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7207-8-6 | Gutenberg | 9,964 | Die
geistige Ueberlegenheit, welche früher trennte und verfeindete, pflegt
jetzt zu binden: wie könnten die Einzelnen sich selbst behaupten
und auf eigener Bahn, allen Strömungen entgegen, durch das Leben
schwimmen, wenn sie nicht ihres Gleichen hier und dort unter gleichen
Bedingungen leben sähen und deren Hand ergriffen, im Kampfe eben so
sehr gegen den ochlokratischen Charakter des Halbgeistes und der
Halbbildung, als gegen die gelegentlichen Versuche, mit Hülfe der
Massenwirkung eine Tyrannei aufzurichten? Die Oligarchen sind einander
nöthig, sie haben an einander ihre beste Freude, sie verstehen ihre
Abzeichen, - aber trotzdem ist ein jeder von ihnen frei, er kämpft und
siegt an seiner Stelle und geht lieber unter, als sich zu unterwerfen. 262. Homer. - Die grösste Thatsache in der griechischen Bildung bleibt doch
die, dass Homer so frühzeitig panhellenisch wurde. Alle geistige und
menschliche Freiheit, welche die Griechen erreichten, geht auf diese
Thatsache zurück. Aber zugleich ist es das eigentliche Verhängniss
der griechischen Bildung gewesen, denn Homer verflachte, indem er
centralisirte, und löste die ernsteren Instincte der Unabhängigkeit
auf. Von Zeit zu Zeit erhob sich aus dem tiefsten Grunde des
Hellenischen der Widerspruch gegen Homer; aber er blieb immer
siegreich. Alle grossen geistigen Mächte üben neben ihrer befreienden
Wirkung auch eine unterdrückende aus; aber freilich ist es ein
Unterschied, ob Homer oder die Bibel oder die Wissenschaft die
Menschen tyrannisiren. 263. Begabung. - In einer so hoch entwickelten Menschheit, wie die jetzige
ist, bekommt von Natur Jeder den Zugang zu vielen Talenten mit. Jeder
hat angeborenes Talent, aber nur Wenigen ist der Grad von Zähigkeit,
Ausdauer, Energie angeboren und anerzogen, so dass er wirklich ein
Talent wird, also wird, was er ist, das heisst: es in Werken und
Handlungen entladet. 264. Der Geistreiche entweder überschätzt oder unterschätzt. -
Unwissenschaftliche, aber begabte Menschen schätzen jedes Anzeichen
von Geist, sei es nun, dass er auf wahrer oder falscher Fährte ist;
sie wollen vor Allem, dass der Mensch, der mit ihnen verkehrt, sie gut
mit seinem Geist unterhalte, sie ansporne, entflamme, zu Ernst und
Scherz fortreisse und jedenfalls vor der Langenweile als kräftigstes
Amulet schütze. Die wissenschaftlichen Naturen wissen dagegen, dass
die Begabung, allerhand Einfälle zu haben, auf das strengste durch den
Geist der Wissenschaft gezügelt werden müsse; nicht Das, was glänzt,
scheint, erregt, sondern die oft unscheinbare Wahrheit ist die Frucht,
welche er vom Baum der Erkenntniss zu schütteln wünscht. | 2,621 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_400 | 390 |
7207-8-6 | Gutenberg | 9,964 | Er darf,
wie Aristoteles, zwischen "Langweiligen" und "Geistreichen" keinen
Unterschied machen, sein Dämon führt ihn durch die Wüste ebenso wie
durch tropische Vegetation, damit er überall nur an dem Wirklichen,
Haltbaren, Aechten seine Freude habe. - Daraus ergiebt sich, bei
unbedeutenden Gelehrten, eine Missachtung und Verdächtigung des
Geistreichen überhaupt, und wiederum haben geistreiche Leute häufig
eine Abneigung gegen die Wissenschaft: wie zum Beispiel fast alle
Künstler. 265. Die Vernunft in der Schule. - Die Schule hat keine wichtigere Aufgabe,
als strenges Denken, vorsichtiges Urtheilen, consequentes Schliessen
zu lehren: desshalb hat sie von allen Dingen abzusehen, die nicht für
diese Operationen tauglich sind, zum Beispiel von der Religion. Sie
kann ja darauf rechnen, dass menschliche Unklarheit, Gewöhnung und
Bedürfniss später doch wieder den Bogen des allzustraffen Denkens
abspannen. Aber so lange ihr Einfluss reicht, soll sie Das erzwingen,
was das Wesentliche und Auszeichnende am Menschen ist- "Vernunft
und Wissenschaft des Menschen allerhöchste Kraft" - wie wenigstens
Goethe urtheilt. - Der grosse Naturforscher von Baer findet die
Ueberlegenheit aller Europäer im Vergleich zu Asiaten in der
eingeschulten Fähigkeit, dass sie Gründe für Das, was sie glauben,
angeben können, wozu Diese aber völlig unfähig sind. Europa ist in die
Schule des consequenten und kritischen Denkens gegangen, Asien weiss
immer noch nicht zwischen Wahrheit und Dichtung zu unterscheiden
und ist sich nicht bewusst, ob seine Ueberzeugungen aus eigener
Beobachtung und regelrechtem Denken oder aus Phantasien stammen. - Die
Vernunft in der Schule hat Europa zu Europa gemacht: im Mittelalter
war es auf dem Wege, wieder zu einem Stück und Anhängsel Asiens zu
werden, - also den wissenschaftlichen Sinn, welchen es den Griechen
verdankte, einzubüssen. 266. Unterschätzte Wirkung des gymnasialen Unterrichts. - Man sucht den
Werth des Gymnasiums selten in den Dingen, welche wirklich dort
gelernt und von ihm unverlierbar heimgebracht werden, sondern in
denen, welche man lehrt, welche der Schüler sich aber nur mit
Widerwillen aneignet, um sie, so schnell er darf, von sich
abzuschütteln. Das Lesen der Classiker - das giebt jeder Gebildete
zu - ist so, wie es überall getrieben wird, eine monströse Procedur:
vor jungen Menschen, welche in keiner Beziehung dazu reif sind, von
Lehrern, welche durch jedes Wort, oft durch ihr Erscheinen schon einen
Mehlthau über einen guten Autor legen. | 2,498 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_401 | 370 |
7207-8-6 | Gutenberg | 9,964 | Aber darin liegt der Werth, der
gewöhnlich verkannt wird, - dass diese Lehrer die abstracte Sprache
der höhern Cultur reden, schwerfällig und schwer zum Verstehen,
wie sie ist, aber eine hohe Gymnastik des Kopfes; dass Begriffe,
Kunstausdrücke, Methoden, Anspielungen in ihrer Sprache fortwährend
vorkommen, welche die jungen Leute im Gespräche ihrer Angehörigen und
auf der Gasse fast nie hören. Wenn die Schüler nur hören, so wird ihr
Intellect zu einer wissenschaftlichen Betrachtungsweise unwillkürlich
präformirt. Es ist nicht möglich, aus dieser Zucht völlig unberührt
von der Abstraction als reines Naturkind herauszukommen. 267. Viele Sprachen lernen. - Viele Sprachen lernen füllt das Gedächtniss
mit Worten, statt mit Thatsachen und Gedanken, aus, während diess ein
Behältniss ist, welches bei jedem Menschen nur eine bestimmt begränzte
Masse von Inhalt aufnehmen kann. Sodann schadet das Lernen vieler
Sprachen, insofern es den Glauben, Fertigkeiten zu haben, erweckt und
thatsächlich auch ein gewisses verführerisches Ansehen im Verkehre
verleiht; es schadet sodann auch indirect dadurch, dass es dem
Erwerben gründlicher Kenntnisse und der Absicht, auf redliche Weise
die Achtung der Menschen zu verdienen, entgegenwirkt. Endlich ist es
die Axt, welche dem feineren Sprachgefühl innerhalb der Muttersprache
an die Wurzel gelegt wird: diess wird dadurch unheilbar beschädigt und
zu Grunde gerichtet. Die beiden Völker, welche die grössten Stilisten
erzeugten, Griechen und Franzosen, lernten keine fremden Sprachen. -
Weil aber der Verkehr der Menschen immer kosmopolitischer werden muss,
und zum Beispiel ein rechter Kaufmann in London jetzt schon sich in
acht Sprachen schriftlich und mündlich verständlich zu machen hat, so
ist freilich das Viele-Sprachen-lernen ein nothwendiges Uebel; welches
aber zuletzt zum Aeussersten kommend, die Menschheit zwingen wird,
ein Heilmittel zu finden: und in irgend einer fernen Zukunft wird es
eine neue Sprache, zuerst als Handelssprache, dann als Sprache des
geistigen Verkehres überhaupt, für Alle geben, so gewiss, als es
einmal Luft-Schifffahrt giebt. Wozu hätte auch die Sprachwissenschaft
ein Jahrhundert lang die Gesetze der Sprache studirt und das
Nothwendige, Werthvolle, Gelungene an jeder einzelnen Sprache
abgeschätzt! 268. Zur Kriegsgeschichte des Individuums. | 2,327 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_402 | 330 |
7207-8-6 | Gutenberg | 9,964 | - Wir finden in ein einzelnes
Menschenleben, welches durch mehrere Culturen geht, den Kampf
zusammengedrängt, welcher sich sonst zwischen zwei Generationen,
zwischen Vater und Sohn, abspielt: die Nähe der Verwandtschaft
verschärft diesen Kampf, weil jede Partei schonungslos das ihr so gut
bekannte Innere der anderen Partei mit hineinzieht; und so wird dieser
Kampf im einzelnen Individuum am erbittertsten sein; hier schreitet
jede neue Phase über die früheren mit grausamer Ungerechtigkeit und
Verkennung von deren Mitteln und Zielen hinweg. 269. Um eine Viertelstunde früher. - Man findet gelegentlich Einen, der mit
seinen Ansichten über seiner Zeit steht, aber doch nur um so viel,
dass er die Vulgäransichten des nächsten Jahrzehnts vorwegnimmt. Er
hat die öffentliche Meinung eher, als sie öffentlich ist, das heisst:
er ist einer Ansicht, die es verdient trivial zu werden, eine
Viertelstunde eher in die Arme gefallen, als Andere. Sein Ruhm pflegt
aber viel lauter zu sein, als der Ruhm der wirklichen Grossen und
Ueberlegenen. 270. Die Kunst, zu lesen. - jede starke Richtung ist einseitig; sie nähert
sich der Richtung der geraden Linie und ist wie diese ausschliessend,
das heisst sie berührt nicht viele andere Richtungen, wie diess
schwache Parteien und Naturen in ihrem wellenhaften Hin- und Hergehen
thun: das muss man also auch den Philologen nachsehen, dass sie
einseitig sind. Herstellung und Reinhaltung der Texte, nebst der
Erklärung derselben, in einer Zunft jahrhundertelang fortgetrieben,
hat endlich jetzt die richtigen Methoden finden lassen; das ganze
Mittelalter war tief unfähig zu einer streng philologischen Erklärung,
das heisst zum einfachen Verstehenwollen dessen, was der Autor sagt,
- es war Etwas, diese Methoden zu finden, man unterschätze es nicht! Alle Wissenschaft hat dadurch erst Continuität und Stetigkeit
gewonnen, dass die Kunst des richtigen Lesens, das heisst die
Philologie, auf ihre Höhe kam. 271. Die Kunst, zu schliessen. - Der grösste Fortschritt, den die Menschen
gemacht haben, liegt darin, dass sie richtig schliessen lernen. Das
ist gar nicht so etwas Natürliches, wie Schopenhauer annimmt, wenn er
sagt: "zu schliessen sind Alle, zu urtheilen Wenige fähig", sondern
ist spät erlernt und jetzt noch nicht zur Herrschaft gelangt. Das faische Schliessen ist in älteren Zeiten die Regel: und
die Mythologien aller Völker, ihre Magie und ihr Aberglaube,
ihr religiöser Cultus, ihr Recht sind die unerschöpflichen
Beweis-Fundstätten für diesen Satz. 272. Jahresringe der individuellen Cultur. | 2,546 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_403 | 381 |
7207-8-6 | Gutenberg | 9,964 | - Die Stärke und Schwäche
der geistigen Productivität hängt lange nicht so an der angeerbten
Begabung, als an dem mitgegebenen Maasse von Spannkraft. Die meisten
jungen Gebildeten von dreissig Jahren gehen um diese Frühsonnenwende
ihres Lebens zurück und sind für neue geistige Wendungen von da an
unlustig. Desshalb ist dann gleich wieder zum Heile einer fort und
fort wachsenden Cultur eine neue Generation nöthig, die es nun
aber ebenfalls nicht weit bringt: denn um die Cultur des Vaters
nachzuholen, muss der Sohn die angeerbte Energie, welche der Vater
auf jener Lebensstufe, als er den Sohn zeugte, selber besass, fast
aufbrauchen; mit dem kleinen Ueberschuss kommt er weiter (denn weil
hier der Weg zum zweiten Mal gemacht wird, geht es ein Wenig schneller
vorwärts; der Sohn verbraucht, um das Selbe zu lernen, was der Vater
wusste, nicht ganz so viel Kraft). Sehr spannkräftige Männer, wie zum
Beispiel Goethe, durchmessen so viel als kaum vier Generationen hinter
einander vermögen; desshalb kommen sie aber zu schnell voraus, so
dass die anderen Menschen sie erst in dem nächsten Jahrhundert
einholen, vielleicht nicht einmal völlig, weil durch die häufigen
Unterbrechungen die Geschlossenheit der Cultur, die Consequenz der
Entwickelung geschwächt worden ist. - Die gewöhnlichen Phasen der
geistigen Cultur, welche im Verlauf der Geschichte errungen ist,
holen die Menschen immer schneller nach. Sie beginnen gegenwärtig in
die Cultur als religiös bewegte Kinder einzutreten und bringen es
vielleicht im zehnten Lebensjahre zur höchsten Lebhaftigkeit dieser
Empfindungen, gehen dann in abgeschwächtere Formen (Pantheismus)
über, während sie sich der Wissenschaft nähern; kommen über Gott,
Unsterblichkeit und dergleichen ganz hinaus, aber verfallen den
Zaubern einer metaphysischen Philosophie. Auch diese wird ihnen
endlich unglaubwürdig; die Kunst scheint dagegen immer mehr zu
gewähren, so dass eine Zeit lang die Metaphysik kaum noch in einer
Umwandelung zur Kunst oder als künstlerisch verklärende Stimmung
übrig bleibt und fortlebt. Aber der wissenschaftliche Sinn wird immer
gebieterischer und führt den Mann hin zur Naturwissenschaft und
Historie und namentlich zu den strengsten Methoden des Erkennens,
während der Kunst eine immer mildere und anspruchslosere Bedeutung
zufällt. Diess Alles pflegt sich jetzt innerhalb der ersten dreissig
Jahre eines Mannes zu ereignen. Es ist die Recapitulation eines
Pensums, an welchem die Menschheit vielleicht dreissigtausend Jahre
sich abgearbeitet hat. 273. Zurückgegangen, nicht zurückgeblieben. | 2,560 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_404 | 372 |
7207-8-6 | Gutenberg | 9,964 | - Wer gegenwärtig seine
Entwickelung noch aus religiösen Empfindungen heraus anhebt und
vielleicht längere Zeit nachher in Metaphysik und Kunst weiterlebt,
der hat sich allerdings ein gutes Stück zurückbegeben und beginnt
sein Wettrennen mit anderen modernen Menschen unter ungünstigen
Voraussetzungen: er verliert scheinbar Raum und Zeit. Aber dadurch,
dass er sich in jenen Bereichen aufhielt, wo Gluth und Energie
entfesselt werden und fortwährend Macht als vulcanischer Strom aus
unversiegbarer Quelle strömt, kommt er dann, sobald er sich nur
zur rechten Zeit von jenen Gebieten getrennt hat, um so schneller
vorwärts, sein Fuss ist beflügelt, seine Brust hat ruhiger, länger,
ausdauernder athmen gelernt. - Er hat sich nur zurückgezogen, um
zu seinem Sprunge genügenden Raum zu haben: so kann selbst etwas
Fürchterliches, Drohendes in diesem Rückgange liegen. 274. Ein Ausschnitt unseres Selbst als künstlerisches Object. - Es ist ein
Zeichen überlegener Cultur, gewisse Phasen der Entwickelung, welche
die geringeren Menschen fast gedankenlos durchleben und von der Tafel
ihrer Seele dann wegwischen, mit Bewusstsein festzuhalten und ein
getreues Bild davon zu entwerfen: denn diess ist die höhere Gattung
der Malerkunst, welche nur Wenige verstehen. Dazu wird es nöthig, jene
Phasen künstlich zu isoliren. Die historischen Studien bilden die
Befähigung zu diesem Malerthum aus, denn sie fordern uns fortwährend
auf, bei Anlass eines Stückes Geschichte, eines Volkes - oder
Menschenlebens uns einen ganz bestimmten Horizont von Gedanken,
eine bestimmte Stärke von Empfindungen, das Vorwalten dieser, das
Zurücktreten jener vorzustellen. Darin, dass man solche Gedanken- und
Gefühlssysteme aus gegebenen Anlässen schnell reconstruiren kann, wie
den Eindruck eines Tempels aus einigen zufällig stehen gebliebenen
Säulen und Mauerresten, besteht der historische Sinn. Das nächste
Ergebniss desselben ist, dass wir unsere Mitmenschen als ganz
bestimmte solche Systeme und Vertreter verschiedener Culturen
verstehen, das heisst als nothwendig, aber als veränderlich. Und wiederum, dass wir in unserer eigenen Entwickelung Stücke
heraustrennen und selbständig hinstellen können. 275. Cyniker und Epikureer. - Der Cyniker erkennt den Zusammenhang zwischen
den vermehrten und stärkeren Schmerzen des höher cultivirten Menschen
und der Fülle von Bedürfnissen; er begreift also, dass die Menge von
Meinungen über das Schöne, Schickliche, Geziemende, Erfreuende ebenso
sehr reiche Genuss-, aber auch Unlustquellen entspringen lassen
musste. | 2,537 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_405 | 355 |
7207-8-6 | Gutenberg | 9,964 | Gemäss dieser Einsicht bildet er sich zurück, indem er viele
dieser Meinungen aufgiebt und sich gewissen Anforderungen der Cultur
entzieht; damit gewinnt er ein Gefühl der Freiheit und der Kräftigung;
und allmählich, wenn die Gewohnheit ihm seine Lebensweise erträglich
macht, hat er in der That seltnere und schwächere Unlustempfindungen,
als die cultivirten Menschen, und nähert sich dem Hausthier an;
überdiess empfindet er Alles im Reiz des Contrastes und - schimpfen
