Unterhaltsbeistandschaft, Unterhaltsvorschuss und Wirtschaftliche Hilfen nehmen zu wollen, besteht schon kein laufendes Verwaltungsverfahren mehr. Ein solches wird von § 25 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII jedoch vorausgesetzt (vgl. BVerwG, U.v. 4.9.2003 - 5 C 48.02 - juris Rn. 27). Die Verfahren in diesen Bereichen wurden nach Aussage des Antragsgegners bereits im Jahr 2018 abgeschlossen.
1.2. Was die im Bereich Trennung und Scheidung im Rahmen der Familiengerichtshilfe gemäß § 50 SGB VIII geführte Akte des allgemeinen Sozialdienstes angeht, fehlt es hingegen bereits an einem Verwaltungsverfahren im Sinne des § 8 SGB X, an dem derjenige, der Akteneinsicht begehrt, i.S.d. § 12 SGB X beteiligt ist. Ein sozialrechtliches Verwaltungsverfahren ist nach § 8 SGB X die nach außen wirkende Tätigkeit der Behörden, die auf die Prüfung der Voraussetzungen, die Vorbereitung und den Erlass eines Verwaltungsaktes oder auf den Abschluss eines öffentlich-rechtlichen Vertrags gerichtet ist. Eine solche Verwaltungstätigkeit ist hier nicht betroffen. Gemäß § 2 Abs. 3 Nr. 6 SGB VIII gehört die Mitwirkung des Jugendamts im familiengerichtlichen Verfahren nach § 50 SGB VIII nicht zu den Leistungen der Jugendhilfe im Sinne des § 2 Abs. 1 SGB VIII, an die typischerweise der Anspruch auf Akteneinsicht in § 25 Abs. 1 Satz 1 SGB X anknüpft, sondern zu den anderen Aufgaben zu Gunsten junger Menschen und Familien. Eine nach außen wirkende Verwaltungstätigkeit, die letztlich auf den Erlass eines Verwaltungsaktes oder den Abschluss eines öffentlich-rechtlichen Vertrages gerichtet ist, liegt damit nicht vor (so auch VG Würzburg, U.v. 26.1.2017 - W 3 K 16.885 - juris Rn. 30).
1.3. Auch hinsichtlich der Akte des allgemeinen Sozialdienstes betreffend Gefährdungsmitteilungen und allgemeine Beratung besteht kein Anspruch nach § 25 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Unabhängig davon, ob in diesem Bereich tatsächlich noch ein Verwaltungsverfahren läuft, steht der Einsichtnahme in diese Akte der besondere Sozialdatenschutz nach § 25 Abs. 3 SGB X i.V.m. § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII entgegen.
Nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII dürfen Sozialdaten (vgl. hierzu § 67 Abs. 2 SGB X), die dem Mitarbeiter eines Trägers der öffentlichen Jugendhilfe zum Zwecke persönlicher und erzieherischer Hilfe anvertraut worden sind, von diesem nur mit der Einwilligung dessen, der die Daten anvertraut hat, weitergegeben oder übermittelt werden. Der Norm liegt die Überlegung zugrunde, dass die für die persönliche und erzieherische Hilfe erforderliche unverzichtbare Offenheit und Mitwirkungsbereitschaft nur entstehen kann, wenn dem einzelnen Jugendamtsmitarbeiter anvertraute Sozialdaten - bis auf klar definierte Ausnahmetatbestände - von diesem nicht weitergegeben werden dürfen. Ohne eine solche Regelung kann sich das für das Hilfeleistungsverhältnis notwendige persönliche Vertrauensverhältnis zwischen dem Jugendamtsmitarbeiter und dem Klienten nicht entwickeln (vgl. Kirchhoff in Schlegel/Voelzke, SGB VIII, 2. Aufl. Stand 9.9.2020, § 65 SGB VIII Rn. 15 mwN; VGH BW, 27.4.2020 - 12 S 579/20 - juris Rn. 15; OVG NW, B.v. 26. 3.2008 - 12 E 115/08 - juris Rn. 11). Der Bereich Kindeswohlgefährdung ist dabei in der Regel der „klassische Fall“, den das Weitergabeverbot des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 im Blick hat (vgl. VGH BW, 27.4.2020 - 12 S 579/20 - juris Rn. 16). Angesichts der vom Antragsgegner vorgelegten Inhaltsübersicht der entsprechenden Akte geht das Gericht bei lebensnaher Betrachtung davon aus, dass sich in dieser geschützte Sozialdaten i.S.d. § 67 Abs. 2 SGB X befinden, die einer Einsichtnahme durch Dritte entgegenstehen. Im Rahmen der Meldungen von Kindeswohlgefährdungen kommt es regelmäßig zur Übermittlung von intimen Auskünften, wobei sich die offenbarende Person darauf verlässt, dass die von ihr offenbarten Informationen nicht weitergegeben werden (vgl. VG Cottbus, U.v. 22.6.2020 - 8 K 444/17 - juris Rn. 47). Dass diese Betrachtungsweise hier ausnahmsweise nicht zutreffen sollte, ist dem Gericht nicht ersichtlich. Eine Einsichtnahme in die betreffende Akte ist daher abzulehnen.
2. Die Antragstellerin hat auch keinen Anspruch auf nochmalige (ermessensfehlerfreie) Entscheidung über das Akteneinsichtsbegehren in entsprechender Anwendung von § 25 SGB X. Außerhalb eines Verwaltungsverfahrens kann nach pflichtgemäßem Ermessen Einsicht in verwaltungsbehördliche Akten und Unterlagen gewährt werden, wenn ein berechtigtes Interesse an der Einsichtnahme besteht und Gründe des Sozialdatenschutzes nicht entgegenstehen (vgl. BVerwG, B.v. 15.6.1989 - 5 B 63/89 - juris Rn. 3; U.v. 18.10.1984 - 7 C 10/81 - NJW 1985, 1234).
2.1. Ein solches berechtigtes Interesse der Antragstellerin ist vorliegend in Hinblick auf die Jugendhilfeakten in den Bereichen Unterhaltsbeistandschaft, Unterhaltsvorschuss und Wirtschaftliche Hilfen nicht glaubhaft gemacht.
Die Klägerin hat vorgetragen, dass sie vor dem Amtsgericht - Familiengericht - Neuburg a.d. Donau Beteiligte eines familiengerichtlichen Verfahrens sei, welches das Umgangsrecht hinsichtlich ihres Sohnes M. betreffe. Die anwaltliche Vertretung des Kindsvaters habe dabei angegeben, Informationen über die Antragstellerin erhalten zu haben. Es würden Informationen „auf dem kurzen Dienstweg“ zwischen dem Kindsvater und Mitarbeitern des Jugendamtes besprochen werden. Eine Mitarbeiterin des Jugendamtes habe im Januar 2020 dafür gesorgt, dass der Sohn M. einen Platz in einem bestimmten Kindergarten erhalte.
Ein Zusammenhang zwischen der im Jahre 2018 abgeschlossenen Verwaltungsverfahren und dem Umgangsverfahren vor dem Familiengericht vermag das Gericht nicht zu erkennen. Es fehlt an substantiiertem Vortrag der Antragstellerin, inwieweit eine Einsicht in diese seit mehreren Jahren abgeschlossenen Verwaltungsvorgänge erforderlich wäre, um eine wirksame Verfolgung ihrer Rechte im Hinblick auf das beim Familiengericht geführte Umgangsverfahren wahren zu können, zumal die von ihr beanstandeten „Vorgänge“ (Kindergartenplatzvergabe, Informationsweitergabe) anscheinend jüngeren Datums sind.
2.2. Was die Einsicht in die im Rahmen der Familiengerichtshilfe nach § 50 SGB VIII geführte Akte im Bereich „Trennung und Scheidung“ betrifft, ist teilweise bereits kein berechtigtes Interesse der Antragstellerin zu erkennen. Im Übrigen greifen auch hier die sozialdatenschutzrechtlichen Beschränkungen des § 25 Abs. 3 SGB X i.V.m. § 65 SGB VIII (s.o.) entsprechend.
Gemäß den Angaben des Antragsgegners - an denen das Gericht hinsichtlich der Richtigkeit keine Zweifel hat - enthält die Akte größtenteils gerichtliche Schriftstücke, zu einem kleinen Teil jedoch auch Verläufe aus E-Mail-Kontakt mit dem Kindsvater oder Aktenvermerke der Mitarbeiterin, ärztliche Atteste über den Gesundheitszustand des Kindes, polizeiliche Mitteilungen und anderes.
Soweit die genannte Akte den Schriftverkehr mit dem Amtsgericht - Familiengericht - Neuburg a.d. Donau und mit dem OLG München sowie die im familiengerichtlichen Verfahren abgegebenen Stellungnahmen des Antragsgegners betrifft, geht das Gericht davon aus, dass diese Unterlagen der Antragstellerin bereits vorliegen. Gleiches gilt für den E-Mailverkehr zwischen der Antragstellerin und dem Antragsgegner. Ein berechtigtes Interesse an der Akteneinsicht in die Akte des Jugendamtes (Einsicht in die Familiengerichtsakten vor dem Familiengericht gewährleistet hingegen § 13 Abs. 1 FamFG) ist daher diesbezüglich nicht ersichtlich.
Hinsichtlich der ärztlichen Atteste zum Gesundheitszustand des Kindes M., der polizeilichen Mitteilungen und der Korrespondenz mit dem Kindsvater hat der Antragsgegner seine Entscheidung ermessensfehlerfrei auf das Weitergabeverbot des § 25 Abs. 3 SGB X gestützt. Diese Vorschrift ist auf den allgemeinen Akteneinsichtsanspruch entsprechend anzuwenden (vgl. BVerwG, U.v. 4.9.2003 - 5 C 48/02 - juris Rn. 28). Eine Einwilligung des Kindsvaters in die Weitergabe von dem Antragsgegner übermittelten Informationen ist angesichts der zahlreichen mit der Antragstellerin geführten gerichtlichen Verfahren wohl nicht zu unterstellen. Was die das Kind M. betreffenden Daten anbelangt, ist ebenfalls nicht von einer Einwilligung des allein sorgeberechtigten Kindsvaters in die Weitergabe auszugehen. Im Übrigen überwiegt hier auch das am Kindeswohl orientierte Geheimhaltungsinteresse gegenüber dem Informationsinteresse der Antragstellerin. Ausweislich des Vorbringens der Antragstellerin in der Antragsschrift vom 26. August 2020 geht es dieser wohl im Wesentlichen darum, in Erfahrung zu bringen, welche Informationen zwischen dem Antragsgegner und dem Kindsvater ihrer Auffassung nach auf inoffiziellem Wege über ihre Person ausgetauscht worden seien. Eine Weitergabe von Daten betreffend ihren Sohn M. dürfte daher schon gar nicht von dem im gerichtlichen Verfahren geltend gemachten Informationsbedürfnis der Antragstellerin gedeckt sein.
Mangels Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs war das Vorliegen eines Anordnungsgrundes nicht mehr zu prüfen.
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Das Verfahren ist nach § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfrei.
| {
"jurisdiction": "Germany",
"type": "caselaw",
"language": "de"
} |
Tatbestand
1
Der Kläger begehrt von dem Beklagten die Befreiung von der Rundfunkbeitragspflicht.
2
Der Kläger wird vom Beklagten seit Januar 2013 von Amts wegen als rundfunkbeitragspflichtig geführt. Mit verschiedenen Beitragsbescheiden, die allesamt bestandskräftig geworden sind, setzte der Beklagte ab dem 01.01.2013 gegen den Kläger Rundfunkbeiträge fest. Auf Grund Befreiungsbescheides vom 22.08.2014 war der Kläger vom 01.01. bis 31.08.2013 wegen nachgewiesenen Bezugs von Ausbildungsförderung nach dem BAföG von der Rundfunkbeitragspflicht befreit. Auf Grund weiterer Befreiungsbescheide vom 24.05.2016 und 02.08.2016 war er ferner in der Zeit vom 01.08.2015 bis 31.01.2017 wegen nachgewiesenen Bezugs von Leistungen nach dem SGB II von der Rundfunkbeitragspflicht befreit.
3
Mit Schreiben vom 26.12.2017 beantragte der Kläger eine weitere Befreiung von der Rundfunkbeitragspflicht für seine weitere Studienzeit. Er berief sich auf § 4 Abs. 6 RBStV und legte weitere Unterlagen seinem Antrag nicht bei.
4
Mit Bescheid vom 20.03.2018 lehnte es der Beklagte ab, den Kläger von der Rundfunkbeitragspflicht zu befreien. Empfänger von Sozialleistungen sei er nicht und eine besondere Härte nach § 4 Abs. 6 des RBStV liege nicht vor. Dagegen legte der Kläger am 23.04.2018 (Eingang bei dem Beklagten) Widerspruch ein, dem er einen Bescheid des Studierendenwerkes Hamburg über Leistungen nach dem BAföG vom 28.05.2014 beifügte. Mit diesem Bescheid wurde der Antrag des Klägers auf Leistung von Ausbildungsförderung nach Überschreiten der Förderungshöchstdauer am 31.08.2013 für sein Studium abgelehnt. Den Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 22.05.2018 zurück.
5
Hiergegen hat der Kläger am 22.06.2018 Klage erhoben. Zu deren Begründung trägt er vor, in der Zeit zwischen dem Bezug öffentlicher Leistungen von Erspartem und einem privaten Kredit gelebt zu haben. Seine Einnahmen seien unterhalb des Niveaus von SGB II-Leistungen gewesen. Einen schriftlichen Antrag auf Sozialleistungen habe er wegen erwarteter Aussichtslosigkeit nicht gestellt. Er bezweifle die Rechtmäßigkeit der Bescheide auch im Hinblick auf die erst am 01.06.2020 in Kraft getretene Rechtsgrundlage zum Bescheiderlass im automatisierten Verfahren (§ 10a RBStV). Im Übrigen verstoße der Rundfunkbeitragsstaatsvertrag gegen europäisches Recht und der Beklagte habe keine hoheitlichen Befugnisse, so dass die von ihm vorgenommene Zwangsanmeldung zum Rundfunkbeitrag rechtswidrig sei.
6
Der Kläger beantragt,
7
den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheids vom 20.03.2018 und seines Widerspruchsbescheids vom 22.05.2018 zu verpflichten, ihn für die Zeit vom 01.09.2013 bis 31.07.2015 von der Rundfunkbeitragspflicht zu befreien.
8
Der Beklagte beantragt,
9
die Klage abzuweisen.
10
Zur Begründung trägt er im Wesentlichen vor, § 4 Abs. 6 RBStV sei kein allgemeiner Auffangtatbestand. Studenten ohne den Bezug von Ausbildungsförderungsleistungen, deren Einkünfte unterhalb des sozialhilferechtlichen Regelsatzes lägen, fielen nicht unter diese Vorschrift.
11
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie die Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe
12
Die zulässige Verpflichtungsklage ist unbegründet. Der Bescheid des Beklagten vom 20.03.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.05.2018 ist rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Befreiung von der Rundfunkbeitragspflicht (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO).
13
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Sach- und Rechtslage bei Rundfunkbeitragsbescheiden sind Beginn und Ende der Beitragspflicht gemäß § 2 Abs. 1 und 2 Satz 1 RBStV. Das ist hier der Zeitraum vom 01.09.2013 bis 31.07.2015. Der Beklagte hat allerdings Änderungen der maßgeblichen Sach- und Rechtslage bis zum Abschluss des Verwaltungsverfahrens zu berücksichtigen (BVerwG, Urteil vom 30.10.2019 - 6 C 10/18 -, juris, Rn. 10 m.w.N.). Entscheidend sind danach die Vorschriften des Rundfunkbeitragsstaatsvertrages (RBStV) in der Fassung des Neunzehnten Rundfunkänderungsstaatsvertrages und des entsprechenden niedersächsischen Gesetzes vom 08.03.2016 (Nds. GVBl. 2016, S. 58).
14
Der Rundfunkbeitrag begegnet keinen verfassungs- oder europarechtlichen Bedenken (vgl. Urteil der Kammer vom 25.01.2019 - 2 A 266/188 -, n.v.; Nds. OVG, Beschluss vom 23.07.2015 - 4 LA 231/15 - zur verfassungsrechtlichen und EuGH, Urteil vom 13.12.2018 - C-492/17 - zur europarechtlichen Beurteilung sowie BVerwG, Urteil vom 18.03.2016 - 6 C 6/15 -; Beschluss vom 25.01.2018 - 6 B 38/18 -; OVG Koblenz, Beschluss vom 01.03.2018 - 7 A 11938/17 -; BVerfG, Urteil vom 18.07.2018 - 1 BvR 1675/16 u.a. - zu beiden Aspekten; Fundstellen jeweils juris). Das Bundesverfassungsgericht ist inzwischen dazu übergegangen, weiterhin erhobene Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung anzunehmen und eine Missbrauchsgebühr anzudrohen (vgl. Beschluss vom 10.02.2020 - 1 BvR 168/20 -, juris). Es ist in der Rechtsprechung zudem geklärt, dass die Rundfunkanstalten den Rundfunkbeitrag selbst festsetzen und vollstrecken dürfen (BGH, Beschlüsse vom 11.06.2015 - I ZB 64/14 - und vom 21.10.2015 - I ZB 6/15 -, die anderslautenden Ausgangsentscheidungen des LG Tübingen, Beschlüsse vom 19.05.2014 - 5 T 81/14 - und vom 08.01.2015 - 5 T 296/14 - aufhebend; Fundstellen jeweils juris).
15
Gemäß § 4 Abs. 1 Nr. 1 bis 10 RBStV werden von der Beitragspflicht nach § 2 Abs. 1 RBStV auf Antrag natürliche Personen befreit, die den unter Nr. 1 bis 10 im Einzelnen aufgeführten Personengruppen angehören. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um Empfänger staatlicher sozialer Leistungen, beispielsweise Empfänger von Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII (Nr. 1), von Sozialgeld oder Arbeitslosengeld II nach dem SGB II (Nr. 3). Zu diesem Personenkreis gehört der Kläger ebenso wenig wie zu demjenigen nach § 4 Abs. 2 RBStV, für den eine Ermäßigung des Beitrags vorgesehen ist.
16
Der Katalog gemäß § 4 Abs. 1 RBStV entspricht im Wesentlichen demjenigen des bis zum 31.12.2012 geltenden § 6 Abs. 1 S. 1 des Rundfunkgebührenstaatsvertrags (RGebStV), sodass mit der zu jener Vorschrift ergangenen Rechtsprechung von einer abschließenden Regelung der Befreiungstatbestände auszugehen ist (VG Hannover, Urteil vom 26.03.2014 - 7 A 6287/13 -, juris; vgl. zu § 6 Abs. 1 S. 1 RGebStV: BVerwG, Urteil vom 12.10.2011 - 6 C 34/10 -, NVwZ-RR 2012, 29, Nds. Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 14.05.2009 - 4 LC 610/07 -, NdsVBl 2009, 322 m.w.N. und OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 25.04.2013 - 16 A 2375/11 -, juris). Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (a.a.O., Rn. 15 und Urteil vom 30.10.2019 - 6 C 10/18 -, juris, Rn. 19) sind die § 4 Abs. 1 RBStV aufgeführten Tatbestände eng auszulegen und nicht durch eine Analogie aufgrund einer planwidrigen Regelungslücke erweiterbar.
17
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Befreiung von der Rundfunkbeitragspflicht wegen eines besonderen Härtefalls nach § 4 Abs. 6 RBStV.
18
Nach § 4 Abs. 6 Sätze 1 und 2 RBStV hat die Landesrundfunkanstalt unbeschadet der Beitragsbefreiung nach Absatz 1 in besonderen Härtefällen auf gesonderten Antrag von der Beitragspflicht zu befreien. Ein Härtefall liegt insbesondere vor, wenn eine Sozialleistung nach Absatz 1 Nr. 1 bis 10 der Norm in einem durch die zuständige Behörde erlassenen Bescheid mit der Begründung versagt wurde, dass die Einkünfte die jeweilige Bedarfsgrenze um weniger als die Höhe des Rundfunkbeitrags überschreiten. In den Fällen von Satz 1 gilt Absatz 4 entsprechend. In den Fällen von Satz 2 beginnt die Befreiung mit dem Ersten des Monats, in dem der ablehnende Bescheid ergangen ist, frühestens jedoch drei Jahre vor dem Ersten des Monats, in dem die Befreiung beantragt wird; die Befreiung wird für die Dauer eines Jahres gewährt. Gemäß § 4 Abs. 7 Satz 2 RBStV sind die Voraussetzungen für die Befreiung durch die entsprechende Bestätigung der Behörde oder des Leistungsträgers oder durch den entsprechenden Bescheid nachzuweisen.
19
Zu der Härtefallregelung hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht (Beschluss vom 21.01.2020 - 4 LA 286/19 -, juris, Rn. 5 f.) unter Verweis auf die aktuelle Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 30.10.2019 - 6 C 10/18 -, juris), ausgeführt:
20
„Bei § 4 Abs. 6 Satz 1 RBStV handelt es sich nach seinem Normzweck um eine Härtefallregelung, mit der grobe Ungerechtigkeiten und Unbilligkeiten vermieden werden sollen, die durch das in § 4 Abs. 1 RBStV verankerte normative Regelungssystem der bescheidgebundenen Befreiungsmöglichkeit entstehen (BVerwG, Urt. v. 30.10.2019 - 6 C 10.18 -). Die Vorschrift eröffnet die Möglichkeit, nicht zu den Personengruppen des § 4 Abs. 1 RBStV gehörende Beitragsschuldner von der Beitragspflicht zu befreien, wenn sich ihre Schlechterstellung gegenüber den befreiten Personengruppen nicht sachlich rechtfertigen lässt (BVerwG, Urt. v. 30.10.2019 - 6 C 10.18 -). Dies ist bei Beitragsschuldnern der Fall, die ein den Regelleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach den §§ 27 ff. SGB XII entsprechendes oder geringeres Einkommen haben und nicht auf verwertbares Vermögen i.S.d. § 90 SGB XII zurückgreifen können, aber von der Gewährung der in § 4 Abs. 1 RBStV genannten Sozialleistungen mangels Vorliegens der Voraussetzungen ausgeschlossen sind (BVerwG, Urt. v. 30.10.2019 - 6 C 10.18 -). Denn während die nach § 4 Abs. 1 Nr. 1 RBStV von der Rundfunkbeitragspflicht befreiten Personen nicht auf das monatlich ihnen zur Verfügung stehende Einkommen in Höhe der Regelleistungen zur Erfüllung der Beitragspflicht zurückgreifen müssen, weil dieses Einkommen zur Deckung ihres Lebensbedarfs einzusetzen ist, muss die erstgenannte Gruppe von Beitragsschuldnern auf ihr der Höhe nach den Regelleistungen entsprechendes oder diese Höhe sogar unterschreitendes Einkommen zurückgreifen, weil sie aus dem System der Befreiung nach § 4 Abs. 1 RBStV herausfällt. Eine solche Ungleichbehandlung trotz gleicher Einkommensverhältnisse beruht am Maßstab von Art. 3 Abs. 1 GG nicht auf einem sachlichen Grund, da die Verwaltungsvereinfachung, der das System der bescheidgebundenen Befreiungsmöglichkeit nach § 4 Abs. 1 RBStV dient, eine Schlechterstellung der Bedürftigkeitsfälle, die von dem Katalog des § 4 Abs. 1 RBStV nicht erfasst werden, diesen aber vergleichbar sind, nicht rechtfertigt (BVerwG, Urt. v. 30.10.2019 - 6 C 10.18 -).
21
Hingegen bietet die Härtefallregelung des § 4 Abs. 6 Satz 1 RBStV keine Handhabe, das Regelungskonzept des Rundfunkbeitragsstaatsvertrags zu korrigieren (vgl. BVerwG, Urt. v. 30.10.2019 - 6 C 10.18 -; BVerwG, Urt. v. 28.2.2018 - 6 C 48.16 -, BVerwGE 161, 224). Da dieses Regelungskonzept für die von dem Katalog des § 4 Abs. 1 RBStV erfassten Bedürftigkeitsfälle eine bescheidgebundene Befreiungsmöglichkeit vorsieht, um schwierige Berechnungen zur Feststellung der Bedürftigkeit durch die Rundfunkanstalten zu vermeiden (vgl. BVerwG, Urt. v. 30.10.2019 - 6 C 10.18 -), sind einkommensschwache Personen, die Sozialleistungen im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 1 und 2 RBStV in Anspruch nehmen könnten, dies aber nicht tun, nicht der Härtefallregelung des § 4 Abs. 6 Satz 1 RBStV zuzuordnen (vgl. Senatsbeschl. v. 9.8. 2017 - 4 PA 356/17 -, u. v. 19.4.2016 - 4 ME 30/16 -). Eine Beitragsbefreiung nach der Härtefallregelung des § 4 Abs. 6 RBStV für Beitragsschuldner, die nur geringe Einkünfte haben, trotz des Vorliegens der gesetzlichen Anspruchsvoraussetzungen aber keine Sozialleistungen im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 1 und 2 RBStV beziehen, liefe nämlich auf eine sachlich nicht gerechtfertigte Umgehung des Regelungskonzepts der bescheidgebundenen Befreiungsmöglichkeit für die von dem Katalog des § 4 Abs. 1 RBStV erfassten Bedürftigkeitsfälle hinaus (vgl. Senatsbeschl. v. 13.7.2015 - 4 PA 219/15 -, v. 9.10.2014 - 4 PA 236/14 - u. v. 20.8.2013 - 4 PA 188/13 -; ebenso zu § 6 Abs. 3 RGebStV BVerwG, Urt. v. 12.10.2011 - 6 C 34.10 -, Senatsbeschl. v. 11.6.2012 - 4 PA 153/12 -). Eine solche Umgehung wäre deshalb sachlich nicht gerechtfertigt, weil für die o. a. Personengruppe durch das in § 4 Abs. 1 RBStV verankerte Regelungssystem der bescheidgebundenen Befreiungsmöglichkeit keine groben Ungerechtigkeiten und Unbilligkeiten entstehen, denen nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts durch die Härtefallregelung des § 4 Abs. 6 Satz 1 RBStV begegnet werden soll. Denn diese Personengruppe hat es selbst in der Hand, in den Genuss einer Befreiung von der Rundfunkbeitragspflicht nach § 4 Abs. 1 Nr. 1 und 2 RBStV zu gelangen. Dies unterscheidet sie von derjenigen, deren Bedürftigkeit von dem Katalog des § 4 Abs. 1 RBStV nicht erfasst wird, den dort geregelten Bedürftigkeitsfällen aber vergleichbar ist, und die daher die Härtefallregelung des § 4 Abs. 6 Satz 1 RBStV für sich in Anspruch nehmen kann. Außerdem ist die Beantragung von Sozialleistungen im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 1 und 2 RBStV für einkommensschwache Personen, die die Anspruchsvoraussetzungen erfüllen, zum Zwecke der Schaffung der Voraussetzungen für eine Befreiung von der Rundfunkbeitragspflicht nach § 4 Abs. 1 Nr. 1 und 2 RBStV in Anbetracht des mit dem Regelungssystem der bescheidgebundenen Befreiungsmöglichkeit verfolgten Zwecks, schwierige Berechnungen zur Feststellung der Bedürftigkeit durch die Rundfunkanstalten zu vermeiden, keineswegs unzumutbar. Die Verweisung einkommensschwacher Personen auf den Nachweis des Bezugs von Sozialleistungen ist auch nach Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG nicht zu beanstanden (Senatsbeschl. v. 19.4.2016 - 4 ME 30/16 -). Deshalb verbleibt es für die von dem Katalog des § 4 Abs. 1 Nr. 1 und 2 RBStV erfassten Bedürftigkeitsfälle bei dem System der bescheidgebundenen Befreiung, das auf dem Grundprinzip beruht, nur demjenigen einen Anspruch auf Befreiung von der Rundfunkbeitragspflicht zuzugestehen, dessen Bedürftigkeit am Maßstab der bundesgesetzlichen Regelungen durch eine staatliche Sozialbehörde geprüft und in deren Bescheid bestätigt wird (vgl. dazu BVerwG, Urt. v. 30.10.2019 - 6 C 10.18 -).“
22
Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht hatte in früheren Entscheidungen angenommen, dass eine Befreiung von der Rundfunkbeitragspflicht wegen der Annahme eines Härtefalls auch dann zu gewähren ist, wenn ein Anspruch auf Leistungen im Sinne des § 4 Abs. 1 RBStV durch eine Bescheinigung des zuständigen Sozialleistungsträgers nachgewiesen wird. Dies gilt dann, wenn der dem Beitragsgläubiger vorgelegten Bescheinigung zu entnehmen ist, dass die zuständige Sozialleistungsbehörde die Voraussetzungen für den Bezug von einer der in § 4 Abs. 1 RBStV genannten Sozialleistungen in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht umfassend geprüft und bejaht hat. Denn in diesem Fall habe der zuständige Sozialleistungsträger die Bedürftigkeit des Rundfunkteilnehmers ebenso wie bei der antragsgemäßen Bewilligung von Sozialleistungen geprüft und bejaht. Daher sei nicht nur von einer vergleichbaren Bedürftigkeit wie bei der Bewilligung von Sozialleistungen auszugehen. Diese werde vielmehr auch durch die Bescheinigung der zuständigen Fachbehörde belegt, so dass die für die Befreiung von der Rundfunkbeitragspflicht zuständige Rundfunkanstalt keine eigene Prüfung der Bedürftigkeit mehr vornehmen müsse (Nds. OVG, Beschluss vom 29.11.2017 - 4 PA 356/17 -, juris, Rn. 3f.).