kann er ebenfalls nach Herzenslust; so dass er dadurch wieder hoch
über die Empfindungswelt des Thieres hinauskommt. - Der Epikureer hat
den selben Gesichtspunct wie der Cyniker; zwischen ihm und jenem ist
gewöhnlich nur ein Unterschied des Temperamentes. Sodann benutzt der
Epikureer seine höhere Cultur, um sich von den herrschenden Meinungen
unabhängig zu machen; er erhebt sich über dieselben, während
der Cyniker nur in der Negation bleibt. Er wandelt gleichsam in
windstillen, wohlgeschützten, halbdunkelen Gängen, während über ihm,
im Winde, die Wipfel der Bäume brausen und ihm verrathen, wie heftig
bewegt da draussen die Welt ist. Der Cyniker dagegen geht gleichsam
nackt draussen im Windeswehen umher und härtet sich bis zur
Gefühllosigkeit ab. 276. Mikrokosmus und Makrokosmus der Cultur. - Die besten Entdeckungen
über die Cultur macht der Mensch in sich selbst, wenn er darin zwei
heterogene Mächte waltend findet. Gesetzt, es lebe Einer eben so sehr
in der Liebe zur bildenden Kunst oder zur Musik als er vom Geiste der
Wissenschaft fortgerissen werde, und er sehe es als unmöglich an,
diesen Widerspruch durch Vernichtung der einen und volle Entfesselung
der anderen Macht aufzuheben: so bleibt ihm nur übrig, ein so grosses
Gebäude der Cultur aus sich zu gestalten, dass jene beiden Mächte,
wenn auch an verschiedenen Enden desselben, in ihm wohnen können,
während zwischen ihnen versöhnende Mittelmächte, mit überwiegender
Kraft, um nöthigen falls den ausbrechenden Streit zu schlichten, ihre
Herberge haben. Ein solches Gebäude der Cultur im einzelnen Individuum
wird aber die grösste Aehnlichkeit mit dem Culturbau in ganzen
Zeitperioden haben und eine fortgesetzte analogische Belehrung über
denselben abgeben. Denn überall, wo sich die grosse Architektur der
Cultur entfaltet hat, war ihre Aufgabe, die einander widerstrebenden
Mächte zur Eintracht vermöge einer übermächtigen Ansammelung der
weniger unverträglichen übrigen Mächte zu zwingen, ohne sie desshalb
zu unterdrücken und in Fesseln zu schlagen. 277. Glück und Cultur. | 2,523 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_406 | 375 |
7207-8-6 | Gutenberg | 9,964 | - Der Anblick der Umgebungen unserer Kindheit
erschüttert uns: das Gartenhaus, die Kirche mit den Gräbern, der Teich
und der Wald, - diess sehen wir immer als Leidende wieder. Mitleid
mit uns selbst ergreift uns, denn was haben wir seitdem Alles
durchgelitten! Und hier steht jegliches noch so still, so ewig da:
nur wir sind so anders, so bewegt; selbst etliche Menschen finden wir
wieder, an welchen die Zeit nicht mehr ihren Zahn gewetzt hat, als
an einem Eichenbaume: Bauern, Fischer, Waldbewohner - sie sind die
selben. - Erschütterung, Selbstmitleid im Angesichte der niederen
Cultur ist das Zeichen der höheren Cultur; woraus sich ergiebt, dass
durch diese das Glück jedenfalls nicht gemehrt worden ist. Wer eben
Glück und Behagen vom Leben ernten will, der mag nur immer der höheren
Cultur aus dem Wege gehen. 278. Gleichniss vom Tanze. - Jetzt ist es als das entscheidende Zeichen
grosser Cultur zu betrachten, wenn jemand jene Kraft und Biegsamkeit
besitzt, um ebenso rein und streng im Erkennen zu sein als, in
andern Momenten, auch befähigt, der Poesie, Religion und Metaphysik
gleichsam hundert Schritte vorzugeben und ihre Gewalt und Schönheit
nachzuempfinden. Eine solche Stellung zwischen zwei so verschiedenen
Ansprüchen ist sehr schwierig, denn die Wissenschaft drängt zur
absoluten Herrschaft ihrer Methode, und wird diesem Drängen nicht
nachgegeben, so entsteht die andere Gefahr eines schwächlichen Auf-
und Niederschwankens zwischen verschiedenen Antrieben. Indessen: um
wenigstens mit einem Gleichniss einen Blick auf die Lösung dieser
Schwierigkeit zu eröffnen, möge man sich doch daran erinnern, dass
der Tanz nicht das Selbe wie ein mattes Hin- und Hertaumeln zwischen
verschiedenen Antrieben ist. Die hohe Cultur wird einem kühnen Tanze
ähnlich sehen: wesshalb, wie gesagt, viel Kraft und Geschmeidigkeit
noth thut. 279. Von der Erleichterung des Lebens. - Ein Hauptmittel, um sich das Leben
zu erleichtern, ist das Idealisiren aller Vorgänge desselben; man
soll sich aber aus der Malerei recht deutlich machen, was idealisiren
heisst. Der Maler verlangt, dass der Zuschauer nicht zu genau, zu
scharf zusehe, er zwingt ihn in eine gewisse Ferne zurück, damit
er von dort aus betrachte; er ist genöthigt, eine ganz bestimmte
Entfernung des Betrachters vom Bilde vorauszusetzen; ja er muss
sogar ein ebenso bestimmtes Maass von Schärfe des Auges bei seinem
Betrachter annehmen; in solchen Dingen darf er durchaus nicht
schwanken. | 2,455 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_407 | 377 |
7207-8-6 | Gutenberg | 9,964 | Jeder also, der sein Leben idealisiren will, muss es
nicht zu genau sehen wollen und seinen Blick immer in eine gewisse
Entfernung zurückbannen. Dieses Kunststück verstand zum Beispiel
Goethe. 280. Erschwerung als Erleichterung und umgekehrt. - Vieles, was auf
gewissen Stufen des Menschen Erschwerung des Lebens ist, dient einer
höheren Stufe als Erleichterung, weil solche Menschen stärkere
Erschwerungen des Lebens kennen gelernt haben. Ebenso kommt das
Umgekehrte vor: so hat zum Beispiel die Religion ein doppeltes
Gesicht, je nachdem ein Mensch zu ihr hinaufblickt, um von ihr sich
seine Last und Noth abnehmen zu lassen, oder auf sie hinabsieht, wie
auf die Fessel, welche ihm angelegt ist, damit er nicht zu hoch in die
Lüfte steige. 281. Die höhere Cultur wird nothwendig missverstanden. - Wer sein
Instrument nur mit zwei Saiten bespannt hat, wie die Gelehrten, welche
ausser dem Wissenstrieb nur noch einen anerzogenen religiösen haben,
der versteht solche Menschen nicht, welche auf mehr Saiten spielen
können. Es liegt im Wesen der höheren vielsaitigeren Cultur, dass sie
von der niederen immer falsch gedeutet wird; wie diess zum Beispiel
geschieht, wenn die Kunst als eine verkappte Form des Religiösen gilt. Ja Leute, die nur religiös sind, verstehen selbst die Wissenschaft als
Suchen des religiösen Gefühls, so wie Taubstumme nicht wissen, was
Musik ist, wenn nicht sichtbare Bewegung. 282. Klagelied. - Es sind vielleicht die Vorzüge unserer Zeiten, welche
ein Zurücktreten und eine gelegentliche Unterschätzung der vita
contemplativa mit sich bringen. Aber eingestehen muss man es sich,
dass unsere Zeit arm ist an grossen Moralisten, dass Pascal, Epictet,
Seneca, Plutarch wenig noch gelesen werden, dass Arbeit und Fleiss -
sonst im Gefolge der grossen Göttin Gesundheit - mitunter wie eine
Krankheit zu Wüthen scheinen. Weil Zeit zum Denken und Ruhe im Denken
fehlt, so erwägt man abweichende Ansichten nicht mehr: man begnügt
sich, sie zu hassen. Bei der ungeheuren Beschleunigung des Lebens
wird Geist und Auge an ein halbes oder falsches Sehen und Urtheilen
gewöhnt, und jedermann gleicht den Reisenden, welche Land und Volk von
der Eisenbahn aus kennen lernen. | 2,188 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_408 | 338 |
7207-8-6 | Gutenberg | 9,964 | Selbständige und vorsichtige Haltung
der Erkenntniss schätzt man beinahe als eine Art Verrücktheit ab, der
Freigeist ist in Verruf gebracht, namentlich durch Gelehrte, welche an
seiner Kunst, die Dinge zu betrachten, ihre Gründlichkeit und ihren
Ameisenfleiss vermissen und ihn gern in einen einzelnen Winkel der
Wissenschaft bannen möchten: während er die ganz andere und höhere
Aufgabe hat, von einem einsam gelegenen Standorte aus den ganzen
Heerbann der wissenschaftlichen und gelehrten Menschen zu befehligen
und ihnen die Wege und Ziele der Cultur zu zeigen. - Eine solche
Klage, wie die eben abgesungene, wird wahrscheinlich ihre Zeit haben
und von selber einmal, bei einer gewaltigen Rückkehr des Genius' der
Meditation, verstummen. 283. Hauptmangel der thätigen Menschen. - Den Thätigen fehlt gewöhnlich die
höhere Thätigkeit: ich meine die individuelle. Sie sind als Beamte,
Kaufleute, Gelehrte, das heisst als Gattungswesen thätig, aber nicht
als ganz bestimmte einzelne und einzige Menschen; in dieser Hinsicht
sind sie faul. - Es ist das Unglück der Thätigen, dass ihre Thätigkeit
fast immer ein Wenig unvernünftig ist. Man darf zum Beispiel bei dem
geldsammelnden Banquier nach dem Zweck seiner rastlosen Thätigkeit
nicht fragen: sie ist unvernünftig. Die Thätigen rollen, wie der Stein
rollt, gemäss der Dummheit der Mechanik. - Alle Menschen zerfallen,
wie zu allen Zeiten so auch jetzt noch, in Sclaven und Freie; denn wer
von seinem Tage nicht zwei Drittel für sich hat, ist ein Sclave, er
sei übrigens wer er wolle: Staatsmann, Kaufmann, Beamter, Gelehrter. 284. Zu Gunsten der Müssigen. - Zum Zeichen dafür, dass die Schätzung des
beschaulichen Lebens abgenommen hat, wetteifern die Gelehrten jetzt
mit den thätigen Menschen in einer Art von hastigem Genusse, so dass
sie also diese Art, zu geniessen, höher zu schätzen scheinen, als
die, welche ihnen eigentlich zukommt und welche in der That viel mehr
Genuss ist. Die Gelehrten schämen sich des otium. Es ist aber ein edel
Ding um Musse und Müssiggehen. - Wenn Müssiggang wirklich der Anfang
aller Laster ist, so befindet er sich also wenigstens in der nächsten
Nähe aller Tugenden; der müssige Mensch ist immer noch ein besserer
Mensch als der thätige. - Ihr meint doch nicht, dass ich mit Musse und
Müssiggehen auf euch ziele, ihr Faulthiere? -
285. Die moderne Unruhe. | 2,346 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_409 | 367 |
7207-8-6 | Gutenberg | 9,964 | - Nach dem Westen zu wird die moderne Bewegtheit
immer grösser, so dass den Amerikanern die Bewohner Europa's
insgesammt sich als ruheliebende und geniessende Wesen darstellen,
während diese doch selbst wie Bienen und Wespen durcheinander fliegen. Diese Bewegtheit wird so gross, dass die höhere Cultur ihre Früchte
nicht mehr zeitigen kann; es ist, als ob die Jahreszeiten zu rasch auf
einander folgten. Aus Mangel an Ruhe läuft unsere Civilisation in eine
neue Barbarei aus. Zu keiner Zeit haben die Thätigen, das heisst die
Ruhelosen, mehr gegolten. Es gehört desshalb zu den nothwendigen
Correcturen, welche man am Charakter der Menschheit vornehmen muss,
das beschauliche Element in grossem Maasse zu verstärken. Doch hat
schon jeder Einzelne, welcher in Herz und Kopf ruhig und stetig ist,
das Recht zu glauben, dass er nicht nur ein gutes Temperament, sondern
eine allgemein nützliche Tugend besitze und durch die Bewahrung dieser
Tugend sogar eine höhere Aufgabe erfülle. 286. Inwiefern der thätige faul ist. - Ich glaube, dass jeder über jedes
Ding, über welches Meinungen möglich sind, eine eigene Meinung haben
muss, weil er selber ein eigenes, nur einmaliges Ding ist, das zu
allen anderen Dingen eine neue, nie dagewesene Stellung einnimmt. Aber die Faulheit, welche im Grunde der Seele des Thätigen liegt,
verhindert den Menschen, das Wasser aus seinem eigenen Brunnen zu
schöpfen. - Mit der Freiheit der Meinungen steht es wie mit der
Gesundheit: beide sind individuell, von beiden kann kein allgemein
gültiger Begriff aufgestellt werden. Das, was das eine Individuum zu
seiner Gesundheit nöthig hat, ist für ein anderes schon Grund zur
Erkrankung, und manche Mittel und Wege zur Freiheit des Geistes dürfen
höher entwickelten Naturen als Wege und Mittel zur Unfreiheit gelten. 287. Censor vitae. Der Wechsel von Liebe und Hass bezeichnet für eine
lange Zeit den inneren Zustand eines Menschen, welcher frei in seinem
Urtheile über das Leben werden will; er vergisst nicht und trägt den
Dingen Alles nach, Gutes und Böses. Zuletzt, wenn die ganze Tafel
seiner Seele mit Erfahrungen voll geschrieben ist, wird er das Dasein
nicht verachten und hassen, aber es auch nicht lieben, sondern über
ihm liegen bald mit dem Auge der Freude, bald mit dem der Trauer, und,
wie die Natur, bald sommerlich, bald herbstlich gesinnt sein. 288. Nebenerfolg. | 2,357 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_410 | 372 |
7207-8-6 | Gutenberg | 9,964 | - Wer ernstlich frei werden will, wird dabei ohne allen
Zwang die Neigung zu Fehlern und Lastern mit verlieren; auch Aerger
und Verdruss werden ihn immer seltener anfallen. Sein Wille nämlich
will Nichts angelegentlicher, als Erkennen und das Mittel dazu, das
heisst: den andauernden Zustand, in dem er am tüchtigsten zum Erkennen
ist. 289. Werth der Krankheit. - Der Mensch, der krank zu Bette liegt, kommt
mitunter dahinter, dass er für gewöhnlich an seinem Amte, Geschäfte
oder an seiner Gesellschaft krank ist und durch sie jede Besonnenheit
über sich verloren hat: er gewinnt diese Weisheit aus der Musse, zu
welcher ihn seine Krankheit zwingt. 290. Empfindung auf dem Lande. - Wenn man nicht feste, ruhige Linien am
Horizonte seines Lebens hat, Gebirgs- und Waldlinien gleichsam, so
wird der innerste Wille des Menschen selber unruhig, zerstreut und
begehrlich wie das Wesen des Städters: er hat kein Glück und giebt
kein Glück. 291. Vorsicht der freien Geister. - Freigesinnte, der Erkenntniss allein
lebende Menschen werden ihr äusserliches Lebensziel, ihre endgültige
Stellung zu Gesellschaft und Staat bald erreicht finden und zum
Beispiel mit einem kleinen Amte oder einem Vermögen, das gerade zum
Leben ausreicht, gerne sich zufrieden geben; denn sie werden sich
einrichten so zu leben, dass eine grosse Verwandelung der äusseren
Güter, ja ein Umsturz der politischen Ordnungen ihr Leben nicht mit
umwirft. Auf alle diese Dinge verwenden sie so wenig wie möglich an
Energie, damit sie mit der ganzen angesammelten Kraft und gleichsam
mit einem langen Athem in das Element des Erkennens hinabtauchen. So können sie hoffen, tief zu tauchen und auch wohl auf den Grund
zu sehen. - Von einem Ereigniss wird ein solcher Geist gerne nur
einen Zipfel nehmen, er liebt die Dinge in der ganzen Breite und
Weitschweifigkeit ihrer Falten nicht: denn er will sich nicht in
diese verwickeln. - Auch er kennt die Wochentage der Unfreiheit, der
Abhängigkeit, der Dienstbarkeit. Aber von Zeit zu Zeit muss ihm ein
Sonntag der Freiheit kommen, sonst wird er das Leben nicht aushalten. - Es ist wahrscheinlich, dass selbst seine Liebe zu den Menschen
vorsichtig und etwas kurzathmig sein wird, denn er will sich nur,
so weit es zum Zwecke der Erkenntniss nöthig ist, mit der Welt der
Neigungen und der Blindheit einlassen. Er muss darauf vertrauen, dass
der Genius der Gerechtigkeit Etwas für seinen Jünger und Schützling
sagen wird, wenn anschuldigende Stimmen ihn arm an Liebe nennen
sollten. | 2,489 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_411 | 398 |
7207-8-6 | Gutenberg | 9,964 | - Es giebt in seiner Lebens- und Denkweise einen verfeinerten
Heroismus, welcher es verschmäht, sich der grossen Massen-Verehrung,
wie sein gröberer Bruder es thut, anzubieten und still durch die
Welt und aus der Welt zu gehen pflegt. Was für Labyrinthe er auch
durchwandert, unter welchen Felsen sich auch sein Strom zeitweilig
durchgequält hat - kommt er an's Licht, so geht er hell, leicht und
fast geräuschlos seinen Gang und lässt den Sonnenschein bis in seinen
Grund hinab spielen. 292. Vorwärts. - Und damit vorwärts auf der Bahn der Weisheit, guten
Schrittes, guten Vertrauens! Wie du auch bist, so diene dir selber
als Quell der Erfahrung! Wirf das Missvergnügen über dein Wesen ab,
verzeihe dir dein eignes Ich, denn in jedem Falle hast du an dir eine
Leiter mit hundert Sprossen, auf welchen du zur Erkenntniss steigen
kannst. Das Zeitalter, in welches du dich mit Leidwesen geworfen
fühlst, preist dich selig dieses Glückes wegen; es ruft dir zu, dass
dir jetzt noch an Erfahrungen zu Theil werde, was Menschen späterer
Zeit vielleicht entbehren müssen. Missachte es nicht, noch religiös
gewesen zu sein; ergründe es völlig, wie du noch einen ächten Zugang
zur Kunst gehabt hast. Kannst du nicht gerade mit Hülfe dieser
Erfahrungen ungeheuren Wegstrecken der früheren Menschheit
verständnisvoller nachgehen? Sind nicht gerade auf dem Boden, welcher
dir mitunter so missfällt, auf dem Boden des unreinen Denkens, viele
der herrlichsten Früchte älterer Cultur aufgewachsen? Man muss
Religion und Kunst wie Mutter und Amme geliebt haben, - sonst kann
man nicht weise werden. Aber man muss über sie hinaus sehen, ihnen
entwachsen können; bleibt man in ihrem Banne, so versteht man sie
nicht. Ebenso muss dir die Historie vertraut sein und das vorsichtige