23
Ausgehend von diesen Grundsätzen, denen die Kammer folgt (vgl. auch Beschluss vom 22.07.2020 - 2 A 30/20 - n.v.), hat es der Beklagte zu Recht abgelehnt, den Kläger von der Rundfunkbeitragspflicht zu befreien. Nach dem System der bescheidgebundenen Befreiungsmöglichkeit hätte es dem Kläger gemäß § 4 Abs. 7 Satz 2 RBStV oblegen, zur Begründung seines Befreiungsantrags die Voraussetzungen für eine Befreiung entweder durch einen behördlichen Leistungsbescheid oder durch eine entsprechende Bestätigung der Behörde oder des Leistungsträgers nachzuweisen. Es wäre mindestens erforderlich gewesen, dass der Kläger einen Bescheid oder eine Bestätigung des zuständigen Jobcenters und des zuständigen Sozialamts vorlegt, wonach er als Student keine Leistungen nach dem SGB II oder dem SGB XII erhält.
24
Im Grundsatz ist dem Kläger zwar zuzustimmen, dass Studierende, die wegen Überschreitung der Höchstdauer keine BAföG-Leistungen erhalten, von dem Bezug von Sozialgeld oder Arbeitslosengeld II nach dem SGB II kraft Gesetzes ausgeschlossen sind (§ 7 Abs. 5 in der für den Streitzeitraum 01.09.2013 bis 31.07.2015 geltenden Fassung vom 20.12.2011 (BGBl. I 2011, S. 2854; im Folgenden: a.F.) und in der aktuellen Fassung vom 30.11.2019 (BGBl. I 2019, S. 1948; im Folgenden: n.F.)). Das Gleiche gilt für den Bezug von Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel des SGB XII (§ 22 Abs. 1 Satz 1 SGB XII in der für den Streitzeitraum geltenden Fassung vom 20.12.2011 (BGBl. I 2854; im Folgenden: a.F.) und in der aktuellen Fassung vom 08.07.2019 (BGBl. I 2019, S.1029; im Folgenden: n.F.)). Von diesem Grundsatz geht auch das BVerwG in seinem Urteil vom 30.10.2019 (- 6 C 10/18 -, juris, Rn. 18; betreffend ein nicht förderfähiges Zweitstudium) aus.
25
Allerdings gilt dieser Grundsatz nicht ausnahmslos, sondern es existieren – neben Ausnahmen vom Anwendungsbereich der Ausschlussvorschriften – sozialrechtliche Härtefallregelungen, auf Grund derer Leistungen nach dem SGB II oder dem SGB XII gewährt werden können.
26
Nach § 27 SGB II (in der Fassung vom 20.12.2011, BGBl. I 2011, S. 2854; im Folgenden: a.F. bzw. in der Fassung vom 26.07.2016, BGBl. I 2016, S. 1824; im Folgenden: n.F.) erhalten Auszubildende im Sinne des § 7 Abs. 5 SGB II nach bestimmten Maßgaben Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Zum einen werden Leistungen in Höhe der Mehrbedarfe erbracht (§ 27 Abs. 2 SGB II), zum anderen können Leistungen für Regelbedarfe, bestimmten Mehrbedarf, Bedarfe für Unterkunft und Heizung, Bedarfe für Bildung und Teilhabe und notwendige Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung als Darlehen erbracht werden, sofern der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 5 eine besondere Härte bedeutet (§ 27 Abs. 4 SGB II a.F.; § 27 Abs. 3 SGB II n.F.). Die nach diesen Ausnahmevorschriften für Auszubildende im Sinne des § 7 Abs. 5 SGB II erbrachten Leistungen gelten gemäß § 27 Abs. 1 Satz 2 SGB II nicht als Arbeitslosengeld II.
27
Nach § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB XII (a.F. und n.F.) können in besonderen Härtefällen Leistungen nach dem Dritten oder Vierten Kapitel des SGB XII als Beihilfe oder Darlehen gewährt werden.
28
Die Prüfung, ob ein solcher Härtefall vorliegt, obliegt dem zuständigen Jobcenter (SGB II) bzw. Sozialamt (SGB XII) und setzt einen entsprechenden Leistungsantrag des Betroffenen voraus.
29
Erst die Vorlage eines Bescheids oder einer Bestätigung über das Fehlen der Voraussetzungen des Bezugs von Leistungen nach dem SGB II und dem SGB XII hätte für den Beklagten überhaupt die Möglichkeit zur Prüfung einer mit derjenigen des Personenkreises nach § 4 Abs. 1 RBStV vergleichbaren Bedürftigkeit eröffnet (vgl. BVerwG, Urteil vom 30.10.2019 - 6 C 10/18 -, juris, Rn. 30; Beschluss der Kammer vom 22.07.2020 - 2 A 30/20 - n.v., zur bloßen Vorlage von Einkommensteuerbescheiden). Der Kläger hatte es somit selbst in der Hand, die Befreiungsvoraussetzungen nachzuweisen. Weil er die entsprechenden Unterlagen nicht vorgelegt hat, kann er keine Befreiung von der Rundfunkbeitragspflicht beanspruchen.
30
Das Anfechtungsbegehren hat auch nicht aus anderen Gründen Erfolg. Anders als der Kläger meint, ist der Bescheid des Beklagten vom 20.03.2018 und der Widerspruchsbescheid vom 22.05.2018 nicht wegen des unzulässigen Erlasses im automatisierten Verfahren rechtswidrig oder nichtig. Dies ergibt sich bereits daraus, dass die streitgegenständlichen Bescheide nicht „vollständig durch automatische Einrichtungen erlassen“ wurden i.S.d. § 35a VwVfG. Der vollständige Erlass eines Verwaltungsakts durch automatische Einrichtungen setzt voraus, dass er nicht auf eine Entscheidung einer autorisierten Person in der Behörde rückführbar ist (vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG, 20. Auflage 2019, § 35 a Rn. 3, 10). Die Ablehnung der vom Kläger beantragten Befreiung und seines Widerspruchs beruhen aber auf einer Entscheidung von Mitarbeitern des Beklagten. Denn die Bescheide enden mit der Angabe zweier Namen samt Unterschrift. Sie enthalten noch nicht einmal einen Hinweis auf eine maschinelle Erstellung.
31
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 188 Satz 2 VwGO.
32
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
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Tatbestand
1
Streitig ist die Feststellung von zur Tabelle angemeldeten Säumniszuschlägen.
2
Der Kläger wurde am ... 2016 zum Insolvenzverwalter über das Vermögen von A bestellt.
3
Unter dem 2. Juni 2016 meldete der Beklagte Abgabenforderungen (vornehmlich Lohnsteuer IV. Quartal 2015 und I. Quartal 2016, Einkommensteuer I. Quartal 2016, Umsatzsteuer 2012 bis 2014 sowie I. bis IV. Quartal 2015) zunächst in Höhe von 30.278,96 € gem. § 174 Abs. 1 der Insolvenzordnung (InsO) zur Tabelle an, darin enthalten waren Säumniszuschläge in Höhe von 1.152,50 € für den Zeitraum März 2015 bis April 2016. Als Anlagen beigefügt waren eine Forderungsaufstellung, Lohnsteuer-Überwachungsbögen für 2015 und 2016, der Einkommensteuerbescheid 2012 mit Festsetzung der Vorauszahlung I. Quartal 2016, Umsatzsteuerbescheide 2012 bis 2014 sowie der Umsatzsteuer-Überwachungsbogen 2015.
4
Am 16. Juni 2016 wurde die Forderungsanmeldung um 2.061,42 € gemindert aufgrund der Aufrechnung des Guthabens aus der Einkommensteuerfestsetzung 2015 mit Lohnsteuer für das IV. Quartal 2015 und das I. Quartal 2016. Dieser Minderung war eine überarbeitete Forderungsaufstellung über 28.217,54 € und die Berechnung der Einkommensteuer für 2015 zur Begründung beigefügt. Eine zweite Forderungsanmeldung über 1.237,50 € erfolgte mit Schreiben vom 21. Juni 2016. Gegenstand dieser Anmeldung war die Umsatzsteuerabschlusszahlung für 2015 unter Berücksichtigung der bereits zur Tabelle angemeldeten Beträge für das I. bis IV. Quartal Umsatzsteuer 2015, deren Berechnung als Anlage beigefügt war.
5
Nachdem die Einkommensteuervorauszahlung für das I. Quartal 2016 auf 0,- € herabgesetzt worden war, minderte der Beklagte seine Forderungsanmeldung nochmals am 17. Juli 2017 um 873,54 € auf 27.344,00 € und am 7. September 2017 auf 26.767,50 €. Zusammen mit der Nachmeldung von 1.237,50 € waren am 16. Oktober 2017 Forderungen von 28.005,00 € zur Tabelle angemeldet.
6
Im Prüfungstermin vom 22. Juli 2016 hatte der Kläger zunächst die Forderungen bestritten, weil nicht zu erkennen sei, welche Tilgungen durch wen bzw. wann erfolgt seien. Es sei auch nicht erkennbar, ob die Tilgung durch Zahlungen des Schuldners oder Dritter bzw. durch Verrechnungen oder sonstige Vorgänge herbeigeführt worden seien. Insoweit wurde um die Übersendung eines Kontoauszuges für das Steuerkonto gebeten; letzteres lehnte der Beklagte ab. Ferner bat der Kläger um Überprüfung, inwieweit angesichts der offensichtlichen Zahlungsunfähigkeit des Schuldners Säumniszuschläge zu verhängen oder jedenfalls im Insolvenzverfahren nicht mehr geltend zu machen seien. Vorsorglich beantragte der Kläger den Erlass der Säumniszuschläge, sofern ein derartiger Antrag erforderlich sei.
7
Nachdem der Beklagte seine Forderungen und deren Reduzierungen nochmals mit Schreiben vom 7. September 2017 (Anl. K 7) erläutert und die Säumniszuschläge um die Hälfte erlassen hatte, stellte er mit Feststellungsbescheid gem. § 251 Abs. 3 der Abgabenordnung (AO) vom 13. November 2017 Insolvenzforderungen in Höhe von 28.005,00 € fest. Der hiergegen gerichtete Einspruch blieb erfolglos. Gegen die Einspruchsentscheidung vom 21. Dezember 2017 hat der Kläger am 22. Januar 2018 Klage erhoben.
8
Der Kläger ist der Auffassung, dass die Säumniszuschläge in voller Höhe zu erlassen seien. Anders als unter Geltung der Konkursordnung bestehe die von der Rechtsprechung anerkannte Erlassmöglichkeit schon dann, wenn nach der Insolvenzordnung Zahlungsunfähigkeit nur drohe. Im Übrigen sei auch der Rechtsgedanke von § 156 Abs. 2 AO heranzuziehen. Wenn die Festsetzung einer Steuer und steuerlicher Nebenleistungen unterbleiben könne, wenn die Erhebung keinen Erfolg haben werde, müsse dies auch für Säumniszuschläge gelten, und zwar bereits wegen voraussichtlicher Erfolglosigkeit bei drohender Zahlungsunfähigkeit.
9
Im Übrigen dienten Säumniszuschläge ausschließlich einem Erzwingungszweck, sie könnten folglich nicht zu einem Teil unbillig und zum anderen billig sein. Säumniszuschläge seien insoweit kein Zinsersatz. Wenn sie jedoch als Druckmittel erfolglos blieben und dann als Zinsersatz fungierten, müsste auch die Frage nach der angemessenen Zinshöhe gestellt werden.
10
Den Einwand, dass der Beklagte nicht hinreichend dargetan habe, in welcher Form Tilgungen, sei es durch Erstattungen des Beklagten oder Verrechnungen, erfolgt seien, hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung fallen gelassen.
11
Der Kläger beantragt,den Feststellungsbescheid nach § 251 Abs. 3 AO vom 13. November 2017 und die Einspruchsentscheidung vom 21. Dezember 2017 insoweit zu ändern, als keine Säumniszuschläge festgestellt werden.
12
Der Beklagte beantragt,die Klage abzuweisen.
13
Der Kläger verlange zu Unrecht den vollständigen Erlass der Säumniszuschläge. Da Säumniszuschläge ein Druckmittel eigener Art seien, fällige Steuern durchzusetzen, verlören sie ihren Sinn nur, wenn der Steuerpflichtige seinen Verpflichtungen wegen Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit nicht nachkommen könne. Dies gelte auch nach Inkrafttreten der Insolvenzordnung. Darüber hinaus verfolgten Säumniszuschläge auch den Zweck, Gegenleistung für das Hinausschieben der Zahlung fälliger Steuern und damit verbundener Verwaltungsaufwendungen zu sein. Dies rechtfertige im Regelfall und auch im Streitfall, die Säumniszuschläge nur um die Hälfte zu reduzieren.
14
§ 156 AO komme unter keinem möglichen Gesichtspunkt zu Anwendung. Zum einen diene die Vorschrift der Verwaltungsvereinfachung und gewähre keinen Anspruch des Steuerpflichtigen auf dessen Anwendung. Zum anderen handele es sich um eine Norm des Festsetzungsverfahrens, während es im Streitfall um die Erhebung der Steuer gehe. Darüber hinaus entstünden die Säumniszuschläge kraft Gesetzes, sodass die Anwendung von § 156 AO ohnehin ausgeschlossen sei.
15
Verfassungsrechtliche Zweifel hinsichtlich der Höhe der Säumniszuschläge bestünden nicht. Die Säumniszuschläge seien ein Mittel, um den Steuerpflichtigen zur pünktlichen Zahlung anzuhalten. Ein ihnen innewohnender Zinseffekt stelle allenfalls einen Nebeneffekt dar. Die im Zusammenhang mit der Zinshöhe nach § 238 AO aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Zweifel stellten sich folglich bei den Säumniszuschlägen nicht.
16
Schließlich erfasse die Finanzverwaltung auch nicht einen etwaigen Verwaltungsaufwand im Zusammenhang mit der verspäteten Zahlung und Geltendmachung von Säumniszuschlägen.
...
Entscheidungsgründe
17
Die zulässige Klage hat keinen Erfolg.
18
I. Der angegriffene Feststellungsbescheid ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Beklagte hat die Säumniszuschläge zu Recht noch in hälftiger Höhe festgestellt.
19
1.) Die Voraussetzungen für den Erlass eines Feststellungsbescheides gem. § 185 Satz 1 InsO i. V. m. § 251 Abs. 3 AO sind erfüllt. Danach stellt die Finanzbehörde erforderlichenfalls die Insolvenzforderung durch schriftlichen Verwaltungsakt fest, wenn sie im Insolvenzverfahren einen Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis als Insolvenzforderung geltend macht und für die Feststellung der Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten nicht gegeben ist. Ist eine Forderung vom Insolvenzverwalter oder einem Insolvenzgläubiger bestritten, bleibt es dem Gläubiger nach § 179 Abs. 1 InsO überlassen, die Feststellung gegen den Bestreitenden zu betreiben. Auch in den Fällen, in denen bei Insolvenzeröffnung eine bestandskräftige Steuerfestsetzung und damit ein vollstreckbarer Schuldtitel vorliegt, ist das Finanzamt im Falle des Bestreitens der Forderung durch den Insolvenzverwalter berechtigt, das Bestehen der angemeldeten Forderung durch Bescheid festzustellen (Bundesfinanzhof (BFH)-Urteil vom 23. Februar 2010, VII R 48/07, BStBl II 2010, 562). Gegenstand des Feststellungsverfahrens kann nur eine Forderung sein, die gemäß § 174 InsO angemeldet und nach § 176 InsO erörtert worden ist.
20
Der Kläger hat die angemeldeten Forderungen des Beklagten im Prüfungstermin am 22. Juli 2016 bestritten, sodass der Erlass eines Feststellungsbescheids nach § 251 Abs. 3 AO geboten war.
21
2.) Die Feststellung der nach dem hälftigen Erlass noch verbliebenen Säumniszuschläge ist rechtmäßig.
22
a) Die Frage, ob die Säumniszuschläge in voller Höhe zu erlassen sind, stellt sich in diesem Verfahren nicht. Sie wäre einem gesonderten Streitverfahren über eine Billigkeitsmaßnahme gem. § 227 AO vorbehalten (vgl. dazu Senatsurteil vom 30. Juli 2020, 2 K 192/18, n.v.); das Billigkeitsverfahren und das Abrechnungsverfahren nach § 128 AO bzw. im Streitfall das Feststellungsverfahren nach § 251 Abs. 3 AO stehen selbständig nebeneinander (BFH-Urteil vom 10. März 2016, III R 2/[15], BStBl II 2016, 508 m.w.N.).
23
b) Gem. § 240 AO entstehen Säumniszuschläge kraft Gesetzes, sofern die Steuer nicht bis zum Ablauf des Fälligkeitstages entrichtet wird. Säumniszuschläge fallen nach dem Gesetz unabhängig davon an, ob eine Steuer zutreffend festgesetzt wird. Sie bleiben gemäß § 240 Abs. 1 Satz 4 AO von einer Korrektur der Steuerfestsetzung unberührt (BFH-Urteil vom 18. September 2018, XI R 36/16, BStBl II 2019, 87).
24
Da der Schuldner die ausweislich der Forderungsaufstellung entstandenen Steuern nicht zum Fälligkeitszeitpunkt entrichtet hatte, waren die der Berechnung nach nicht streitigen und nach dem Teilerlass verbliebenen Säumniszuschläge zur Tabelle anzumelden bzw. als Insolvenzforderung festzustellen.
25
Ein Verzicht auf die Anmeldung bzw. die Feststellung als Insolvenzforderung lässt sich nicht aus §156 Abs. 2 AO herleiten. Nach dieser Vorschrift kann die Festsetzung einer Steuer u.a. unterbleiben, wenn zu erwarten ist, dass die Erhebung keinen Erfolg haben wird. Abgesehen davon, dass es sich hierbei um eine verwaltungsinterne Einzelfallmaßnahme handelt, die keinen Rechtsanspruch gegen die Finanzbehörde einräumt (vgl. Seer in Tipke/Kruse, AO-FGO, § 156 AO Rz. 22 m.w.N.) betrifft sie die Festsetzung von Steuern. Im Streitfall geht es dagegen um Säumniszuschläge, die kraft Gesetzes entstehen.
26
c) Der Feststellung der Säumniszuschläge stehen auch keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Zweifel an ihrer Höhe entgegen. Das Verfahren ist daher nicht nach § 74 der Finanzgerichtsordnung (FGO) auszusetzen und das Bundesverfassungsgericht gem. Art. 100 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes (GG) i. V. m. § 80 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht anzurufen.
27
aa) Säumniszuschläge betragen für jeden angefangenen Monat der Säumnis 1 % des abgerundeten rückständigen Steuerbetrages. Sie sind nicht mit Verzugszinsen des Bürgerlichen Gesetzbuches gleichzusetzen, sondern ein Druckmittel eigener Art, das den Steuerpflichtigen zur rechtzeitigen Zahlung anhalten soll, sie haben also eine Druckfunktion (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 9. Juli 2003, V R 57/02, BStBl II 2003, 901, und vom 13. Januar 2000, VII R 91/98, BStBl II 2000, 246). Sie dienen nach allgemeiner Ansicht außerdem dem Ausgleich für die unterbliebene oder verspätete Zahlung fälliger Steuern und für Verwaltungsaufwendungen, die bei den verwaltenden Körperschaften dadurch entstehen, dass eine fällige Steuer nicht oder nicht fristgemäß gezahlt wird. Sie haben somit auch eine Ausgleichsfunktion. In dieser zweiten Funktion sollen Säumniszuschläge den Aussetzungs- (§§ 237, 238 AO) oder Stundungszinsen (§ 234 AO) entsprechen, die unabhängig von einem Verschulden des Steuerschuldners anfallen (vgl. BFH-Beschluss vom 2. März 2017, II B 33/16, BStBl II 2017, 646; BFH-Urteile vom 30. März 2006, V R 2/04, BStBl II 2006, 612 und vom 18. April 1996, V R 55/95, BStBl II 1996, 561; a.A. Loose in Tipke/Kruse, AO-FGO, § 240 AO Rz. 4 ff., der annimmt, dass Säumniszuschläge ausschließlich Druckmittel seien).
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bb) Die Erhebung von Säumniszuschlägen wird grundsätzlich als verfassungsgemäß angesehen (BFH-Urteil vom 17. Januar 19[64], I 256/59 U, BStBl III 1964, 371; BVerfG-Beschluss vom 30. Januar 1986, 2 BvR 1336/85, n.v.; BVerwG-Beschluss vom 2. Mai 1995, 8 B 50/95, KKZ 1997, 57; Finanzgericht (FG) Münster, Beschluss vom 29. Mai 2020, 12 V 901/20 AO, EFG 2020, 1053; FG München, Beschluss vom 13. August 2018, 14 V 736/18, EFG 2018, 1608). Allerdings liegt nach überwiegender Auffassung ein Verstoß gegen das Übermaßverbot vor, wenn der Schuldner zahlungsunfähig und überschuldet ist und deshalb die Ausübung von Druck zur Zahlung ihren Sinn verliert (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 30. März 2006, V R 2/04, BStBl II 2006, 612 m.w.N.). Dem wird nach ständiger Rechtsprechung dadurch Rechnung getragen, dass die Hälfte der Säumniszuschläge zu erlassen ist (z.B. BFH-Urteile vom 30. März 2006, V R 2/04, BStBl II 2006, 612, vom 21. April 1999, VII B 347/98, BFH/NV 1999, 1440), während der verbleibende Teil als Gegenleistung für das Hinausschieben der Zahlung fälliger Steuerschulden und der Abgeltung von Verwaltungsaufwand dienen soll (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Urteil vom 16. November 2004, VII R 8/04, BFH/NV 2005, 495 m.w.N.).
29
Auch im Übrigen werden verfassungsrechtliche Zweifel von der Rechtsprechung nur im Zusammenhang mit dem Erlass von Säumniszuschlägen geäußert. Das FG München (Beschluss vom 13. August 2018, 14 V 736/18, EFG 2018, 1608, gegenstandslos gem. BFH-Beschluss vom 2. Mai 2019, VII B 155/18, n.v.) geht - jedenfalls im summarischen Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes - unter Berufung auf Heuermann (in H/H/Sp, AO-FGO, § 240 AO Rz.19) davon aus, dass bei Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung der nach einem hälftigen Erlass verbleibende Teil Zinscharakter erlange und dann den selben verfassungsrechtlichen Zweifeln unterliege, die gegen die Zinsen nach § 238 AO geltend gemacht würden. Deshalb seien die Säumniszuschläge in diesen Fällen in voller Höhe zu erlassen. Dieser "Zweckabstufung", in Normalzeiten "Druckmittelfunktion" und in Zeiten der Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit auch "Zinsfunktion", wird zu Recht widersprochen (vgl. Steck, DStZ 2019, 143, 150). Denn Säumniszuschläge können nicht abhängig von der wirtschaftlichen Lage des Steuerpflichtigen der Höhe nach verfassungswidrig sein oder eben nicht. Insoweit hält Heuermann (a.a.O.) einen Erlass auch vorwiegend nur in den Fällen für geboten, in denen Säumniszuschläge (ausnahmsweise) mit Nachzahlungs- oder Stundungszinsen zusammentreffen.
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cc) Im Streitfall steht aber nicht eine Billigkeitsmaßnahme in Rede, sondern allein die Frage, ob die kraft Gesetzes verwirkten Säumniszuschläge hinsichtlich eines möglichen Zinsanteils ganz oder zum Teil gegen Verfassungsrecht verstoßen und deshalb nicht zur Tabelle angemeldet werden dürfen. Ob und in welcher Höhe Säumniszuschläge einen Zinsanteil enthalten, ist aber umstritten.
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Die Gesetzesmaterialien lassen insoweit keinen verlässlichen Schluss auf ihren rechtlichen Charakter zu. Ausweislich des Gesetzesentwurfs zur AO 1977 (BT-Drs. 7/79, § 2 Abs. 4 des Entwurfs, S.17) sollten die Säumniszuschläge ebenso wie die Steuern selbst den steuerberechtigten Körperschaften zufließen; der Finanzausschuss unterstützte dies mit dem Argument, die Säumniszuschläge seien in erster Linie "Zinsersatz" (BT-Drs. 7/4292 zu § 3, S. 15). Demgegenüber forderte der Bundesrat, die Säumniszuschläge - wie schon nach der bisherigen Rechtslage - den verwaltenden Körperschaften zufließen zu lassen, weil mit ihnen zu einem erheblichen Teil Verwaltungsaufwendungen abgegolten würden. Die Säumniszuschläge hätten auch künftig keinen zinsähnlichen Charakter, wie sich insbesondere aus dem relativ hohen Prozentsatz (im Vergleich zu § 238 AO) und den Einzelheiten der Berechnungsweise (Behandlung angefangener Monate sowie späterer Solländerungen) ergebe (BT-Drs. 7/4495). Diese Forderung des Bundesrates wurde Gesetz. Die unterschiedlichen Auffassungen dürften ihre Ursache aber vornehmlich in kontroversen taktischen und fiskalischen Erwägungen von Bundestag und Bundesrat haben (ebenso Steck, DStZ 2019, 143, 149).
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dd) Aber selbst wenn mit der überwiegenden Auffassung angenommen wird, dass die Säumniszuschläge nicht in toto Druckmittel sind, sondern ihnen auch ein "Zinsersatz" innewohnt oder sie auch eine "Zinsfunktion" haben, ist der erkennende Senat nicht davon überzeugt, dass die Höhe der Säumniszuschläge verfassungswidrig ist mit Blick auf die gegen die Zinshöhe in § 238 AO erhobenen verfassungsrechtlichen Zweifel.
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Seit geraumer Zeit mehren sich verfassungsrechtliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des typisierenden Zinssatzes (z.B. Ortheil, BB 2012, 1513; Hey, FR 2016, 485; Seer, DB 2014, 1945; Seer/Klemke, ifst 490 (2013), 38 ff., Jonas, DB 2016, 3000). Die bisherige Rechtsprechung ist kontrovers. Der BFH hatte 2011 für Verzinsungszeiträume 1998 bis 2005 eine Verpflichtung des Gesetzgebers zur Anpassung des AO-Zinssatzes an die Zinsentwicklung am Kapitalmarkt verneint (Urteil vom 20. April 2011, I R 80/10, BFH/NV 2011, 1654 unter Bezugnahme auf einen Nichtannahmebeschluss des BVerfG vom 3. September 2009, 1 BvR 25/07, BFH/NV 2009, 2115, betreffend 2001 bis 2006). Für die Folgejahre fehlt es bislang an einer höchstgerichtlichen Klärung. Zwei Verfassungsbeschwerden (1 BvR 2237/14 und 1 BvR 2422/17) betreffen die Frage, ob der Zinssatz gem. § 238 Abs. 1 AO für Verzinsungsräume ab 2009 bzw. ab 2012 gleichheitswidrig ist. Für Verzinsungszeiträume bis 2011 hatte der BFH ebenfalls die Verfassungswidrigkeit verneint (BFH-Urteile vom 1. Juli 2014, IX R 31/13, BStBl II 2014, 925; vom 14. April 2015, IX R 5/14, BStBl II 2015, 986), in einer weiteren Entscheidung des III. Senats auch für das Jahr 2013 (BFH-Urteil vom 9. November 2017, III R 10/16, BStBl II 2018, 255). Kurz darauf haben der IX. Senat und ihm folgend der VIII. Senat Aussetzung der Vollziehung gewährt wegen "schwerwiegender verfassungsrechtlicher Zweifel", ob die Zinshöhe von 6 % ab dem Veranlagungszeitraum 2015 bzw. 2012 mit dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz vereinbar sei (BFH-Beschlüsse vom 25. April 2018, IX B 21/18, BStBl II 2018, 415 und vom 3. September 2018, VIII B 15/18, BFH/NV 2018, 1279 zu Nachzahlungszinsen). Der gesetzlich festgelegte Zinssatz gem. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO überschreite für den Zeitraum ab 2015 (bzw. 2012) angesichts der zu dieser Zeit bereits eingetretenen strukturellen und nachhaltigen Verfestigung des niedrigen Marktzinsniveaus den angemessenen Rahmen der wirtschaftlichen Realität in erheblichem Maße. Das Niedrigzinsniveau stelle sich jedenfalls für den Streitzeitraum nicht mehr als vorübergehende, volkswirtschaftstypische Erscheinung verbunden mit den typischen zyklischen Zinsschwankungen dar, sondern sei struktureller und nachhaltiger Natur. Für die Höhe des Zinssatzes in § 238 Abs. 1 Satz 1 AO fehle es überhaupt an einer nachvollziehbaren Begründung (ebenso Seer/Klemke, ifst 490 (2013), 43, 45).