Spiel mit den Wagschalen: "einerseits-andererseits". Wandle zurück, in
die Fussstapfen tretend, in welchen die Menschheit ihren leidvollen
grossen Gang durch die Wüste der Vergangenheit machte: so bist du am
gewissesten belehrt, wohin alle spätere Menschheit nicht wieder gehen
kann oder darf. Und indem du mit aller Kraft vorauserspähen willst,
wie der Knoten der Zukunft noch geknüpft wird, bekommt dein eigenes
Leben den Werth eines Werkzeuges und Mittels zur Erkenntniss. Du hast
es in der Hand zu erreichen, dass all dein Erlebtes: die Versuche,
Irrwege, Fehler, Täuschungen, Leidenschaften, deine Liebe und deine
Hoffnung, in deinem Ziele ohne Rest aufgehn. | 2,427 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_412 | 379 |
7207-8-6 | Gutenberg | 9,964 | Dieses Ziel ist, selber
eine nothwendige Kette von Cultur-Ringen zu werden und von dieser
Nothwendigkeit aus auf die Nothwendigkeit im Gange der allgemeinen
Cultur zu schliessen. Wenn dein Blick stark genug geworden ist, den
Grund in dem dunklen Brunnen deines Wesens und deiner Erkenntnisse
zu sehen, so werden dir vielleicht auch in seinem Spiegel die fernen
Sternbilder zukünftiger Culturen sichtbar werden. Glaubst du, ein
solches Leben mit einem solchen Ziele sei zu mühevoll, zu ledig aller
Annehmlichkeiten? So hast du noch nicht gelernt, dass kein Honig
süsser als der der Erkenntniss ist und dass die hängenden Wolken der
Trübsal dir noch zum Euter dienen müssen, aus dem du die Milch zu
deiner Labung melken wirst. Kommt das Alter, so merkst du erst recht,
wie du der Stimme der Natur Gehör gegeben, jener Natur, welche die
ganze Welt durch Lust beherrscht: das selbe Leben, welches seine
Spitze im Alter hat, hat auch seine Spitze in der Weisheit, in jenem
milden Sonnenglanz einer beständigen geistigen Freudigkeit; beiden,
dem Alter und der Weisheit, begegnest du auf Einem Bergrücken des
Lebens, so wollte es die Natur. Dann ist es Zeit und kein Anlass zum
Zürnen, dass der Nebel des Todes naht. Dem Lichte zu - deine letzte
Bewegung; ein jauchzen der Erkenntniss - dein letzter Laut. Sechstes Hauptstück. Der Mensch im Verkehr. 293. Wohlwollende Verstellung. - Es ist häufig im Verkehre mit Menschen
eine wohlwollende Verstellung nöthig, als ob wir die Motive ihres
Handelns nicht durchschauten. 294. Copien. - Nicht selten begegnet man Copien bedeutender Menschen; und
den Meisten gefallen, wie bei Gemälden, so auch hier, die Copien
besser als die Originale. 295. Der Redner. - Man kann höchst passend reden und doch so, dass alle
Weldt über das Gegentheil schreit: nämlich dann, wenn man nicht zu
aller Welt redet. 296. Mangel an Vertraulichkeit. - Mangel an Vertraulichkeit unter Freunden
ist ein Fehler, der nicht gerügt werden kann, ohne unheilbar zu
werden. 297. Zur Kunst des Schenkens. - Eine Gabe ausschlagen zu müssen, blos weil
sie nicht auf die rechte Weise angeboten wurde, erbittert gegen den
Geber. 298. Der gefährlichste Parteimann. - In jeder Partei ist Einer, der durch
sein gar zu gläubiges Aussprechen der Parteigrundsätze die Uebrigen
zum Abfall reizt. 299. Rathgeber des Kranken. Wer einem Kranken seine Rathschläge giebt,
erwirbt sich ein Gefühl von Ueberlegenheit über ihn, sei es, dass sie
angenommen oder dass sie verworfen werden. | 2,474 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_413 | 395 |
7207-8-6 | Gutenberg | 9,964 | Desshalb hassen reizbare
und stolze Kranke die Rathgeber noch mehr als ihre Krankheit. 300. Doppelte Art der Gleichheit. - Die Sucht nach Gleichheit kann sich so
äussern, dass man entweder alle Anderen zu sich hinunterziehen möchte
(durch Verkleinern, Secretiren, Beinstellen) oder sich mit Allen
hinauf (durch Anerkennen, Helfen, Freude an fremdem Gelingen). 301. Gegen Verlegenheit. - Das beste Mittel, sehr verlegenen Leuten zu
Hülfe zu kommen und sie zu beruhigen, besteht darin, dass man sie
entschieden lobt. 302. Vorliebe für einzelne Tugenden. - Wir legen nicht eher besonderen
Werth auf den Besitz einer Tugend, bis wir deren völlige Abwesenheit
an unserem Gegner wahrnehmen. 303. Warum man widerspricht. - Man widerspricht oft einer Meinung,
während uns eigentlich nur der Ton, mit dem sie vorgetragen wurde,
unsympathisch ist. 304. Vertrauen und Vertraulichkeit. - Wer die Vertraulichkeit mit einer
anderen Person geflissentlich zu erzwingen sucht, ist gewöhnlich nicht
sicher darüber, ob er ihr Vertrauen besitzt. Wer des Vertrauens sicher
ist, legt auf Vertraulichkeit wenig Werth. 305. Gleichgewicht der Freundschaft. - Manchmal kehrt, im Verhältniss
von uns zu einem andern Menschen, das rechte Gleichgewicht der
Freundschaft zurück, wenn wir in unsre eigene Wagschale einige Gran
Unrecht legen. 306. Die gefährlichsten Aerzte. - Die gefährlichsten Aerzte sind die,
welche es dem geborenen Arzte als geborene Schauspieler mit
vollkommener Kunst der Täuschung nachmachen. 307. Wann Paradoxien am Platze sind. - Geistreichen Personen braucht man
mitunter, um sie für einen Satz zu gewinnen, denselben nur in der Form
einer ungeheuerlichen Paradoxie vorzulegen. 308. Wie muthige Leute gewonnen werden. - Muthige Leute überredet man
dadurch zu einer Handlung, dass man dieselbe gefährlicher darstellt,
als sie ist. 309. Artigkeiten. - Unbeliebten Personen rechnen wir die Artigkeiten,
welche sie uns erweisen, zum Vergehen an. 310. Warten lassen. - Ein sicheres Mittel, die Leute aufzubringen und ihnen
böse Gedanken in den Kopf zu setzen, ist, sie lange warten zu lassen. Diess macht unmoralisch. 311. Gegen die Vertraulichen. - Leute, welche uns ihr volles Vertrauen
schenken, glauben dadurch ein Recht auf das unsrige zu haben. Diess
ist ein Fehlschluss; durch Geschenke erwirbt man keine Rechte. 312. Ausgleichsmittel. - Es genügt oft, einem Andern, dem man einen
Nachtheil zugefügt hat, Gelegenheit zu einem Witze über uns zu geben,
um ihm persönlich Genugthuung zu schaffen, ja um ihn für uns gut zu
stimmen. 313. Eitelkeit der Zunge. | 2,552 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_414 | 383 |
7207-8-6 | Gutenberg | 9,964 | - Ob der Mensch seine schlechten Eigenschaften
und Laster verbirgt oder mit Offenheit sie eingesteht, so wünscht doch
in beiden Fällen seine Eitelkeit einen Vortheil dabei zu haben: man
beachte nur, wie fein er unterscheidet, vor wem er jene Eigenschaften
verbirgt, vor wem er ehrlich und offenherzig wird. 314. Rücksichtsvoll. - Niemanden kränken, Niemanden beeinträchtigen wollen
kann ebensowohl das Kennzeichen einer gerechten, als einer ängstlichen
Sinnesart sein. 315. Zum Disputiren erforderlich. - Wer seine Gedanken nicht auf Eis zu
legen versteht, der soll sich nicht in die Hitze des Streites begeben. 316. Umgang und Anmaassung. - Man verlernt die Anmaassung, wenn man sich
immer unter verdienten Menschen weiss; Allein-sein pflanzt Uebermuth. Junge Leute sind anmaassend, denn sie gehen mit Ihresgleichen um,
welche alle Nichts sind, aber gerne viel bedeuten. 317. Motiv des Angriffs. - Man greift nicht nur an, um jemandem wehe zu
thun, ihn zu besiegen, sondern vielleicht auch nur, um sich seiner
Kraft bewusst zu werden. 318. Schmeichelei. - Personen, welche unsere Vorsicht im Verkehr mit ihnen
durch Schmeicheleien betäuben wollen, wenden ein gefährliches Mittel
an, gleichsam einen Schlaftrunk, welcher, wenn er nicht einschläfert,
nur um so mehr wach erhält. 319. Guter Briefschreiber. - Der, welcher keine Bücher schreibt, viel denkt
und in unzureichender Gesellschaft lebt, wird gewöhnlich ein guter
Briefschreiber sein. 320. Am hässlichsten. - Es ist zu bezweifeln, ob ein Vielgereister irgendwo
in der Welt hässlichere Gegenden gefunden hat, als im menschlichen
Gesichte. 321. Die Mitleidigen. - Die mitleidigen, im Unglück jederzeit hülfreichen
Naturen sind selten zugleich die sich mitfreuenden: beim Glück der
Anderen haben sie Nichts zu thun, sind überflüssig, fühlen sich
nicht im Besitz ihrer Ueberlegenheit und zeigen desshalb leicht
Missvergnügen. 322. Verwandte eines Selbstmörders. - Verwandte eines Selbstmörders rechnen
es ihm übel an, dass er nicht aus Rücksicht auf ihren Ruf am Leben
geblieben ist. 323. Undank vorauszusehen. - Der, welcher etwas Grosses schenkt, findet
keine Dankbarkeit; denn der Beschenkte hat schon durch das Annehmen zu
viel Last. 324. In geistloser Gesellschaft. - Niemand dankt dem geistreichen Menschen
die Höflichkeit, wenn er sich einer Gesellschaft gleichstellt, in der
es nicht höflich ist, Geist zu zeigen. 325. Gegenwart von Zeugen. - Man springt einem Menschen, der in's Wasser
fällt, noch einmal so gern nach, wenn Leute zugegen sind, die es nicht
wagen. 326. Schweigen. | 2,542 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_415 | 380 |
7207-8-6 | Gutenberg | 9,964 | - Die für beide Parteien unangenehmste Art, eine Polemik zu
erwidern, ist, sich ärgern und schweigen: denn der Angreifende erklärt
sich das Schweigen gewöhnlich als Zeichen der Verachtung. 327. Das Geheimniss des Freundes. - Es wird Wenige geben, welche, wenn
sie um Stoff zur Unterhaltung verlegen sind, nicht die geheimeren
Angelegenheiten ihrer Freunde preisgeben. 328. Humanität. - Die Humanität der Berühmtheiten des Geistes besteht
darin, im Verkehre mit Unberühmten auf eine verbindliche Art Unrecht
zu behalten. 329. Der Befangene. - Menschen, die sich in der Gesellschaft nicht sicher
fühlen, benutzen jede Gelegenheit, um an einem Nahegestellten, dem sie
überlegen sind, diese Ueberlegenheit öffentlich, vor der Gesellschaft,
zu zeigen, zum Beispiel durch Neckereien. 330. Dank. - Eine feine Seele bedrückt es, sich Jemanden zum Dank
verpflichtet zu wissen; eine grobe, sich Jemandem. 331. Merkmal der Entfremdung. - Das stärkste Anzeichen von Entfremdung der
Ansichten bei zwei Menschen ist diess, dass beide sich gegenseitig
einiges Ironische sagen, aber keiner von beiden das Ironische daran
fühlt. 332. Anmaassung bei Verdiensten. - Anmaassung bei Verdiensten beleidigt
noch mehr, als Anmaassung von Menschen ohne Verdienst. denn schon das
Verdienst beleidigt. 333. Gefahr in der Stimme. - Mitunter macht uns im Gespräche der Klang der
eigenen Stimme verlegen und verleitet uns zu Behauptungen, welche gar
nicht unserer Meinung entsprechen. 334. Im Gespräche. - Ob man im Gespräche dem Andern vornehmlich Recht giebt
oder Unrecht, ist durchaus die Sache der Angewöhnung: das Eine wie das
Andere hat Sinn. 335. Furcht vor dem Nächsten. - Wir fürchten die feindselige Stimmung des
Nächsten, weil wir befürchten, dass er durch diese Stimmung hinter
unsere Heimlichkeiten kommt. 336. Durch Tadel auszeichnen. - Sehr angesehene Personen ertheilen selbst
ihren Tadel so, dass sie uns damit auszeichnen wollen. Es soll uns
aufmerksam machen, wie angelegentlich sie sich mit uns beschäftigen. Wir verstehen sie ganz falsch, wenn wir ihren Tadel sachlich nehmen
und uns gegen ihn vertheidigen; wir ärgern sie dadurch und entfremden
uns ihnen. 337. Verdruss am Wohlwollen Anderer. - Wir irren uns über den Grad, in
welchem wir uns gehasst, gefürchtet glauben: weil wir selber zwar gut
den Grad unserer Abweichung von einer Person, Richtung, Partei kennen,
jene Andern aber uns sehr oberflächlich kennen und desshalb auch nur
oberflächlich hassen. Wir begegnen oft einem Wohlwollen, welches uns
unerklärlich ist; verstehen wir es aber, so beleidigt es uns, weil es
zeigt, dass man uns nicht ernst, nicht wichtig genug nimmt. 338. | 2,633 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_416 | 398 |
7207-8-7 | Gutenberg | 9,976 | Freilich kann Einer auf diese Weise immer Unrecht
haben und immer Recht behalten und zuletzt mit dem besten Gewissen
von der Welt der unerträglichste Tyrann und Quälgeist werden; und was
vom Einzelnen gilt, kann auch bei ganzen Classen der Gesellschaft
vorkommen. 341. Zuwenig geehrt. - Sehr eingebildete Personen, denen man Zeichen von
geringerer Beachtung gegeben hat, als sie erwarteten, versuchen lange,
sich selbst und Andere darüber irre zu führen und werden spitzfindige
Psychologiker, um herauszubekommen, dass der Andere sie doch genügend
geehrt hat: erreichen sie ihr Ziel nicht, reisst der Schleier der
Täuschung, so geben sie sich einer um so grösseren Wuth hin. 342. Urzustände in der Rede nachklingend. - In der Art, wie jetzt die
Männer im Verkehre Behauptungen aufstellen, erkennt man oft einen
Nachklang der Zeiten, wo dieselben sich besser auf Waffen, als auf
irgend Etwas verstanden: sie handhaben ihre Behauptungen bald wie
zielende Schützen ihr Gewehr, bald glaubt man das Sausen und Klirren
der Klingen zu hören; und bei einigen Männern poltert eine Behauptung
herab wie ein derber Knüttel. - Frauen dagegen sprechen so, wie Wesen,
welche Jahrtausende lang am Webstuhl sassen oder die Nadel führten
oder mit Kindern kindisch waren. 343. Der Erzähler. - Wer Etwas erzählt, lässt leicht merken, ob er erzählt,
weil ihn das Factum interessirt oder weil er durch die Erzählung
interessiren will. Im letzteren Falle wird er übertreiben, Superlative
gebrauchen und Aehnliches thun. Er erzählt dann gewöhnlich schlechter,
weil er nicht so sehr an die Sache, als an sich denkt. 344. Der Vorleser. - Wer dramatische Dichtungen vorliest, macht
Entdeckungen über seinen Charakter: er findet für gewisse Stimmungen
und Scenen seine Stimme natürlicher, als für andere, etwa für
alles Pathetische oder für das Scurrile, während er vielleicht
im gewöhnlichen Leben nur nicht Gelegenheit hatte, Pathos oder
Scurrilität zu zeigen. 345. Eine Lustspiel-Scene, welche im Leben vorkommt. - Jemand denkt
sich eine geistreiche Meinung über ein Thema aus, um sie in einer
Gesellschaft vorzutragen. Nun würde man im Lustspiel anhören und
ansehen, wie er mit allen Segeln an den Punct zu kommen und die
Gesellschaft dort einzuschiffen sucht, wo er seine Bemerkung machen
kann: wie er fortwährend die Unterhaltung nach Einem Ziele schiebt,
gelegentlich die Richtung verliert, sie wiedergewinnt, endlich den
Augenblick erreicht: fast versagt ihm der Athem - und da nimmt ihm
Einer aus der Gesellschaft die Bemerkung vom Munde weg. Was wird er
thun? Seiner eigenen Meinung opponiren? 346. | 2,582 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_417 | 398 |
7207-8-7 | Gutenberg | 9,976 | Wider Willen unhöflich. - Wenn jemand wider Willen einen Andern
unhöflich behandelt, zum Beispiel nicht grüsst, weil er ihn nicht
erkennt, so wurmt ihn diess, obwohl er nicht seiner Gesinnung einen
Vorwurf machen kann; ihn kränkt die schlechte Meinung, welche er bei
dem Andern erzeugt hat, oder er fürchtet die Folgen einer Verstimmung,
oder ihn schmerzt es, den Andern verletzt zu haben, - also Eitelkeit,
Furcht oder Mitleid können rege werden, vielleicht auch alles
zusammen. 347. Verräther-Meisterstück. - Gegen den Mitverschworenen den kränkenden
Argwohn zu äussern, ob man nicht von ihm verrathen werde, und diess
gerade in dem Augenblicke, wo man selbst Verrath übt, ist ein
Meisterstück der Bosheit, weil es den Andern persönlich occupirt
und ihn zwingt, eine Zeit lang sich sehr unverdächtig und offen zu
benehmen, so dass der wirkliche Verräther sich freie Hand gemacht hat. 348. Beleidigen und beleidigt werden. - Es ist weit angenehmer, zu
beleidigen und später um Verzeihung zu bitten, als beleidigt zu werden
und Verzeihung zu gewähren. Der, welcher das Erste thut, giebt ein
Zeichen von Macht und nachher von Güte des Charakters. Der Andere,
wenn er nicht als inhuman gelten will, muss schon verzeihen; der
Genuss an der Demüthigung des Anderen ist dieser Nöthigung wegen
gering. 349. Im Disput. - Wenn man zugleich einer anderen Meinung widerspricht und
dabei seine eigene entwickelt, so verrückt gewöhnlich die fortwährende
Rücksicht auf die andere Meinung die natürliche Haltung der eigenen:
sie erscheint absichtlicher, schärfer, vielleicht etwas übertrieben. 350. Kunstgriff. - Wer etwas Schwieriges von einem Andern erlangen will,
muss die Sache überhaupt nicht als Problem fassen, sondern schlicht
seinen Plan hinlegen, als sei er die einzige Möglichkeit; er muss
es verstehen, wenn im Auge des Gegners der Einwand, der Widerspruch
dämmert, schnell abzubrechen und ihm keine Zeit zu geben. 351. Gewissensbisse nach Gesellschaften. - Warum haben wir nach
gewöhnlichen Gesellschaften Gewissensbisse? Weil wir wichtige Dinge
leicht genommen haben, weil wir bei der Besprechung von Personen
nicht mit voller Treue gesprochen oder weil wir geschwiegen haben,