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Diese Überlegungen lassen sich jedoch nicht ohne weiteres auf Säumniszuschläge übertragen. Anders als der typisierte Zinssatz von 6% p.a. (§ 238 AO) betragen die Säumniszuschläge gem. § 240 AO 12% p.a. Dieser Prozentsatz bezieht sich - jedenfalls nach herrschender Meinung - auf eine Mischung aus Druckmittel, Abgeltung von Verwaltungsaufwand und auch auf einen "Zinsanteil". Für die Annahme eines verfassungswidrigen überhöhten und nicht mehr realitätsgerecht typisierenden Zinsanteils bedürfte es der Festlegung auf einen bestimmten prozentualen "Zinsanteil" als Maßstab.
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Die Rechtsprechung weist dem Druckmittelcharakter der Säumniszuschläge einen Anteil von 50% zu, dies allerdings - wie vorstehend dargestellt - im Rahmen der Ermessensentscheidung über einen Billigkeitserlass von Säumniszuschlägen bei Zahlungsunfähigkeit; der verbleibende Teil soll ohne nähere Differenzierung auf die Gegenleistung für das Hinausschieben der Zahlung fälliger Steuerschulden und die Abgeltung von Verwaltungsaufwand entfallen (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Urteil vom 16. November 2004, VII R 8/04, BFH/NV 2005, 495 m.w.N.). Folgt man dieser Aufteilung, bleibt zum einen ungewiss, ob und wie eine weitere Aufteilung hinsichtlich der "restlichen" 50%, die nicht Druckmittel sein sollen, auf Verwaltungsaufwand und auf Zinsersatz erfolgen könnte. Auch wenn die Finanzverwaltung den Verwaltungsaufwand bei der Verwirkung von Säumniszuschlägen ersichtlich nicht statistisch erfasst und sich dieser auch seit Inkrafttreten der Regelung durch eine zunehmende elektronische Datenerfassung minimiert haben dürfte, ist nicht ausgeschlossen, dass rechnerisch erfassbar Verwaltungsaufwand entsteht und damit Einfluss auf die Höhe des Zinsanteils nehmen könnte. Zum anderen kann aus der Aufteilung der Säumniszuschläge im Rahmen der eigenen rechtlichen Grundsätzen folgenden Gewährung einer Billigkeitsmaßnahme nicht generell ein fester - typisierter - Zinsanteil von 6% hergeleitet werden.
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Auch im Schrifttum wird angenommen, die Hälfte der Säumniszuschläge entfalle auf den Zinsanteil und würde damit dem Zinssatz von 6 % gem. § 238 AO entsprechen (so Steck, DStZ 2019, 143). Steck beruft sich auf eine systematische Auslegung der gesetzlichen Höhe der Säumniszuschläge von 1 % je Monat: weil die Höhe der nach der AO geforderten Zinsen, also auch der Zinsanteil in den Säumniszuschlägen nach § 238 Abs. 1 Satz 1 AO 0,5 % für jeden Monat betrage, müsse der überschießende Betrag in den Säumniszuschlägen eine andere Funktion, nämlich die des Druckmittels haben. Dies erscheint jedoch beliebig. Es ist gerade ungeklärt, inwieweit ein Zinsersatz in den Säumniszuschlägen enthalten ist; deswegen kann nicht ohne weiteres der Zinssatz in § 238 Abs. 1 Satz 1 AO zugrunde gelegt werden. Es handelt sich vielmehr - wie vorstehend dargestellt - um unterschiedliche Regelungen. Wenn tatsächlich der gesetzliche AO-Zinssatz im Falle der Säumnis hätte anfallen sollen, hätte es eher nahegelegen, im Rahmen der Einführung der Vollverzinsung auch einen "Verzugszins" in Höhe von 6 % zu regeln und die Säumniszuschläge als pures Druckmittel in der Höhe zu reduzieren.
37
Ein "Zinsanteil" von exakt 6% kann auch nicht daraus hergeleitet werden, dass im Falle der Hinterziehung von Steuern Hinterziehungszinsen nach § 235 Abs. 3 Satz 2 AO nicht für Zeiträume festgesetzt werden, für die ein Säumniszuschlag verwirkt wurde. Denn dies besagt nur, dass keine doppelte Belastung einerseits mit (Hinterziehungs-)Zinsen und andererseits mit Säumniszuschlägen erfolgen soll (Belastungskumulation) und setzt nicht voraus, dass sich ein Anteil an den Säumniszuschlägen der Höhe nach exakt mit den Hinterziehungszinsen deckt. Gleiches gilt für die Gesetzesanordnung, dass festgesetzte Steuern bei Fälligkeit zu zahlen sind und bei nicht rechtzeitiger Zahlung entweder Stundungszinsen (§ 234 Abs. 1 AO), Aussetzungszinsen (§ 237 AO) oder Säumniszuschläge anfallen (vgl. dazu Heuermann in H/H/Sp, AO-FGO, § 240 AO Rz. 13). Denn insoweit können Säumniszuschläge, die gewissermaßen durch "eigenmächtiges" Verhalten ausgelöst werden, anderen Regel folgen. Dass sie auch im Übrigen anderen Regeln folgen, zeigt sich daran, dass es an der Akzessorietät zur Hauptschuld fehlt (§ 240 Abs. 1 Satz 4 AO) und Säumniszuschläge bereits für jeden angefangenen Monat berechnet werden, während Zinsen nur für volle Monate anfallen (§ 238 Abs. 1 Satz 2 AO). Darüber hinaus sind die Säumniszuschläge als eigenständiger Tatbestand und Abschnitt und gerade nicht als Zinstatbestand im Abschnitt Zinsen geregelt. Lässt sich danach ein "fester" und damit typisierter Zinssatz der Regelung in § 240 AO nicht verlässlich entnehmen, sondern deckt die Vorschrift nur neben ihren weiteren Zwecken "Druckmittel" und Abgeltung von Verwaltungsaufwand auch ein Entgelt als Gegenleistung für die Kapitalüberlassung ab, ist dieser Anteil eher diffus im Rahmen der Gesamtkonzeption der Säumniszuschläge. Damit fehlt es aber an einer festen Größe des "Zinssatzes", die am Maßstab des - in seinen Einzelheiten höchst umstrittenen - Marktzinses auf ihre Angemessenheit hin überprüft werden könnte.
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ee) Vor diesem Hintergrund stellt sich die Verfassungsfrage erst dann, wenn die Säumniszuschläge insgesamt gegen das Übermaßverbot verstoßen würden. Angesichts der Höhe sonstiger Druckmittel in der AO, wie beispielsweise dem Steuerzuschlag gem. § 162 Abs. 4 AO, bestehen derzeit aber keine durchgreifenden Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Höhe der Säumniszuschläge von 12 % p.a. (ebenso FG Münster Beschluss vom 29. Mai 2020, 12 V 901/20 AO, EFG 2020, 1053; Heuermann in H/H/Sp, AO-FGO, § 240 AO Rz.19 m.w.N.; Loose in Tipke/Kruse, AO-FGO, § 240 AO Rz. 4).
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II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Die Revision wird gem. § 115 Abs. 2 FGO wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen.
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Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 7. November 2018 - 4 K 2173/18 - geändert. Die Klage wird abgewiesen.Die Klägerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens beider Rechtszüge.Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1 Die Beteiligten streiten um die Verpflichtung des Beklagten, die Kosten für einen Gebärdensprachkurs als Maßnahme der Hilfe zur Erziehung zu tragen.2 Die Klägerin ist Mutter des am ....2015 geborenen ... (nachfolgend: K.). Bei diesem wurden eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit beidseits, ein Zustand nach Adenotomie und Paukendrainage beidseits (HNO-ärztlicher Bericht des Facharztes für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde Dr. R. vom 07.08.2017) bzw. Schwerhörigkeit (H91.9), eine gesicherte Sprachbildungsstörung (F80.9) sowie eine Anpassungsstörung mit emotionaler Symptomatik (ärztliche Stellungnahme des Facharztes für Kinder- und Jugendmedizin und für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie Dr. v. M. vom 23.10.2017) diagnostiziert.3 Unter dem 21.04.2017 wandten sich die Klägerin und der Kindsvater an die Beklagte und beantragten unter Verweis auf § 27 SGB VIII, ihnen einen Hausgebärdensprachkurs für zwei bis vier Stunden in der Woche zu gewähren. Ohne adäquate Sprache könnten sie mit K. nicht kommunizieren, ihre erzieherischen Pflichten ihm gegenüber nicht zufriedenstellend erfüllen, ihn nicht fördern und nicht zu selbständigem verantwortungsbewusstem Handeln erziehen. In der Folge legten sie u.a. eine ablehnende Entscheidung der Krankenkasse vom 30.05.2017 bezüglich der Gewährung eines Hausgebärdensprachkurses sowie einen Kostenvoranschlag der G. M. über einen Hausgebärdensprachkurs (50,00 EUR je Unterrichtsstunde mit 45 Minuten zzgl. 16,80 EUR Kilometerpauschale für Hin- und Rückfahrt, Gesamtsumme 66,80 EUR; ein typischer Kurs umfasse 50 Unterrichtsstunden) vor.4 Mit Bescheid vom 11.08.2017 lehnte die Beklagte den Antrag ab mit der Begründung, die beantragte Leistung sei keine originäre Maßnahme der Hilfe zur Erziehung.5 Den dagegen am 07.09.2017 eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 16.02.2018 zurück. Grundsätzlich könne eine Maßnahme zur Erlernung der Gebärdensprache für die erziehungsberechtigten Eltern von den Maßnahmen zur Erziehung umfasst sein, es müssten aber auch die weiteren Voraussetzungen des § 27 Abs. 1 SGB VIII erfüllt sein. Dabei könne die Frage nach einer Beeinträchtigung der Grundbedürfnisse dahinstehen, da hier die Möglichkeit bestehe, sich auch ohne die Inanspruchnahme öffentlicher Hilfen umfassend über die Gebärdensprache zu informieren und diese zu erlernen. Es werde dabei nach Auffassung der Beklagten insbesondere nicht für nötig empfunden, einen höheren Wissensstand, sprich ein Kommunikationslevel zu erreichen, den das junge Kind selbst noch nicht habe. Insoweit sei es der Klägerin, insbesondere im Hinblick auf die Entscheidung des Landessozialgerichts Baden-Württemberg, Urteil vom 18.07.2013 - L 7 SO 4642/12 -, auch zuzumuten, sich die erforderlichen Kompetenzen durch Eigeninitiative anzueignen. Gegebenenfalls könne durch die Kompetenzen des Kindes, welches selbst die Gebärdensprache gelehrt bekomme, ein gegenseitiger Austausch stattfinden, der die Bindung untereinander sogar noch verstärke. Auf die Selbsthilfe innerhalb der Familie sei im Ergebnis ungeachtet der wohl fehlenden Nichtgewährleistung einer entsprechenden Erziehung vorrangig zu den Leistungen der Jugendhilfe zu verweisen.6 Am 14.03.2018 hat die Klägerin Klage zum Verwaltungsgericht Freiburg erhoben. In der mündlichen Verhandlung hat sie „zunächst“ beantragt, den Bescheid der Beklagten vom 11.08.2017 und deren Widerspruchsbescheid vom 16.02.2018 aufzuheben und festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet war, die Kosten für einen Hausgebärdensprachkurs für die Klägerin im Umfang von 50 Unterrichtsstunden à 45 Minuten zu bewilligen. Der Prozessbevollmächtigte „stellte klar, dass es um einen Gebärdensprachkurs für Eltern an sich gehe, die Frage, ob auch ein Hausgebärdensprachkurs erstattet wird, solle ausgeklammert bleiben.“7 Mit Urteil vom 07.11.2018, zugestellt am 29.11.2018, hat das Verwaltungsgericht Freiburg den Bescheid der Beklagten vom 11.08.2017 und deren Widerspruchsbescheid vom 16.02.2018 aufgehoben und festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet war, die Kosten für einen Gebärdensprachkurs für die Klägerin im Umfang von 50 Unterrichtsstunden zu je 45 Minuten zu bewilligen. Zur Begründung hat das Verwaltungsgericht ausgeführt, die Klage sei als Fortsetzungsfeststellungsklage (§ 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO) statthaft und auch sonst zulässig. Die Klägerin habe ein berechtigtes Fortsetzungsfeststellungsinteresse, denn sie wolle weiterhin einen Gebärdensprachkurs beginnen und die Beklagte sei weiterhin nicht bereit, diesen zu bewilligen (Wiederholungsgefahr). Die Klage sei auch begründet. Die Bescheide der Beklagten seien, soweit sie die Bewilligung eines Eltern-Gebärdensprachkurses überhaupt ablehnten, rechtswidrig und verletzten die Klägerin in ihren Rechten; denn sie habe im maßgeblichen Zeitraum zwischen Antragstellung (April 2017) bis zum Erlass des Widerspruchsbescheids (Februar 2018) einen entsprechenden Anspruch gehabt.8 Am 19.12.2018 hat die Beklagte die vom Verwaltungsgericht im Urteil zugelassene Berufung eingelegt. Dem am 24.01.2019 eingegangenen Antrag der Beklagten auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 15.03.2019 hat der Senatsvorsitzende antragsgemäß stattgegeben. Mit ihrer am 13.03.2019 eingegangenen Berufungsbegründung macht die Beklagte im Wesentlichen geltend, das Urteil des Verwaltungsgerichts sei aufzuheben und die Klage abzuweisen. Ob die Auffassung des Verwaltungsgerichts, es handele sich um eine Fortsetzungsfeststellungsklage nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO, trage, sei mindestens zweifelhaft. Das Verwaltungsgericht erläutere insoweit seine Auffassung nicht näher. Tatsächlich habe es hinsichtlich des beantragten Hausgebärdensprachkurses keinerlei zeitliche Eingrenzung gegeben, wann dieser hätte erfolgen sollen; nach wie vor begehre die Klägerin die Finanzierung eines Gebärdensprachkurses, was das Verwaltungsgericht selbst ausführe und damit das Fortsetzungsfeststellungsinteresse begründe. Nach Auffassung der Beklagten sei keine Erledigung des primären Rechtsschutzinteresses eingetreten, so dass nach wie vor die Situation einer - vorrangig zu verfolgenden - Verpflichtungsklage im Raum stehe. Allerdings stelle das Verwaltungsgericht in der Entscheidung mehrfach auf einen „maßgeblichen Zeitraum“ ab. Damit könnte davon ausgegangen werden, dass das Verwaltungsgericht aufgrund der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, Urteil vom 08.06.1995 - 5 C 30.93 -, wonach bei Sachverhalten der Jugendhilfe eine gerichtliche Überprüfung nur bis zum Erlass des Widerspruchsbescheids möglich sei, weil sie einer steten Änderung unterlägen und der stetigen Prüfung bedürften, hinsichtlich des primären Rechtsschutzziels von einer Erledigungssituation durch Zeitablauf ausgegangen sei. Letztlich könne dies dahingestellt bleiben, denn die Klage sei jedenfalls unbegründet. Der Klägerin stehe kein Anspruch auf einen Gebärdensprachkurs als Leistung der Jugendhilfe nach § 27 SGB VIII zu.9 Die Beklagte beantragt,10 das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 07.11.2018 - 4 K 2173/18 - zu ändern und die Klage abzuweisen.11 Die Klägerin beantragt,12 die Berufung zurückzuweisen.13 Sie trägt vor, sie habe, da das Verwaltungsgericht die Klage als eine Fortsetzungsfeststellungsklage behandelt habe, mit Telefax vom 13.11.2018 einen weiteren Antrag auf Gewährung von Leistungen zur Erziehung gegenüber der Beklagten gestellt. Über diesen Antrag sei bislang nicht entschieden worden, da nach Auffassung der Beklagten dieser Antrag Gegenstand des hiesigen Berufungsverfahrens geworden sei. Das Verwaltungsgericht habe auch zu Recht die Fortsetzungsfeststellungsklage als zulässige Klageart angesehen. Zu ihrem Antrag mit Schreiben vom 21.04.2017 sei ein Kostenvoranschlag der Dozentin M. über 50 Unterrichtsstunden à 66,80 EUR vorgelegt worden. Diesbezüglich sei also der Antrag gestellt worden. Zum Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts am 07.11.2018 seien die beantragten Einheiten für den Gebärdensprachkurs und der diesbezügliche Kostenvoranschlag bereits nicht mehr aktuell gewesen. Aufgrund dessen habe sich dieser Kostenvoranschlag zu diesem Zeitpunkt erledigt. Entgegen den Ausführungen der Beklagten habe es bezüglich des beantragten Gebärdensprachkurses eine zeitliche Begrenzung durch Angabe der Einheiten gegeben. Unabhängig hiervon liege nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts der maßgebliche streitbefangene Zeitraum zwischen Antragstellung und Widerspruchsbescheid. Der Widerspruchsbescheid bilde für die gerichtliche Überprüfung in Angelegenheiten des Sozialhilferechts grundsätzlich eine Zäsur, was darauf beruhe, dass es sich bei der Bewilligung von Sozialhilfe um zeitabschnittsweise Hilfegewährung handele, deren Voraussetzungen vom Träger stets neu zu prüfen seien. Ein Hilfeanspruch solle hiernach also nur in dem zeitlichen Umfang in zulässiger Weise zum Gegenstand der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle gemacht werden können, in dem der Träger der Sozialhilfe die Hilfe geregelt habe (BVerwG, Urteil vom 30.04.1992 - 5 C 1.88 -). Zudem sei die Klage auch begründet gewesen, da ein Anspruch auf einen Gebärdensprachkurs nach § 27 SGB VIII gegeben sei.14 Auf Nachfrage des Senats hat die Klägerin mitgeteilt, dass sie einen Gebärdensprachkurs bislang noch nicht durchgeführt hat und auch noch keine Kosten angefallen sind.15 Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen. Diese haben vorgelegen und waren Gegenstand der Entscheidung.
Entscheidungsgründe
16 Der Senat entscheidet über die Berufung nach § 130a Satz 1 VwGO durch Beschluss, weil er die Berufung einstimmig für begründet und eine erneute mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind hierzu gehört worden (§ 130a Satz 2 i.V.m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO).17 Die zulässige Berufung ist begründet. Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist zu ändern und die Klage abzuweisen, da sie unzulässig ist. Entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts ist die Klage nicht als Fortsetzungsfeststellungsklage zulässig. Statthafte Klageart ist vielmehr die Verpflichtungsklage.18 Die Klage ist nicht - wie von der Klägerin beantragt und vom Verwaltungsgericht angenommen - als Fortsetzungsfeststellungsklage gemäß § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO zulässig. Vielmehr ist eine Verpflichtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO statthaft. Maßgeblich für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist damit der Zeitpunkt der Entscheidung des Senats.19 Bei einem Rechtsstreit um die Gewährung von Jugendhilfe ebenso wie im Bereich der Sozialhilfe kann ein Hilfeanspruch grundsätzlich nur in dem zeitlichen Umfang in zulässiger Weise zum Gegenstand der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle gemacht werden, in dem der Träger der Jugendhilfe den Hilfefall geregelt hat. Das ist regelmäßig der Zeitraum bis zur letzten Verwaltungsentscheidung, also bis zum Erlass des Widerspruchsbescheides. Eine Ausnahme von der Regel, dass Gegenstand der gerichtlichen Nachprüfung nur die Zeit bis zum Erlass des letzten Behördenbescheides ist, gilt aber dann, wenn die Behörde den Hilfefall statt für den dem Bescheid nächstliegenden Zahlungszeitraum für einen längeren Zeitraum geregelt hat. Während eine Dauerbewilligung nicht in Betracht kommt und demgemäß auch Leistungen der Jugendhilfe nicht für alle Zukunft zugesprochen werden können, ist eine Bewilligung für längere Zeitabschnitte nicht ausgeschlossen, sondern im Interesse der Effektivität der Hilfegewährung in besonders gelagerten Fällen unter Umständen sogar angezeigt. Ein solcher weiterreichender Bewilligungszeitraum braucht nicht ausdrücklich benannt zu sein, sondern kann sich aus dem maßgeblichen Bescheid auch durch Auslegung ergeben. Ebenso wie sich eine Bewilligung von Leistungen über einen längeren Zeitraum (über den Erlass des Widerspruchsbescheides hinaus) erstrecken kann, kann auch die Ablehnung einer solchen Bewilligung einen längeren Zeitabschnitt erfassen. Auch der die Ablehnung betreffende Regelungszeitraum braucht nicht ausdrücklich benannt zu sein, sondern kann sich aus dem maßgeblichen Bescheid durch Auslegung ergeben (vgl. zu alledem BVerwG, Beschluss vom 17.06.1996 - 5 B 222.95 -, juris Rn. 5, und Urteile vom 31.08.1995 - 5 C 9.94 -, juris Rn. 13 ff., sowie vom 30.04.1992 - 5 C 1.88 -, juris Rn. 13).20 Ausgehend von diesem Maßstab ist der Gegenstand der gerichtlichen Nachprüfung vorliegend nicht auf die Zeit bis zum Erlass der letzten Behördenentscheidung - hier des Widerspruchsbescheids vom 16.02.2018 - beschränkt. Denn die Beklagte hat den Hilfefall in Bezug auf die Gewährung des beantragten Gebärdensprachkurses nicht begrenzt auf den Zeitpunkt der Behördenentscheidung abgelehnt, sondern vielmehr auf Dauer. Weder dem Ausgangsbescheid der Beklagten vom 11.08.2017 noch dem Widerspruchsbescheid vom 16.02.2018 lässt sich eine Begrenzung der Dauer der Leistungsablehnung entnehmen. Vielmehr ergibt sich aus dem im Widerspruchsbescheid erfolgten Verweis auf das Vorliegen einer - letztlich dauerhaften - eigenen ausreichenden Leistungsfähigkeit der Klägerin, dass die Beklagte den geltend gemachten Anspruch auf Dauer abgelehnt hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 31.08.1995 - 5 C 9.94 -, juris Rn. 14). Hierfür spricht auch, dass sich das Begehren der Klägerin auf einen konkreten Kurs von 50 Stunden bezieht, dem ein Bezug zu einem bestimmten Leistungszeitraum, innerhalb dessen der Kurs hätte durchgeführt werden sollen, fehlt.21 Die Klägerin kann auch nicht mit ihrem Vortrag gehört werden, eine Erledigung ergebe sich daraus, dass die beantragten Einheiten bzw. der zum Antrag vorgelegte Kostenvoranschlag im Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts am 07.11.2018 nicht mehr aktuell gewesen sei. Dieser Einwand verfängt nicht, weil sich eine Fixierung des Zeitraums, innerhalb dessen der Kurs jedenfalls hätte stattfinden sollen bzw. müssen, aus dem Kostenvoranschlag nicht entnehmen lässt. Insbesondere wurde darin weder ein Anfangs- noch ein Enddatum angegeben. Dass „ein typischer Kurs“ „50 Unterrichtsstunden zu Einheiten je einer Stunde mit dem obengenannten Unterrichtsziel“ umfasst und jede Unterrichtsstunde insgesamt 66,80 EUR betragen sollte, lässt ebenfalls keinen Rückschluss auf einen Fixtermin zu.22 Dadurch, dass die Klägerin nach der mündlichen Verhandlung beim Verwaltungsgericht anscheinend erneut einen Antrag auf Kostenübernahme für einen Gebärdensprachkurs gestellt hat, ist eine Erledigung gleichfalls nicht eingetreten, zumal über den Antrag offenbar noch nicht entschieden wurde.23 Da die Klägerin den Gebärdensprachkurs nach wie vor nicht wahrgenommen hat, an dem Begehren einer Kostenübernahme durch die Beklagte jedoch weiterhin festhält, ist allein die - gegenüber einer Fortsetzungsfeststellungsklage rechtschutzintensivere - Verpflichtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO statthaft. Einen solchen Antrag hat die Klägerin nicht gestellt. Bei dem Wechsel vom Fortsetzungsfeststellungs- in ein Verpflichtungsbegehren läge eine Klageänderung im Sinne des § 91 i.V.m. § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO vor, da sich der zeitliche Prüfungsrahmen verschieben würde (s.o.; vgl. Wilfried in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 91 Rn. 33). Eine entsprechende Änderung des Klageantrags kann die Klägerin nicht mehr vornehmen. Eine Klageänderung eines erstinstanzlich erfolgreichen Klägers in der Berufungsinstanz ist grundsätzlich nur im Wege einer Anschlussberufung möglich (vgl. Rennert in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 91 Rn. 33 m.w.N.). Eine solche hat die Klägerin nicht eingelegt. Dies ist ihr auch nicht mehr möglich, da die Einlegungsfrist von einem Monat nach der am 28.06.2018 erfolgten Zustellung der Berufungsbegründungschrift der Beklagten (vgl. § 127 Abs. 2 Satz 2 VwGO) bereits abgelaufen ist.24 Die Klage ist mithin unzulässig und abzuweisen, ohne dass es auf die Frage, ob der Klägerin der geltend gemachte Anspruch tatsächlich zusteht, noch entscheidungserheblich ankommt.25 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1, § 188 Satz 2 Halbs. 1 VwGO.26 Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keiner der in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Gründe vorliegt.
Gründe
16 Der Senat entscheidet über die Berufung nach § 130a Satz 1 VwGO durch Beschluss, weil er die Berufung einstimmig für begründet und eine erneute mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind hierzu gehört worden (§ 130a Satz 2 i.V.m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO).17 Die zulässige Berufung ist begründet. Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist zu ändern und die Klage abzuweisen, da sie unzulässig ist. Entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts ist die Klage nicht als Fortsetzungsfeststellungsklage zulässig. Statthafte Klageart ist vielmehr die Verpflichtungsklage.18 Die Klage ist nicht - wie von der Klägerin beantragt und vom Verwaltungsgericht angenommen - als Fortsetzungsfeststellungsklage gemäß § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO zulässig. Vielmehr ist eine Verpflichtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO statthaft. Maßgeblich für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist damit der Zeitpunkt der Entscheidung des Senats.19 Bei einem Rechtsstreit um die Gewährung von Jugendhilfe ebenso wie im Bereich der Sozialhilfe kann ein Hilfeanspruch grundsätzlich nur in dem zeitlichen Umfang in zulässiger Weise zum Gegenstand der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle gemacht werden, in dem der Träger der Jugendhilfe den Hilfefall geregelt hat. Das ist regelmäßig der Zeitraum bis zur letzten Verwaltungsentscheidung, also bis zum Erlass des Widerspruchsbescheides. Eine Ausnahme von der Regel, dass Gegenstand der gerichtlichen Nachprüfung nur die Zeit bis zum Erlass des letzten Behördenbescheides ist, gilt aber dann, wenn die Behörde den Hilfefall statt für den dem Bescheid nächstliegenden Zahlungszeitraum für einen längeren Zeitraum geregelt hat. Während eine Dauerbewilligung nicht in Betracht kommt und demgemäß auch Leistungen der Jugendhilfe nicht für alle Zukunft zugesprochen werden können, ist eine Bewilligung für längere Zeitabschnitte nicht ausgeschlossen, sondern im Interesse der Effektivität der Hilfegewährung in besonders gelagerten Fällen unter Umständen sogar angezeigt. Ein solcher weiterreichender Bewilligungszeitraum braucht nicht ausdrücklich benannt zu sein, sondern kann sich aus dem maßgeblichen Bescheid auch durch Auslegung ergeben. Ebenso wie sich eine Bewilligung von Leistungen über einen längeren Zeitraum (über den Erlass des Widerspruchsbescheides hinaus) erstrecken kann, kann auch die Ablehnung einer solchen Bewilligung einen längeren Zeitabschnitt erfassen. Auch der die Ablehnung betreffende Regelungszeitraum braucht nicht ausdrücklich benannt zu sein, sondern kann sich aus dem maßgeblichen Bescheid durch Auslegung ergeben (vgl. zu alledem BVerwG, Beschluss vom 17.06.1996 - 5 B 222.95 -, juris Rn. 5, und Urteile vom 31.08.1995 - 5 C 9.94 -, juris Rn. 13 ff., sowie vom 30.04.1992 - 5 C 1.88 -, juris Rn. 13).20 Ausgehend von diesem Maßstab ist der Gegenstand der gerichtlichen Nachprüfung vorliegend nicht auf die Zeit bis zum Erlass der letzten Behördenentscheidung - hier des Widerspruchsbescheids vom 16.02.2018 - beschränkt. Denn die Beklagte hat den Hilfefall in Bezug auf die Gewährung des beantragten Gebärdensprachkurses nicht begrenzt auf den Zeitpunkt der Behördenentscheidung abgelehnt, sondern vielmehr auf Dauer. Weder dem Ausgangsbescheid der Beklagten vom 11.08.2017 noch dem Widerspruchsbescheid vom 16.02.2018 lässt sich eine Begrenzung der Dauer der Leistungsablehnung entnehmen. Vielmehr ergibt sich aus dem im Widerspruchsbescheid erfolgten Verweis auf das Vorliegen einer - letztlich dauerhaften - eigenen ausreichenden Leistungsfähigkeit der Klägerin, dass die Beklagte den geltend gemachten Anspruch auf Dauer abgelehnt hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 31.08.1995 - 5 C 9.94 -, juris Rn. 14). Hierfür spricht auch, dass sich das Begehren der Klägerin auf einen konkreten Kurs von 50 Stunden bezieht, dem ein Bezug zu einem bestimmten Leistungszeitraum, innerhalb dessen der Kurs hätte durchgeführt werden sollen, fehlt.21 Die Klägerin kann auch nicht mit ihrem Vortrag gehört werden, eine Erledigung ergebe sich daraus, dass die beantragten Einheiten bzw. der zum Antrag vorgelegte Kostenvoranschlag im Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts am 07.11.2018 nicht mehr aktuell gewesen sei. Dieser Einwand verfängt nicht, weil sich eine Fixierung des Zeitraums, innerhalb dessen der Kurs jedenfalls hätte stattfinden sollen bzw. müssen, aus dem Kostenvoranschlag nicht entnehmen lässt. Insbesondere wurde darin weder ein Anfangs- noch ein Enddatum angegeben. Dass „ein typischer Kurs“ „50 Unterrichtsstunden zu Einheiten je einer Stunde mit dem obengenannten Unterrichtsziel“ umfasst und jede Unterrichtsstunde insgesamt 66,80 EUR betragen sollte, lässt ebenfalls keinen Rückschluss auf einen Fixtermin zu.22 Dadurch, dass die Klägerin nach der mündlichen Verhandlung beim Verwaltungsgericht anscheinend erneut einen Antrag auf Kostenübernahme für einen Gebärdensprachkurs gestellt hat, ist eine Erledigung gleichfalls nicht eingetreten, zumal über den Antrag offenbar noch nicht entschieden wurde.23 Da die Klägerin den Gebärdensprachkurs nach wie vor nicht wahrgenommen hat, an dem Begehren einer Kostenübernahme durch die Beklagte jedoch weiterhin festhält, ist allein die - gegenüber einer Fortsetzungsfeststellungsklage rechtschutzintensivere - Verpflichtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO statthaft. Einen solchen Antrag hat die Klägerin nicht gestellt. Bei dem Wechsel vom Fortsetzungsfeststellungs- in ein Verpflichtungsbegehren läge eine Klageänderung im Sinne des § 91 i.V.m. § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO vor, da sich der zeitliche Prüfungsrahmen verschieben würde (s.o.; vgl. Wilfried in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 91 Rn. 33). Eine entsprechende Änderung des Klageantrags kann die Klägerin nicht mehr vornehmen. Eine Klageänderung eines erstinstanzlich erfolgreichen Klägers in der Berufungsinstanz ist grundsätzlich nur im Wege einer Anschlussberufung möglich (vgl. Rennert in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 91 Rn. 33 m.w.N.). Eine solche hat die Klägerin nicht eingelegt. Dies ist ihr auch nicht mehr möglich, da die Einlegungsfrist von einem Monat nach der am 28.06.2018 erfolgten Zustellung der Berufungsbegründungschrift der Beklagten (vgl. § 127 Abs. 2 Satz 2 VwGO) bereits abgelaufen ist.24 Die Klage ist mithin unzulässig und abzuweisen, ohne dass es auf die Frage, ob der Klägerin der geltend gemachte Anspruch tatsächlich zusteht, noch entscheidungserheblich ankommt.25 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1, § 188 Satz 2 Halbs. 1 VwGO.26 Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keiner der in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Gründe vorliegt. | {
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Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens trägt die Klägerin.
Das Urteil ist wegen der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
1Tatbestand:
2Die Klägerin wendet sich gegen die ihr gegenüber ergangene Ordnungsverfügung der Beklagten auf Beseitigung eines sich im Rohbau befindlichen Gebäudes.
3Die Klägerin ist Eigentümerin des dem Bahnhof F. -B. gegenüberliegenden Grundstücks Gemarkung B. , Flur xx, Flurstück xxx (Am Bahnhof B. , xxxx F. ). Für dieses Grundstück erteilte die Beklagte am 17. April 2002 der damals noch unter dem Namen „X. Immobilien und Projektentwicklung GmbH & Co xxx– Stadthaus am Bahnhof B. KG“ firmierenden Klägerin eine Baugenehmigung zur Errichtung eines ca. 1400 m² großen viergeschossigen Wohn- und Geschäftshauses mit zugehöriger, 44 Stellplätze umfassender Tiefgarage. Mit Bauzustandsbesichtigungen am 20. Dezember 2004, 26. Januar 2005 sowie am 16. Februar 2005 erfolgte eine Rohbauabnahme durch die Beklagte. Bei anschließender Bauüberwachung am 14. November 2005 stellte die Beklagte fest, dass die Baustelle ruht. Bei weiteren Bauüberwachungen in den Jahren 2006 und 2009 wurde festgestellt, dass der ursprünglich vorhandene Bauzaun um das Grundstück an zwei Stellen geöffnet worden war und weiterhin kein Baufortschritt festzustellen ist.
4Nachdem im Rahmen einer weiteren Bauüberwachung im Jahre 2014 ersichtlich geworden war, dass der Bauzaun nunmehr gänzlich niederliegt, forderte die Beklagte die Klägerin mit Bescheid vom 15. Mai 2014 unter Verweis auf den nunmehr bestehenden freien Zugang auf das betroffene Grundstück und der damit einhergehenden Gefahr insbesondere für Kinder auf, das betroffene Grundstück mit einem zwei Meter hohen Bauzaun einzufrieden und gegen unbefugtes Betreten abzusichern. Nachdem im Nachgang im Rahmen von mehreren Ortsterminen in den Jahren 2014 und 2015 durch die Beklagte immer wieder erkannt worden war, dass die Einzäunung offen oder zum Teil gar nicht vorhanden ist, wurde der Klägerin gegenüber mehrfach ein Zwangsgeld – insgesamt in Höhe von 10.000,- Euro – festgesetzt. Entsprechende Rechtsbehelfe der Klägerin gegen die einzelnen Zwangsgeldfestsetzungen (Az.: 5 K 3351/14, 5 L 1125/14, 5 K 3882/14, 5 L 1310/14, 5 K 1737/15) hatten keinen Erfolg, nachdem die Beklagte die jeweiligen Festsetzungsbescheide nach erfolgter Realisierung durch die Klägerin aufgehoben hatte.
5Im Jahr 2017 kam es zu regelmäßigen Polizei- und Ordnungsamtseinsätzen auf dem Grundstück der Klägerin. Hierbei wurde festgestellt, dass das sich im Rohbau befindliche Vorhaben der Klägerin aufgrund geschaffener Lücken im Bauzaun weiterhin ungehindert zugänglich ist und als Treffpunkt für Jugendliche, Umschlagplatz für Betäubungsmittel sowie als Übernachtungsort für Obdachlose genutzt wird. Auf die sodann ergangene Aufforderung der Beklagten, den Bauzaun wieder instand zu setzen, teilte der Verwalter der Klägerin mit, dass der Klägerin der Vandalismus und die Probleme am und im Rohbau bekannt seien und sie daher regelmäßig Ortskontrollen durchführe, gegen das Betreten Unbefugter aber letztlich machtlos sei und insoweit keine weiteren Maßnahmen ergreifen könne. Mit Bescheid vom 31. August 2017 forderte die Beklagte die Klägerin auf, die Bauzaunelemente aufgrund weiterhin bestehender Zugänglichkeit mittels Bauzaunschellen fest zu verbinden und die Endpunkte fest an der Fassade des Gebäudes zu verankern. Trotz entsprechender Realisierung durch die Klägerin stellte die Beklagte im Rahmen mehrerer Ortsbesichtigungen in den Jahren 2017 und 2018 fest, dass der Bauzaun gleichwohl an einigen Stellen aufgedrückt worden ist und sich auch weiterhin Personen im Rohbau aufhalten. Mit Verfügung vom 19. Februar 2018 wurde die Klägerin daher neben der Beibehaltung des Bauzauns aufgefordert, sämtliche Öffnungen im Erdgeschoss des betroffenen Gebäudes mit Holzbretten dauerhaft zu verschließen. Infolge fehlender Reaktion setzte die Beklagte der Klägerin gegenüber 2018 ein Zwangsgeld in Höhe von insgesamt 7.500,- Euro fest. Aufgrund der unklaren finanziellen Lage der Klägerin wurde das Zwangsgeld aber nicht beigetrieben.
6In der Folgezeit erkannte die Beklagte im Zuge von Ortsbesichtigungen, dass die Klägerin der Aufforderung vom 19. Februar 2018 weiterhin nicht nachkommt, und drohte ihr daher mit Bescheid vom 21. Juni 2018 die Ersatzvornahme an, nahm hiervon aber im Nachgang Abstand.
7Mit Schreiben vom 29. Oktober 2018 hörte die Beklagte die Klägerin zur beabsichtigten Anordnung von Abriss und Beseitigung des Rohbaus an. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, aufgrund des desolaten Zustands des Gebäudes und der Nutzung als Drogenumschlagsort sowie Übernachtungsmöglichkeit für Obdachlose bestehe eine Gefahr für Leib und Leben. Von der zunächst angedrohten Ersatzvornahme hinsichtlich des Verschließens der Öffnungen im Erdgeschoss durch Holzbretter sei Abstand zu nehmen, weil ein solches Verschließen zur Gefahrenabwehr nicht ausreiche, da auch über Vorsprünge problemlos in das 1. Obergeschoss gelangt werden könne. Zudem seien reine Holzbretter aufgrund der Größe der Öffnungen nicht geeignet, da sie jederzeit wieder aufgebrochen werden könnten und ohnehin eine nicht unerhebliche Brandlast darstellten. Eine Absicherung durch Stahlgitter verursache schließlich Kosten in Höhe von 110.000,- Euro und bedürfe der regelmäßigen Kontrolle durch externe Dienstleister, deren Dauer und Kosten nicht vorhersehbar seien. Angesichts der hohen Kosten für ein Verschließen der Öffnungen erweise sich ein Abriss des Rohbaus, dessen Kosten auf 223.000,- bis 335.000,- Euro zu schätzen sei, auch vor dem Hintergrund, dass das Gebäude aufgrund seines maroden Zustands ohnehin mit hoher Wahrscheinlichkeit abgerissen werden müsse, als wirtschaftlicher und daher letztlich als angemessen. Mit Schreiben vom 17. Dezember 2018 führte die Klägerin aus, mit dem vollständigen Verschluss der Fenster und Türen bereits begonnen zu haben. Für eine Abrissverfügung sehe sie hingegen keine Rechtsgrundlage.
8Nachdem die Beklagte daraufhin im Zuge einer Ortsbesichtigung festgestellt hatte, dass der Bauzaun weiterhin teilweise aufgebrochen ist und auch die Öffnungen des Rohbaus nicht verschlossen sind, und die Klägerin darauf angesprochen nicht reagiert hatte, gab sie der Klägerin mit Bescheid vom 24. Juni 2019 auf, innerhalb von sechs Monaten nach Bestandskraft des Bescheids das Gebäude auf dem streitbefangenen Grundstück vollständig bis zur Erdbodengleiche abzubrechen und die unterhalb der Erdbodenfläche liegende Hohlräume bis zur Erdbodengleiche zu verfüllen, das anfallende Abbruchmaterial innerhalb der genannten Frist ordnungsgemäß zu entsorgen und dies anhand schriftlicher Nachweise eines zertifizierten Entsorgungsunternehmens zu belegen (Ziffer 1). Gleichzeitig wurde für den Fall der Nichtbeachtung die Ersatzvornahme bei geschätzten Kosten in Höhe von 446.000,- Euro angedroht (Ziffer 2). Zur Begründung wiederholte die Beklagte im Wesentlichen die im Anhörungsschreiben vom 29. Oktober 2018 ausgeführten Aspekte. Vertiefend führte sie aus, aufgrund des desolaten Zustands des Gebäudes sei zumindest zweifelhaft, ob die Anforderungen an die Standsicherheit noch eingehalten seien. Jedenfalls sei der Abbruch, dessen Kosten nunmehr zusammen mit der erforderlichen Entsorgung auf 446.000,- Euro zu schätzen seien, geeignet, eine dauerhafte Gefahrenbeseitigung herbeizuführen. Als Eigentümerin sei die Klägerin auch Verantwortliche. Der Bescheid wurde der Klägerin am 27. Juni 2019 zugestellt.
9Die Klägerin hat am 18. Juli 2019 Klage erhoben. Zur Begründung führt sie im Wesentlichen aus, der angegriffene Bescheid, der mit § 58 Abs. 2 der Bauordnung für das Land Nordrhein-Westfalen in der seit dem 1. Januar 2019 geltenden Fassung (BauO NRW) ohnehin eine falsche Rechtsgrundlage anführe, stütze sich maßgeblich auf die Bedenken gegen fehlende Standsicherheit, für die es jedoch an einer hinreichenden Sachverhaltsermittlung mangele. Sofern die Beklagte von Gefährdungen von Leib und Leben der sich rechtswidrig Zutritt verschaffenden Personen spreche, handele es sich um nicht belegte Vermutungen. Das Gebäude sei gegen den unbefugten Zutritt Dritter hinreichend gesichert, es hielten sich dort auch nicht ständig Personen aus der Obdachlosenszene auf. Wenn Personen in das Gebäude gelangten, dann ausschließlich aufgrund ihrer kriminellen Energie. Im Übrigen beziehe sich die Beklagte in Ermangelung aktueller Vorfälle nur auf Ereignisse aus den Jahren 2014 bis 2017, die aber heute nicht mehr ausschlaggebend sein könnten. Dass die Beklagte auch zwischen Anhörung und Erlass der Beseitigungsanordnung so viel Zeit verstreichen lasse, zeige die fehlende Gefahrenlage hinreichend. Vor diesem Hintergrund erfülle das streitbefangene Gebäude sämtliche einschlägigen materiell-rechtlichen Voraussetzungen. Überdies liege ein Ermessensfehler vor, weil die Beklagte sich von sachfremden Erwägungen und reinen Eigeninteressen habe leiten lassen, wenn sie das mildere Mittel des Verschlusses sämtlicher Öffnungen mit dem Argument abtue, das Grundstück habe ohne Gebäude einen höheren wirtschaftlichen Wert und die Kosten für die Ersatzvornahme bei einem Abriss könnten im Rahmen einer Zwangsversteigerung ausgeglichen werden. Auch sei der angeordnete Abriss unverhältnismäßig, da er nicht das mildeste Mittel darstelle. Die Beklagte gehe ausweislich des Verwaltungsvorganges selbst davon aus, dass ein Verfüllen sämtlicher Öffnungen ein hinreichend geeignetes Mittel darstelle, weil sie im Falle des Verschlusses der Öffnungen von der Beseitigungsanordnung habe Abstand nehmen wollen. Darüber hinaus habe die Beklagte ihre Eigentumsinteressen im Rahmen ihrer Abwägung letztlich nicht hinreichend zum Ansatz gebracht, zumal sie völlig verkenne, dass es sich um einen unbefugten Zutritt Dritter handele, der den Abriss keinesfalls rechtfertigen könne. Vor diesem Hintergrund sei es auch allein ermessensgerecht, vorrangig die sich Zutritt verschaffenden Personen in Anspruch zu nehmen. Dass sich Dritte bewusst und aktiv über Schutzmaßnahmen hinwegsetzten, um auf das Grundstück und in das Gebäude zu gelangen, könne ihr letztlich nicht zugerechnet werden und erst recht nicht den Abriss als das schwerwiegendste Mittel rechtfertigen.
10Die Klägerin beantragt,
11die Ordnungsverfügung der Beklagten vom 24. Juni 2019 aufzuheben.
12Die Beklagte beantragt,
13die Klage abzuweisen.
14Zur Begründung wiederholt sie im Wesentlichen die im Rahmen des Verwaltungsverfahrens vorgetragenen Argumente. Ergänzend führt sie aus, es lägen keine Ermessensfehler vor, weil sie im Rahmen ihrer Entscheidung sämtliche Alternativen in Betracht gezogen habe und weniger einschneidende Maßnahmen vor dem Hintergrund einer notwendigerweise effektiven Gefahrenabwehr nicht ersichtlich seien. Zwar sei sie tatsächlich zunächst davon ausgegangen, dass ein Verfüllen sämtlicher Öffnungen ein adäquates Mittel sei, später aber zur Erkenntnis gelangt, es handele sich auch wegen der zu erwartenden Kosten und der weiterhin bestehenden Möglichkeit der Überwindung dieser Hindernisse durch Dritte um eine ineffektive Maßnahme. Schließlich begründe sich die Abrissverfügung nicht aus der fehlenden Standsicherheit, sondern vielmehr aus der von dem Zustand des Gebäudes ausgehenden Gefahr.
15Die Örtlichkeiten sind am 29. April 2020 durch die zu diesem Zeitpunkt zuständige Berichterstatterin in Augenschein genommen worden. Auf das Protokoll über den Ortstermin und die bei diesem angefertigten Lichtbilder wird Bezug genommen.
16Für weitere Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte, die beigezogenen Verwaltungsvorgänge sowie die beigezogenen Gerichtsakten der Verfahren 5 L 1125/14, 5 K 3351/14, 5 L 1310/14, 5 K 3882/14 sowie 5 K 1737/15 verwiesen.
17Entscheidungsgründe:
18Die zulässige Klage hat keinen Erfolg, weil sie nicht begründet ist. Der streitgegenständliche Bescheid der Beklagten vom 24. Juni 2019 ist nämlich nicht rechtswidrig und verletzt daher die Klägerin auch nicht in ihren Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO –). Soweit die Beklagte insbesondere dem streitgegenständlichen Bescheid eine unzutreffende Rechtsgrundlage zugrunde gelegt hat, ist dies in diesem Fall unbeachtlich (dazu I.). Darüber hinaus liegen die Tatbestandsvoraussetzungen der einschlägigen Rechtsgrundlage vor, zumal die streitbetroffene Anlage insbesondere gegen materielles Baurecht verstößt (dazu II.). Die Klägerin ist für diesen Rechtsverstoß (zumindest auch) verantwortlich (dazu III.). Überdies vermag das Gericht keine Ermessensfehler in der Entscheidung der Beklagten festzustellen (dazu IV). Vor diesem Hintergrund ist auch die Androhung der Ersatzvornahme rechtlich nicht zu beanstanden (dazu V.).
19I.
20Die Rechtswidrigkeit der streitgegenständlichen Ordnungsverfügung folgt nicht daraus, dass die Beklagte die unzutreffende Rechtsgrundlage herangezogen hat. Zwar ist § 58 Abs. 2 Satz 2 BauO NRW, auf den sich die Beklagte in ihrer Ordnungsverfügung ausschließlich bezieht und wonach die Behörde nach pflichtgemäßem Ermessen die erforderlichen Maßnahmen zu treffen haben, damit die öffentlich-rechtlichen Vorschriften eingehalten werden, insofern die falsche Rechtsgrundlage für diesen Fall, weil diese die ordnungsbehördlichen Pflichten im Baurecht nur im Allgemeinen regelt, während seit der aktuellen Fassung der BauO NRW mit § 82 Satz 1 BauO NRW eine speziellere Rechtsgrundlage für die behördliche Anordnung der Beseitigung einer baulichen Anlage existiert. Insofern hätte die Beklagte ihrer Ordnungsverfügung vom 24. Juni 2019 – unabhängig davon, ob § 82 Satz 1 BauO NRW zusätzlich neben § 58 Abs. 2 Satz 2 BauO NRW heranzuziehen ist oder diesen ersetzt – zumindest auch § 82 Satz 1 BauO NRW zugrunde legen müssen.
21Vgl. zum Vorrang des § 82 BauO NRW gegenüber § 58 Abs. 2 BauO NRW Boeddinghaus/Hahn/Schulte u.a., BauO NRW, Stand: 1. März 2019, § 58 Rn. 1; Keller, in: Spannowsky/Saurenhaus (Hrsg.), Beck´scher Onlinekommentar BauO NRW, § 58 Rn. 11; vgl. auch VG Münster, Urteile vom 3. Juni 2020 – 10 K 1251/19, 10 K 1202/19, 10 K 941/19 –, jeweils juris, sowie VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 1. April 2020 – 6 L 1919/19 –, juris, die jeweils § 58 Abs. 2 Satz 2 BauO NRW und § 82 Satz 1 BauO NRW zusammen als Rechtsgrundlage benennen.
22Die fehlende Heranziehung des § 82 Satz 1 BauO NRW ist aber vorliegend unbeachtlich, weil das Gericht gehalten ist, die fehlerhafte durch die zutreffende Rechtsgrundlage auszutauschen. Das Gericht hat nämlich im Rahmen seiner Prüfung stets von Amts wegen zu betrachten, ob ein Bescheid, der auf einer falschen oder unvollständigen Rechtsgrundlage beruht, auf Basis einer anderen Rechtsgrundlage aufrechterhalten bleiben kann, weil deren Voraussetzungen vorliegen. Ist dies der Fall, ist ein Auswechseln der Rechtsgrundlage unschädlich, weil dann der streitgegenständliche Bescheid allenfalls in seiner Begründung, nicht aber in seinem Ergebnis rechtswidrig ist. Ein Anspruch auf korrekte Begründung existiert insoweit nämlich nicht. Etwas Anderes gilt nur dann, wenn der Bescheid bei richtiger Begründung nicht in gleicher Weise ergehen kann, ein Auswechseln der Rechtsgrundlage letztlich ein Auswechseln des Bescheids bedeuten würde. Entscheidend ist daher, dass der streitbetroffene Verwaltungsakt durch das Auswechseln der Rechtsgrundlage weder in seinem Inhalt noch in seinem Wesen geändert wird.
23Vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteile vom 19. August 1988 – 8 C 29.87 –, juris, und vom 12. April 1991 – 8 C 92.89 –, juris; Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein (OVG SH), Urteil vom 26. Mai 2009 – 1 LB 38/08 –, juris; Riese, in: Schoch/Schneider/Bier (Hrsg.), VwGO, 33. Lieferung 2017, § 113 Rn. 34.
24Dies ist hier der Fall. Durch den Austausch – respektive: die Vervollständigung – des § 58 Abs. 2 Satz 2 BauO NRW durch § 82 Satz 1 BauO NRW wird die streitgegenständliche Ordnungsverfügung inhaltlich in keiner Weise berührt. Denn die Voraussetzungen, die Zweckrichtung sowie der Maßstab des § 58 Abs. 2 Satz 2 BauO NRW decken sich gerade deshalb mit denen des § 82 Satz 1 BauO NRW, weil letztere Vorschrift schließlich die Umsetzung der bislang auf der Generalklausel (der mit § 58 Abs. 2 Satz 2 BauO NRW inhaltsidentische § 61 Abs. 1 Satz 2 BauO NRW a.F.) beruhenden Dogmatik zur Beseitigungsanordnung in eine eigenständige Vorschrift darstellt, ohne diese Dogmatik dem Grunde nach verändert zu haben. Soweit § 82 Satz 1 BauO NRW – anders als § 58 Abs. 2 Satz 2 BauO NRW – darauf verweist, dass eine Beseitigungsanordnung nur erfolgen darf, sofern rechtmäßige Zustände auf andere Weise nicht herzustellen sind, entspricht dies letztlich dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, der im Rahmen des § 58 Abs. 2 Satz 2 BauO NRW in gleicher Weise Beachtung findet. Beruft sich die Beklagte mithin auf die Generalklausel des § 58 Abs. 2 Satz 2 BauO NRW prüft sie inhaltlich gesehen nichts anderes als die Vorschrift des § 82 Satz 1 BauO NRW. Vor diesem Hintergrund hätte die Beklagte auch bei Heranziehung des § 82 Satz 1 BauO NRW dieselben Voraussetzungen und insbesondere auch dieselben Ermessenserwägungen angestellt.
25II.
26Überdies liegen auch die Tatbestandsvoraussetzungen der (ausgewechselten) Rechtsgrundlage vor. Nach § 82 Satz 1 BauO NRW muss für den Erlass einer Beseitigungsanordnung die betroffene bauliche Anlage im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften errichtet sein. In Anbetracht der intensiven Beeinträchtigung, die eine Beseitigungsanordnung insbesondere wegen der regelmäßigen Endgültigkeit der Beseitigung bedeutet, setzt der Erlass einer Beseitigungsverfügung regelmäßig voraus, dass die Anlage materiell baurechtswidrig ist und nicht von einer wirksamen Baugenehmigung gedeckt und insoweit nicht bestandsgeschützt ist.
27Vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), Urteile vom 28. Januar 2016 – 10 A 447/14 –, juris, und vom 15. April 2005 – 7 A 19/03 –, juris; Boeddinghaus/Hahn/Schulte u.a., BauO NRW, Stand: 1. März 2019, § 82 Rn. 3 f. m.w.N.; Wenzel, in: Gädtke u.a. (Hrsg.), BauO NRW, 12. Auflage 2011, § 61 Rn. 68 (zur alten Fassung).
28Die materielle Baurechtswidrigkeit des streitbetroffenen Rohbaus ergibt sich hierbei aus dem Widerspruch zu § 3 Abs. 1 Satz 1 BauO NRW. Danach sind bauliche Anlagen u.a. so zu errichten, dass die öffentliche Sicherheit oder Ordnung, insbesondere Leben, Gesundheit oder die natürlichen Lebensgrundlagen, nicht gefährdet werden. Eine – insoweit hier erforderliche – konkrete Gefährdung ist dabei immer dann anzunehmen, wenn der aktuelle Zustand der Anlage den Eintritt eines Schadens mit Wahrscheinlichkeit in überschaubarer Zukunft erwarten lässt. Maßgeblich ist insoweit eine auf Tatsachen beruhende begründete Besorgnis.
29Vgl. OVG NRW, Urteil vom 26. März 2003 – 7 A 4491/99 –, juris; Boeddinghaus/Hahn/Schulte u.a., BauO NRW, Stand: 1. März 2019, § 3 Rn. 6 f. m.w.N.
30Dabei ist gleichsam zu berücksichtigen, dass dem Wortlaut des § 3 Abs. 1 Satz 1 BauO NRW folgend die konkrete Gefahr an ein Verhalten – das Anordnen, Errichten, Ändern oder Beseitigen von Anlagen oder Einrichtungen – anknüpfen muss. Bei der hier allein in Betracht kommenden Variante des Errichtens ist mithin entscheidend, dass die konkrete Gefahr für die geschützten Rechtsgüter im Zusammenhang mit der Bauausführung steht. Die Gefahr muss daher gerade auf der Tätigkeit selbst oder aber auf dem infolge der Tätigkeit erzielten baulichen Ergebnis beruhen.
31Vgl. Boeddinghaus/Hahn/Schulte u.a., BauO NRW, Stand: 1. März 2019, § 3 Rn. 8, 21; Spannowsky, in: Spannowsky/Saurenhaus (Hrsg.), Beck´scher Onlinekommentar BauO NRW, Stand: 1. Dezember 2019, § 3 Rn. 41.
32Dies zugrunde gelegt ist hier von einer auf den Vorgang der Errichtung der Anlage zurückzuführenden Gefährdung der öffentlichen Sicherheit, insbesondere der Rechtsgüter Leben und Gesundheit, auszugehen. Denn der durch die bisherige Errichtung der betroffenen Anlage erzielte Bauzustand ermöglicht es, dass Dritte das Gebäude betreten und sich erheblich verletzen und insoweit an ihrer Gesundheit oder gar an ihrem Leben Schaden nehmen können. Die im Gebäude vorhandenen Treppenaufgänge verfügen nämlich zum Teil über keine, zum Teil nur über instabile oder rein provisorische (Holz-)Absicherungen und bergen daher die Gefahr des Absturzes von Personen in sich. Des Weiteren weisen die blanken Fußböden im Gebäude zahlreiche kleinere und größere Löcher und insoweit ein erhebliches Stolperrisiko auf. Auch befinden sich im Gebäude an verschiedenen Stellen erhebliche Mengen an lose herumliegendem Bauschutt oder ungesicherten Baumaterialien
33, die nicht nur ein erhebliches Stolper-, sondern auch wegen spitzer Kanten, herausragender Drähte oder sonstiger Metalle nicht unwesentliches Verletzungsrisiko begründen. Schließlich besteht auch die erhebliche Gefahr des Einsturzes nichttragender Wände – wie der Gesellschafter der Klägerin in der mündlichen Verhandlung selbst eingeräumt hat – , bei dem insbesondere sich in der Nähe aufhaltende Personen schwer verletzt werden können.