wo wir reden sollten, weil wir gelegentlich nicht aufgesprungen und
fortgelaufen sind, kurz weil wir uns in der Gesellschaft benahmen, als
ob wir zu ihr gehörten. 352. Man wird falsch beurtheilt. - Wer immer darnach hinhorcht, wie er
beurtheilt wird, hat immer Aerger. Denn wir werden schon von Denen,
welche uns am nächsten stehen ("am besten kennen"), falsch beurtheilt. | 2,550 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_418 | 389 |
7207-8-7 | Gutenberg | 9,976 | Selbst gute Freunde lassen ihre Verstimmung mitunter in einem
missgünstigen Worte aus; und würden sie unsere Freunde sein, wenn sie
uns genau kennten? - Die Urtheile der Gleichgültigen thun sehr weh,
weil sie so unbefangen, fast sachlich klingen. Merken wir aber gar,
dass Jemand, der uns feind ist, uns in einem geheim gehaltenen Puncte
so gut kennt, wie wir uns, wie gross ist dann erst der Verdruss! 353. Tyrannei des Portraits. - Künstler und Staatsmänner, die schnell
aus einzelnen Zügen das ganze Bild eines Menschen oder Ereignisses
combiniren, sind am meisten dadurch ungerecht, dass sie hinterdrein
verlangen, das Ereigniss oder der Mensch müsse wirklich so sein,
wie sie es malten; sie verlangen geradezu, dass Einer so begabt, so
verschlagen, so ungerecht sei, wie er in ihrer Vorstellung lebt. 354. Der Verwandte als der beste Freund. - Die Griechen, die so gut
wussten, was ein Freund sei, - sie allein von allen Völkern haben eine
tiefe, vielfache philosophische Erörterung der Freundschaft; sodass
ihnen zuerst, und bis jetzt zuletzt, der Freund als ein lösenswerthes
Problem erschienen ist - diese selben Griechen haben die Verwandten
mit einem Ausdrucke bezeichnet, welcher der Superlativ des Wortes
"Freund" ist. Diess bleibt mir unerklärlich. 355. Verkannte Ehrlichkeit. - Wenn jemand im Gespräche sich selber citirt
("ich sagte damals", "ich pflege zu sagen"), so macht diess den
Eindruck der Anmaassung, während es häufiger gerade aus der
entgegengesetzten Quelle hervorgeht, mindestens aus Ehrlichkeit,
welche den Augenblick nicht mit den Einfällen schmücken und
herausputzen will, welche einem früheren Augenblicke angehören. 356. Der Parasit. - Es bezeichnet einen völligen Mangel an vornehmer
Gesinnung, wenn Jemand lieber in Abhängigkeit, auf Anderer Kosten,
leben will, um nur nicht arbeiten zu müssen, gewöhnlich mit einer
heimlichen Erbitterung gegen Die, von denen er abhängt. - Eine solche
Gesinnung ist viel häufiger bei Frauen als bei Männern, auch viel
verzeihlicher (aus historischen Gründen). 357. Auf dem Altar der Versöhnung. - Es giebt Umstände, wo man eine Sache
von einem Menschen nur so erlangt, dass man ihn beleidigt und sich
verfeindet: dieses Gefühl, einen Feind zu haben, quält ihn so, dass
er gern das erste Anzeichen einer milderen Stimmung zur Versöhnung
benützt und jene Sache auf dem Altar dieser Versöhnung opfert, an der
ihm früher so viel gelegen war, dass er sie um keinen Preis geben
wollte. 358. Mitleid fordern als Zeichen der Anmaassung. | 2,498 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_419 | 387 |
7207-8-7 | Gutenberg | 9,976 | - Es giebt Menschen,
welche, wenn sie in Zorn gerathen und die Anderen beleidigen, dabei
erstens verlangen, dass man ihnen Nichts übel nehme und zweitens,
dass man mit ihnen Mitleid habe, weil sie so heftigen Paroxysmen
unterworfen sind. So weit geht die menschliche Anmaassung. 359. Köder. - "Jeder Mensch hat seinen Preis", - das ist nicht wahr. Aber
es findet sich wohl für Jeden ein Köder, an den er anbeissen muss. So
braucht man, um manche Personen für eine Sache zu gewinnen, dieser
Sache nur den Glanz des Menschenfreundlichen, Edlen, Mildthätigen,
Aufopfernden zu geben - und welcher Sache könnte man ihn nicht geben? - Es ist das Zuckerwerk und die Näscherei ihrer Seele; andere haben
anderes. 360. Verhalten beim Lobe. - Wenn gute Freunde die begabte Natur loben, so
wird sie sich öfters aus Höflichkeit und Wohlwollen darüber erfreut
zeigen, aber in Wahrheit ist es ihr gleichgültig. Ihr eigentliches
Wesen ist ganz träge dagegen und um keinen Schritt dadurch aus der
Sonne oder dem Schatten, in dem sie liegt, herauszuwälzen; aber
die Menschen wollen durch Lob eine Freude machen und man würde sie
betrüben, wenn man sich über ihr Lob nicht freute. 361. Die Erfahrung des Sokrates. - Ist man in einer Sache Meister geworden,
so ist man gewöhnlich eben dadurch in den meisten andern Sachen ein
völliger Stümper geblieben; aber man urtheilt gerade umgekehrt, wie
diess schon Sokrates erfuhr. Diess ist der Uebelstand, welcher den
Umgang mit Meistern unangenehm macht. 362. Mittel der Verthierung. - Im Kampf mit der Dummheit werden die
billigsten und sanftesten Menschen zuletzt brutal. Sie sind damit
vielleicht auf dem rechten Wege der Vertheidigung; denn an die dumme
Stirn gehört, als Argument, von Rechtswegen die geballte Faust. Aber
weil, wie gesagt, ihr Charakter sanft und billig ist, so leiden sie
durch diese Mittel der Nothwehr mehr als sie Leid zufügen. 363. Neugierde. - Wenn die Neugierde nicht wäre, würde wenig für das Wohl
des Nächsten gethan werden. Aber die Neugierde schleicht sich unter
dem Namen der Pflicht oder des Mitleides in das Haus des Unglücklichen
und Bedürftigen. - Vielleicht ist selbst an der vielberühmten
Mutterliebe ein gut Stück Neugierde. 364. Verrechnung in der Gesellschaft. - Dieser wünscht interessant zu sein
durch seine Urtheile, jener durch seine Neigungen und Abneigungen,
der Dritte durch seine Bekanntschaften, ein Vierter durch seine
Vereinsamung - und sie verrechnen sich Alle. | 2,441 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_420 | 390 |
7207-8-7 | Gutenberg | 9,976 | Denn Der, vor dem das
Schauspiel aufgeführt wird, meint selber dabei das einzig in Betracht
kommende Schauspiel zu sein. 365. Duell. - Zu Gunsten aller Ehrenhändel und Duelle ist zu sagen, dass,
wenn Einer ein so reizbares Gefühl hat, nicht leben zu wollen, wenn
Der und Der das und das über ihn sagt oder denkt, er ein Recht hat,
die Sache auf den Tod des Einen oder des Andern ankommen zu lassen. Darüber, dass er so reizbar ist, ist gar nicht zu rechten, damit
sind wir die Erben der Vergangenheit, ihrer Grösse sowohl wie ihrer
Uebertreibungen, ohne welche es nie eine Grösse gab. Existirt nun ein
Ehren-Kanon, welcher Blut an Stelle des Todes gelten lässt, so dass
nach einem regelmässigen Duell das Gemüth erleichtert ist, so ist
diess eine grosse Wohlthat, weil sonst viele Menschenleben in Gefahr
wären. - So eine Institution erzieht übrigens die Menschen in Vorsicht
auf ihre Aeusserungen und macht den Umgang mit ihnen möglich. 366. Vornehmheit und Dankbarkeit. - Eine vornehme Seele wird sich gern zur
Dankbarkeit verpflichtet fühlen und den Gelegenheiten, bei denen sie
sich verpflichtet, nicht ängstlich aus dem Wege zu gehen; ebenso wird
sie nachher gelassen in den Aeusserungen der Dankbarkeit sein; während
niedere Seelen sich gegen alles Verpflichtet werden sträuben oder
nachher in den Aeusserungen ihrer Dankbarkeit übertrieben und allzu
sehr beflissen sind. Letzteres kommt übrigens auch bei Personen von
niederer Herkunft oder gedrückter Stellung vor: eine Gunst, ihnen
erwiesen, deucht ihnen ein Wunder von Gnade. 367. Die Stunden der Beredtsamkeit. - Der Eine hat, um gut zu sprechen,
jemanden nöthig, der ihm entschieden und anerkannt überlegen ist, der
Andere kann nur vor Einem, den er überragt, völlige Freiheit der Rede
und glückliche Wendungen der Beredtsamkeit finden: in beiden Fällen
ist es der selbe Grund; jeder von ihnen redet nur gut, wenn er
sans gêne redet, der Eine, weil er vor dem Höheren den Antrieb der
Concurrenz, des Wettbewerbs nicht fühlt, der Andere ebenfalls desshalb
angesichts des Niederen. - Nun giebt es eine ganz andere Gattung von
Menschen, die nur gut reden, wenn sie im Wetteifer, mit der Absicht zu
siegen, reden. Welche von beiden Gattungen ist die ehrgeizigere: die,
welche aus erregter Ehrsucht gut, oder die, welche aus eben diesen
Motiven schlecht oder gar nicht spricht? 368. Das Talent zur Freundschaft. - Unter den Menschen, welche eine
besondere Gabe zur Freundschaft haben, treten zwei Typen hervor. | 2,468 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_421 | 395 |
7207-8-7 | Gutenberg | 9,976 | Der
Eine ist in einem fortwährenden Aufsteigen und findet für jede Phase
seiner Entwickelung einen genau zugehörigen Freund. Die Reihe von
Freunden, welche er auf diese Weise erwirbt, ist unter sich selten im
Zusammenhang, mitunter in Misshelligkeit und Widerspruch: ganz dem
entsprechend, dass die späteren Phasen in seiner Entwickelung die
früheren Phasen aufheben oder beeinträchtigen. Ein solcher Mensch
mag im Scherz eine Leiter heissen. - Den andern Typus vertritt Der,
welcher eine Anziehungskraft auf sehr verschiedene Charaktere und
Begabungen ausübt, so dass er einen ganzen Kreis von Freunden gewinnt;
diese aber kommen dadurch selber unter einander in freundschaftliche
Beziehung, trotz aller Verschiedenheit. Einen solchen Menschen
nenne man einen Kreis: denn in ihm muss jene Zusammengehörigkeit
so verschiedener Anlagen und Naturen irgendwie vorgebildet sein. -
Uebrigens ist die Gabe, gute Freunde zu haben, in manchem Menschen
viel grösser, als die Gabe, ein guter Freund zu sein. 369. Taktik im Gespräch. - Nach einem Gespräch mit jemandem ist man am
besten auf den Mitunterredner zu sprechen, wenn man Gelegenheit hatte,
seinen Geist, seine Liebenswürdigkeit vor ihm im ganzen Glanze zu
zeigen. Diess benutzen kluge Menschen, welche jemanden sich günstig
stimmen wollen, indem sie bei der Unterredung ihm die besten
Gelegenheiten zu einem guten Witz und dergleichen zuschieben. Es wäre
ein lustiges Gespräch zwischen zwei sehr Klugen zu denken, welche
sich gegenseitig günstig stimmen wollen und sich desshalb die schönen
Gelegenheiten im Gespräch hin und her zuwerfen, während keiner sie
annimmt: so dass das Gespräch im Ganzen geistlos und unliebenswürdig
verliefe, weil Jeder dem Andern die Gelegenheit zu Geist und
Liebenswürdigkeit zuwiese. 370. Entladung des Unmuthes. - Der Mensch, dem Etwas misslingt, führt diess
Misslingen lieber auf den bösen Willen eines Anderen, als auf den
Zufall zurück. Seine gereizte Empfindung wird dadurch erleichtert,
eine Person und nicht eine Sache sich als Grund seines Misslingens
zu denken; denn an Personen kann man sich rächen, die Unbilden des
Zufalls aber muss man hinunterwürgen. Die Umgebung eines Fürsten
pflegt desshalb, wenn diesem Etwas misslungen ist, einen einzelnen
Menschen als angebliche Ursache ihm zu bezeichnen und im Interesse
aller Höflinge aufzuopfern; denn der Missmuth des Fürsten würde sich
sonst an ihnen Allen auslassen, da er ja an der Schicksalsgöttin
selber keine Rache nehmen kann. 371. Die Farbe der Umgebung annehmen. | 2,511 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_422 | 373 |
7207-8-7 | Gutenberg | 9,976 | - Warum ist Neigung und Abneigung so
ansteckend, dass man kaum in der Nähe einer stark empfindenden Person
leben kann, ohne wie ein Gefäss mit ihrem Für und Wider angefüllt zu
werden? Erstens ist die völlige Enthaltung des Urtheils sehr schwer,
mitunter für unsere Eitelkeit geradezu unerträglich; sie trägt da
gleiche Farbe mit der Gedanken- und Empfindungsarmuth oder mit der
Aengstlichkeit, der Unmännlichkeit: und so werden wir wenigstens dazu
fortgerissen, Partei zu nehmen, vielleicht gegen die Richtung unserer
Umgebung, wenn diese Stellung unserm Stolze mehr Vergnügen macht. Gewöhnlich aber - das ist das Zweite - bringen wir uns den
Uebergang von Gleichgültigkeit zu Neigung oder Abneigung gar
nicht zum Bewusstsein, sondern allmählich gewöhnen wir uns an die
Empfindungsweise unserer Umgebung, und weil sympathisches Zustimmen
und Sichverstehen so angenehm ist, tragen wir bald alle Zeichen und
Parteifarben dieser Umgebung. 372. Ironie. - Die Ironie ist nur als pädagogisches Mittel am Platze, von
seiten eines Lehrers im Verkehr mit Schülern irgend welcher Art: ihr
Zweck ist Demüthigung, Beschämung, aber von jener heilsamen Art,
welche gute Vorsätze erwachen lässt und Dem, welcher uns so
behandelte, Verehrung, Dankbarkeit als einem Arzte entgegenbringen
heisst. Der Ironische stellt sich unwissend und zwar so gut, dass die
sich mit ihm unterredenden Schüler, getäuscht sind und in ihrem guten
Glauben an ihr eigenes Besserwissen dreist werden und sich Blössen
aller Art geben; sie verlieren die Behutsamkeit und zeigen sich, wie
sie sind, - bis in einem Augenblick die Leuchte, die sie dem Lehrer
in's Gesicht hielten, ihre Strahlen sehr demüthigend auf sie selbst
zurückfallen lässt. - Wo ein solches Verhältniss, wie zwischen Lehrer
und Schüler, nicht stattfindet, ist sie eine Unart, ein gemeiner
Affect. Alle ironischen Schriftsteller rechnen auf die alberne Gattung
von Menschen, welche sich gerne allen Anderen mit dem Autor zusammen
überlegen fühlen wollen, als welchen sie für das Mundstück ihrer
Anmaassung ansehen. - Die Gewöhnung an Ironie, ebenso wie die an
Sarkasmus, verdirbt übrigens den Charakter, sie verleiht allmählich
die Eigenschaft einer schadenfrohen Ueberlegenheit: man ist zuletzt
einem bissigen Hunde gleich, der noch das Lachen gelernt hat, ausser
dem Beissen. 373. Anmaassung. | 2,323 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_423 | 347 |
7207-8-7 | Gutenberg | 9,976 | - Vor Nichts soll man sich so hüten, als vor dem
Aufwachsen jenes Unkrautes, welches Anmaassung heisst und uns jede
gute Ernte verdirbt; denn es giebt Anmaassung in der Herzlichkeit,
in der Ehrenbezeigung, in der wohlwollenden Vertraulichkeit, in der
Liebkosung, im freundschaftlichen Rathe, im Eingestehen von Fehlern,
in dem Mitleid für Andere, und alle diese schönen Dinge erwecken
Widerwillen, wenn jenes Kraut dazwischen wächst. Der Anmaassende, das
heisst Der, welcher mehr bedeuten will als er ist oder gilt, macht
immer eine falsche Berechnung. Zwar hat er den augenblicklichen Erfolg
für sich, insofern die Menschen, vor denen er anmaassend ist, ihm
gewöhnlich das Maass von Ehre zollen, welches er fordert, aus Angst
oder Bequemlichkeit; aber sie nehmen eine schlimme Rache dafür,
insofern sie ebensoviel, als er über das Maass forderte, von dem
Werthe subtrahiren, den sie ihm bis jetzt beilegten. Es ist Nichts,
was die Menschen sich theurer bezahlen lassen, als Demüthigung. Der
Anmaassende kann sein wirkliches grosses Verdienst so in den Augen der
Andern verdächtigen und klein machen, dass man mit staubigen Füssen
darauf tritt. Selbst ein stolzes Benehmen sollte man sich nur dort
erlauben, wo man ganz sicher sein kann, nicht missverstanden und
als anmaassend betrachtet zu werden, zum Beispiel vor Freunden und
Gattinnen. Denn es giebt im Verkehre mit Menschen keine grössere
Thorheit, als sich den Ruf der Anmaassung zuzuziehen; es ist noch
schlimmer, als wenn man nicht gelernt hat, höflich zu lügen. 374. Zwiegespräch. - Das Zwiegespräch ist das vollkommene Gespräch, weil
Alles, was der Eine sagt, seine bestimmte Farbe, seinen Klang, seine
begleitende Gebärde in strenger Rücksicht auf den Anderen, mit dem
gesprochen wird, erhält, also dem entsprechend, was beim Briefverkehr
geschieht, dass ein und der selbe zehn Arten des seelischen Ausdrucks
zeigt, je nachdem er bald an Diesen, bald an Jenen schreibt. Beim
Zwiegespräch giebt es nur eine einzige Strahlenbrechung des Gedankens:
diese bringt der Mitunterredner hervor, als der Spiegel, in welchem
wir unsere Gedanken möglichst schön wiedererblicken wollen. Wie aber
ist es bei zweien, bei dreien und mehr Mitunterrednern? Da verliert
nothwendig das Gespräch an individualisirender Feinheit, die
verschiedenen Rücksichten kreuzen sich, heben sich auf; die Wendung,
welche dem Einen wohlthut, ist nicht der Sinnesart des Andern gemäss. | 2,413 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_424 | 364 |
7207-8-7 | Gutenberg | 9,976 | Desshalb wird der Mensch im Verkehr mit Mehreren gezwungen, sich auf
sich zurückzuziehen, die Thatsachen hinzustellen, wie sie sind, aber
jenen spielenden Aether der Humanität den Gegenständen zu nehmen,
welcher ein Gespräch zu den angenehmsten Dingen der Welt macht. Man
höre nur den Ton, in welchem Männer im Verkehr mit ganzen Gruppen von
Männern zu reden pflegen, es ist als ob der Grundbass aller Rede der
sei: "das bin ich, das sage ich, nun haltet davon, was ihr wollt!"