34Diese aufgezeigten Verletzungsrisiken beruhen dabei auf keiner abstrakt-allgemeinen, sondern tatsachenbasierenden konkreten Betrachtung des Einzelfalles. Der beschriebene Zustand des Gebäudes zeigt sich nämlich gerade anhand der im Ortstermin angefertigten Lichtbilder. Es besteht auch eine beachtliche Wahrscheinlichkeit, weil sich im Gebäude regelmäßig Personen aufhalten, wie sowohl die in den Verwaltungsvorgängen vorhandenen Berichte als auch die Lichtbilder aus dem Ortstermin belegen. Dass das Grundstück an sich von einem Bauzaun umgeben ist, ändert an der Gefahrenprognose nichts. Denn unabhängig davon, dass ausweislich der Verwaltungsvorgänge sowie der aus den bisher anhängigen Verfahren gerichtsbekannten Zuständen der Bauzaun regelmäßig aufgebrochen oder zum Teil umgestürzt ist, vermag ein solcher Bauzaun den Zugang zum Gebäude auch an sich nicht hinreichend zu verhindern. Sofern die Klägerin in diesem Zusammenhang bestreitet, dass sich Personen (noch) im Gebäude aufhielten, und vorträgt, etwaige Problemsituationen lägen mehrere Jahre zurück und seien nicht mehr aktuell, entspricht dies vor diesem Hintergrund offenkundig nicht der Sachlage und erweist sich insofern als eine durch nichts belegte Schutzbehauptung.
35Vor diesem Hintergrund bedarf die Frage der Standsicherheit des Gebäudes im Sinne von § 12 BauO NRW keiner Erörterung. Soweit die Klägerin vorträgt, die Beklagte habe die fehlende Standsicherheit ohne hinreichende Sachverhaltsermittlung als Begründung herangezogen, trifft dies nicht zu. Ausweislich der Begründung der streitgegenständlichen Ordnungsverfügung zweifelt die Beklagte nämlich die Standsicherheit lediglich an, stützt die Beseitigungsanordnung aber gerade auf den Aspekt des § 3 Abs. 1 Satz 1 BauO NRW, der von der Frage der Standsicherheit entkoppelt ist. Angesichts dessen musste das Gericht auch nicht dem auf die Standsicherheit abzielenden Beweisantrag der Klägerin nachkommen.
36Für die streitbetroffene Anlage liegt auch keine wirksame Baugenehmigung vor, die den Zustand der Anlage legalisieren könnte. Denn die einst im Jahre 2002 erteilte Baugenehmigung ist nunmehr erloschen. Nach § 75 Abs. 1 Alt. 2 BauO NRW bzw. § 77 Abs. 1 Alt. 2 BauO NRW in der bis zum 1. Januar 2019 geltenden Fassung erlischt eine Baugenehmigung nämlich dann, wenn die Bauausführung länger als ein Jahr unterbrochen worden ist. Dies ist hier offenkundig der Fall, weil seit der Rohbauabnahme im Jahre 2005 offensichtlich kein Baufortschritt mehr festzustellen ist.
37III.
38Die Klägerin ist überdies für die Baurechtswidrigkeit des Rohbaus verantwortlich, weil sie Eigentümerin des Grundstücks und der Anlage ist. In Ermangelung eigenständiger bauordnungsrechtlicher Vorschriften ist für die Frage der Verantwortlichkeit auf die allgemeinen ordnungsrechtlichen Vorschriften der §§ 17 ff. des Gesetzes über Aufbau und Befugnisse der Ordnungsbehörden Nordrhein-Westfalen (OBG NRW) zurückzugreifen.
39Dabei erweist sich die Klägerin als sog. Zustandsverantwortliche nach § 18 OBG NRW. Nach dessen ersten Absatz sind Maßnahmen der Ordnungsbehörden an den Eigentümer einer Sache zu richten, wenn die zu beseitigende Gefahr von dieser Sache ausgeht. Dies ist hier der Fall, weil die Gefahr der Verletzungen auf den baurechtswidrigen Zustand der streitbetroffenen Anlage, deren Eigentümerin die Klägerin ist, zurückzuführen ist.
40Soweit die Klägerin meint, die Verantwortlichkeit treffe vielmehr die Personen, die sich unbefugten Zutritt zu dem Gebäude verschafften, schlägt dies nicht durch. Zwar trifft diese Personen ebenfalls eine – hier verhaltensbezogene – Verantwortlichkeit (vgl. § 17 Abs. 1 OBG NRW), weil durch ihr Verhalten – das Betreten des Gebäudes – die Gefahr ebenfalls hervorgerufen wird. Dies ändert aber nichts an dem Umstand, dass die Klägerin als Eigentümerin jedenfalls auch für die hervorgerufene Gefahr mitverantwortlich ist. Denn auch in dem Fall, in dem eine Gefahr nicht alleine durch eine Sache, sondern im Zusammenspiel mit dem (unbefugten) Einwirken Dritter auf diese Sache entsteht, ist die Zustandsverantwortlichkeit des Sacheigentümers grundsätzlich nicht zu verneinen. Dies hat seinen Grund vornehmlich darin, dass die ordnungsrechtliche Verantwortlichkeit des Eigentümers für den Zustand in seinem Eigentum stehender Sachen Ausfluss der tatsächlichen und rechtlichen Sachherrschaft ist, welche die Nutzung der Sache mit den sich daraus ergebenden wirtschaftlichen Vorteilen ermöglicht. Wer die Sachherrschaft inne hat, kann und muss dafür sorgen, dass andere nicht durch einen gefährlichen Zustand der Sache gestört oder geschädigt werden. Dies ist ein Ausdruck der dem Sacheigentum nach Art. 14 Abs. 2 des Grundgesetzes (GG) immanenten Sozialbindung und gilt grundsätzlich auch dann, wenn der ordnungswidrige Zustand eines Grundstücks durch Dritte herbeigeführt worden ist.
41Vgl. Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschlüsse vom 16. Februar 2000 – 1 BvR 242/01, 1 BvR 315/99 –, juris, sowie vom 2. März 1999 – 1 BvL 7/91 –, juris; BVerwG, Beschlüsse vom 31. Juli 1998 – 1 B 229.97 –, juris, vom 14. November 1996 – 4 B 205.96 –, juris, und vom 18. Juni 1998 – 1 B 178.97 –, juris, sowie Urteil vom 18. Oktober 1991 – 7 CF 2.91 –, juris; OVG NRW, Beschlüsse vom 27. September 2011 – 2 B 1167/11 –, n.v., sowie vom 3. März 2010 – 5 B 66/10 –, juris; Boeddinghaus/Hahn/Schulte u.a., BauO NRW, Stand: 1. April 2018, § 61 Rn. 94 f. (zur alten Fassung).
42Die Zustandsverantwortlichkeit endet aus Gründen der Verhältnismäßigkeit aber dort, wo die Gefahr angesichts des Gewichts der Fremdeinwirkungshandlung dritter Personen nicht mehr der Sache zugerechnet werden kann, die Sache selbst also nur noch mittelbare Ursache für die Gefahr ist. Ob die Gefahr mithin unmittelbar durch die Sache oder durch die Missbrauchshandlung eines Dritten verursacht wird, ist dabei eine Frage des Einzelfalls.
43Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 16. Februar 2000 – 1 BvR 242/01, 1 BvR 315/99 –, juris; BVerwG, Beschlüsse vom 16. Juni 2005 – 3 B 129.04 –, juris, und vom 11. Oktober 1996 – 1 B 120.96 –, juris; OVG NRW, Beschluss vom 27. September 2011 – 2 B 1167/11 –, n.v.; Bickel, NJW 2000, 2562 ff.
44Für eine solche Begrenzung der Zustandsverantwortlichkeit ist in diesem Fall kein Raum. Die Gefahrenlage für die öffentliche Sicherheit erwächst hier nämlich nicht unmittelbar, d.h. alleine, aus dem Verhalten der unbefugt das Gebäude betretenden Dritten, sondern gerade auch durch den Zustand des Gebäudes. Die Gefahr entsteht anders gewendet gerade nicht dadurch, dass Dritte derart auf das Gebäude einwirken, dass es zu Gefahrenstellen kommt, sondern dadurch, dass Dritte ein bereits zustandsbedingt Gefahren begründendes Gebäudes betreten. Die Gefahrenlage geht mithin im Ursprung von dem Gebäude und dessen Bauzustand aus, weswegen sie auch dem streitbefangenen Gebäude zuzurechnen ist.
45Vgl. ebenso OVG NRW, Beschluss vom 27. September 2011 – 2 B 1167/11 –, n.V.: „Dieser [gefahrenbegründende] Zustand ist nicht allein durch die unbefugte Fremdeinwirkung Dritter hervorgerufen worden, so dass es bereits deswegen an einem Anlass für eine Begrenzung der Zustandshaftung (…) fehlt“.
46IV.
47Schließlich vermag das Gericht in der Entscheidung der Beklagten auch keine Ermessensfehler zu erkennen. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die gerichtliche Prüfung nach § 114 Satz 1 VwGO eingeschränkt und nur auf die Einhaltung der gesetzlichen Grenzen sowie auf die hinreichende Berücksichtigung des Zwecks der Ermächtigungsgrundlage begrenzt ist. Dabei sind aber weder bei der Entscheidung der Beklagten, dass sie tätig wird, (dazu 1.) noch bei der Auswahl der Maßnahme (dazu 2.) noch bei der Auswahl der Klägerin als Verantwortliche (dazu 3.) Ermessensfehler zu erkennen.
481.
49Dass Ermessensfehler hinsichtlich der Entscheidung der Beklagten, überhaupt tätig zu werden, insbesondere angesichts der oben bereits dargestellten Gefahrenlage vorlägen, ist weder ersichtlich noch sonst vorgetragen.
502.
51Auch bei der Auswahl des Mittels, also bei der Entscheidung der Beklagten zur Anordnung des Abrisses des Rohbaus, kann die Kammer keine Ermessensfehler erkennen. Im Ergebnis ist nämlich weder eine dem Zweck der Ermächtigungsgrundlage zuwiderlaufende (dazu a.) noch eine die rechtlichen Grenzen des Ermessensspielraums überschreitende (dazu b.) Ermessensausübung bei der Beklagten festzustellen.
52a)
53Von dem Ermessen hat die Beklagte zunächst in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht. Es liegt insbesondere kein Ermessensfehlgebrauch vor. Ein solcher wird unter anderem dann angenommen, wenn die Beklagte bei Ausübung ihres Ermessens maßgeblich auf Aspekte abgestellt hat, die mit dem Zweck der das Ermessen ermächtigenden Rechtsgrundlage nicht in Einklang stehen.
54Vgl. nur BVerwG, Urteil vom 1. September 2016 – 4 C 4.15 –, juris; Riese, in: Schoch/Schneider/Bier (Hrsg.), VwGO, 36. Lieferung 2019, § 114 Rn. 64 m.w.N.
55Die gerichtliche Kontrolle muss insoweit daran anknüpfen, wie die Behörde im konkreten Fall ihr Ermessen gebildet hat. Entscheidend ist dabei die tatsächliche Entscheidungsfindung, die nicht unbedingt mit der formellen Begründung übereinstimmen muss. Maßgeblich hierfür sind zunächst die angegebene Entscheidungsbegründung, aber auch alle Gesichtspunkte, die auf die materielle Entscheidungsbegründung hinweisen. Insoweit ist die gegebene Begründung immer auf dem Hintergrund der gesamten Umstände zu würdigen.
56Vgl. BVerwG, Beschluss vom 15. Januar 1988 – 7 B 182.87 –, juris, sowie Urteile vom 13. Juli 1961 – II C 148.59 –, juris, und vom 9. April 1987 – 1 C 36.85 –, juris; Rennert, in: Eyermann (Hrsg.), VwGO, 15. Auflage 2019, § 114 Rn. 23; Wolff, in: Sodan/Ziekow (Hrsg.), VwGO, 5. Auflage 2018, § 114 Rn. 177 m.w.N.
57Ein Ermessensfehlgebrauch liegt aber dann nicht vor, wenn bei mehreren selbständigen Ermessenserwägungen nur ein Teil sachfremd ist. Insofern genügt es, wenn nur einer der herangezogenen Gründe die getroffene Entscheidung trägt. Etwas Anderes gilt nur, wenn nach dem Willen der Behörde nur alle Gründe zusammen die Entscheidung rechtfertigen sollen.
58Vgl. BVerwG, Urteil vom 19. Mai 1981 – 1 C 169.79 –, juris; Decker, in: Posser/Wolff (Hrsg.), Beck´scher Onlinekommentar VwGO, Stand: 1. Juli 2020, § 114 Rn. 28.
59Dabei muss im Rahmen baurechtlicher Ordnungsverfügungen berücksichtigt werden, dass Zweck des § 82 Satz 1 BauO NRW – wie der anderen Rechtsgrundlagen zum ordnungsbehördlichen Einschreiten im Baurecht – allein in der Abwehr von Gefahren liegt. Die Behörden müssen daher im Rahmen ihrer Ermessenserwägungen speziell den Aspekt der effektiven Gefahrenbeseitigung zugrunde legen. Das schließt insbesondere rein fiskalische Überlegungen als Maßstab aus, weil diese mit der Frage der Effektivität der Gefahrenabwehr nicht korrespondieren. Wegen der Grundstücksbezogenheit des Baurechts dürfen zudem die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Adressaten keine Rolle spielen.
60Vgl. Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz (OVG RP), Urteil vom 11. Oktober 2007 – 1 A 10555/07 –, juris; Rennert, in: Eyermann (Hrsg.), VwGO, 15. Auflage 2019, § 114 Rn. 21; Riese, in: Schoch/Schneider/Bier (Hrsg.), VwGO, 36. Lieferung 2019, § 114 Rn. 67.
61Dies zugrunde gelegt kann die Kammer entgegen der Ansicht der Klägerin keinen Ermessensfehlgebrauch erkennen. Zwar bilden fiskalische und wirtschaftliche Erwägungen tatsächlich einen Teil der Ermessensbegründung der Beklagten, wie es sich auch aus dem streitgegenständlichen Bescheid ergibt. Dabei steht aber, wie die weitere Begründung im Bescheid und auch die Verwaltungsvorgänge nahelegen, stets die Frage der effektiven Gefahrenabwehr im Mittelpunkt. So zeigt zunächst der Bescheid mit seiner Begründung ausdrücklich, dass das Maß der Gefahrenabwehr ermessensleitend für die Entscheidung war. So führt die Beklagte im Bescheid (Seite 5 des Bescheids 24. Juni 2019, Bl. 19 der Gerichtsakte) nämlich gerade aus, nur der Abbruch des betroffenen Gebäudes sei geeignet, eine „dauerhafte Gefahrenbeseitigung“ herbeizuführen. Zudem führt sie den Aspekt der dauerhaften und endgültigen Gefahrenbeseitigung als Grund an, weshalb aus ihrer Sicht andere Mittel jedenfalls nicht gleich geeignet seien. Schließlich wird anhand der in der Begründung zum Bescheid dargestellten ermessensgerechten Interessenabwägung deutlich, dass die fiskalischen bzw. wirtschaftlichen Überlegungen nur einen zusätzlichen Aspekt ausmachen, weil diese lediglich als Annex zur gefahrenabwehrbezogenen Prüfung angeführt werden („zudem“). Aber auch die Verwaltungsvorgänge zeigen, dass die Beklagte zunächst das Verschließen der Öffnungen des Rohbaus im Erdgeschoss präferiert hatte und hiervon nur deshalb Abstand nahm, weil das angeordnete Verschließen ausweislich eines internen Vermerks (vgl. Bl. 409 der Beiakte – Heft 2) sowohl technisch nicht realisierbar als auch einer dauerhaften Gefahrenbeseitigung nicht zuträglich erschien, zumal hierdurch in Form von Brandlasten neue Gefahrenquellen befürchtet wurden. Erst im Anschluss daran entschloss sich die Beklagte, den vollständigen Abriss der Anlage zu prüfen. Zwar sind in diese Prüfung auch wirtschaftliche wie fiskalische Aspekte eingeflossen. Anlass und Maßstab für die Abrissverfügung war aber stets der Umstand, dass der Beklagten andere Mittel im Sinne der Gefahrenabwehr nicht hinreichend dauerhaft und daher nicht gleichsam effektiv erschienen.
62Der ermessensgerechte Aspekt der Gefahrenabwehr bildet aus Sicht der Beklagten daher nicht nur den maßgeblichen Grund für den Erlass der Beseitigungsanordnung, sondern jedenfalls auch eine selbständige Erwägung, die die Entscheidung zu tragen imstande ist.
63b)
64Schließlich überschreitet die Anordnung der Beseitigung des Rohbaus auch nicht die gesetzlichen Grenzen des Ermessens. Insbesondere weist sie sich im konkreten Einzelfall nicht als unverhältnismäßig. Verhältnismäßig ist eine Maßnahme dann, wenn sie im konkreten Fall geeignet ist, den Zweck der Ermächtigungsgrundlage zumindest zu fördern, dabei keine gleich geeigneten mildere Mittel vorhanden sind und sie sich im Rahmen einer Interessen- und Güterabwägung nicht außer Verhältnis zum verfolgten Zweck erweist.
65Vgl. BVerwG, Beschluss vom 13. Juli 2017 – 1 VR 3.17 –, juris; Riese, in: Schoch/Schneider/Bier (Hrsg.), VwGO, 36. Lieferung 2019, § 114 Rn. 69 m.w.N.
66Die Beseitigungsanordnung erweist sich dabei bereits deshalb als geeignet, weil sie zur dauerhaften und endgültigen Gefahrenabwehr führt. Ist der Rohbau letztlich nicht mehr existent, vermögen auch die Verletzungsgefahren nicht mehr zu bestehen. Vor dem Hintergrund dieser Endgültigkeit ergibt sich auch die Erforderlichkeit der Beseitigungsanordnung. Denn es sind jedenfalls keine milderen Maßnahmen ersichtlich, die die gleiche Eignung aufweisen. Soweit die Beklagte zunächst das Verschließen der Öffnungen im Erdgeschoss mittels Holzbrettern angeordnet hat, vermag dies bereits deshalb keine gleiche Eignung aufzuweisen, weil diese Holzbretter – unabhängig davon, dass sie aus Sicht der Beklagten aus technischen Gründen nicht realisierbar sind (vgl. Bl. 409 der Beiakte – Heft 2) – nicht zuletzt wegen der Stoffsubstanz jedenfalls nicht dauerhaft und endgültig zur Verhinderung des Betretens des Gebäudes geeignet sind. Entsprechendes gilt auch für eine stärkere Form des Verschließens, weil letztlich nicht nur die Öffnungen im Erdgeschoss, sondern auch in den anderen Geschossen zu verschließen sind. Insoweit erachtet die Kammer ausweislich der im Rahmen des Ortstermins gemachten Lichtbilder, die Einschätzung der Beklagten, dass ein Betreten auch der höheren Geschosse aufgrund von Vorsprüngen nicht auszuschließen ist, als gerechtfertigt. Aber selbst beim vollständigen Verschließen sämtlicher Öffnungen durch Ummauerungen oder Hinzufügen schwerer Metallgitter läge keine dem Abriss gleich geeignete Maßnahme vor. Unabhängig davon, dass ein solches Verschließen wegen der erheblichen Anzahl, Länge und Größe vorhandener Fensterreihen gerade in den oberen Geschossen des Rohbaus kaum effektiv erscheint, vermag es jedenfalls nicht in gleicher Weise wie eine Abrissverfügung eine Dauerhaftigkeit und Endgültigkeit an Gefahrenabwehr zu liefern, weil nicht auszuschließen ist, dass durch Abnutzung, Witterungseinflüssen oder Manipulation Öffnungen wieder entstehen und durch Dritte zum Betreten des Gebäudes ausgenutzt werden.
67Zuletzt erweist sich die Beseitigungsanordnung auch als angemessen. Zwar ist zu berücksichtigen, dass der Abriss des Rohbaus eine erhebliche Belastung und somit einen besonders intensiven Eingriff in das Grundrecht aus Art. 14 Abs. 1 GG für die Klägerin darstellt. Zu berücksichtigen ist aber andererseits zum einen, dass mit der körperlichen Unversehrtheit sowie dem Leben der Betroffenen (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) hochrangige Rechtsgüter betroffen sind, deren Schutz für den Staat und damit auch die Beklagte verpflichtend ist. Zum anderen ist der Bewertung zugrunde zu legen, dass die Beklagte mehr als 14 Jahre lang beinahe alle in Betracht kommenden Maßnahmen versucht hat, um der Gefahrenabwehr auf andere – mildere – Weise gerecht zu werden. In diesem Zusammenhang ist zudem der bisherige Gang des Verfahrens zu berücksichtigen. Ausweislich der Verwaltungsvorgänge wurden Maßnahmen seitens der Klägerin häufig gar nicht, erheblich verspätet – und hierbei nicht selten erst im Zusammenhang mit einem Vollstreckungsverfahren – oder nur teilweise umgesetzt. Soweit die Klägerin auch in früheren Verfahren bereits vorgetragen hat, regelmäßig das Grundstück zu kontrollieren und für die dauerhafte Umsetzung der angeordneten Maßnahmen (insbesondere des Errichtens des Bauzauns) gesorgt zu haben, war und ist ein solches Bemühen zu keiner Zeit auch nur ansatzweise hinreichend gewesen. Nicht nur, dass sich aus den entsprechenden Berichten in den Verwaltungsvorgängen ergibt, dass früher umgesetzte Schutzmaßnahmen nach erfolgtem Missbrauch durch Dritte nicht wieder realisiert worden sind, wird die fehlende Pflichtentreue der Klägerin nicht zuletzt durch das Ergebnis des Ortstermins deutlich. Denn auch im Ortstermin zeigte sich der Bauzaun erneut aufgebrochen, umgestoßen oder ungesichert. Nicht einmal gerichtlich angekündigte Termine haben die Klägerin zu einem auch nur im Entferntesten angemessenen Einsatz zur Gefahrenabwehr bewegen können.
683.
69Auch hinsichtlich der Auswahl des Verantwortlichen liegen keine Ermessensfehler vor. Da neben der Klägerin als Zustandsverantwortliche auch die unbefugt das Gebäude betretenden Dritten als Verhaltensverantwortliche grundsätzlich als Adressat von Ordnungsmaßnahmen in Betracht kommen, hatte die Beklagte entsprechend zu prüfen, wen von beiden sie in Anspruch nehmen will. Zwar ist aus den Bescheidgründen selbst nicht ersichtlich, dass die Beklagte diesbezüglich Ermessen ausgeübt hat. Ein Fall des Ermessensausfalls liegt aber gleichwohl nicht vor. Denn aus den Verwaltungsvorgängen ergibt sich zweifellos, dass die Beklagte Überlegungen dazu angestellt hat, wen sie zur Gefahrenabwehr in Anspruch nehmen kann. Denn insoweit gab es bei der Beklagten regelmäßig abteilungsübergreifende Gespräche, Ortstermine sowie Beratungen zum Zwecke einer Gefahrenbeseitigung. Dabei wurde insbesondere auch geprüft, ob und inwieweit eine regelmäßige Kontrolle des Rohbaus, etwa durch den Streifendienst der Beklagten, möglich und insoweit ein Verhindern des unbefugten Zutritts durch Dritte erfolgversprechend sei (vgl. etwa Bl. 416 der Beiakte – Heft 2). Angesichts des immensen Aufwandes einer solchen Kontrolle und des sich nach dem Gang des Verfahrens auf der Hand liegenden Ergebnisses, dass auf diese Weise im Vergleich zur Inanspruchnahme der Eigentümerin des Rohbaus eine Beseitigung der Gefahrensituation jedenfalls nicht hinreichend effektiv erfolgen kann, ist die Auswahl der Beklagten im Hinblick auf eine effektive Gefahrenabwehr nicht zu beanstanden. Dass sie die Entscheidungsbegründung im Bescheid nicht eigens begründete, trägt die Annahme eines Ermessensnichtgebrauches nicht.
70Vgl. nur OVG NRW, Beschluss vom 27. September 2011 – 2 B 1167/11 –, juris.
71V.
72In Anbetracht der rechtmäßigen Ordnungsverfügung kann die Kammer auch keine Gesichtspunkte erkennen, aus denen sich die Rechtswidrigkeit der Androhung der Ersatzvornahme als Zwangsmittel ergeben. Entsprechendes wurde auch nicht vorgetragen. Insbesondere kann die Androhung auf § 55 Abs. 1 in Verbindung mit § 63, § 57 Abs. 1 Nr. 1 und § 59 des Verwaltungsvollstreckungsgesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen (VwVG NRW) gestützt werden. Dabei ist die Entscheidung der Beklagten, anstatt eines Zwangsgeldes die Ersatzvornahme anzudrohen, nicht zuletzt im Hinblick auf den bisherigen Gang des Verfahrens nicht zu beanstanden.
73VI.
74Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 709 Satz 1 und 2 der Zivilprozessordnung.
75Rechtsmittelbelehrung:
76Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zu, wenn sie von diesem zugelassen wird. Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn
771. ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,
782. die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,
793. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
804. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
815. ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.
82Die Zulassung der Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils schriftlich oder als elektronisches Dokument, letzteres nach Maßgabe des § 55a der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV), bei dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, Bahnhofsvorplatz 3, 45879 Gelsenkirchen, zu beantragen. Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen. Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, schriftlich oder als elektronisches Dokument, letzteres nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV, einzureichen.
83Im Berufungsverfahren muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Dies gilt auch für den Antrag auf Zulassung der Berufung. Der Kreis der als Prozessbevollmächtigte zugelassenen Personen und Organisationen bestimmt sich nach § 67 Abs. 4 VwGO.
84Beschluss:
85Der Streitwert wird auf 450.000,- Euro festgesetzt.
86Gründe:
87Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 52 Abs. 1 des Gerichtskostengesetzes (GKG) unter Berücksichtigung von Ziffer 10 lit. a des Streitwertkatalogs der Bausenate des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 22. Januar 2019, BauR 2019, 610. Danach soll der Streitwert bei Beseitigungsverfügungen der Höhe des Zeitwerts der zu beseitigenden Bausubstanz zuzüglich der Abrisskosten betragen. Ausweislich der Einschätzung der Beklagten betragen die Abriss- und Beseitigungskosten 446.000,- Euro (vgl. Bl. 444 der Beiakte – Heft 2). Vor diesem Hintergrund und unter Berücksichtigung der fehlenden Kenntnis des aktuellen Zeitwerts setzt die Kammer im Rahmen richterlichen Ermessens den Streitwert auf 450.000,- Euro fest.
88Rechtsmittelbelehrung:
89Gegen diesen Beschluss findet Beschwerde statt, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.
90Die Beschwerde ist bei dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, Bahnhofsvorplatz 3, 45879 Gelsenkirchen, innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle oder als elektronisches Dokument, letzteres nach Maßgabe des § 55a der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV), einzulegen. Über die Beschwerde entscheidet das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, falls das beschließende Gericht ihr nicht abhilft.
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Tenor
Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
Die Kläger tragen die Kosten des Zulassungsverfahrens einschließlich der erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen als Gesamtschuldner.
Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 10.000 Euro festgesetzt.
1G r ü n d e:
2Der Antrag hat keinen Erfolg.
3Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Die angefochtene Baugenehmigung vom 9.2.2018 in der Fassung vom 17.5.2019 nebst Befreiungen verstoße nicht gegen Vorschriften, die den Klägern subjektive Rechte vermittelten. Die angesprochenen Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. … zu den überbaubaren Grundstücksflächen und zum Maß der baulichen Nutzung seien nicht nachbarschützend. Ein Verstoß gegen das bauplanungsrechtliche Rücksichtnahmegebot sei nicht gegeben. Der gebotene Abstand sei eingehalten. Es seien auch keine unzumutbaren Belästigungen durch Kraftfahrzeugverkehr im Zusammenhang mit der Tiefgarage zu erwarten.
4Das dagegen gerichtete Vorbringen der Kläger führt nicht zu den geltend gemachten ernstlichen Zweifeln an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils (vgl. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
5Die Kläger rügen ohne Erfolg, das Verwaltungsgericht habe verkannt, dass die Festsetzungen des Bebauungsplans, von denen befreit worden sei, nachbarschützend seien. Diesen Festsetzungen kommt auch nach Auffassung des Senats keine nachbarschützende Bedeutung zu. Das Verwaltungsgericht hat hierzu unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Oberverwaltungs-gerichts zutreffend aufgezeigt, dass es für die Frage, inwieweit Festsetzungen eines Bebauungsplans drittschützend sind, grundsätzlich auf den Willen der Gemeinde als Planungsträger ankommt und dass danach hier eine drittschützende Wirkung der Festsetzungen des Plans Nr. … zu den überbaubaren Grundstücksflächen nicht anzunehmen ist. Anhaltspunkte für einen solchen Willen der Beklagten sind weder hinreichend aufgezeigt noch ersichtlich. Dies entspricht auch der Würdigung des Senats in dem abgeschlossenen Verfahren zur Anfechtung eines Vorbescheids für ein ähnliches Vorhaben der Beigeladenen in dem hier in Rede stehenden Bereich (Beschluss gleichen Rubrums vom 14.1.2016 - 7 A 585/15 -, juris). Dass die Kläger eine solche nachbarschützende Ausgestaltung der Festsetzungen des Plans bei "vernünftiger Betrachtung" dem Kriterium der Einhaltung notwendiger Grenzabstände für ihr Grundstück entnehmen, vermag die erforderlichen Feststellungen zum Willen des Plangebers nicht zu ersetzen.
6Ungeachtet dessen fehlt der Rüge der Kläger, die Baugenehmigung sei offensichtlich rechtswidrig, weil die Kompetenz des Rats der Beklagten unterlaufen worden sei, aber auch im Übrigen der nachbarrechtliche Bezug.
7Soweit die Kläger rügen, der Nachtragsgenehmigung sei kein aktualisierter Lageplan beigefügt gewesen, wird dadurch die tragende Begründung des Verwaltungsgerichts nicht erschüttert. Aus dem vorliegenden Grundriss der Tiefgarage, der zum Gegenstand der Genehmigung vom 17.5.2019 gemacht worden ist, ergibt sich – wie vom Verwaltungsgericht aufgezeigt – in nachbarrechtlicher Hinsicht hinreichend der Umfang der im Wesentlichen auf die Verringerung der Zahl der Tiefgaragenplätze und der Fahrradstellplätze beschränkten Änderung gegenüber der Genehmigung vom 9.2.2018.
8Soweit die Kläger geltend machen, die Erwägungen des Verwaltungsgerichts zur Berücksichtigung von Rechtsänderungen zugunsten des Bauherrn seien unzutreffend, anstelle der Schutzregelung des § 51 Abs. 7 BauO NRW a. F. sei lediglich das allgemeine, auslegungsfähige Gebot der Rücksichtnahme berücksichtigt worden, führt dies zu keiner anderen Beurteilung. Damit werden die tragenden Annahmen des Verwaltungsgerichts, § 51 Abs. 7 BauO NRW a. F. sei aus Rechtsgründen nicht maßgeblich und eine Verletzung des allgemeinen Rücksichtnahmegebots sei auch mit Blick auf die Anordnung der Tiefgaragenzufahrt nicht gegeben, nicht durchgreifend erschüttert. Ungeachtet dessen ergäbe sich auch bei Anwendung des § 51 Abs. 7 BauO NRW a.F. keine für die Kläger günstigere Beurteilung.
9Eine Verletzung des allgemeinen Rücksichtnahmegebots ist auch mit Blick auf Geräusche oder Schadstoffe durch vorhabenbedingten Kraftfahrzeugverkehr nicht hinreichend dargelegt. Die tragenden Erwägungen des Verwaltungsgerichts werden nicht erschüttert, das die zu erwartenden vorhabenbedingten Beeinträchtigungen im Hinblick auf die Lage des Grundstücks der Kläger und die von der Beklagten aufgezeigte Vorbelastung der näheren Umgebung durch einen faktisch als Parkplatz genutzten Bereich auf dem Baugrundstück als zumutbar charakterisiert hat.
10Die Rüge einer Beeinträchtigung der Belichtung ihres Grundstücks durch die Gebäude der Beigeladenen greift nicht durch. Die Kläger haben auch mit Blick auf die Lage der geplanten Baukörper zu ihrem Grundstück nicht hinreichend dargelegt, dass vorhabenbedingte Verschattungseffekte das Maß dessen überschreiten, was in innerstädtischen bebauten Bereichen regelmäßig hinzunehmen ist.
11Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 14.6.2016 - 7 A 1251/15 -, juris.
12Ebenso wenig ergibt sich eine Rechtsverletzung der Kläger aus dem Vorbringen im Hinblick auf die Nutzung ihrer Terrassenfläche. Hierzu hat das Verwaltungsgericht eingehend dargelegt, dass die Terrassennutzung mit dem materiellen Baurecht nicht in Einklang steht. Dem sind die Kläger nicht entgegengetreten. Angesichts dessen begegnet es keinen ernstlichen Zweifeln, dass eine Minderung der Schutzwürdigkeit dieser Terrassennutzung auf dem Garagendach bei der Beurteilung der Zumutbarkeit zugrunde gelegt worden ist.
13Die des Weiteren angesprochene "erdrückende Wirkung" des Vorhabens mit einer "massiven Bebauung" zulasten des Grundstücks der Kläger ist nach den hierzu geltenden Grundsätzen,
14vgl. dazu näher etwa OVG NRW, Beschluss vom 14.6.2016 - 7 A 1251/15 -, juris,
15ebenso wenig ersichtlich.
16Schließlich ist ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot auch nicht unter dem Aspekt einer Beeinträchtigung der Erschließungssituation aufgezeigt, die die Kläger offenbar mit ihren Ausführungen zum störungsfreien Grundstückszugang ansprechen wollen. Sie machen geltend, das Grundstück könne nur rückwärtsfahrend verlassen werden, dabei müsse der Bereich der Tiefgaragenausfahrt gequert werden, was eine große Gefahrenquelle darstelle. Ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot aufgrund einer vorhabenbedingten Verschlechterung der Erschließungssituation ist nur in besonderen Ausnahmefällen gegeben und setzt voraus, dass die Gesamtbelastung den Eigentümer des Nachbargrundstücks unzumutbar trifft.
17Vgl. OVG NRW, Urteil vom 23.11.2016 - 7 A 775/15 -, juris, m. w. N.
18Dies ist hier auch dann nicht ersichtlich, wenn die Ausführungen der Kläger in tatsächlicher Hinsicht als zutreffend unterstellt werden, wobei dahinstehen kann, inwieweit mit diesem Vortrag überhaupt Gesichtspunkte der Erschließung und nicht nur aus der baulichen Situation auf dem Grundstück der Kläger resultierende Aspekte angesprochen sind.
19Ebenso wenig kommt es für die Beurteilung der Einhaltung des Rücksichtnahmegebots darauf an, ob auch eine andere Ausrichtung der Tiefgaragenzufahrt möglich gewesen wäre.
20Danach sind auch die pauschal behaupteten besonderen Schwierigkeiten der Rechtssache (vgl. § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) nicht dargelegt.
21Das Zulassungsvorbringen führt auch nicht zu dem behaupteten Verfahrensfehler (vgl. § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO). Die Kläger rügen ohne Erfolg einen Verstoß gegen das rechtliche Gehör.
22Sie machen geltend, das Verwaltungsgericht habe sich auf eine Nachtragsbaugenehmigung gestützt, deren Prüfung ihnen in angemessener Frist nicht möglich gewesen sei. Damit ist ein zur Zulassung führender Verfahrensmangel aber nicht hinreichend aufgezeigt. Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt hervorgehoben, dass der Rechtssuchende die nach Lage der Sache gegebenen prozessualen Möglichkeiten ausschöpfen muss, wenn er dessen Verletzung mit Erfolg rügen will.
23Vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.2.1987 - 2 BvR 314/86 -, BVerfGE 74, 220.
24Zu diesen prozessualen Möglichkeiten der bereits erstinstanzlich anwaltlich vertretenen Kläger gehörte auch die Möglichkeit, spätestens in der mündlichen Verhandlung des Verwaltungsgerichts einen Antrag auf Vertagung zu stellen, um sich die aus ihrer Sicht erforderliche Möglichkeit zu eröffnen, die Nachtragsgenehmigung vom 17.5.2019 einschließlich der ergänzenden Begutachtung eingehend zu prüfen und dazu Stellung zu nehmen. Ein solcher Antrag ist ausweislich der vorliegenden Akten aber nicht gestellt worden.
25Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 3 VwGO. Es entspricht der Billigkeit, dass die der Beigeladenen im Zulassungsverfahren entstandenen außergerichtlichen Kosten den Klägern auferlegt werden, denn die Beigeladene hat auch im Zulassungsverfahren einen Antrag gestellt und sich damit auch selbst einem prozessualen Kostenrisiko ausgesetzt (vgl. § 154 Abs. 3 VwGO).
26Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 1 GKG.
27Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
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Tenor
1. Der Antrag des Antragstellers, dem Antragsgegner die Kosten des Verfahrens über den Antrag auf gerichtliche Entscheidung gemäß §§ 23 ff EGGVG aufzuerlegen, wird abgelehnt.2. Der Geschäftswert für das Verfahren über den zurückgenommenen Antrag auf gerichtliche Entscheidung gemäß §§ 23 ff EGGVG wird auf 5.000 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
1 Die Verfahrensbeteiligten streiten um die Kosten des Verfahrens über einen zurückgenommenen Antrag auf gerichtliche Entscheidung gemäß §§ 23 ff EGGVG.
2 Die Strafkammer des Landgerichts [...] ordnete mit einem den Antragsteller freisprechenden, seit dem 4. Juli 2019 rechtskräftigen Urteil (Anlage 1) an, diesen für eine näher bezeichnete Beschlagnahme von Aktien zu entschädigen. Der Antragsteller beantragte bei der Staatsanwaltschaft Mannheim mit Schreiben vom 27. November 2019 (Anlage 2), dessen Eingang die Staatsanwaltschaft mit Schreiben vom 17. Dezember 2019 bestätigte, eine Entschädigung in Höhe von [...] EUR sowie Erstattung von Vergütung für anwaltliche Tätigkeit im Entschädigungsverfahren. Nach einer Stellungnahme der Staatsanwaltschaft (Anlage 4) replizierte der Antragsteller mit Schreiben vom 7. April 2020 (Anlage 5) und forderte zuletzt mit Schreiben vom 24. Juni 2020 (Anlage 6) eine abschließende Stellungnahme bis zum 1. Juli 2020 mit der Ankündigung, die Ansprüche danach gerichtlich geltend zu machen. Der Antragsgegner erließ am 29. Juni 2020 die Entscheidung über die Entschädigung.
3 Vor Zugang dieser Entscheidung beim Antragsteller, der am 6. Juli 2020 erfolgt ist, hat dieser am 3. Juli 2020 den das vorliegende Verfahren einleitenden, auf §§ 23, 27 EGGVG gestützten Antrag beim Strafsenat des Oberlandesgerichts Karlsruhe eingereicht, den Antragsgegner zu verpflichten, seinen Entschädigungsantrag vom 27. November 2019 binnen einer vom Gericht festzusetzenden Frist zu bescheiden. Der Antragsteller hat den Antrag auf gerichtliche Entscheidung am 6. Juli 2020 zurückgenommen. Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung und dessen Rücknahme sind dem Antragsgegner am 8. Juli 2020 übermittelt worden (AS 13). Der Strafsenat hat das Verfahren mit Beschluss vom 4. September 2020 in entsprechender Anwendung von § 17a Abs. 2 Satz 1 GVG an den erkennenden Zivilsenat verwiesen.
4 Der Antragsteller meint, die Kosten seien gemäß § 269 Abs. 3 Satz 3 ZPO dem Antragsgegner aufzuerlegen. Der Antrag habe sich nach Anhängigkeit und vor Rechtshängigkeit erledigt. Er sei zulässig und begründet gewesen. Die beantragte Entscheidung der Landesjustizverwaltung, vertreten durch die Staatsanwaltschaft, nach § 10 Abs. 2 StrEG sei eine Maßnahme der Justizverwaltung im Sinn von § 23 EGGVG. Die noch nach Ablauf der Frist gemäß § 27 Abs. 1 EGGVG gegebene Untätigkeit habe den Antragsteller in seinem Recht auf effektiven Rechtsschutz verletzt, weil sie unabdingbare Voraussetzung für die Eröffnung des Rechtswegs sei; ohne endgültigen Abschluss des Vorverfahrens nach § 10 StrEG sei ein Zivilverfahren nach § 13 StrEG unzulässig. Es bestehe keine andere Möglichkeit des Rechtsschutzes gegen die Untätigkeit, namentlich nach § 198 Abs. 3 GVG noch nach § 30a EGGVG. Der mit gerichtlichem Hinweis zitierten Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Köln (NStZ 1988, 508 = VersR 1989, 66) sei nicht zu entnehmen, dass vorliegend der Verwaltungsrechtsweg eröffnet sei. Insbesondere § 75 Satz 4 VwGO sei vielmehr zu entnehmen, dass dem Antragsteller keine Kosten entstehen sollten, wenn er eine ohne zureichenden Grund nicht in angemessener Frist ergangene behördliche Entscheidung begehre.
5 Der Antragsteller beantragt,
6 die Kosten des Rechtsstreits dem Antragsgegner aufzuerlegen.
7 Der Antragsgegner beantragt,
8 dem Antragsteller die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
9 Der Antragsgegner vertritt die Ansicht, der Antrag sei gemäß § 23 Abs. 3 EGGVG unzulässig, weil gegen die beantragte Entscheidung der Staatsanwaltschaft nach § 10 Abs. 2 StrEG der Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten gemäß § 13 Abs. 1 StrEG gegeben sei, auch wenn vor den Zivilgerichten kein Untätigkeitsantrag entsprechend § 27 EGGVG vorgesehen sei.
II.
10 Das Kostenbegehren des Antragstellers hat keinen Erfolg.
11 1. Über das Kostenbegehren zu befinden, obliegt in dem bereits durch Rücknahme in der Hauptsache beendeten Verfahren nach der Verweisung durch den Strafsenat dem erkennenden Senat.
12 a) Es kann dahinstehen, ob das vorliegende Verfahren innerhalb der Zuständigkeitsabgrenzung in § 25 Abs. 1 Satz 1 EGGVG in der Sache dem Zuständigkeitsbereich des Zivilsenats unterfiele oder vielmehr eine der Zuständigkeit des Strafsenats zugeordnete Angelegenheit der Strafrechtspflege vorläge. Unabhängig davon ist der Senat entsprechend § 17a Abs. 2 Satz 3 EGGVG (gegebenenfalls anstelle des Strafsenats) aufgrund der bindenden rechtskräftigen (§ 17a Abs. 4 Satz 4 GVG) Verweisung zur Entscheidung berufen.
13 Die Bindung einer Verweisung nach § 17a Abs. 2 Satz 1 GVG entfällt – anders bei Verweisungsbeschlüssen gemäß § 281 ZPO – selbst dann nicht ohne Weiteres, wenn sich die Verweisung als objektiv willkürlich erweist. Eine Ausnahme von der Bindungswirkung kommt allenfalls bei extremen Verstößen gegen die den Rechtsweg und seine Bestimmung regelnden materiell- und verfahrensrechtlichen Vorschriften in Betracht (BGH, NJW 2014, 2125 Rn. 12 f; NJW-RR 2015, 957 Rn. 9 ff). Daran fehlt es hier offensichtlich.
14 aa) Dies gilt zunächst hinsichtlich der Frage, ob die ursprünglich begehrte Entscheidung der Justizverwaltungsbehörde über die Entschädigung nach § 10 Abs. 2 StrEG als Justizverwaltungsmaßnahme eine Regelung insbesondere auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts oder des Zivilprozesses oder vielmehr noch auf dem Gebiet der Strafrechtspflege trifft, weil sie kein materielles bürgerlich-rechtliche Rechtsverhältnis betrifft und sie nur als Zulässigkeitsvoraussetzung einen Bezug zur erst anschließenden Entschädigungsklage vor dem Zivilgericht aufweist, zu dessen Verfahren sie nicht gehört. Diese Frage hat der Strafsenat ausdrücklich angesprochen und nachvollziehbar im ersten Sinn beantwortet.
15 bb) Ein der Bindung entgegenstehender Rechtsverstoß ergibt sich auch nicht mit Blick darauf, dass ein Verweisungsbeschluss im Allgemeinen nur während des Rechtsstreits möglich ist, also insbesondere nach Ende der Anhängigkeit – wie hier aufgrund Klagerücknahme – ausgeschlossen ist und eine Rechtswegverweisung nach § 17a Abs. 2 GVG an das zuständige Gericht nur wegen der noch zu treffenden Kostenentscheidung nicht in Betracht kommt (BAG, NJW 2016, 3469 Rn. 12; OVG Lüneburg, NVwZ-RR 2010, 660 mwN; OLG Köln, BauR 2003, 516; NK-VwGO/Ziekow, 5. Aufl., GVG § 17a Rn. 15; siehe auch die allg. Meinung zu § 281 ZPO, vgl. nur OLG Hamburg, NJOZ 2020, 103 f mwN; BeckOK-ZPO/Bacher, Stand Juli 2020, ZPO § 281 Rn. 4a ff mwN). Insoweit liegt schon nicht auf der Hand, dass dieser Grundsatz auch für die zwar gesetzlich angeordnete, allerdings nur die gerichtsinterne Zuständigkeitsabgrenzung nach § 25 EGGVG und eine diesbezügliche entsprechende Anwendung von § 17a EGGVG gilt. Zudem würde selbst ein Verstoß dagegen keine Ausnahme von der Bindungswirkung einer nach § 17a Abs. 2 GVG ergangenen Verweisung rechtfertigen (vgl. BAG, NJW 2016, 3469 Rn. 13). Im Übrigen haben die nach Antragsrücknahme angehörten Verfahrensbeteiligten keine Einwände gegen eine Verweisung erhoben.
16 b) Der Senat kann den Rechtsstreit nicht nach § 17a Abs. 2 Satz 1 GVG zur Kostenentscheidung an die Zivilkammer des Landgerichts weiter verweisen.
17 Dies wäre dem erkennenden Senat allerdings nicht wegen des Verweisungsbeschlusses des Strafsenats verwehrt, denn dieser ist nur hinsichtlich der Zuständigkeitsabgrenzung zwischen den Senaten des Oberlandesgerichts bindend, über die er allein entschieden hat (siehe BGH, NZI 2020, 254 Rn. 16). Der Strafsenat hat dabei die Eröffnung des Rechtswegs nach §§ 23 EGGVG ausdrücklich offengelassen.
18 Zumindest einer (weiteren), nicht nur gerichtsinternen Verweisung auf den Zivilrechtsweg steht aber nach den zuvor dargestellten Grundsätzen entgegen, dass der Antrag auf gerichtliche Entscheidung bereits zurückgenommenen ist.
19 Es braucht daher nicht geprüft zu werden, ob das als Antrag auf gerichtliche Entscheidung formulierte Verpflichtungsbegehren ohne seine Rücknahme nach § 17a Abs. 2 Satz 1 GVG vom an die Zivilkammer des Landgerichts hätte verwiesen werden können und müssen, sofern schon die Zulässigkeit des Rechtswegs nach §§ 23 ff EGGVG zu verneinen war. Es kann mithin dahinstehen, ob hinsichtlich solcher Rechtsschutzbegehren, die Maßnahmen der Justizverwaltung im Zusammenhang mit § 10 StrEG zum Gegenstand haben, Verweisungen zwischen dem in bürgerlich-rechtlichen Streitigkeiten tätigen Zivilgericht und dem Gericht des Verfahrens nach §§ 23 ff EGGVG ungeachtet dessen in Betracht kommen, ob die im jeweiligen Verfahrensrecht geltenden Zulässigkeitsvoraussetzungen gewahrt sind (siehe dazu OLG München, Beschluss vom 18. Februar 2013 - 4 VAs 56/12, juris Rn. 20).
20 2. Das zuletzt vom Antragsteller verfolgte kostenrechtliche Begehren ist nicht gerechtfertigt.
21 Die Entscheidung über die Kosten ist – was sich allerdings im Ergebnis nicht auswirkt – nicht nach der vom Antragsteller zitierten Vorschrift in § 269 Abs. 3 Satz 3 ZPO oder etwa nach der Regelung in § 91a ZPO zu treffen, die im vorliegenden Verfahren nicht unmittelbar anwendbar sind und mangels einer sich im Streitfall auswirkenden Gesetzeslücke auch keiner entsprechenden Anwendung bedürften. Vielmehr bleibt es bei den sich nach den kostenrechtlichen Vorschriften über den Antrag auf gerichtliche Entscheidung regelmäßig und auch hier ergebenden Kostenfolgen.
22 Hinsichtlich der Gerichtskosten trifft den Antragsteller die Veranlasserhaftung kraft Gesetzes nach § 22 Abs. 1 GNotKG, die aufgrund der Antragsrücknahme lediglich eine 0,5 Gebühr gemäß Nr. 15300 KV-GNotKG (anstelle der bei Zurückweisung fälligen 1,0 Gebühr nach Nr. 15301 KV-GNotKG) beträgt (vgl. Zöller/Lückemann, ZPO, 33. Aufl., EGGVG § 30 Rn. 1). Für abweisende Entscheidungen sowie bei Zurücknahme eines Antrags kann nach § 21 Abs. 1 Satz 3 GNotKG von der Erhebung von Kosten abgesehen werden, wenn der Antrag auf unverschuldeter Unkenntnis der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse beruht, was hier mit Blick auf die bei Antragstellung noch nicht zugestellte Entscheidung der Justizverwaltung in Betracht zu ziehen sein mag. Hierüber entscheidet nach § 21 Abs. 2 Satz 1 GNotKG vorliegend das Gericht. Weitergehend mag ausnahmsweise in dem Fall, dass der Antrag auf gerichtliche bei Einreichung tatsächlich gerechtfertigt war eine entsprechende Anwendung von § 269 Abs. 3 Satz 3 ZPO, § 91a ZPO oder etwa § 161 Abs. 2, 3 VwGO in Betracht zu ziehen sein, namentlich bei Erledigung eines Untätigkeitsantrags (vgl. ohne Benennung einer Rechtsgrundlage: BeckOK-GVG/Köhnlein, Stand Aufl. 2020, EGGVG § 30 Rn. 4).
23 Hinsichtlich der Auslagen des Antragstellers sieht § 30 Satz 1 EGGVG vor, dass das Oberlandesgericht nach billigem Ermessen bestimmen kann, dass die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers, die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendig waren, ganz oder teilweise aus der Staatskasse zu erstatten sind. Dabei können die ursprünglichen Erfolgsaussichten eines erledigten oder nach Einreichung seines Anlasses beraubten Sachbegehrens angemessen berücksichtigt werden (siehe allerdings KK-StPO/Mayer, 8. Aufl., EGGVG § 30 Rn. 5 mwN).
24 Im Streitfall ist weder ein Absehen von Kostenerhebung sachgerecht noch entspricht eine Erstattung außergerichtlicher Kosten der Billigkeit. Nach den Umständen des Falls ist dabei auch keine analoge Anwendung von §§ 91a, 269 ZPO, § 161 Abs. 2, 3 VwGO oder entsprechender Vorschriften anderer Prozessordnungen gerechtfertigt. Maßgeblich für diese Beurteilung ist, dass ein Antrag auf Erlass einer gerichtlichen Entscheidung auch unzulässig war, solange noch keine Entscheidung der Landesjustizverwaltung nach § 10 Abs. 1 StrEG ergangen war.
25 a) Als Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 23 EGGVG war das Sachbegehren des Antragstellers schon deshalb unzulässig, weil dieser Rechtsweg nach § 23 Abs. 3 EGGVG ausgeschlossen war.
26 aa) Nach § 23 Abs. 1 EGGVG entscheiden auf Antrag die ordentlichen Gerichte über die Rechtmäßigkeit der Anordnungen, Verfügungen oder sonstigen Maßnahmen, die von den Justizbehörden zur Regelung einzelner Angelegenheiten auf den Gebieten des bürgerlichen Rechts einschließlich des Handelsrechts, des Zivilprozesses, der freiwilligen Gerichtsbarkeit und der Strafrechtspflege getroffen werden. Ziel ist die Erweiterung der Entscheidungskompetenz der ordentlichen Gerichte aus Gründen der Sachnähe. Dementsprechend bestimmt indes § 23 Abs. 3 EGGVG, dass insoweit, als die ordentlichen Gerichte bereits aufgrund anderer Vorschriften angerufen werden können, es hierbei sein Bewenden behält (Mayer in Kissel/Mayer, GVG, 9. Aufl., EGGVG § 23 Rn. 6, 57). Insoweit ist der Rechtsweg nach §§ 23 ff subsidiär (BGHSt 29, 33; Mayer, aaO; vgl. auch OLG Karlsruhe, NStZ 2016, 126).
27 bb) Der Rechtsweg nach §§ 23 ff EGGVG ist danach zur Erwirkung einer Entscheidung der Landesjustizverwaltung nach § 10 Abs. 2 StrEG über einen Antrag, mit dem gemäß § 10 Abs. 1 StrEG ein Anspruch auf Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen bei der Staatsanwaltschaft geltend gemacht worden ist, gemäß § 23 Abs. 3 EGGVG ausgeschlossen, weil für diesen Entschädigungsanspruch nach § 13 Abs. 1 StrEG der Rechtsweg zu den Zivilkammern der Landgerichte gegeben ist.
28 Der Senat schließt sich der zu dieser Frage bisher ergangenen obergerichtlichen Rechtsprechung (OLG Hamburg, Beschluss vom 4. Mai 1977 - VAs 2/77, HmbJVBl 1977, 78 = juris Rn. 2; OLG Köln, NStZ 1988, 508, 509; offengelassen wegen nach § 17a GVG bindender Verweisung: OLG München, Beschluss vom 18. Februar 2013 - 4 VAs 56/12, juris Rn. 20) und der nahezu einhelligen Meinung der Literatur (Mayer in Kissel/Mayer, GVG, 9. Aufl., EGGVG § 23 Rn. 121; KK-StPO/Mayer, 8. Aufl. 2019, EGGVG § 23 Rn. 71; BeckOK-GVG/Köhnlein, Stand Aug. 2020, EGGVG § 23 Rn. 108; LK-StGB/Geppert, 12. Aufl., § 69 Rn. 227; grundsätzlich auch MünchKommStPO/Kunz, StrEG Einl. Rn. 32, § 13 Rn. 1) an, wonach die Verwaltungsentscheidung über die Entschädigung nicht Gegenstand des insoweit wegen § 13 Abs. 1 StrEG ausgeschlossenen Rechtswegs nach §§ 23 ff EGGVG ist. Die vereinzelt und ohne weitergehende Begründung gebliebene Kommentierung, im Fall der Untätigkeit der Justizverwaltung sei der Weg über §§ 23 ff EGGVG zu den Zivilgerichten naheliegender (MünchKommStPO/Kunz, StrEG § 10 Rn. 3), überzeugt nicht.
29 (1) Gegen die Entscheidung der Landesjustizverwaltung (§ 10 Abs. 2 StrEG) über den Entschädigungsanspruch ist nach § 13 Abs. 1 Satz 1 StrEG der Rechtsweg gegeben. Hierfür ist innerhalb von drei Monaten nach Zustellung der Entscheidung Klage zu erheben (§ 13 Abs. 1 Satz 2 StrEG). Für die Ansprüche auf Entschädigung sind gemäß nach § 13 Abs. 1 Satz 3 StrEG die Zivilkammern der Landgerichte ohne Rücksicht auf den Wert des Streitgegenstandes ausschließlich zuständig. Ist eine nach § 10 Abs. 2 StrEG ergangene Entscheidung der Landesjustizverwaltung, die das Entschädigungsbegehren ganz oder teilweise ablehnt, mithin nicht gemäß § 23 Abs. 1 EGGVG, vielmehr allein über den Weg einer Zivilklage nach § 13 Abs. 1 EGGVG anzufechten, kann auch nicht die Verpflichtung der Landesjustizverwaltung zum Erlass des abgelehnten Verwaltungsakts nach § 23 Abs. 2 EGGVG begehrt werden.
30 Dies ist besonders augenfällig, wenn die Entschädigung (teilweise) abgelehnt wird, weil dann nach der insoweit eindeutigen gesetzlichen Regelung das (weitergehende) Begehren vor dem Landgericht erhoben werden soll. Scheidet ein Verpflichtungsantrag nach § 23 Abs. 2 EGGVG gegen die (teilweise) Ablehnung aus, kommt auch ein Untätigkeitsantrag nach § 27 EGGVG nicht in Betracht. Diese Vorschrift will im Fall des Rechtswegs nach § 23 EGGVG den Rechtsschutz insofern erweitern, als sie den Zugang zum Oberlandesgericht bereits bei Untätigkeit eröffnet („auch“). Sie dient damit der Gewährung umfassenden Rechtsschutzes gegen die öffentliche Gewalt (Art. 19 Abs. 4 GG) im Fall der Rechtsverletzung durch Passivität (MünchKommZPO/Pabst, 5. Aufl., EGGVG § 27 Rn. 1). Sie bezweckt nicht, den Rechtsweg nach §§ 23 ff EGGVG auf von § 23 EGGVG nicht erfasste Bereiche der Justizverwaltung auszuweiten, insbesondere auf einen Rechtsschutz gegen die Unterlassung solcher begünstigenden Entscheidungen, deren Ablehnung auf diesem Rechtsweg mit Rücksicht auf § 23 Abs. 1 bis 3 EGGVG nicht anfechtbar wäre (siehe auch BeckOK-GVG/Köhnlein, Stand Aug. 2020, EGGVG § 27 Rn. 2).