Diess ist der Grund, wesshalb geistreiche Frauen bei Dem, welcher
sie in der Gesellschaft kennen lernte, meistens einen befremdenden,
peinlichen, abschreckenden Eindruck hinterlassen: es ist das Reden
zu Vielen, vor Vielen, welches sie aller geistigen Liebenswürdigkeit
beraubt und nur das bewusste Beruhen auf sich selbst, ihre Taktik und
die Absicht auf öffentlichen Sieg in grellem Lichte zeigt: während
die selben Frauen im Zwiegespräche wieder zu Weibern werden und ihre
geistige Anmuth wiederfinden. 375. Nachruhm. - Auf die Anerkennung einer fernen Zukunft hoffen, hat nur
Sinn, wenn man die Annahme macht, dass die Menschheit wesentlich
unverändert bleibe und dass alles Grosse nicht für Eine, sondern für
alle Zeiten als gross empfunden werden müsse. Diess ist aber ein
Irrthum; die Menschheit, in allem Empfinden und Urtheilen über
Das, was schön und gut ist, verwandelt sich sehr stark; es ist
Phantasterei, von sich zu glauben, dass man eine Meile Wegs voraus
sei und dass die gesammte Menschheit unsere Strasse ziehe. Zudem: ein
Gelehrter, der verkannt wird, darf jetzt bestimmt darauf rechnen, dass
seine Entdeckung von Anderen auch gemacht wird, und dass ihm besten
Falls einmal später von einem Historiker zuerkannt wird, er habe diess
und jenes auch schon gewusst, sei aber nicht im Stande gewesen, seinem
Satz Glauben zu verschaffen. Nicht-anerkannt-werden wird von der
Nachwelt immer als Mangel an Kraft ausgelegt. - Kurz, man soll der
hochmüthigen Vereinsamung nicht so leicht das Wort reden. Es giebt
übrigens Ausnahmefälle; aber zumeist sind es unsere Fehler, Schwächen
und Narrheiten, welche die Anerkennung unserer grossen Eigenschaften
verhindern. 376. Von den Freunden. - Ueberlege nur mit dir selber einmal, wie
verschieden die Empfindungen, wie getheilt die Meinungen selbst unter
den nächsten Bekannten sind; wie selbst gleiche Meinungen in den
Köpfen deiner Freunde eine ganz andere Stellung oder Stärke haben, als
in deinem; wie hundertfältig der Anlass kommt zum Missverstehen, zum
feindseligen Auseinanderfliehen. | 2,525 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_425 | 384 |
7207-8-7 | Gutenberg | 9,976 | Nach alledem wirst du dir sagen:
wie unsicher ist der Boden, auf dem alle unsere Bündnisse und
Freundschaften ruhen, wie nahe sind kalte Regengüsse oder böse Wetter,
wie vereinsamt ist jeder Mensch! Sieht Einer diess ein und noch dazu,
dass alle Meinungen und deren Art und Stärke bei seinen Mitmenschen
ebenso nothwendig und unverantwortlich sind wie ihre Handlungen,
gewinnt er das Auge für diese innere Nothwendigkeit der Meinungen aus
der unlösbaren Verflechtung von Charakter, Beschäftigung, Talent,
Umgebung, - so wird er vielleicht die Bitterkeit und Schärfe jener
Empfindung los, mit der jener Weise rief: "Freunde, es giebt keine
Freunde!" Er wird sich vielmehr eingestehen: ja es giebt Freunde, aber
der Irrthum, die Täuschung über dich führte sie dir zu; und Schweigen
müssen sie gelernt haben, um dir Freund zu bleiben; denn fast immer
beruhen solche menschliche Beziehungen darauf, dass irgend ein paar
Dinge nie gesagt werden, ja dass an sie nie gerührt wird; kommen diese
Steinchen aber in's Rollen, so folgt die Freundschaft hinterdrein und
zerbricht. Giebt es Menschen, welche nicht tödtlich zu verletzen sind,
wenn sie erführen, was ihre vertrautesten Freunde im Grunde von ihnen
wissen? - Indem wir uns selbst erkennen und unser Wesen selber als
eine wandelnde Sphäre der Meinungen und Stimmungen ansehen und
somit ein Wenig geringschätzen lernen, bringen wir uns wieder in's
Gleichgewicht mit den Uebrigen. Es ist wahr, wir haben gute Gründe,
jeden unserer Bekannten, und seien es die grössten, gering zu achten;
aber eben so gute, diese Empfindung gegen uns selber zu kehren. -
Und so wollen wir es mit einander aushalten, da wir es ja mit uns
aushalten; und vielleicht kommt jedem auch einmal die freudigere
Stunde, wo er sagt:
"Freunde, es giebt keine Freunde!" so rief der sterbende Weise;
"Feinde, es giebt keinen Feind!" - ruf' ich, der lebende Thor. Siebentes Hauptstück. Weib und Kind. 377. Das vollkommene Weib. - Das vollkommene Weib ist ein höherer Typus
des Menschen, als der vollkommene Mann: auch etwas viel Selteneres. - Die Naturwissenschaft der Thiere bietet ein Mittel, diesen Satz
wahrscheinlich zu machen. 378. Freundschaft und Ehe. - Der beste Freund wird wahrscheinlich die beste
Gattin bekommen, weil die gute Ehe auf dem Talent zur Freundschaft
beruht. 379. Fortleben der Eltern. - Die unaufgelösten Dissonanzen im Verhältniss
von Charakter und Gesinnung der Eltern klingen in dem Wesen des Kindes
fort und machen seine innere Leidensgeschichte aus. 380. Von der Mutter her. | 2,520 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_426 | 397 |
7207-8-7 | Gutenberg | 9,976 | - Jedermann trägt ein Bild des Weibes von der
Mutter her in sich: davon wird er bestimmt, die Weiber überhaupt zu
verehren oder sie geringzuschätzen oder gegen sie im Allgemeinen
gleichgültig zu sein. 381. Die Natur corrigiren. - Wenn man keinen guten Vater hat, so soll man
sich einen anschaffen. 382. Väter und Söhne. - Väter haben viel zu thun, um es wieder gut zu
machen, dass sie Söhne haben. 383. Irrthum vornehmer Frauen. - Die vornehmen Frauen denken, dass eine
Sache gar nicht da ist, wenn es nicht möglich ist, von ihr in der
Gesellschaft zu sprechen. 384. Eine Männerkrankheit. - Gegen die Männerkrankheit der Selbstverachtung
hilft es am sichersten, von einem klugen Weibe geliebt zu werden. 385. Eine Art der Eifersucht. - Mütter sind leicht eifersüchtig auf die
Freunde ihrer Söhne, wenn diese besondere Erfolge haben. Gewöhnlich
liebt eine Mutter sich mehr in ihrem Sohn, als den Sohn selber. 386. Vernünftige Unvernunft. - In der Reife des Lebens und des Verstandes
überkommt den Menschen das Gefühl, dass sein Vater Unrecht hatte, ihn
zu zeugen. 387. Mütterliche Güte. - Manche Mutter braucht glückliche geehrte Kinder,
manche unglückliche: sonst kann sich ihre Güte als Mutter nicht
zeigen. 388. Verschiedene Seufzer. - Einige Männer haben über die Entführung ihrer
Frauen geseufzt, die meisten darüber, dass Niemand sie ihnen entführen
wollte. 389. Liebesheirathen. - Die Ehen, welche aus Liebe geschlossen werden (die
sogenannten Liebesheirathen), haben den Irrthum zum Vater und die Noth
(das Bedürfniss) zur Mutter. 390. Frauenfreundschaft. - Frauen können recht gut mit einem Manne
Freundschaft schliessen; aber um diese aufrecht zu erhalten - dazu
muss wohl eine kleine physische Antipathie mithelfen. 391. Langeweile. - Viele Menschen, namentlich Frauen, empfinden die
Langeweile nicht, weil sie niemals ordentlich arbeiten gelernt haben. 392. Ein Element der Liebe. - In jeder Art der weiblichen Liebe kommt auch
Etwas von der mütterlichen Liebe zum Vorschein. 393. Die Einheit des Ortes und das Drama. - Wenn die Ehegatten nicht
beisammen lebten, würden die guten Ehen häufiger sein. 394. Gewöhnliche Folgen der Ehe. - Jeder Umgang, der nicht hebt, zieht
nieder, und umgekehrt; desshalb sinken gewöhnlich die Männer etwas,
wenn sie Frauen nehmen, während die Frauen etwas gehoben werden. Allzu
geistige Männer bedürfen eben so sehr der Ehe, als sie ihr wie einer
widrigen Medicin widerstreben. 395. Befehlen lehren. | 2,443 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_427 | 382 |
7207-8-7 | Gutenberg | 9,976 | - Kinder aus bescheidenen Familien muss man eben
so sehr das Befehlen durch Erziehung lehren, wie andere Kinder das
Gehorchen. 396. Verliebt werden wollen. - Verlobte, welche die Convenienz
zusammengefügt hat, bemühen sich häufig, verliebt zu werden, um über
den Vorwurf der kalten, berechnenden Nützlichkeit hinwegzukommen. Ebenso bemühen sich Solche, die ihres Vortheils wegen zum Christenthum
umlenken, wirklich fromm zu werden; denn so wird das religiöse
Mienenspiel ihnen leichter. 397. Kein Stillstand in der Liebe. - Ein Musiker, der das langsame Tempo
liebt, wird die selben Tonstücke immer langsamer nehmen. So giebt es
in keiner Liebe ein Stillstehen. 398. Schamhaftigkeit. - Mit der Schönheit der Frauen nimmt im Allgemeinen
ihre Schamhaftigkeit zu. 399. Ehe von gutem Bestand. - Eine Ehe, in der Jedes durch das Andere ein
individuelles Ziel erreichen will, hält gut zusammen, zum Beispiel
wenn die Frau durch den Mann berühmt, der Mann durch die Frau beliebt
werden will. 400. Proteus-Natur.- Weiber werden aus Liebe ganz zu dem, als was sie in
der Vorstellung der Männer, von denen sie geliebt werden, leben. 401. Lieben und besitzen. - Frauen lieben meistens einen bedeutenden
Mann so, dass sie ihn allein haben wollen. Sie würden ihn gern in
Verschluss legen, wenn nicht ihre Eitelkeit widerriethe: diese will,
dass er auch vor Anderen bedeutend erscheine. 402. Probe einer guten Ehe. - Die Güte einer Ehe bewährt sich dadurch, dass
sie einmal eine "Ausnahme" verträgt. 403. Mittel, Alle zu Allem zu bringen. - Man kann Jedermann so durch
Unruhen, Aengste, Ueberhäufung von Arbeit und Gedanken abmatten und
schwach machen, dass er einer Sache, die den Schein des Complicirten
hat, nicht mehr widersteht, sondern ihr nachgiebt, - das wissen die
Diplomaten und die Weiber. 404. Ehrbarkeit und Ehrlichkeit. - Jene Mädchen, welche allein ihrem
Jugendreize die Versorgung für's ganze Leben verdanken wollen und
deren Schlauheit die gewitzigten Mütter noch souffliren, wollen ganz
das Selbe wie die Hetären, nur dass sie klüger und unehrlicher als
diese sind. 405. Masken. - Es giebt Frauen, die, wo man bei ihnen auch nachsucht, kein
Inneres haben, sondern reine Masken sind. Der Mann ist zu beklagen,
der sich mit solchen fast gespenstischen, nothwendig unbefriedigenden
Wesen einlässt, aber gerade sie vermögen das Verlangen des Mannes auf
das stärkste zu erregen: er sucht nach ihrer Seele - und sucht immer
fort. 406. Die Ehe als langes Gespräch. | 2,462 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_428 | 386 |
7207-8-7 | Gutenberg | 9,976 | - Man soll sich beim Eingehen einer Ehe
die Frage vorlegen: glaubst du, dich mit dieser Frau bis in's Alter
hinein gut zu unterhalten? Alles Andere in der Ehe ist transitorisch,
aber die meiste Zeit des Verkehrs gehört dem Gespräche an. 407. Mädchenträume. - Unerfahrene Mädchen schmeicheln sich mit der
Vorstellung, dass es in ihrer Macht stehe, einen Mann glücklich zu
machen; später lernen sie, dass es so viel heisst als: einen Mann
geringschätzen, wenn man annimmt, dass es nur eines Mädchens bedürfe,
um ihn glücklich zu machen. - Die Eitelkeit der Frauen verlangt, dass
ein Mann mehr sei, als ein glücklicher Gatte. 408. Aussterben von Faust und Gretchen. - Nach der sehr einsichtigen
Bemerkung eines Gelehrten ähneln die gebildeten Männer des
gegenwärtigen Deutschland einer Mischung von Mephistopheles und
Wagner, aber durchaus nicht Fausten: welchen die Grossväter (in ihrer
Jugend wenigstens) in sich rumoren fühlten. Zu ihnen passen also - um
jenen Satz fortzusetzen - aus zwei Gründen die Gretchen nicht. Und
weil sie nicht mehr begehrt werden, so sterben sie, scheint es, aus. 409. Mädchen als Gymnasiasten. - Um Alles in der Welt nicht noch unsere
Gymnasialbildung auf die Mädchen übertragen! Sie, die häufig aus
geistreichen, wissbegierigen, feurigen jungen - Abbilder ihrer Lehrer
macht! 410. Ohne Nebenbuhlerinnen. - Frauen merken es einem Manne leicht an,
ob seine Seele schon in Besitz genommen ist; sie wollen ohne
Nebenbuhlerinnen geliebt sein und verargen ihm die Ziele seines
Ehrgeizes, seine politischen Aufgaben, seine Wissenschaften und
Künste, wenn er eine Leidenschaft zu solchen Sachen hat. Es sei denn,
dass er durch diese glänze, - dann erhoffen sie, im Falle einer
Liebesverbindung mit ihm, zugleich einen Zuwachs ihres Glanzes; wenn
es so steht, begünstigen sie den Liebhaber. 411. Der weibliche Intellect. - Der Intellect der Weiber zeigt sich als
vollkommene Beherrschung, Gegenwärtigkeit des Geistes, Benutzung aller
Vortheile. Sie vererben ihn als ihre Grundeigenschaft auf ihre Kinder,
und der Vater giebt den dunkleren Hintergrund des Willens dazu. Sein
Einfluss bestimmt gleichsam Rhythmus und Harmonie, mit denen das
neue Leben abgespielt werden soll; aber die Melodie desselben stammt
vom Weibe. - Für Solche gesagt, welche Etwas sich zurecht zu legen
wissen: die Weiber haben den Verstand, die Männer das Gemüth und die
Leidenschaft. Dem widerspricht nicht, dass die Männer thatsächlich es
mit ihrem Verstande so viel weiterbringen: sie haben die tieferen,
gewaltigeren Antriebe; diese tragen ihren Verstand, der an sich etwas
Passives ist, so weit. | 2,594 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_429 | 399 |
7207-8-7 | Gutenberg | 9,976 | Die Weiber wundern sich im Stillen oft über die
grosse Verehrung, welche die Männer ihrem Gemüthe zollen. Wenn die
Männer vor Allem nach einem tiefen, gemüthvollen Wesen, die Weiber
aber nach einem klugen, geistesgegenwärtigen und glänzenden Wesen bei
der Wahl ihres Ehegenossen suchen, so sieht man im Grunde deutlich,
wie der Mann nach dem idealisirten Manne, das Weib nach dem
idealisirten Weibe sucht, also nicht nach Ergänzung, sondern nach
Vollendung der eigenen Vorzüge. 412. Ein Urtheil Hesiod's bekräftigt. - Ein Zeichen für die Klugheit
der Weiber ist es, dass sie es fast überall verstanden haben, sich
ernähren zu lassen, wie Drohnen im Bienenkorbe. Man erwäge doch, was
das aber ursprünglich bedeuten will und warum die Männer sich nicht
von den Frauen ernähren lassen. Gewiss weil die männliche Eitelkeit
und Ehrsucht grösser als die weibliche Klugheit ist; denn die Frauen
haben es verstanden, sich durch Unterordnung doch den überwiegenden
Vortheil, ja die Herrschaft zu sichern. Selbst das Pflegen der Kinder
könnte ursprünglich von der Klugheit der Weiber als Vorwand benutzt
sein, um sich der Arbeit möglichst zu entziehen. Auch jetzt noch
verstehen sie, wenn sie wirklich thätig sind, zum Beispiel als
Haushälterinnen, davon ein sinnverwirrendes Aufheben zu machen:
so dass von den Männern das Verdienst ihrer Thätigkeit zehnfach
überschätzt zu werden pflegt. 413. Die Kurzsichtigen sind verliebt. - Mitunter genügt schon eine stärkere
Brille, um den Verliebten zu heilen; und wer die Kraft der Einbildung
hätte, um ein Gesicht, eine Gestalt sich zwanzig Jahre älter
vorzustellen, gienge vielleicht sehr ungestört durch das Leben. 414. Frauen im Hass. - Im Zustande des Hasses sind Frauen gefährlicher, als
Männer; zuvörderst weil sie durch keine Rücksicht auf Billigkeit in
ihrer einmal erregten feindseligen Empfindung gehemmt werden, sondern
ungestört ihren Hass bis zu den letzten Consequenzen anwachsen lassen,
sodann weil sie darauf eingeübt sind, wunde Stellen (die jeder Mensch,