31 (2) Das Gebot des Rechtsschutzes gegen die Rechtsverletzungen durch die öffentliche Gewalt (Art. 19 Abs. 4 GG), die Rechtsweggarantie für Schadensersatzansprüche wegen Amtspflichtverletzung (Art. 34 Satz 3 GG) oder der aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. Grundrechten abgeleitete Justizgewährleistungsanspruch gebieten keine abweichende Auslegung der Regelungen in §§ 23 ff EGGVG dahin, dass in dem dort geregelten Rechtsweg eine Entscheidung der Landesjustizverwaltung nach § 10 Abs. 2 StrEG zu erzwingen wäre.
32 Dabei bedarf keiner näheren Erörterung, dass hinsichtlich des Entschädigungsanspruchs als Folge der erlittenen Strafverfolgungsmaßnahme die Verfassungsgarantien nach Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 34 Satz 3 GG ohnehin nicht betroffen sein dürften, weil der (ohnehin nur Sekundärkompensation bewirkende) Entschädigungsanspruch nach §§ 1 ff StrEG keiner Rechtsverletzung entspringt, sondern seiner Rechtsnatur nach ein Aufopferungsanspruch ist, der auf Entschädigung für rechtmäßige Strafverfolgungsmaßnahmen gerichtet ist (Schütz, StV 2008, 52). Weder aus den zuletzt genannten Garantien noch aus dem wohl allein betroffenen Justizgewährleistungsanspruch lässt sich in der Sache ein Bedürfnis ableiten, einen gerichtlichen Rechtsbehelf zu gewähren, um eine dem Rechtsweg nach § 13 Abs. 1 StrEG zur Durchsetzung des Entschädigungsanspruchs vorgelagerte Verwaltungsentscheidung herbeizuführen.
33 (a) Der Zugang zu den Gerichten bei der Durchsetzung der nach dem Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen ausgestalteten Sekundäransprüche wegen eines in die Rechte des Betroffenen eingreifenden (Strafverfolgungs-) Akts der öffentlichen Gewalt ist auch bei Untätigkeit der Landesjustizverwaltung unabhängig davon gewährleistet, dass der Rechtsweg nach §§ 23 ff EGGVG ausgeschlossen ist. Entgegen der Ansicht des Antragstellers ist die Entscheidung der Landesjustizverwaltung nach §10 Abs. 2 StrEG in diesem Fall nicht unabdingbare Voraussetzung für die Eröffnung des Rechtswegs nach § 13 Abs. 1 StrEG.
34 Zwar suspendiert das Fehlen der Verwaltungsentscheidung zunächst den Zugang zu den Zivilgerichten nach § 13 Abs. 1 StrEG. Dies ist – anders als der Antragsgegner möglicherweise meint – nicht unbeschränkt ohne Rechtsschutzmöglichkeit hinzunehmen. Insoweit gilt insbesondere im Rahmen des Justizgewährleistungsanspruchs im Wesentlichen dasselbe wie bei der Rechtsweggarantie nach Art. 19 Abs. 4 GG. Letztere verbietet, die Erhebung der gerichtlichen Klage unbefristet an die Erschöpfung eines Vorverfahrens zu binden; insoweit muss nach Ablauf einer angemessenen Entscheidungsfrist eine Untätigkeitsklage zulässig sein (Schmidt-Aßmann in Maunz/Dürig, GG, Stand Feb. 2020, Art. 19 Abs. 4 Rn. 249). Diesem Bedürfnis ist unter dem Gesichtspunkt der Durchsetzung des Entschädigungsanspruchs aber nicht durch Zulassung eines auf Abschluss des vorgelagerten Verwaltungsverfahrens nach § 10 StrEG gerichteten (Untätigkeits-)Antrags auf gerichtliche Entscheidung nach §§ 23, 27 EGGVG Rechnung zu tragen. Ihm ist vielmehr – zudem effizienter – bei der gebotenen Auslegung des durch die §§ 10 ff StrEG modifizierten Prozessrechts vor dem Zivilgericht genügt, die gewährleistet, dass der Rechtsweg zu den Zivilgerichten auch bei Untätigkeit der Landesjustizverwaltung hinreichend zeitnah beschritten werden kann.
35 Entscheidet die Staatsanwaltschaft nicht sachlich in angemessener Frist über einen Entschädigungsantrag ohne zureichenden Grund, so ist nämlich § 75 VwGO entsprechend anwendbar, mit der Folge, dass unter diesen Umständen eine Klage vor den ordentlichen Gerichten ohne Durchführung des Verwaltungsverfahrens zulässig ist. Mit diesem (im Wesentlichen so bei juris als Orientierungssatz formulierten) Rechtssatz lassen sich die Ausführungen des Oberlandesgerichts Köln in dessen Urteil vom 11. Juli 1988 - 7 U 74/88 (NStZ 1988, 508, 509) bei [II.] 1., denen der Senat sich insoweit anschließt, sinngemäß zusammenfassen. Diese rechtliche Beurteilung ist auch im Schrifttum weitestgehend anerkannt (Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., StrEG § 13 Rn. 1; Geppert in: LK-StGB/Geppert, 12. Aufl., § 69 Rn. 227; BeckOK-StPO/Cornelius, Stand Juli 2020, StrEG § 13 Rn. 1 mwN; BeckOK-OWiG/Grommes, Stand Juli 2020, StrEG § 13 Rn. 2; Geigel/Brodöfel, Haftpflichtprozess, Kap. 21 Rn. 192; Burhoff/Kotz, Handbuch für die strafrechtliche Nachsorge, Teil I Rn. 304; siehe auch OLGReport München 2006, 313, 314; zweifelnd MünchKommStPO/Kunz, StrEG § 10 Rn. 30). Soweit vereinzelt eine (wohl auf Erwirkung der Entscheidung der Landesjustizverwaltung gemäß § 10 Abs. 2 EGGVG zu richtende) Untätigkeitsklage vor dem Verwaltungsgericht für systemgerecht gehalten wird (Meyer, JurBüro 1991, 1591, 1599), vermag der Senat dieser nicht näher begründeten Auffassung nicht zu folgen.
36 Wie das Oberlandesgericht Köln (NStZ 1988, 508, 509) zutreffend ausgeführt hat, sieht § 13 Abs. 1 StrEG seinem Wortlaut nach allerdings nur eine Klage gegen die Entscheidung der Staatsanwaltschaft über die Entschädigung vor. Grundsätzlich ist die Klage deshalb erst zulässig, wenn das Justizverwaltungsverfahren abgeschlossen ist. Für den Fall, dass die Staatsanwaltschaft über den Antrag ohne zureichenden Grund in angemessener Frist sachlich nicht entscheidet, enthält das Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen keine Regelung. Es wäre zumindest sinnwidrig, wenn wegen eines auf Untätigkeit der Staatsanwaltschaft gestützten Antrags auf gerichtliche Entscheidung das Oberlandesgericht nach §§ 23, 27 EGGVG entscheiden sollte, ob über den Entschädigungsantrag bisher ohne zureichenden Grund nicht entschieden worden ist. Das Oberlandesgericht müsste dazu alle rechtlichen und tatsächlichen Umstände des Entschädigungsanspruchs prüfen, obwohl ihm eine Entscheidung in der Sache selbst verwehrt wäre. Eine nicht hinnehmbare Rechtsschutzlücke ist durch entsprechende Anwendung von § 75 VwGO zu schließen, der, wie auch § 46 FGO und § 88 SGG, unter diesen Umständen eine Klage ohne Durchführung des Verwaltungsverfahrens zulässt, wenn über einen Widerspruch oder über einen Antrag auf Vornahme eines Verwaltungsakts ohne zureichenden Grund in angemessener Frist sachlich nicht entschieden worden ist.
37 Einer unmittelbaren Klage vor dem Zivilgericht wegen Untätigkeit steht nicht entgegen, dass § 13 Abs. 1 Satz 1 StrEG als Gegenstand des eröffneten Rechtswegs die Entscheidung der Landesjustizverwaltung nach § 10 Abs. 2 StrEG bezeichnet. Diese Wortwahl beruht auf dem vom Gesetzgeber ins Auge gefassten Regelfall, dass zunächst das Verwaltungsverfahren nach § 10 StrEG wie vom Gesetz gefordert beschritten und abgeschlossen wird. Streitgegenstand des Zivilverfahrens, also prozessualer Anspruch im Sinn von § 261 Abs. 2, § 322 Abs. 1 ZPO ist gleichwohl, wie sich auch aus der Formulierung in § 13 Abs. 1 Satz 3 StrEG ergibt, allein der Anspruch auf Entschädigung nach §§ 1 ff, 7 StrEG als solcher. Die Klage, deren (grundsätzliche) besondere Zulässigkeitsvoraussetzung die Verwaltungsentscheidung lediglich ist, ist nicht etwa auf eine – gegebenenfalls günstigere als die getroffene – Verwaltungsentscheidung zu richten, sondern hat (als Leistungs- oder Feststellungsklage) den Entschädigungsanspruch selbst zum Gegenstand (vgl. Schütz, StV 2008, 52, 53; MünchKommStPO/Kunz, StrEG § 13 Rn. 13). Auch eine Bindung des Zivilgerichts an die Tatsachenfeststellungen oder die Rechtsauffassung der Justizverwaltungsbehörde besteht nicht (OLG München, Beschluss vom 18. Februar 2013 - 4 VAs 56/12, juris Rn. 23; MünchKommStPO/Kunz, StrEG § 13 Rn. 13). Die Entschädigungsklage vor der Zivilkammer setzt daher nicht etwa die Entscheidung der Landesjustizverwaltung schlechthin als tauglichen Klagegegenstand voraus. Mit den Regelungen in §§ 10 bis 13 StrEG wird letztlich lediglich die allgemeine Rechtswegzuweisung der vermögensrechtlichen Ansprüche aus Aufopferung für das gemeine Wohl, zu denen der in Rede stehende Entschädigungsanspruch gehört (Schütz, StV 2008, 52), zu den ordentlichen Gerichten nach § 40 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 VwGO spezialgesetzlich überlagert (siehe auch Ehlers/Schneider in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand Jan. 2020, § 40 Rn. 531) und dabei der besonderen Zulässigkeitsvoraussetzung in Form eines fristgebundenen Vorverfahrens nach § 10 StrEG unterstellt. Daneben wird der Entschädigungsanspruch materiell-rechtlich der an die Fristversäumung geknüpften Präklusion nach § 12 StrEG unterworfen (dazu BGHSt 66, 122).
38 Aus diesen Gründen ist auch der Senat der Auffassung, dass in dem Fall, dass nicht in angemessener Zeit eine beantragte Entscheidung nach § 10 Abs. 2 StrEG ergeht, unmittelbar Klage auf Entschädigung beim Zivilgericht erhoben werden kann. Dafür spricht auch, dass im Fall einer durch die Landesjustizverwaltung nachgeschobenen Entscheidung nach § 10 Abs. 2 StrEG der Prozessaufwand eines insoweit betriebenen Untätigkeitsverfahrens nach §§ 23 ff EGGVG in jedem Fall verloren wäre, das nach § 23 EGGVG angerufene Gericht aber dennoch für die Kostenentscheidung nach § 30 Satz 1 EGGVG prüfen müsste, ob bei Antragstellung eine angemessene Entscheidungsfrist abgelaufen war. Hingegen kann ein bereits begonnenes Zivilverfahren in dem Fall, dass die Landesjustizverwaltung bei ihrer Entscheidung hinter dem Entschädigungsantrag zurückbleibt, insoweit ohne weiteres fortgesetzt werden. Soweit der wegen Untätigkeit zulässig erhobenen Zivilklage in der Sache durch Bewilligung von Entschädigung nach Anhängigkeit des Rechtsstreits abgeholfen wird und die Klage damit unzulässig oder unbegründet wird, können dem Kläger die Kosten nach § 91a ZPO oder § 269 Abs. 3 Satz 3 ZPO erstattet werden.
39 (b) Der Betroffene hat auch kein subjektives Recht darauf oder rechtlich geschütztes Interesse daran, trotz des wegen Untätigkeit bereits eröffneten Rechtswegs zur Zivilkammer des Landgerichts zunächst eine Entscheidung der Landesjustizverwaltung nach § 10 Abs. 2 StrEG zu erhalten, in deren Ausbleiben eine Rechtsverletzung durch die öffentliche Gewalt läge, gegen die Rechtsschutz nach Art. 19 Abs. 4 GG gewährt wäre.
40 (aa) Die Bestimmung in § 10 StrEG regelt die verfahrensrechtliche Geltendmachung des Anspruchs auf Entschädigung für eine Strafverfolgungsmaßnahme. Bei dem Verfahren nach § 10 StrEG handelt es sich um ein der Klage auf Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen vorgeschaltetes rechtsförmliches Verwaltungsverfahren vor der Justizverwaltung (BGHSt 66, 122). Die Lage des Anspruchstellers entspricht dabei derjenigen eines Klägers oder Antragstellers bei der verfahrensrechtlichen Durchsetzung sonstiger öffentlich-rechtlicher Rechte (BGHSt 66, 122). Die Regelung der Ausschlussfrist nach § 12 StrEG verhindert, dass der Berechtigte die Geltendmachung eines Entschädigungsanspruchs unangemessen verzögern kann. Der Gesetzgeber hat damit das öffentliche Interesse an einer möglichst raschen endgültigen Abwicklung des Entschädigungsverfahrens berücksichtigt (BGHSt 66, 122). Die Vorschriften der §§ 10 ff StrEG dienen damit nicht nur dem fiskalischen Interesse, Entschädigungsfälle nach einer gewissen Zeit abzuschließen (BT-Drucks. VI/460, S. 13; BT-Drucks. VI/1512, S. 4) und dem Staat alsbald einen Überblick über bestehende Entschädigungspflichten zu verschaffen, sondern auch der Vermeidung von Beweisschwierigkeiten (BGHZ 108, 14). Indem § 10 Abs. 2 StrEG eine Entscheidung der Landesjustizverwaltung anordnet, wird im Übrigen bestimmt, wer zur Entscheidung über die Schadensersatzforderung berufen ist (BT-Drucks. VI/460, S. 9), also welcher öffentlichen Stelle die Entscheidung obliegt, den Anspruchsteller außergerichtlich zu befriedigen. Die verfahrensrechtliche Ausgestaltung zielt hingegen nicht darauf ab, dem Kläger neben dem einklagbaren Entschädigungsanspruch einen eigenständigen klagbaren Anspruch auf eine Entscheidung durch die Landesjustizverwaltung zu verschaffen.
41 (bb) Aus den verfahrensrechtlichen Bestimmungen ergibt sich auch sonst kein berechtigtes Interesse des Anspruchstellers, das durch das Ausbleiben einer Verwaltungsentscheidung beeinträchtigt würde. Das Fehlen der Entscheidung nach §10 Abs. 2 StrEG führt in einem wegen Untätigkeit zulässig eingeleiteten Zivilprozess nicht zu einer erheblichen Erschwerung der Durchsetzung des Entschädigungsanspruchs.
42 Das vorgeschaltete Verwaltungsverfahren dient nicht etwa einem Interesse des Anspruchstellers an einer erleichterten Darlegung seiner Forderungen. Der Antragsteller ist schon beim Antrag nach § 10 Abs. 1 StrEG grundsätzlich gehalten, innerhalb der Fristen der §§ 10, 12 StrEG unter Angabe von Beweismitteln Art und Umfang der Nachteile, für die er Entschädigung begehrt, konkret zu bezeichnen. Die Anforderungen an die Vollständigkeit des Antrags dürfen allerdings nicht überspannt werden. So ist eine Bezifferung der Schadenshöhe nicht in jedem Fall erforderlich. Das Fehlen einzelner Angaben und Nachweise schadet nicht. Einzelne Schadensposten können nachgeschoben werden. Insgesamt muss der Antrag aber das Begehren des Berechtigten so konkret erkennen lassen, dass es die zuständige Justizverwaltungsbehörde in die Lage versetzt, sogleich in eine erste Prüfung des Anspruchs einzutreten, wobei dem Antragsteller gegebenenfalls eine Ergänzung seiner Angaben und die Beibringung von Beweismitteln aufzugeben ist (BGHZ 108, 14, 20 mwN; MünchKommStPO/Kunz, StrEG § 10 Rn. 9 mwN). Auch ein Feststellungsantrag wird für zulässig erachtet, wenn die Höhe des eingetretenen Schadens im Justizverwaltungsverfahren nicht endgültig beziffert werden kann, wobei bei nachträglicher Bezifferbarkeit der Anspruchsteller die Höhe des geltend gemachten Betrags im Justizverwaltungsverfahren noch nachschieben müsse (MünchKommStPO/Kunz, StrEG § 10 Rn. 12 mwN). Eine Amtsermittlung zu Gunsten des Anspruchstellers findet nicht statt. Vielmehr ist es Sache des Antragstellers, seine Ansprüche darzulegen und nachzuweisen (vgl. MünchKommStPO/Kunz, StrEG § 7 Rn. 13, 16, § 10 Rn. 22). In alledem ergeben sich mithin unter Berücksichtigung der materiellen Prozessleitungspflicht des Zivilgerichts nach §§ 139 ff ZPO keine wesentlichen Unterschiede zum Verfahren über eine unmittelbar erhobene Entschädigungsklage.
43 Auch hinsichtlich der Entscheidung über die Höhe kommt der Verwaltungsentscheidung nach § 10 Abs. 2 StrEG – abgesehen von der Entlastung der Zivilgerichte durch das Vorverfahren – keine Funktion zu, die durch eine zivilgerichtliche Entscheidung im Fall einer unmittelbaren Klage nicht erfüllt werden könnte. Denn die Höhe der Entschädigung ist durch § 7 StrEG gesetzlich festgelegt, wobei dort in § 7 Abs. 1 StrEG genannte Vermögensschaden nach §§ 249 ff BGB zu bestimmen ist (vgl. nur BGH, NJW-RR 1989, 684 mwN; MünchKommStPO/Kunz, StrEG § 7 Rn. 8 mwN) und der allein im Fall der Freiheitsentziehung zu ersetzende Schaden, der nicht Vermögensschaden ist (§ 7 Abs. 1 StrEG), nach § 7 Abs. 3 StrEG durch bezifferten Tagessatz pauschaliert ist. Insoweit hat die Justizverwaltungsbehörde also kein Ermessen, dessen Ausübung dem Gericht verwehrt wäre, sondern bloß über einen – auch der Höhe nach – von Gesetzes wegen bestimmten Anspruch zu entscheiden. Sie kann im Verfahren nach § 10 StrEG den Schaden lediglich – wie auch das Zivilgericht – nach § 287 ZPO schätzen, soweit kein eindeutiger und voller Nachweis erbracht werden kann (MünchKommStPO/Kunz, StrEG § 7 Rn. 16). Im Übrigen hat der Antragsteller im Streitfall seine Entschädigungsforderung bereits mit dem Antrag nach § 10 Abs. 1 StrEG beziffert.
44 b) Von anfänglicher Erfolgsaussicht des Antrags auf gerichtliche Entscheidung und Billigkeit einer Erstattungsanordnung nach § 30 Satz 1 EGGVG ist auch nicht deshalb auszugehen, weil ohne Rücknahme des Antrags möglicherweise dessen amtswegige Verweisung nach § 17a Abs. 2 GVG an das nach § 13 Abs. 1 StrEG für den Entschädigungsanspruch zuständige Landgericht in Betracht gekommen wäre (zur Erledigung vor einem erforderlichen Verweisungsantrag nach § 281 ZPO siehe allerdings BGH, NJW-RR 2020, 125 Rn. 10 ff). Denn der Antrag, die Staatsanwaltschaft zu einer Entscheidung nach § 10 Abs. 2 StrEG zu verpflichten, hätte auch vor dem Landgericht keinen Erfolg haben können und wäre hinsichtlich der Kosten auch nicht nach § 269 Abs. 3 Satz 3 ZPO zu behandeln gewesen, selbst wenn der Wegfall des Klageanlasses erst im Wirksamwerden der Entscheidung nach § 10 Abs. 2 StrEG durch Zugang beim Antragsgegner (siehe entsprechend §§ 41, 43 VwVfG), mithin zwischen Einreichung und Zustellung des Antrags auf gerichtliche Entscheidung eingetreten sein mag. Der auf eine Entscheidung nach § 10 Abs. 2 StrEG gerichtete Verpflichtungsantrag wäre auch vor dem Landgericht bereits während der Untätigkeit der Landesjustizverwaltung unzulässig gewesen, weil es am Rechtsschutzbedürfnis für ein solches Begehren gefehlt hätte; denn der Antragsteller hätte bei Untätigkeit wie ausgeführt Leistungsklage auf Zahlung erheben können. Zudem wäre der Antrag unbegründet gewesen, weil kein subjektiver Anspruch auf eine Entscheidung nach § 10 Abs. 2 StrEG bestand.
45 3. Gründe für die Zulassung der Rechtsbeschwerde nach § 29 Abs. 2 EGGVG sind nicht gegeben. Die Höhe des nach § 79 Abs. 1 Satz 1 GNotKG festzusetzenden folgt aus § 36 Abs. 1 bis 3 GNotKG. Die Bedeutung des bloßen Ziels des vorliegenden Antrags, zur Beschleunigung seiner Anspruchsdurchsetzung (irgend)eine Entscheidung der Landesjustizverwaltung zu erreichen, war nicht mit dem vollen Wert dem mit dem Antrag nach § 10 Abs. 1 StrEG verlangten Entschädigungsbetrags von ca. [...] Mio EUR nebst Gebühren zu bemessen.
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Tenor
Es wird festgestellt, dass die primären Leistungspflichten des Klägers aus dem mit der Beklagten geschlossenen Darlehensvertrag vom 25.04.2015 über 26.096,54 € zur Zahlung der Zinsen in Höhe von 5,83% p.a. sowie zur Erbringung von Tilgungsleistungen aufgrund des Widerrufs seit dem 11.12.2018 erloschen sind.
Die Beklagte wird verurteilt, Zug-um-Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs mit der Fahrgestellnummer WXXXXXXXXX an die Klagepartei 21.470,40 € zu zahlen.
Es wird festgestellt, dass sich die Beklagte mit der Annahme des Fahrzeugs mit der Fahrgestellnummer WXXXXXXX in Annahmeverzug befindet.
Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger von außergerichtlichen Anwaltskosten in Höhe von 1.029,35 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 01.04.2019 freizustellen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Auf den Widerklageantrag zu 1.) wird der Kläger verurteilt, der Beklagten den Pkw der Marke Audi A6 mit der FIN WXXXXXXXX herauszugeben.
Auf den Widerklageantrag zu 2.) wird festgestellt, dass der Kläger verpflichtet ist, der Beklagten Wertersatz für den Wertverlust des Pkw der Marke Audi A6 mit der FIN WXXXXXXX zu leisten, der seit dem 25.04.2015 bis zur Übergabe des Fahrzeugs an die Beklagte, eingetreten ist oder noch eintreten wird und auf einen Umgang mit dem Fahrzeug zurückzuführen ist, der zur Prüfung der Beschaffenheit, der Eigenschaften und der Funktionsweise nicht notwendig war.
Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Beklagte zu 87 % und der Kläger zu 13 %.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
1Tatbestand:
2Die Parteien streiten über die Wirksamkeit eines Darlehens zur Finanzierung eines Kfz aufgrund einer Widerrufserklärung des Klägers.
3Der Kläger erwarb bei der B Köln GmbH einen gebrauchten PKW Audi A6, Fahrgestellnummer WXXXXXXXX zu einem Kaufpreis von 21.890,00 €. Den Kaufpreis finanzierte der Kläger bei der Beklagten, weshalb die Parteien zu diesem Zweck am 25.04.2015 einen Darlehensvertrag mit einer Laufzeit von 96 Monaten schlossen. Der Gesamtkreditbetrag ist zwischen den Parteien streitig, der Nominalzins betrug 5,83% p.a. Der Darlehensvertrag enthält eine Widerrufsinformation. Hinsichtlich des Inhalts und der Gestaltung des Vertrages und insbesondere der Widerrufsinformation wird auf Anlage K1 Bezug genommen.
4Die Beklagte zahlte das Darlehen am 05.05.2015 an das Autohaus aus.
5Der Kläger erklärte mit Schreiben vom 11.12.2018 den Widerruf in Bezug auf den Widerruf des Darlehens und bot die Herausgabe des Kfz gegen die Rückzahlung der Zins- und Tilgungsraten an. Weitere Zahlungen auf das streitgegenständliche Darlehen stellte er dabei unter den Vorbehalt der Rückforderung.
6Die Beklagte reagierte darauf nicht.
7Die Prozessbevollmächtigten des Klägers forderten die Beklagten mit Schreiben vom 01.02.2019 erneut zur Rückzahlung auf. Die Beklagte reagierte darauf ebenfalls nicht.
8Der Kläger behauptet, der Darlehensvertrag sei über einen Nennbetrag in Höhe von 32.716,80 € geschlossen worden. Ferner behauptet er, er habe seinen Prozessbevollmächtigten nach dem Widerruf vom 11.12.2018 mandatiert und ihm seien Rechtsanwaltskosten in Höhe von 1.809,75 € entstanden.
9Er ist der Ansicht, der Darlehensvertrag sei aufgrund des erklärten Widerrufs unwirksam, weshalb sowohl der Darlehensvertrag als auch der Kfz-Kauf rückabzuwickeln seien. Die Widerrufsinformation sei nicht ordnungsgemäß gewesen, sodass die Widerrufsfrist nicht zu laufen begonnen habe.
10Der Kläger beantragt,
111. festzustellen, dass die primären Leistungspflichten des Klägers aus dem mit der Beklagten geschlossenen Darlehensvertrag vom 25.04.2015 über 32.716,80 € zur Zahlung der Zinsen in Höhe von 5,83% p.a. sowie zur Erbringung von Tilgungsleistungen aufgrund des Widerrufs seit dem 11.12.2018 erloschen sind.
122. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, an ihn sämtliche Zahlungen nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit der jeweiligen Zahlung zurück zu gewähren, die er zwischen dem 11.12.2018 und der Rechtskraft dieses Urteils auf den unter Ziff. 1 genannten Darlehensvertrag geleistet hat.
133. die Beklagte zu verurteilen, Zug-um-Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs mit der Fahrgestellnummer WXXXXXXX an die Klagepartei 21.470,40 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
144. festzustellen, dass sich die Beklagte mit der Annahme des Fahrzeugs mit der Fahrgestellnummer WXXXXXXXX in Annahmeverzug befindet.
155. die Beklagte zu verurteilen, ihn von außergerichtlichen Anwaltskosten in Höhe von 1.809,75 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit freizustellen.
16Die Beklagte beantragt,
17 die Klage abzuweisen.
18Hilfswiderklagend beantragt sie,
191. den Kläger zu verurteilen, den PKW der Marke Audi A6 mit der FIN WXXXXXXX an sie herauszugeben.
202. festzustellen, dass der Kläger verpflichtet ist, ihr Wertersatz für den Wertverlust des Pkw der Marke Audi A6 mit der FIN WXXXXXX zu leisten, der seit dem 25.04.2015 bis zur Übergabe des Fahrzeugs an die Beklagte, eingetreten ist oder noch eintreten wird und auf einen Umgang mit dem Fahrzeug zurückzuführen ist, der zur Prüfung der Beschaffenheit, der Eigenschaften und der Funktionsweise nicht notwendig war.
21Der Kläger beantragt,
22 die Hilfswiderklage abzuweisen.
23Die Beklagte behauptet, einen Darlehensvertrag vom 25.04.2015 gebe es zwar, nicht jedoch über einen Betrag von 32.716,80 €. Zudem sei der Kläger nicht in der Lage das Fahrzeug herauszugeben, da er in Rheinbach arbeite und in Köln wohne. Sie ist der Ansicht, es sei nicht nachvollziehbar, dass die angegebene Fahrgestellnummer zum finanzierten Fahrzeug gehöre, weshalb der Vortrag diesbezüglich unschlüssig sei. Der Klageantrag zu 2.) sei mangels Feststellungsinteresses unzulässig. Der Klageantrag zu 3.) sei unbegründet, da der Kläger vorleistungspflichtig sei und eine Zug-um-Zug Verurteilung daher ausscheide. Aus demselben Grund sei kein den Annahmeverzug begründendes Angebot erfolgt. Daher käme es auf eine Wirksamkeit des Widerrufs nicht an.
24Widerklagend begehrt die Beklagte die Herausgabe des streitgegenständlichen Pkw sowie Wertersatz für den Wertverlust des Pkw.
25Sie meint, eine Wertersatzpflicht hänge nicht davon ab, ob über eine solche belehrt wurde. Zudem sei dies ohnehin erfolgt.