jede Partei hat) zu finden und dort hinein zu stechen: wozu ihnen ihr
dolchspitzer Verstand treffliche Dienste leistet (während die Männer
beim Anblick von Wunden zurückhaltend, oft grossmüthig und versöhnlich
gestimmt werden). 415. Liebe. - Die Abgötterei, welche die Frauen mit der Liebe treiben, ist
im Grunde und ursprünglich eine Erfindung der Klugheit, insofern sie
ihre Macht durch alle jene Idealisirungen der Liebe erhöhen und sich
in den Augen der Männer als immer begehrenswerther darstellen. | 2,511 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_430 | 379 |
7207-8-7 | Gutenberg | 9,976 | Aber
durch die Jahrhundertelange Gewöhnung an diese übertriebene Schätzung
der Liebe ist es geschehen, dass sie in ihr eigenes Netz gelaufen sind
und jenen Ursprung vergessen haben. Sie selber sind jetzt noch mehr
die Getäuschten, als die Männer, und leiden desshalb auch mehr an der
Enttäuschung, welche fast nothwendig im Leben jeder Frau eintreten
wird - sofern sie überhaupt Phantasie und Verstand genug hat, um
getäuscht und enttäuscht werden zu können. 416. Zur Emancipation der Frauen. - Können die Frauen überhaupt gerecht
sein, wenn sie so gewohnt sind, zu lieben, gleich für oder wider zu
empfinden? Daher sind sie auch seltener für Sachen, mehr für Personen
eingenommen: sind sie es aber für Sachen, so werden sie sofort deren
Parteigänger und verderben damit die reine unschuldige Wirkung
derselben. So entsteht eine nicht geringe Gefahr, wenn ihnen die
Politik und einzelne Theile der Wissenschaft anvertraut werden (zum
Beispiel Geschichte). Denn was wäre seltener, als eine Frau, welche
wirklich wüsste, was Wissenschaft ist? Die besten nähren sogar im
Busen gegen sie eine heimliche Geringschätzung, als ob sie irgend
wodurch ihr überlegen wären. Vielleicht kann diess Alles anders
werden, einstweilen ist es so. 417. Die Inspiration im Urtheile der Frauen. - Jene plötzlichen
Entscheidungen über das Für und Wider, welche Frauen zu geben pflegen,
die blitzschnellen Erhellungen persönlicher Beziehungen durch ihre
hervorbrechenden Neigungen und Abneigungen, kurz die Beweise der
weiblichen Ungerechtigkeit sind von liebenden Männern mit einem Glanz
umgeben worden, als ob alle Frauen Inspirationen von Weisheit hätten,
auch ohne den delphischen Kessel und die Lorbeerbinde: und ihre
Aussprüche werden noch lange nachher wie sibyllinische Orakel
interpretirt und zurechtgelegt. Wenn man aber erwägt, dass für jede
Person, für jede Sache sich etwas geltend machen lässt, aber ebenso
gut auch Etwas gegen sie, dass alle Dinge nicht nur zwei-, sondern
drei- und vierseitig sind, so ist es beinahe Schwer, mit solchen
plötzlichen Entscheidungen gänzlich fehl zu greifen; ja man könnte
sagen: die Natur der Dinge ist so eingerichtet, dass die Frauen immer
Recht behalten. 418. Sich lieben lassen. - Weil die eine von zwei liebenden Personen
gewöhnlich die liebende, die andere die geliebte Person ist, so
ist der Glaube entstanden, es gäbe in jedem Liebeshandel ein
gleichbleibendes Maass von Liebe: je mehr eine davon an sich reisse,
um so weniger bleibe für die andere Person übrig. | 2,496 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_431 | 381 |
7207-8-7 | Gutenberg | 9,976 | Ausnahmsweise kommt
es vor, dass die Eitelkeit jede der beiden Personen überredet, sie sei
die, welche geliebt werden müsse; so dass sich beide lieben lassen
wollen: woraus sich namentlich in der Ehe mancherlei halb drollige,
halb absurde Scenen ergeben. 419. Widersprüche in weiblichen Köpfen. - Weil die Weiber so viel mehr
persönlich als sachlich sind, vertragen sich in ihrem Gedankenkreise
Richtungen, die logisch mit einander in Widerspruch sind: sie pflegen
sich eben für die Vertreter dieser Richtungen der Reihe nach zu
begeistern und nehmen deren Systeme in Bausch und Bogen an; doch
so, dass überall dort eine todte Stelle entsteht, wo eine neue
Persönlichkeit später das Uebergewicht bekommt. Es kommt vielleicht
vor, dass die ganze Philosophie im Kopf einer alten Frau aus lauter
solchen todten Stellen besteht. 420. Wer leidet mehr? - Nach einem persönlichen Zwiespalt und Zanke
zwischen einer Frau und einem Manne leidet der eine Theil am meisten
bei der Vorstellung, dem anderen Wehe gethan zu haben; während jener
am meisten bei der Vorstellung leidet, dem andern nicht genug Wehe
gethan zu haben, wesshalb er sich bemüht, durch Thränen, Schluchzen
und verstörte Mienen, ihm noch hinterdrein das Herz schwer zu machen. 421. Gelegenheit zu weiblicher Grossmuth. - Wenn man sich über die
Ansprüche der Sitte einmal in Gedanken hinwegsetzt, so könnte man
wohl erwägen, ob nicht Natur und Vernunft den Mann auf mehrfache
Verheirathung nach einander anweist, etwa in der Gestalt, dass er
zuerst im Alter von zwei und zwanzig Jahren ein älteres Mädchen
heirathet, das ihm geistig und sittlich überlegen ist und seine
Führerin durch die Gefahren der zwanziger Jahre (Ehrgeiz, Hass,
Selbstverachtung, Leidenschaften aller Art) werden kann. Die Liebe
dieser würde später ganz in das Mütterliche übertreten, und sie
ertrüge es nicht nur, sondern förderte es auf die heilsamste Weise,
wenn der Mann in den dreissiger Jahren mit einem ganz jungen Mädchen
eine Verbindung eingienge, dessen Erziehung er selber in die Hand
nähme. - Die Ehe ist für die zwanziger Jahre einnöthiges, für die
dreissiger ein nützliches, aber nicht nöthiges Institut: für das
spätere Leben wird sie oft schädlich und befördert die geistige
Rückbildung des Mannes. 422. Tragödie der Kindheit. | 2,273 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_432 | 354 |
7207-8-7 | Gutenberg | 9,976 | - Es kommt vielleicht nicht selten vor, dass
edel- und hochstrebende Menschen ihren härtesten Kampf in der Kindheit
zu bestehen haben: etwa dadurch, dass sie ihre Gesinnung gegen einen
niedrig denkenden, dem Schein und der Lügnerei ergebenen Vater
durchsetzen müssen, oder fortwährend, wie Lord Byron, im Kampfe mit
einer kindischen und zornwüthigen Mutter leben. Hat man so Etwas
erlebt, so wird man sein Leben lang es nicht verschmerzen, zu wissen,
wer Einem eigentlich der grösste, der gefährlichste Feind gewesen ist. 423. Eltern-Thorheit. - Die gröbsten Irrthümer in der Beurtheilung eines
Menschen werden von dessen Eltern gemacht: diess ist eine Thatsache,
aber wie soll man sie erklären? Haben die Eltern zu viele Erfahrung
von dem Kinde und können sie diese nicht mehr zu einer Einheit
zusammenbringen? Man bemerkt, dass Reisende unter fremden Völkern nur
in der ersten Zeit ihres Aufenthaltes die allgemeinen unterscheidenden
Züge eines Volkes richtig erfassen; je mehr sie das Volk kennen
lernen, desto mehr verlernen sie, das Typische und Unterscheidende an
ihm zu sehen. Sobald sie nah-sichtig werden, hören ihre Augen auf,
fern-sichtig zu sein. Sollten die Eltern desshalb falsch über das Kind
urtheilen, weil sie ihm nie fern genug gestanden haben? - Eine ganz
andere Erklärung wäre folgende: die Menschen pflegen über das Nächste,
was sie umgiebt, nicht mehr nachzudenken, sondern es nur hinzunehmen. Vielleicht ist die gewohnheitsmässige Gedankenlosigkeit der Eltern der
Grund, wesshalb sie, einmal genöthigt über ihre Kinder zu urtheilen,
so schief urtheilen. 424. Aus der Zukunft der Ehe. - Jene edlen, freigesinnten Frauen, welche
die Erziehung und Erhebung des weiblichen Geschlechtes sich zur
Aufgabe stellen, sollen einen Gesichtspunct nicht übersehen: die Ehe
in ihrer höheren Auffassung gedacht, als Seelenfreundschaft zweier
Menschen verschiedenen Geschlechts, also so, wie sie von der Zukunft
erhofft wird, zum Zweck der Erzeugung und Erziehung einer neuen
Generation geschlossen, - eine solche Ehe, welche das Sinnliche
gleichsam nur als ein seltenes, gelegentliches Mittel für einen
grösseren Zweck gebraucht, bedarf wahrscheinlich, wie man besorgen
muss, einer natürlichen Beihülfe, des Concubinats; denn wenn aus
Gründen der Gesundheit des Mannes das Eheweib auch zur alleinigen
Befriedigung des geschlechtlichen Bedürfnisses dienen soll, so wird
bei der Wahl einer Gattin schon ein falscher, den angedeuteten Zielen
entgegengesetzter Gesichtspunct maassgebend sein: die Erzielung der
Nachkommenschaft wird zufällig, die glückliche Erziehung höchst
unwahrscheinlich. | 2,598 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_433 | 375 |
7207-8-7 | Gutenberg | 9,976 | Eine gute Gattin, welche Freundin, Gehülfin,
Gebärerin, Mutter, Familienhaupt, Verwalterin sein soll, ja vielleicht
abgesondert von dem Manne ihrem eigenen Geschäft und Amte vorzustehen
hat, kann nicht zugleich Concubine sein: es hiesse im Allgemeinen zu
viel von ihr verlangen. Somit könnte in Zukunft das Umgekehrte dessen
eintreten, was zu Perikles' Zeiten in Athen sich begab: die Männer,
welche damals an ihren Eheweibern nicht viel mehr als Concubinen
hatten, wandten sich nebenbei zu den Aspasien, weil sie nach den
Reizen einer kopf- und herzbefreienden Geselligkeit verlangten, wie
eine solche nur die Anmuth und geistige Biegsamkeit der Frauen zu
schaffen vermag. Alle menschlichen Institutionen, wie die Ehe,
gestatten nur einen mässigen Grad von praktischer Idealisirung,
widrigenfalls sofort grobe Remeduren nöthig werden. 425. Sturm- und Drangperiode der Frauen. - Man kann in den drei oder vier
civilisirten Ländern Europa's aus den Frauen durch einige Jahrhunderte
von Erziehung Alles machen, was man will, selbst Männer, freilich
nicht in geschlechtlichem Sinne, aber doch in jedem anderen Sinne. Sie
werden unter einer solchen Einwirkung einmal alle männlichen Tugenden
und Stärken angenommen haben, dabei allerdings auch deren Schwächen
und Laster mit in den Kauf nehmen müssen: so viel, wie gesagt, kann
man erzwingen. Aber wie werden wir den dadurch herbeigeführten
Zwischenzustand aushalten, welcher vielleicht selber ein paar
Jahrhunderte dauern kann, während denen die weiblichen Narrheiten und
Ungerechtigkeiten, ihr uraltes Angebinde, noch die Uebermacht über
alles Hinzugewonnene, Angelernte behaupten? Diese Zeit wird es sein,
in welcher der Zorn den eigentlich männlichen Affect ausmacht,
der Zorn darüber, dass alle Künste und Wissenschaften durch einen
unerhörten Dilettantismus überschwemmt und verschlammt sind, die
Philosophie durch sinnverwirrendes Geschwätz zu Tode geredet, die
Politik phantastischer und parteiischer als je, die Gesellschaft in
voller Auflösung ist, weil die Bewahrerinnen der alten Sitte sich
selber lächerlich geworden und in jeder Beziehung ausser der Sitte zu
stehen bestrebt sind. Hatten nämlich die Frauen ihre grösste Macht in
der Sitte, wonach werden sie greifen müssen, um eine ähnliche Fülle
der Macht wiederzugewinnen, nachdem sie die Sitte aufgegeben haben? 426. Freigeist und Ehe. - Ob die Freigeister mit Frauen leben werden? Im
Allgemeinen glaube ich, dass sie, gleich den wahrsagenden Vögeln des
Alterthums, als die Wahrdenkenden, Wahrheit-Redenden der Gegenwart es
vorziehen müssen, allein zu fliegen. 427. Glück der Ehe. | 2,594 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_434 | 371 |
7207-8-7 | Gutenberg | 9,976 | - Alles Gewohnte zieht ein immer fester werdendes Netz
von Spinneweben um uns zusammen; und alsobald merken wir, dass die
Fäden zu Stricken geworden sind und dass wir selber als Spinne in der
Mitte sitzen, die sich hier gefangen hat und von ihrem eigenen Blute
zehren muss. Desshalb hasst der Freigeist alle Gewöhnungen und Regeln,
alles Dauernde und Definitive, desshalb reisst er, mit Schmerz, das
Netz um sich immer wieder auseinander: wiewohl er in Folge dessen an
zahlreichen kleinen und grossen Wunden leiden wird, - denn jene Fäden
muss er von sich, von seinem Leibe, seiner Seele abreissen. Er muss
dort lieben lernen, wo er bisher hasste, und umgekehrt. Ja es darf
für ihn nichts Unmögliches sein, auf das selbe Feld Drachenzähne
auszusäen, auf welches er vorher die Füllhörner seiner Güte ausströmen
liess. - Daraus lässt sich abnehmen, ob er für das Glück der Ehe
geschaffen ist. 428. Zunahe. - Leben wir zu nahe mit einem Menschen zusammen, so geht es
uns so, wie wenn wir einen guten Kupferstich immer wieder mit blossen
Fingern anfassen: eines Tages haben wir schlechtes beschmutztes Papier
und Nichts weiter mehr in den Händen. Auch die Seele eines Menschen
wird durch beständiges Angreifen endlich abgegriffen; mindestens
erscheint sie uns endlich so, - wir sehen ihre ursprüngliche
Zeichnung und Schönheit nie wieder. - Man verliert immer durch den
allzuvertraulichen Umgang mit Frauen und Freunden; und mitunter
verliert man die Perle seines Lebens dabei. 429. Die goldene Wiege. - Der Freigeist wird immer aufathmen, wenn er sich
endlich entschlossen hat, jenes mutterhafte Sorgen und Bewachen, mit
welchem die Frauen um ihn walten, von sich abzuschütteln. Was schadet
ihm denn ein rauherer Luftzug, den man so ängstlich von ihm wehrte,
was bedeutet ein wirklicher Nachtheil, Verlust, Unfall, eine
Erkrankung, Verschuldung, Bethörung mehr oder weniger in seinem
Leben, verglichen mit der Unfreiheit der goldenen Wiege, des
Pfauenschweif-Wedels und der drückenden Empfindung, noch dazu dankbar
sein zu müssen, weil er wie ein Säugling gewartet und verwöhnt wird? Desshalb kann sich die Milch, welche die mütterliche Gesinnung der ihn
umgebenden Frauen reicht, so leicht in Galle verwandeln. 430. Freiwilliges Opferthier. - Durch Nichts erleichtern bedeutende Frauen
ihren Männern, falls diese berühmt und gross sind, das Leben so sehr,
als dadurch dass sie gleichsam das Gefäss der allgemeinen Ungunst
und gelegentlichen Verstimmung der übrigen Menschen werden. | 2,480 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_435 | 384 |
7207-8-7 | Gutenberg | 9,976 | Die
Zeitgenossen pflegen ihren grossen Männern viel Fehlgriffe und
Narrheiten, ja Handlungen grober Ungerechtigkeit nachzusehen, wenn
sie nur Jemanden finden, den sie als eigentliches Opferthier zur
Erleichterung ihres Gemüthes misshandeln und schlachten dürfen. Nicht
selten findet eine Frau den Ehrgeiz in sich, sich zu dieser Opferung
anzubieten, und dann kann freilich der Mann sehr zufrieden sein, -
falls er nämlich Egoist genug ist, um sich einen solchen freiwilligen
Blitz-, Sturm- und Regenableiter in seiner Nähe gefallen zu lassen. 431. Angenehme Widersacher. - Die naturgemässe Neigung der Frauen zu
ruhigem, gleichmässigem, glücklich zusammenstimmendem Dasein und
Verkehren, das Oelgleiche und Beschwichtigende ihrer Wirkungen auf
dem Meere des Lebens, arbeitet unwillkürlich dem heroischeren inneren
Drange des Freigeistes entgegen. Ohne dass sie es merken, handeln die
Frauen so, als wenn man dem wandernden Mineralogen die Steine vom
Wege nimmt, damit sein Fuss nicht daran stosse, - während er gerade