26Die Klage ist der Beklagten am 01.04.2019 zugestellt worden. Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivortrags wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst deren Anlagen Bezug genommen.
27Entscheidungsgründe:
28Die Klage ist überwiegend zulässig und überwiegend begründet. Die Hilfswiderklage ist zulässig und begründet.
29I.
30Die Klageanträge 1., 3., 4. und 5. sind zulässig. Die sachliche Zuständigkeit folgt aus §§ 71 Abs. 1, 23 Nr. 1 GVG. Der Streitwert übersteigt 5.000 €.
31Das Landgericht Köln ist zudem gemäß § 29 ZPO örtlich zuständig. Es ist der besondere Gerichtsstand des Erfüllungsortes nach § 29 ZPO gegeben. Das OLG Köln (Beschluss vom 14.04.2020, 12 U 46/20) hat in einer neueren Entscheidung klargestellt, dass der Wohnsitz des Klägers, an dem sich die finanzierte Sache vertragsgemäß befindet, der einheitliche Erfüllungsort für die Erbringung der Leistungen zur Rückabwicklung bei einem widerrufenen verbundenen Kauf- und Darlehensvertrag ist. Dem schließt sich die Kammer an. Das finanzierte Kfz befand sich hier beim Kläger in Köln.
32Für die negative Feststellungsklage (Klageantrag zu 1.)) ist das Landgericht Köln ebenfalls zuständig. Es ist das Gericht zuständig, das für die Leistungsklage umgekehrten Rubrums zuständig wäre (sog. „Spiegelbildformel“). So ist beispielsweise das Gericht am Wohnsitz des Darlehensnehmers für seine negative Feststellungsklage gegen die Kredit gewährende Bank zuständig (Zöller/Schultzky, 32. Auflage 2018, § 29 ZPO, Rn. 25). Da es beim Klageantrag zu 1.) um (geleugnete) Ansprüche der Beklagten gegen den Kläger geht, ist eine Zuständigkeit des Landgerichts am Wohnsitz des Klägers, des Verbrauchers, gegeben.
33Die Anwendung der Spiegelbildformel entspricht der neueren obergerichtlichen Rechtsprechung (vgl. OLG Hamm, Urteil vom 27.11.2019, 31 U 114/18; OLG Stuttgart, Urteil vom 02. Juli 2019, 6 U 312/18; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 22.12.2017, 17 U 107/17; OLG München, Beschluss vom 18. August 2009, 31 AR 355/09; OLG Düsseldorf, Urteil vom 30. Juni 2017, I-17 U 144/16; in diese Richtung auch: OLG Köln, Beschluss vom 27.06.2019, 24 U 149/18).
34Das Feststellungsinteresse für die negative Feststellungsklage ist ebenfalls gegeben. Ein rechtliches Interesse an einer alsbaldigen Feststellung des Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses ist in der Regel gegeben, wenn der Beklagte sich eines Anspruchs gegen den Kläger berühmt. In diesem Fall kommt es nicht darauf an, ob der Beklagte behauptet, bereits jetzt eine durchsetzbare Forderung gegenüber dem Kläger zu besitzen. Die Rechtsstellung des Klägers ist schutzwürdig betroffen, wenn der Beklagte geltend macht, aus dem bestehenden Rechtsverhältnis könne sich unter bestimmten Voraussetzungen ein Anspruch gegen den Kläger ergeben. Da die Beklagte die Wirksamkeit des Widerrufs bestreitet, zielt ihre Bestandsbehauptung auf das Fortbestehen vertraglicher Erfüllungsansprüche gegen den Kläger aus § 488 Abs. 1 Satz 2 BGB (BGH, Urteil vom 16.05.2017, XI ZR 586/15).
35Das Feststellungsinteresse für den Klageantrag zu 4.) ist ebenfalls gegeben. Es handelt sich bei der Feststellung des Annahmeverzuges zwar nicht um ein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis im Sinne des § 256 ZPO, sondern um ein einzelnes, unselbstständiges Element oder eine Vorfrage eines Anspruchs. Eine ausnahmsweise Zulässigkeit des Antrages folgt jedoch aus den besonderen Zwangsvollstreckungsvoraussetzungen gemäß §§ 756, 765 ZPO bei einer Zug um Zug Verurteilung.
36Der Klageantrag zu 2. ist mangels Feststellungsinteresse unzulässig. Der Klageantrag zu 1. beinhaltet bereits die Feststellung, ob derzeitig und auch zukünftig Ansprüche aus dem Vertrag geltend gemacht werden können. Der Klageantrag zu 3. beinhaltet die Rückzahlung bereits geleisteter Zahlungen. Eine Feststellung, dass die Leistungen zurück zu gewähren sind, ist demnach nicht notwendig.
37II.
38Die Klage ist überwiegend begründet.
393.
40Der Feststellungsantrag zu 1.) ist begründet.
41Der Antrag ist gem. §§ 133, 157 BGB so auszulegen, dass der Kläger die Feststellung beantragt, dass die Pflicht zu Zins- und Tilgungszahlungen aus dem Darlehensvertrag vom 25.04.2015 über 26.096,54 € erloschen ist. Der Kläger gibt als Gesamtkreditbetrag 32.716,80 € an. Dies ist jedoch der Gesamtkreditbetrag inklusive der Zinsen. Gemeint ist hier derselbe Darlehensvertrag, lediglich der Gesamtkreditbetrag wurde falsch angegeben. Die Beklagte dringt demnach mit dem Vortrag, dass es den vom Kläger benannten Darlehensvertrag nicht gebe, nicht durch.
42Die Klagepartei hat einen Anspruch auf die begehrte Feststellung, da sie ihre auf Abschluss des Darlehensvertrages gerichtete Erklärung wirksam widerrufen hat.
43Der Klagepartei stand auch im Jahr 2018 im Zusammenhang mit dem Darlehensvertrag noch ein Widerrufsrecht nach §§ 495 Abs. 1, 355 Abs. 1 BGB zu. Die Widerrufsfrist war bei Abgabe der Willenserklärung nicht verstrichen. Die der Klagepartei erteilten Informationen waren inhaltlich zu beanstanden und haben die zweiwöchige Widerrufsfrist mit Vertragsschluss nicht in Gang gesetzt.
44Die Widerrufsfrist beginnt nur dann nicht zu laufen, wenn der Darlehensnehmer zum einen nicht ordnungsgemäß über sein Widerrufsrecht informiert wurde und der Darlehensgeber sich zum anderen nicht auf den Schutz des gesetzlichen Musters der Anlage 7 zu Art. 247 EGBGB berufen kann. Außerdem beginnt die Frist nicht zu laufen, wenn bevor dem Darlehensnehmer im Darlehensvertrag alle weiteren Pflichtangaben gemäß § 492 Abs. 2 BGB i. V. m. Art. 247, §§ 6-13 EGBGB mitgeteilt worden sind.
45Der Einwand des Klägers, dass die nach Art. 247 § 6 Abs. 1 Nr. 3 EGBGB erforderliche Angabe der zuständigen Aufsichtsbehörde fehlt, greift durch. Tatsächlich findet sich in dem von beiden Parteien vorgelegten Vertragstext kein Hinweis auf die Aufsichtsbehörde. Die Beklagte geht auf diesen Einwand auch nicht ein und nennt keine Fundstelle dazu im Vertragstext.
46Ebenfalls erhebt der Kläger erfolgreich den Einwand, dass kein Hinweis nach Art. 247 § 6 Abs. 1 Nr. 4 EGBGB auf den Anspruch auf einen Tilgungsplan erfolgt ist. Ein solcher ist im Vertragstext ebenfalls nicht aufzufinden, wiederum nennt die Beklagte keine Fundstelle.
47Ferner fehlt ein ordnungsgemäßer Hinweis auf den Verzugszins gem. Art. 247 § 6 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3 Nr. 11 EGBGB. Ziff. 10 der AKB enthält lediglich den Hinweis, dass die Bank im Falle des Zahlungsverzuges Sollzinsen in gesetzlicher Höhe berechnet. Dies ist nicht ausreichend. Es fehlen Angaben zur Art und Weise der etwaigen Anpassung des Verzugszinssatzes. Beispielsweise entspricht die Angabe des Verzugszinses im Wege der Formulierung wie in § 288 Abs. 1 BGB den gesetzlichen Anforderungen (vgl. BGH XI ZR 650/18, Urteil vom 05.11.2019, TZ 52). Dies ist jedoch als Mindestmaß anzusehen. Die Angabe der Beklagten enthält keinerlei Bezifferung. Für den durchschnittlichen Verbraucher ist die Angabe nicht ausreichend um nachvollziehen zu können, welche Zinsen für ihn anfallen.
484.
49Der Klageantrag zu 3. ist überwiegend begründet.
50Der Kläger hat gem. §§ 357 Abs. 1, 358 Abs. 4 BGB einen Anspruch auf Zahlung in Höhe von 15.676,80 € Zug-um-Zug gegen Rückgewähr des Kfz.
51Die Rechtsfolgen des Widerrufs richten sich nach §§ 357 ff. BGB, da der Vertrag nach dem 13.06.2014 geschlossen wurde.
52Gem. §§ 357 Abs. 4, 358 Abs. 4 BGB ist der Verbraucher bei der Rückgewähr vorleistungspflichtig, sodass die Beklagte grundsätzlich die Leistung verweigern kann bis sie das Kfz zurückerhalten hat. Die Rückgewährpflichten sind grundsätzlich nicht mehr Zug-um-Zug zu erfüllen (Palandt/Grüneberg, § 357 BGB, Rn. 5).
53Davon wird jedoch gem. § 357 Abs. 4 S. 2 BGB eine Ausnahme gemacht, wenn der Unternehmer angeboten hat, die Ware abzuholen. In der Widerrufsbelehrung hat die Beklagte angegeben, dass nicht paketversandfähige Sachen beim Kreditnehmer abgeholt werden. Dies ist als Angebot, die Ware abzuholen, zu werten. Die Beklagte muss sich an der von ihr erteilten und zum Vertragsbestandteil gewordenen Widerrufsbelehrung festhalten lassen. Danach ist zwischen den Parteien vereinbart, dass die Ware im Falle eines Widerrufs von der Beklagten abgeholt wird. Bei Greifen der Ausnahme nach § 357 Abs. 4 S. 2 BGB erfolgt die Rückgewähr Zug-um-Zug (Palandt/Grüneberg, § 357 BGB, Rn. 5).
54Der Kläger hat Anspruch auf eine Rückzahlung in Höhe von 21.470,40 €. Der entscheidungserhebliche Zeitpunkt ist für den Kläger aufgrund des Schriftsatznachlasses der 10.09.2020. Seit Vertragsschluss im Mai 2015 sind bis zu diesem Zeitpunkt 63 Monate vergangen. Es wurden 63 Raten in Höhe von 340,80 € gezahlt, insgesamt also 21.470,40 €.
55Ein Zinsanspruch aus §§ 286 Abs. 1, 288 Abs. 1 BGB besteht nicht, da Verzug Einredefreiheit voraussetzt und diese bei einer Zug-um-Zug Leistung nicht besteht.
565.
57Der Antrag zu 4.) ist ebenfalls begründet. Der Kläger hat die Rückgewähr des Kfz mit Widerrufsschreiben vom 11.12.2018 ausdrücklich angeboten. Auch wenn der Kläger in Rheinbach arbeitet und in Köln wohnt, hindert dies nicht seine Herausgabebereitschaft.
586.
59Der Klageantrag zu 5.) ist nur teilweise begründet. Der Kläger hat gem. §§ 286 Abs. 1, 288 BGB einen Anspruch auf Freistellung von Rechtsanwaltskosten in Höhe von 1.029,35 €.
60Die Beklagte bestreitet unzulässigerweise mit Nichtwissen, dass dem Kläger außergerichtliche Rechtsanwaltskosten entstanden sind. Die vorgerichtliche Tätigkeit des Prozessbevollmächtigten wurde qualifiziert dargelegt und ergibt sich allein aus der Darlegung, dass der Prozessbevollmächtigte die Beklagte außergerichtlich zur Zahlung aufgefordert hat. Das Schreiben vom 01.02.2019 ist ausreichender Beweis für die Tätigkeit. Da eine Freistellung beantragt ist, muss nicht dargelegt werden, dass der Kläger eine etwaige Rechnung bereits beglichen hat.
61Die Höhe der Rechtsanwaltsgebühren ist jedoch geringer als vom Kläger angegeben. Der Kläger geht von einer 1,6 Geschäftsgebühr nach Nr. 2003 VV RVG aus, wobei vermutlich Nr. 2300 gemeint ist. Die Mittelgebühr nach Nr. 2300 VV RVG ist jedoch 1,3. Eine besondere Schwierigkeit und Bedeutung ist der Sache hier nicht beizumessen. Es handelt sich um einen typischen Darlehenswiderruf.
62Zudem wurde nicht der korrekte Streitwert zugrunde gelegt. Dieser ergibt sich bei Feststellungsbegehren aus der Summe der Zins- und Tilgungsleistungen bis zum Widerruf (vgl. BGH, Beschluss vom 10.01.2017, XI ZB 17/16; Beschluss vom 04.03.2016, XI ZR 39/15; Beschluss vom 12.01.2016, XI ZR 366/15). Die Zins- und Tilgungsleistungen bis zum Widerruf belaufen sich auf 14.313,60 € (Mai 2015 – Dezember 2018). Der klägerische Rechtsanwalt hat zusätzlich ein Zahlungsbegehren geltend gemacht, sodass der Streitwert auf den Wert des Zahlungsbegehrens, 15.336,00 €, zu erhöhen war.
63Daraus ergibt sich eine außergerichtliche Rechtsanwaltsvergütung in Höhe von 1.029,35 € (845,00 € + 20 € Auslagenpauschale + 0,19% Umsatzsteuer).
64Der Zinsanspruch für diesen Betrag ergibt sich aus §§ 291, 288 Abs. 1 S. 2 BGB.
65III.
66Die Bedingung unter die die Erhebung der Hilfswiderklage gestellt wurde, die Stattgabe der Klage, ist eingetreten.
67Die Hilfswiderklage ist zulässig.
68Das Landgericht Köln ist auch für die Hilfswiderklage örtlich zuständig, gem. §§ 12, 13 ZPO. Die sachliche Zuständigkeit folgt aus § 33 ZPO, wonach Klage und Widerklage unabhängig vom Streitwert miteinander verbunden werden können. Die Hilfswiderklage ist auch konnex. Es besteht ein innerlich zusammengehöriges, einheitliches Lebensverhältnis. Die Ansprüche sind auf ein gemeinsames Rechtsverhältnis, den verbundenen Vertrag, zurückzuführen. Der Umstand, dass die Widerklage unter einer Bedingung erhoben worden ist, begegnet keinen Bedenken, da es sich um eine innerprozessuale Bedingung handelt und der Eintritt lediglich von der Entscheidung des Gerichts abhängt.
69Das nach § 256 Abs. 1 ZPO für den Klageantrag zu 2.) erforderliche Feststellungsinteresse ist ebenfalls gegeben. Ein vorrangiger Leistungsantrag konnte seitens der Beklagten nicht gestellt werden, da sich der Pkw noch im Besitz des Klägers befindet. Der Kläger hat etwaige Wertersatzansprüche nicht im Vorhinein von seiner Klageforderung abgezogen und den Hilfswiderklageantrag zu 2.) auch nicht anerkannt, sodass von einem Leugnen des Anspruchs auszugehen ist.
70IV.
71Die Hilfswiderklage ist auch begründet.
72Der Hilfswiderklageantrag zu 1.) ist begründet. Aufgrund des wirksamen Widerrufs hat die Beklagte einen Anspruch auf Herausgabe des Pkw aus § 355 Abs. 3 i.V.m. § 358 Abs. 4 S. 1, S. 5 BGB.
73Dass der Kläger seinen Zahlungsanspruch lediglich Zug-um-Zug geltend macht und der Beklagte bei Geltendmachung des Zahlungsanspruches durch den Kläger den Pkw zurück erhält, steht dem nicht im Wege. Die Beklagte hat einen Herausgabeanspruch, den sie unabhängig vom Zahlungsanspruch des Klägers selbstständig geltend machen kann. Dieser Herausgabeanspruch besteht auch nicht nur Zug-um-Zug, da das Widerrufsrecht nicht mehr auf das Rücktrittsrecht verweist. § 355 Abs. 3 S. 1 BGB sieht keine Zug-um-Zug Leistung mehr vor (MüKo/Fritsche, § 355 BGB, Rn. 66).
74Der Hilfswiderklageantrag zu 2.) ist begründet. Die Beklagte hat einen Anspruch auf Wertersatz gem. § 358 Abs. 4 S. 1 BGB i.V.m. § 357 Abs. 7 BGB.
75Danach ist vom Verbraucher Wertersatz für einen Wertverlust der Ware zu leisten, wenn der Wertverlust zum einen auf einen Umgang mit den Waren zurückzuführen ist, der zur Prüfung der Beschaffenheit, der Eigenschaften und der Funktionsweise der Waren nicht notwendig war und zum anderen nach Art. 246a § 1 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 des EGBGB über das Widerrufsrecht belehrt wurde.
76Der Kläger hat den Pkw auf Dauer genutzt, sodass der Umgang mit dem streitgegenständlichen Pkw über die bloße Prüfung hinausging.
77Die Beklagte hat auch über das Widerrufsrecht des Klägers belehrt.
78Eine gänzlich ordnungsgemäße und nicht zu beanstandende Widerrufsbelehrung ist für die Belehrung nach Nr. 2 nicht erforderlich, solange sie nicht gänzlich unbrauchbar ist (Nordholtz/Bleckwenn, NJW 2017, 2497, 2498 ff.). In den Fällen einer fehlerhaften Widerrufsbelehrung fängt bereits die Widerrufsfrist nicht an zu laufen. Dass die Wertersatzpflicht des Verbrauchers auch noch von einer einwandfreien Belehrung abhängen soll, war vom Gesetzgeber nicht gewollt (Herresthal, ZIP 2019, 49, 52).
79Teilweise wird angenommen, dass die Pflicht zum Wertersatz schon beim kleinsten Belehrungsmangel entfällt (AG Dülmen, Urteil vom 13.03.2018, 3 C 282/17; MüKo/Fritsche, § 357 BGB, Rn. 35). Dem ist jedoch insbesondere bei verbundenen Geschäften, bei denen § 357 Abs. 7 über § 358 Abs. 4 S. 1 BGB zur Anwendung kommt, nicht zu folgen (BeckOGK/Mörsdorf, § 357 BGB, Rn. 74; MüKo/Fritsche, § 357 BGB, Rn. 35, der auf Nordholtz/Bleckwenn, NJW 2017, 2497, 2498 ff. verweist).
80Dahinstehen kann, ob die Belehrung nach § 357 Abs. 7 BGB einen Hinweis auf die Wertersatzpflicht des Verbrauchers erfordert. Hier hat die Beklagte in ihrer Widerrufsinformation unter Spiegelstrich 3 der „Besonderheiten bei weiteren Verträgen“ darauf hingewiesen, dass wenn der Kreditnehmer die aufgrund des verbundenen Vertrags überlassene Sache nicht oder teilweise nicht oder nur in verschlechtertem Zustand zurückgewähren kann, er insoweit ggf. Wertersatz zu leisten hat. Diese Formulierung entspricht dem Gestaltungshinweis 6c der zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses geltenden Musterwiderrufsbelehrung. Es wurde lediglich der Zusatz „ggf.“ hinzugefügt, was unschädlich ist. Dieser Zusatz stellt noch einmal klar, dass Wertersatz nur zu leisten ist, wenn der Gegenstand tatsächlich an Wert verloren hat. Verwendet der Unternehmer den Text des Gestaltungshinweises, genügt die Belehrung den gesetzlichen Anforderungen (Palandt/Grüneberg, 79. Auflage 2020, § 357 BGB, Rn. 10).
81V.
82Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 ZPO.
83Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 709 S. 1 ZPO.
84Der Streitwert wird auf 24.470,40 EUR festgesetzt.
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Tenor
Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens einschließlich der erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 10.000 Euro festgesetzt.
1G r ü n d e:
2Der Antrag hat keinen Erfolg.
3Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Die angefochtene Baugenehmigung vom 9.2.2018 in der Fassung vom 17.5.2019 nebst Befreiungen verstoße nicht gegen Vorschriften, die der Klägerin subjektive Rechte vermittelten. Die angesprochenen Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. … zu den überbaubaren Grundstücksflächen und zum Maß der baulichen Nutzung seien nicht nachbarschützend. Ein Verstoß gegen das bauplanungsrechtliche Rücksichtnahmegebot sei nicht gegeben. Der gebotene Abstand sei eingehalten. Es seien auch keine unzumutbaren Belästigungen durch Kraftfahrzeugverkehr im Zusammenhang mit der Tiefgarage zu erwarten.
4Das dagegen gerichtete Vorbringen der Klägerin führt nicht zu den geltend gemachten ernstlichen Zweifeln an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils (vgl. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
5Die Klägerin rügt ohne Erfolg eine Verletzung des Gebietsgewährleistungsanspruchs, die das Verwaltungsgericht mit näherer Begründung verneint hat. Sie macht geltend, anstelle der bisher durch Einfamilienhäuser geprägten Wohnbebauung trete nun eine massive mehrgeschossige Bebauung mit Tiefgaragen. Sie verkennt damit die Reichweite des Gebietsgewährleistungsanspruchs. Der Gebietsgewährleistungsanspruch begründet kein Abwehrrecht gegen Mehrfamilienhäuser in einem bisher durch Einfamilienhausbebauung geprägten Gebiet.
6Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 14.11.2016 - 7 A 743/16 -, juris, m. w. N.
7Die Klägerin rügt ferner ohne Erfolg, das Verwaltungsgericht habe verkannt, dass die Festsetzungen des Bebauungsplans in Bezug auf die Baufenster nachbarschützend seien. Diesen Festsetzungen kommt auch nach Auffassung des Senats keine nachbarschützende Bedeutung zu. Das Verwaltungsgericht hat hierzu unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Oberverwaltungs-gerichts zutreffend aufgezeigt, dass es für die Frage, inwieweit Festsetzungen eines Bebauungsplans drittschützend sind, grundsätzlich auf den Willen der Gemeinde als Planungsträger ankommt und dass danach hier eine drittschützende Wirkung der Festsetzungen des Plans Nr. … zu den überbaubaren Grundstücksflächen nicht anzunehmen ist. Anhaltspunkte für einen solchen Willen der Beklagten sind weder hinreichend aufgezeigt noch ersichtlich. Dies entspricht auch der Würdigung des Senats in dem abgeschlossenen Parallelverfahren zur Anfechtung eines Vorbescheids für ein ähnliches Vorhaben der Beigeladenen in dem hier in Rede stehenden Bereich (Senatsbeschluss vom 14.1.2016 - 7 A 585/15 -, juris). Dass die Klägerin eine solche nachbarschützende Ausgestaltung der Festsetzungen des Plans darin sieht, dass es für die Einhaltung der Grenzabstände keinen anderen vernünftigen Grund gebe, vermag die erforderlichen Feststellungen zum Willen des Plangebers nicht zu ersetzen.
8Ungeachtet dessen fehlt der Rüge der Klägerin, die Baugenehmigung sei offensichtlich rechtswidrig, weil die Kompetenz des Rats der Beklagten unterlaufen worden sei, aber auch im Übrigen der nachbarrechtliche Bezug.
9Soweit die Klägerin rügt, der Nachtragsgenehmigung sei kein aktualisierter Lageplan beigefügt gewesen, wird dadurch die tragende Begründung des Verwaltungsgerichts nicht erschüttert. Aus dem vorliegenden Grundriss der Tiefgarage, der zum Gegenstand der Genehmigung vom 17.5.2019 gemacht worden ist, ergibt sich – wie vom Verwaltungsgericht aufgezeigt – in nachbarrechtlicher Hinsicht hinreichend der Umfang der im Wesentlichen auf die Verringerung der Zahl der Tiefgaragenplätze und der Fahrradstellplätze beschränkten Änderung gegenüber der Genehmigung vom 9.2.2018.
10Soweit die Klägerin geltend macht, die Erwägungen des Verwaltungsgerichts zur Berücksichtigung von Auswirkungen zugunsten des Bauherrn seien unzutreffend, anstelle der Schutzregelung des § 51 Abs. 7 BauO NRW a. F. sei lediglich ein allgemeines auslegungsfähiges Gebot der Rücksichtnahme zu berücksichtigen, führt dies zu keiner anderen Beurteilung. Damit werden die tragenden Annahmen des Verwaltungsgerichts, § 51 Abs. 7 BauO NRW a. F. sei aus Rechtsgründen nicht maßgeblich und eine Verletzung des allgemeinen Rücksichtnahmegebots sei auch mit Blick auf die Anordnung der Tiefgaragenzufahrt nicht gegeben, nicht durchgreifend erschüttert. Ungeachtet dessen ergäbe sich auch bei Anwendung des § 51 Abs. 7 BauO NRW a.F. keine für die Klägerin günstigere Beurteilung. Ebenso wenig kommt es für die Beurteilung der Einhaltung des Rücksichtnahmegebots darauf an, ob auch eine andere Ausrichtung der Tiefgaragenzufahrt möglich gewesen wäre.
11Eine Verletzung des allgemeinen Rücksichtnahmegebots ist ferner hinsichtlich der Geräusche oder Schadstoffe durch vorhabenbedingten Kraftfahrzeugverkehr mit dem Zulassungsvorbringen nicht hinreichend dargelegt. Die tragenden Erwägungen des Verwaltungsgerichts werden nicht erschüttert, das die zu erwartenden vorhabenbedingten Beeinträchtigungen im Hinblick auf die Lage des Grundstücks der Klägerin und die von der Beklagten aufgezeigte Vorbelastung der näheren Umgebung durch einen faktisch als Parkplatz genutzten Bereich auf dem Baugrundstück als zumutbar charakterisiert hat.
12Die Rüge einer Beeinträchtigung der Belichtung des Grundstücks der Klägerin durch die Gebäude der Beigeladenen greift ebenso wenig durch. Die Klägerin hat auch mit Blick auf die Lage der geplanten Baukörper zu ihrem Grundstück nicht hinreichend dargelegt, dass vorhabenbedingte Verschattungseffekte bzw. Beeinträchtigungen der Belichtung das Maß dessen überschreiten, was in innerstädtischen bebauten Bereichen regelmäßig hinzunehmen ist.
13Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 14.6.2016 - 7 A 1251/15 -, juris.
14Die des Weiteren der Sache nach angesprochene "erdrückende Wirkung" des Vorhabens mit einer "massiven Bebauung" zulasten des Grundstücks der Klägerin ist nach den hierzu geltenden Grundsätzen,
15vgl. dazu näher etwa OVG NRW, Beschluss vom 14.6.2016 - 7 A 1251/15 -, juris,
16ebenso wenig ersichtlich.
17Danach sind auch die pauschal behaupteten besonderen Schwierigkeiten der Rechtssache (vgl. § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) nicht dargelegt.
18Das Zulassungsvorbringen führt auch nicht zu dem behaupteten Verfahrensfehler (vgl. § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO). Die Klägerin rügt ohne Erfolg einen Verstoß gegen das rechtliche Gehör.
19Sie macht geltend, das Verwaltungsgericht habe sich auf eine Nachtragsbaugenehmigung gestützt, deren Prüfung ihr in angemessener Frist nicht möglich gewesen sei. Damit ist ein zur Zulassung führender Verfahrensmangel aber nicht hinreichend aufgezeigt. Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt hervorgehoben, dass der Rechtssuchende die nach Lage der Sache gegebenen prozessualen Möglichkeiten ausschöpfen muss, wenn er dessen Verletzung mit Erfolg rügen will.
20Vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.2.1987 - 2 BvR 314/86 -, BVerfGE 74, 220.
21Zu diesen prozessualen Möglichkeiten der bereits erstinstanzlich anwaltlich vertretenen Klägerin gehörte auch die Möglichkeit, spätestens in der mündlichen Verhandlung des Verwaltungsgerichts einen Antrag auf Vertagung zu stellen, um sich die aus ihrer Sicht erforderliche Möglichkeit zu eröffnen, die Nachtragsgenehmigung vom 17.5.2019 einschließlich der ergänzenden Begutachtung eingehend zu prüfen und dazu Stellung zu nehmen. Ein solcher Antrag ist ausweislich der vorliegenden Akten aber nicht gestellt worden.
22Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 3 VwGO. Es entspricht der Billigkeit, dass die der Beigeladenen im Zulassungsverfahren entstandenen außergerichtlichen Kosten der Klägerin auferlegt werden, denn die Beigeladene hat auch im Zulassungsverfahren einen Antrag gestellt und sich damit auch selbst einem prozessualen Kostenrisiko ausgesetzt (vgl. § 154 Abs. 3 VwGO).
23Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 1 GKG.
24Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
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