ausgezogen ist, um daran zu stossen. 432. Missklang zweier Consonanzen. - Die Frauen wollen dienen und haben
darin ihr Glück: und der Freigeist will nicht bedient sein und hat
darin sein Glück. 433. Xanthippe. - Sokrates fand eine Frau, wie er sie brauchte, - aber auch
er hätte sie nicht gesucht, falls er sie gut genug gekannt hätte: so
weit wäre auch der Heroismus dieses freien Geistes nicht gegangen. Thatsächlich trieb ihn Xanthippe in seinen eigenthümlichen Beruf immer
mehr hinein, indem sie ihm Haus und Heim unhäuslich und unheimlich
machte: sie lehrte ihn, auf den Gassen und überall dort zu leben,
wo man schwätzen und müssig sein konnte und bildete ihn damit zum
grössten athenischen Gassen-Dialektiker aus: der sich zuletzt selber
mit einer zudringlichen Bremse vergleichen musste, welche dem schönen
Pferde Athen von einem Gotte auf den Nacken gesetzt sei, um es nicht
zur Ruhe kommen zu lassen. 434. Für die Ferne blind. - Ebenso wie die Mütter eigentlich nur Sinn und
Auge für die augen- und sinnfälligen Schmerzen ihrer Kinder haben, so
vermögen die Gattinnen hoch strebender Männer es nicht über sich zu
gewinnen, ihre Ehegenossen leidend, darbend und gar missachtet zu
sehen, - während vielleicht alles diess nicht nur die Wahrzeichen
einer richtigen Wahl ihrer Lebenshaltung, sondern schon die
Bürgschaften dafür sind, dass ihre grossen Ziele irgendwann einmal
erreicht werden müssen. Die Frauen intriguiren im Stillen immer gegen
die höhere Seele ihrer Männer; sie wollen dieselbe um ihre Zukunft, zu
Gunsten einer schmerzlosen, behaglichen Gegenwart, betrügen. 435. Macht und Freiheit. | 2,627 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_436 | 397 |
7207-8-7 | Gutenberg | 9,976 | - So hoch Frauen ihre Männer ehren, so ehren sie
doch die von der Gesellschaft anerkannten Gewalten und Vorstellungen
noch mehr: sie sind seit Jahrtausenden gewohnt, vor allem Herrschenden
gebückt, die Hände auf die Brust gefaltet, einherzugehen und
missbilligen alle Auflehnung gegen die öffentliche Macht. Desshalb
hängen sie sich, ohne es auch nur zu beabsichtigen, vielmehr wie
aus Instinct, als Hemmschuh in die Räder eines freigeisterischen
unabhängigen Strebens und machen unter Umständen ihre Gatten aufs
Höchste ungeduldig, zumal wenn diese sich noch vorreden, dass Liebe es
sei, was die Frauen im Grunde dabei antreibe. Die Mittel der Frauen
missbilligen und grossmüthig die Motive dieser Mittel ehren, - das ist
Männer-Art und oft genug Männer-Verzweiflung. 436. Ceterum censeo. - Es ist zum Lachen, wenn eine Gesellschaft von
Habenichtsen die Abschaffung des Erbrechts decretirt, und nicht minder
zum Lachen ist es, wenn Kinderlose an der praktischen Gesetzgebung
eines Landes arbeiten: - sie haben ja nicht genug Schwergewicht in
ihrem Schiffe, um sicher in den Ocean der Zukunft hineinsegeln zu
können. Aber ebenso ungereimt erscheint es, wenn Der, welcher die
allgemeinste Erkenntniss und die Abschätzung des gesammten Daseins zu
seiner Aufgabe erkoren hat, sich mit persönlichen Rücksichten auf eine
Familie, auf Ernährung, Sicherung, Achtung von Weib und Kind, belastet
und vor sein Teleskop jenen trüben Schleier aufspannt, durch welchen
kaum einige Strahlen der fernen Gestirnwelt hindurchzudringen
vermögen. So komme auch ich zu dem Satze, dass in den Angelegenheiten
der höchsten philosophischen Art alle Verheiratheten verdächtig sind. 437. Zuletzt. - Es giebt mancherlei Arten von Schierling, und gewöhnlich
findet das Schicksal eine Gelegenheit, dem Freigeiste einen Becher
dieses Giftgetränkes an die Lippen zu setzen, - um ihn zu "strafen",
wie dann alle Welt sagt. Was thun dann die Frauen um ihn? Sie werden
schreien und wehklagen und vielleicht die Sonnenuntergangs-Ruhe des
Denkers stören: wie sie es im Gefängniss von Athen thaten. "O Kriton,
heisse doch jemanden diese Weiber da fortführen!" sagte endlich
Sokrates. -
Achtes Hauptstück. Ein Blick auf den Staat. 438. Um das Wort bitten. - Der demagogische Charakter und die Absicht,
auf die Massen zu wirken, ist gegenwärtig allen politischen Parteien
gemeinsam: sie alle sind genöthigt, der genannten Absicht wegen, ihre
Principien zu grossen Alfresco-Dummheiten umzuwandeln und sie so
an die Wand zu malen. | 2,495 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_437 | 372 |
7207-8-7 | Gutenberg | 9,976 | Daran ist Nichts mehr zu ändern, ja es ist
überflüssig, auch nur einen Finger dagegen aufzuheben; denn auf
diesem Gebiete gilt, was Voltaire sagt: quand la populace se mêle de
raisonner, tout est perdu. Seitdem diess geschehen ist, muss man sich
den neuen Bedingungen fügen, wie man sich fügt, wenn ein Erdbeben die
alten Gränzen und Umrisse der Bodengestalt verrückt und den Werth des
Besitzes verändert hat. Ueberdiess: wenn es sich nun einmal bei aller
Politik darum handelt, möglichst Vielen das Leben erträglich zu
machen, so mögen immerhin diese Möglichst-Vielen auch bestimmen, was
sie unter einem erträglichen Leben verstehen; trauen sie sich den
Intellect zu, auch die richtigen Mittel zu diesem Ziele zu finden,
was hülfe es, daran zu zweifeln? Sie wollen nun einmal ihres Glückes
und Unglückes eigene Schmiede sein; und wenn dieses Gefühl der
Selbstbestimmung, der Stolz auf die fünf, sechs Begriffe, welche ihr
Kopf birgt und zu Tage bringt, ihnen in der That das Leben so angenehm
macht, dass sie die fatalen Folgen ihrer Beschränktheit gern ertragen:
so ist wenig einzuwenden, vorausgesetzt, dass die Beschränktheit nicht
so weit geht, zu verlangen, es solle Alles in diesem Sinne zur Politik
werden, es solle jeder nach solchem Maassstabe leben und wirken. Zuerst nämlich muss es Einigen mehr als je, erlaubt sein, sich der
Politik zu enthalten und ein Wenig bei Seite zu treten: dazu treibt
auch sie die Lust an der Selbstbestimmung, und auch ein kleiner Stolz
mag damit verbunden sein, zu schweigen, wenn zu Viele oder überhaupt
nur Viele reden. Sodann muss man es diesen Wenigen nachsehen, wenn
sie das Glück der Vielen, verstehe man nun darunter Völker oder
Bevölkerungsschichten, nicht so wichtig nehmen und sich hie und da
eine ironische Miene zu Schulden kommen lassen; denn ihr Ernst liegt
anderswo, ihr Glück ist ein anderer Begriff, ihr Ziel ist nicht von
jeder plumpen Hand, welche eben nur fünf Finger hat, zu umspannen. Endlich kommt - was ihnen gewiss am schwersten zugestanden wird, aber
ebenfalls zugestanden werden muss - von Zeit zu Zeit ein Augenblick,
wo sie aus ihren schweigsamen Vereinsamungen heraustreten und die
Kraft ihrer Lungen wieder einmal versuchen: dann rufen sie nämlich
einander zu wie Verirrte in einem Walde, um sich einander zu erkennen
zu geben und zu ermuthigen; wobei freilich Mancherlei laut wird, was
den Ohren, für welche es nicht bestimmt ist, übel klingt. | 2,417 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_438 | 389 |
7207-8-7 | Gutenberg | 9,976 | - Nun,
bald darauf ist es wieder stille im Walde, so stille, dass man das
Schwirren, Summen und Flattern der zahllosen Insecten, welche in, über
und unter ihm leben, wieder deutlich vernimmt. -
439. Cultur und Kaste. - Eine höhere Cultur kann allein dort entstehen,
wo es zwei unterschiedene Kasten der Gesellschaft giebt: die der
Arbeitenden und die der Müssigen, zu wahrer Musse Befähigten; oder
mit stärkerem Ausdruck: die Kaste der Zwangs-Arbeit und die Kaste der
Frei-Arbeit. Der Gesichtspunct der Vertheilung des Glücks ist nicht
wesentlich, wenn es sich um die Erzeugung einer höheren Cultur
handelt; jedenfalls aber ist die Kaste der Müssigen die
leidensfähigere, leidendere, ihr Behagen am Dasein ist geringer, ihre
Aufgabe grösser. Findet nun gar ein Austausch der beiden Kasten statt,
so, dass die stumpferen, ungeistigeren Familien und Einzelnen aus
der oberen Kaste in die niedere herabgesetzt werden und wiederum die
freieren Menschen aus dieser den Zutritt zur höheren erlangen: so ist
ein Zustand erreicht, über den hinaus man nur noch das offene Meer
unbestimmter Wünsche sieht. - So redet die verklingende Stimme der
alten Zeit zu uns; aber wo sind noch Ohren, sie zu hören? 440. Von Geblüt. - Das, was Männer und Frauen von Geblüt vor Anderen voraus
haben und was ihnen unzweifelhaftes Anrecht auf höhere Schätzung
giebt, sind zwei durch Vererbung immer mehr gesteigerte Künste: die
Kunst, befehlen zu können, und die Kunst des stolzen Gehorsams. - Nun
entsteht überall, wo das Befehlen zum Tagesgeschäft gehört (wie in
der grossen Kaufmanns- und Industrie-Welt), etwas Aehnliches wie jene
Geschlechter "von Geblüt", aber ihnen fehlt die vornehme Haltung im
Gehorsam, welche bei jenen eine Erbschaft feudaler Zustände ist und
die in unserem Cultur-Klima nicht mehr wachsen will. 441. Subordination. - Die Subordination, welche im Militär- und
Beamtenstaate so hoch geschätzt wird, wird uns bald ebenso unglaublich
werden, wie die geschlossene Taktik der Jesuiten es bereits geworden
ist; und wenn diese Subordination nicht mehr möglich ist, lässt sich
eine Menge der erstaunlichsten Wirkungen nicht mehr erreichen, und
die Welt wird ärmer sein. Sie muss schwinden, denn ihr Fundament
schwindet: der Glaube an die unbedingte Autorität, an die endgültige
Wahrheit; selbst in Militärstaaten ist der physische Zwang nicht
ausreichend, sie hervorzubringen, sondern die angeerbte Adoration
vor dem Fürstlichen wie vor etwas Uebermenschlichem. - In freieren
Verhältnissen ordnet man sich nur auf Bedingungen unter, in Folge
gegenseitigen Vertrages, also mit allen Vorbehalten des Eigennutzes. 442. Volksheere. | 2,624 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_439 | 397 |
7207-8-7 | Gutenberg | 9,976 | - Der grösste Nachtheil der jetzt so verherrlichten
Volksheere besteht in der Vergeudung von Menschen der höchsten
Civilisation; nur durch die Gunst aller Verhältnisse giebt es deren
überhaupt, - wie sparsam und ängstlich sollte man mit ihnen umgehen,
da es grosser Zeiträume bedarf, um die zufälligen Bedingungen
zur Erzeugung so zart organisirter Gehirne zu schaffen! Aber wie
die Griechen in Griechenblut wütheten, so die Europäer jetzt
in Europäerblut: und zwar werden relativ am meisten immer die
Höchstgebildeten zum Opfer gebracht, Die, welche eine reichliche und
gute Nachkommenschaft verbürgen; Solche nämlich stehen im Kampfe
voran, als Befehlende, und setzen sich überdiess, ihres höheren
Ehrgeizes wegen, den Gefahren am meisten aus. - Der grobe
Römer-Patriotismus ist jetzt, wo ganz andere und höhere Aufgaben
gestellt sind, als patria und honor, entweder etwas Unehrliches oder
ein Zeichen der Zurückgebliebenheit. 443. Hoffnung als Anmaassung. - Unsere gesellschaftliche Ordnung wird
langsam wegschmelzen, wie es alle früheren Ordnungen gethan haben,
sobald die Sonnen neuer Meinungen mit neuer Gluth über die Menschen
hinleuchteten. Wünschen kann man diess Wegschmelzen nur, indem man
hofft: und hoffen darf man vernünftigerweise nur, wenn man sich und
seinesgleichen mehr Kraft in Herz und Kopf zutraut, als den Vertretern
des Bestehenden. Gewöhnlich also wird diese Hoffnung eine Anmaassung,
eine Ueberschätzung sein. 444. Krieg. - Zu Ungunsten des Krieges kann man sagen: er macht den Sieger
dumm, den Besiegten boshaft. Zu Gunsten des Krieges: er barbarisirt in
beiden eben genannten Wirkungen und macht dadurch natürlicher; er ist
für die Cultur Schlaf oder Winterszeit, der Mensch kommt kräftiger zum
Guten und Bösen aus ihm heraus. 445. Im Dienste des Fürsten. - Ein Staatsmann wird, um völlig rücksichtslos
handeln zu können, am besten thun, nicht für sich, sondern für einen
Fürsten sein Werk auszuführen. Von dem Glanze dieser allgemeinen
Uneigennützigkeit wird das Auge des Beschauers geblendet, so dass er
jene Tücken und Härten, welche das Werk des Staatsmannes mit sich
bringt, nicht sieht. 446. Eine Frage der Macht, nicht des Rechtes. | 2,167 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_440 | 324 |
7207-8-7 | Gutenberg | 9,976 | - Für Menschen, welche bei
jeder Sache den höheren Nutzen in's Auge fassen, giebt es bei dem
Socialismus, falls er wirklich die Erhebung der Jahrtausende lang
Gedrückten, Niedergehaltenen gegen ihre Unterdrücker ist, kein Problem
des Rechtes (mit der lächerlichen, weichlichen Frage: "wie weit soll
man seinen Forderungen nachgeben?"), sondern nur ein Problem der Macht
("wie weit kann man seine Forderungen benutzen?"); also wie bei einer
Naturmacht, zum Beispiel dem Dampfe, welcher entweder von dem Menschen
in seine Dienste, als Maschinengott, gezwungen wird, oder, bei Fehlern
der Maschine, das heisst Fehlern der menschlichen Berechnung im Bau
derselben, sie und den Menschen mit zertrümmert. Um jene Machtfrage
zu lösen, muss man wissen, wie stark der Socialismus ist, in welcher
Modification er noch als mächtiger Hebel innerhalb des jetzigen
politischen Kräftespiels benutzt werden kann; unter Umständen müsste
man selbst Alles thun, ihn zu kräftigen. Die Menschheit muss bei jeder
grossen Kraft - und sei es die gefährlichste - daran denken, aus ihr
ein Werkzeug ihrer Absichten zu machen. - Ein Recht gewinnt sich
der Socialismus erst dann, wenn es zwischen den beiden Mächten, den
Vertretern des Alten und Neuen, zum Kriege gekommen zu sein scheint,
wenn aber dann das kluge Rechnen auf möglichste Erhaltung und
Zuträglichkeit auf Seiten beider Parteien das Verlangen nach einem
Vertrag entstehen lässt. Ohne Vertrag kein Recht. Bis jetzt giebt es
aber auf dem bezeichneten Gebiete weder Krieg, noch Verträge, also
auch keine Rechte, kein "Sollen". 447. Benutzung der kleinsten Unredlichkeit. - Die Macht der Presse besteht
darin, dass jeder Einzelne, der ihr dient, sich nur ganz wenig
verpflichtet und verbunden fühlt. Er sagt für gewöhnlich seine
Meinung, aber sagt sie einmal auch nicht, um seiner Partei oder der
Politik seines Landes oder endlich sich selbst zu nützen. Solche
kleine Vergehen der Unredlichkeit oder vielleicht nur einer
unredlichen Verschwiegenheit sind von dem Einzelnen nicht schwer zu
tragen, doch sind die Folgen ausserordentlich, weil diese kleinen
Vergehen von Vielen zu gleicher Zeit begangen werden. Jeder von Diesen
sagt sich: "für so geringe Dienste lebe ich besser, kann ich mein
Auskommen finden; durch den Mangel solcher kleinen Rücksichten mache
ich mich unmöglich". Weil es beinahe sittlich gleichgültig erscheint,
eine Zeile, noch dazu vielleicht ohne Namensunterschrift, mehr zu
schreiben oder nicht zu schreiben, so kann Einer, der Geld und
Einfluss hat, jede Meinung zur öffentlichen machen. | 2,546 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_441 | 384 |
7207-8-7 | Gutenberg | 9,976 | Wer da weiss, dass
die meisten Menschen in Kleinigkeiten schwach sind, und seine eigenen
Zwecke durch sie erreichen will, ist immer ein gefährlicher Mensch. 448. Allzu lauter Ton bei Beschwerden. - Dadurch, dass ein Nothstand
(zum Beispiel die Gebrechen einer Verwaltung, Bestechlichkeit und
Gunstwillkür in politischen oder gelehrten Körperschaften) stark
übertrieben dargestellt wird, verliert zwar die Darstellung bei
den Einsichtigen ihre Wirkung, aber wirkt um so stärker auf die
Nichteinsichtigen (welche bei einer sorgsamen maassvollen Darlegung
gleichgültig geblieben wären). Da diese aber bedeutend in der Mehrzahl
sind und stärkere Willenskräfte, ungestümere Lust zum Handeln in sich
beherbergen, so wird jene Uebertreibung zum Anlass von Untersuchungen,
Bestrafungen, Versprechen, Reorganisationen. - Insofern ist es
nützlich, Nothstände übertrieben darzustellen. 449. Die anscheinenden Wettermacher der Politik. - Wie das Volk bei Dem,
welcher sich auf das Wetter versteht und es um einen Tag voraussagt,
im Stillen annimmt, dass er das Wetter mache, so legen selbst
Gebildete und Gelehrte mit einem Aufwand von abergläubischem
Glauben grossen Staatsmännern alle die wichtigen Veränderungen und
Conjuncturen, welche während ihrer Regierung eintraten, als deren
eigenstes Werk bei, wenn es nur ersichtlich ist, dass jene Etwas davon
eher wussten, als Andere, und ihre Berechnung darnach machten: sie
werden also ebenfalls als Wettermacher genommen - und dieser Glaube
ist nicht das geringste Werkzeug ihrer Macht. 450. Neuer und alter Begriff der Regierung. - Zwischen Regierung und
Volk so zu scheiden, als ob hier zwei getrennte Machtsphären, eine
stärkere, höhere mit einer schwächeren, niederen, verhandelten und
sich vereinbarten, ist ein Stück vererbter politischer Empfindung,
welches der historischen Feststellung der Machtverhältnisse in den in
eisten Staaten noch jetzt genau entspricht. Wenn zum Beispiel Bismarck
die constitutionelle Form als einen Compromiss zwischen Regierung
und Volk bezeichnet, so redet er gemäss einem Princip, welches seine
Vernunft- in der Geschichte hat (ebendaher freilich auch den Beisatz
von Unvernunft, ohne den nichts Menschliches existiren kann). Dagegen
soll man nun lernen - gemäss einem Princip, welches rein aus dem Kopfe
entsprungen ist und erst Geschichte machen soll -, dass Regierung
Nichts als ein Organ des Volkes sei, nicht ein vorsorgliches,
verehrungswürdiges "Oben" im Verhältniss zu einem an Bescheidenheit
gewöhnten "Unten". | 2,496 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_442 | 352 |
7207-8-8 | Gutenberg | 9,991 | - Wohl können edle (wenn auch
nicht gerade sehr einsichtsvolle) Vertreter der berrschenden Classe
sich geloben: "wir wollen die Menschen als gleich behandeln, ihnen
gleiche Rechte zugestehen"; insofern ist eine socialistische
Denkungsweise, welche auf Gerechtigkeit ruht, möglich, aber wie gesagt
nur innerhalb der herrschenden Classe, welche in diesem Falle die
Gerechtigkeit mit Opfern und Verleugnungen übt. Dagegen Gleichheit
der Rechte fordern, wie es die Socialisten der unterworfenen Kaste
thun, ist nimmermehr der Ausfluss der Gerechtigkeit, sondern der
Begehrlichkeit. - Wenn man der Bestie blutige Fleischstücke aus der
Nähe zeigt und wieder wegzieht, bis sie endlich brüllt: meint ihr,
dass diess Gebrüll Gerechtigkeit bedeute? 452. Besitz und Gerechtigkeit. - Wenn die Socialisten nachweisen, dass die
Eigenthums-Vertheilung in der gegenwärtigen Menschheit die Consequenz
zahlloser Ungerechtigkeiten und Gewaltsamkeiten ist, und in summa die
Verpflichtung gegen etwas so unrecht Begründetes ablehnen: so sehen
sie nur etwas Einzelnes. Die ganze Vergangenheit der alten Cultur ist
auf Gewalt, Sclaverei, Betrug, Irrthum aufgebaut; wir können aber uns
selbst, die Erben aller dieser Zustände, ja die Concrescenzen aller
jener Vergangenheit, nicht wegdecretiren und dürfen nicht ein
einzelnes Stück herausziehen wollen. Die ungerechte Gesinnung steckt
in den Seelen der Nicht-Besitzenden auch, sie sind nicht besser als
die Besitzenden und haben kein moralisches Vorrecht, denn irgend
wann sind ihre Vorfahren Besitzende gewesen. Nicht gewaltsame neue
Vertheilungen, sondern allmähliche Umschaffungen des Sinnes thun noth,
die Gerechtigkeit muss in Allen grösser werden, der gewaltthätige
Instinct schwächer. 453. Der Steuermann der Leidenschaften. - Der Staatsmann erzeugt
öffentliche Leidenschaften, um den Gewinn von der dadurch erweckten
Gegenleidenschaft zu haben. Um ein Beispiel zu nehmen: so weiss ein
deutscher Staatsmann wohl, dass die katholische Kirche niemals mit
Russland gleiche Pläne haben wird, ja sich viel lieber mit den Türken
verbünden würde, als mit ihm; ebenso weiss er, dass Deutschland alle
Gefahr von einem Bündnisse Frankreichs mit Russland droht. Kann er es
nun dazu bringen, Frankreich zum Herd und Hort der katholischen Kirche
zu machen, so hat er diese Gefahr auf eine lange Zeit beseitigt. Er
hat demnach ein Interesse daran, Hass gegen die Katholiken zu zeigen
und durch Feindseligkeiten aller Art die Bekenner der Autorität des
Papstes in eine leidenschaftliche politische Macht zu verwandeln,
welche der deutschen Politik feindlich ist und sich naturgemäss mit
Frankreich, als dem Widersacher Deutschlands, verschmelzen muss: sein
Ziel ist ebenso nothwendig die Katholisirung Frankreichs, als Mirabeau
in der Dekatholisirung das Heil seines Vaterlandes sah. | 2,802 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_443 | 394 |
7207-8-8 | Gutenberg | 9,991 | - Der eine
Staat will also die Verdunkelung von Millionen Köpfen eines anderen
Staates, um seinen Vortheil aus dieser Verdunkelung zu ziehen. Es ist
diess die selbe Gesinnung, welche die republicanische Regierungsform
des nachbarlichen Staates - le désordre organisé, wie Mérimee sagt -
aus dem alleinigen Grunde unterstützt, weil sie von dieser annimmt,
dass sie das Volk schwächer, zerrissener und kriegsunfähiger mache. 454. Die Gefährlichen unter den Umsturz-Geistern. - Man theile Die, welche
auf einen Umsturz der Gesellschaft bedacht sind, in Solche ein, welche
für sich selbst, und in Solche, welche für ihre Kinder und Enkel Etwas
erreichen wollen. Die Letzteren sind die Gefährlicheren; denn sie
haben den Glauben und das gute Gewissen der Uneigennützigkeit. Die
Anderen kann man abspeisen: dazu ist die herrschende Gesellschaft
immer noch reich und klug genug. Die Gefahr beginnt, sobald die Ziele
unpersönlich werden; die Revolutionäre aus unpersönlichem Interesse
dürfen alle Vertheidiger des Bestehenden als persönlich interessirt
ansehen und sich desshalb ihnen überlegen fühlen. 455. Politischer Werth der Vaterschaft. - Wenn der Mensch keine Söhne hat,
so hat er kein volles Recht, über die Bedürfnisse eines einzelnen
Staatswesens mitzureden. Man muss selber mit den Anderen sein Liebstes
daran gewagt haben; das erst bindet an den Staat fest; man muss das
Glück seiner Nachkommen in's Auge fassen, also vor Allem Nachkommen
haben, um an allen Institutionen und deren Veränderung rechten,
natürlichen Antheil zu nehmen. Die Entwickelung der höhern Moral hängt
daran, dass Einer Söhne hat; diess stimmt ihn unegoistisch, oder
richtiger: es erweitert seinen Egoismus der Zeitdauer nach, und
lässt ihn Ziele über seine individuelle Lebenslänge hinaus mit Ernst
verfolgen. 456. Ahnenstolz. - Auf eine ununterbrochene Reihe guter Ahnen bis zum Vater
herauf darf man mit Recht stolz sein, - nicht aber auf die Reihe;
denn diese hat jeder. Die Herkunft von guten Ahnen macht den ächten
Geburtsadel aus; eine einzige Unterbrechung in jener Kette, Ein
böser Vorfahr also hebt den Geburtsadel auf. Man soll jeden, welcher
von seinem Adel redet, fragen: hast du keinen gewaltthätigen,
habsüchtigen, ausschweifenden, boshaften, grausamen Menschen unter
deinen Vorfahren? Kann er darauf in gutem Wissen und Gewissen mit Nein
antworten, so bewerbe man sich um seine Freundschaft. 457. Sclaven und Arbeiter. | 2,411 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_444 | 360 |
7207-8-8 | Gutenberg | 9,991 | - Dass wir mehr Werth auf Befriedigung der
Eitelkeit, als auf alles übrige Wohlbefinden (Sicherheit, Unterkommen,
Vergnügen aller Art) legen, zeigt sich in einem lächerlichen Grade
daran, dass jedermann (abgesehen von politischen Gründen) die
Aufhebung der Sclaverei wünscht und es auf's Aergste verabscheut,
Menschen in diese Lage zu bringen: während jeder sich sagen muss,
dass die Sclaven in allen Beziehungen sicherer und glücklicher leben,
als der moderne Arbeiter, dass Sclavenarbeit sehr wenig Arbeit im
Verhältniss zu der des "Arbeiters" ist. Man protestirt im Namen
der "Menschenwürde": das ist aber, schlichter ausgedrückt, jene
liebe Eitelkeit, welche das Nicht-gleich-gestelltsein, das
Oeffentlich-niedriger-geschätzt-werden, als das härteste Loos
empfindet. - Der Cyniker denkt anders darüber, weil er die Ehre
verachtet: - und so war Diogenes eine Zeitlang Sclave und Hauslehrer. 458. Leitende Geister und ihre Werkzeuge. - Wir sehen grosse Staatsmänner
und überhaupt alle Die, welche sich vieler Menschen zur Durchführung
ihrer Pläne bedienen müssen, bald so, bald so verfahren: entweder
wählen sie sehr fein und sorgsam die zu ihren Plänen passenden
Menschen aus und lassen ihnen dann verhältnissmässige grosse Freiheit,
weil sie wissen, dass die Natur dieser Ausgewählten sie eben dahin
treibt, wohin sie selber Jene haben wollen; oder sie wählen schlecht,
ja nehmen was ihnen unter die Hand kommt, formen aber aus jedem
Thone etwas für ihre Zwecke Taugliches. Diese letzte Art ist
die gewaltsamere, sie begehrt auch unterwürfigere Werkzeuge;
ihre Menschenkenntniss ist gewöhnlich viel geringer, ihre
Menschenverachtung grösser, als bei den erstgenannten Geistern, aber
die Maschine, welche sie construiren, arbeitet gemeinhin besser, als
die Maschine aus der Werkstätte jener. 459. Willkürliches Recht nothwendig. - Die Juristen streiten, ob das
am vollständigsten durchgedachte Recht oder das am leichtesten
zu verstehende in einem Volke zum Siege kommen solle. Das erste,
dessen höchstes Muster das römische ist, erscheint dem Laien
als unverständlich und desshalb nicht als Ausdruck seiner
Rechtsempfindung. Die Volksrechte, wie zum Beispiel die germanischen,
waren grob, abergläubisch, unlogisch, zum Theil albern, aber
sie entsprachen ganz bestimmten vererbten heimischen Sitten und
Empfindungen. - Wo aber Recht nicht mehr, wie bei uns, Herkommen ist,
da kann es nur befohlen, Zwang sein; wir haben Alle kein herkömmliches
Rechtsgefühl mehr, desshalb müssen wir uns Willkürsrechte gefallen
lassen, die der Ausdruck der Nothwendigkeit sind, dass es ein Recht
geben müsse. | 2,595 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_445 | 372 |
7207-8-8 | Gutenberg | 9,991 | Das logischste ist dann jedenfalls das annehmbarste, weil
es das unparteilichste ist: zugegeben selbst, dass in jedem Falle
die kleinste Maasseinheit im Verhältniss von Vergehen und Strafe
willkürlich angesetzt ist. 460. Der grosse Mann der Masse. - Das Recept zu dem, was die Masse einen
grossen Mann nennt, ist leicht gegeben. Unter allen Umständen
verschaffe man ihr Etwas, das ihr sehr angenehm ist, oder setze ihr
erst in den Kopf, dass diess und jenes sehr angenehm wäre, und gebe
es ihr dann. Doch um keinen Preis sofort: sondern man erkämpfe es mit
grösster Anstrengung oder scheine es zu erkämpfen. Die Masse muss den
Eindruck haben, dass eine mächtige, ja unbezwingliche Willenskraft
da sei; mindestens muss sie da zu sein scheinen. Den starken Willen
bewundert jedermann, weil Niemand ihn hat und Jedermann sich sagt,
dass, wenn er ihn hätte, es für ihn und seinen Egoismus keine Gränze
mehr gäbe. Zeigt sich nun, dass ein solcher starker Wille etwas
der Masse sehr Angenehmes bewirkt, statt auf die Wünsche seiner
Begehrlichkeit zu hören, so bewundert man noch einmal und wünscht sich
selber Glück. Im Uebrigen habe er alle Eigenschaften der Masse: um so
weniger schämt sie sich vor ihm, um so mehr ist er populär. Also: er
sei gewaltthätig, neidisch, ausbeuterisch, intrigant, schmeichlerisch,
kriechend, aufgeblasen, je nach Umständen alles. 461. Fürst und Gott. - Die Menschen verkehren mit ihren Fürsten vielfach in
ähnlicher Weise wie mit ihrem Gotte, wie ja vielfach auch der Fürst
der Repräsentant des Gottes, mindestens sein Oberpriester war. Diese
fast unheimliche Stimmung von Verehrung und Angst und Scham war und
ist viel schwächer geworden, aber mitunter lodert sie auf und heftet
sich an mächtige Personen, überhaupt. Der Cultus des Genius' ist ein
Nachklang dieser Götter-Fürsten-Verehrung. Ueberall, wo man sich
bestrebt, einzelne Menschen in das Uebermenschliche hinaufzuheben,
entsteht auch die Neigung, ganze Schichten des Volkes sich roher und
niedriger vorzustellen, als sie wirklich sind. 462. Meine Utopie. - In einer besseren Ordnung der Gesellschaft wird die
schwere Arbeit und Noth des Lebens Dem zuzumessen sein, welcher am
wenigsten durch sie leidet, also dem Stumpfesten, und so schrittweise
aufwärts bis zu Dem, welcher für die höchsten sublimirtesten Gattungen
des Leidens am empfindlichsten ist und desshalb selbst noch bei der
grössten Erleichterung des Lebens leidet. 463. Ein Wahn in der Lehre vom Umsturz. | 2,454 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_446 | 381 |
7207-8-8 | Gutenberg | 9,991 | - Es giebt politische und sociale
Phantasten, welche feurig und beredt zu einem Umsturz aller Ordnungen
auffordern, in dem Glauben, dass dann sofort das stolzeste Tempelhaus
schönen Menschenthums gleichsam von selbst sich erheben werde. In
diesen gefährlichen Träumen klingt noch der Aberglaube Rousseau's
nach, welcher an eine wundergleiche, ursprüngliche, aber gleichsam
verschüttete Güte der menschlichen Natur glaubt und den Institutionen
der Cultur, in Gesellschaft, Staat, Erziehung, alle Schuld jener
Verschüttung beimisst. Leider weiss man aus historischen Erfahrungen,
dass jeder solche Umsturz die wildesten Energien als die längst
begrabenen Furchtbarkeiten und Maasslosigkeiten fernster Zeitalter
von Neuem zur Auferstehung bringt: dass also ein Umsturz wohl eine
Kraftquelle in einer mattgewordenen Menschheit sein kann, nimmermehr
aber ein Ordner, Baumeister, Künstler, Vollender der menschlichen
Natur. - Nicht Voltaire's maassvolle, dem Ordnen, Reinigen und Umbauen
zugeneigte Natur, sondern Rousseau's leidenschaftliche Thorheiten und
Halblügen haben den optimistischen Geist der Revolution wachgerufen,
gegen den ich rufe: "Ecrasez l'infame!" Durch ihn ist der Geist der
Aufklärung und der fortschreitenden Entwickelung auf lange verscheucht
worden - sehen wir zu - ein Jeder bei sich selber - ob es möglich ist,
ihn wieder zurückzurufen! 464. Maass. - Die volle Entschiedenheit des Denkens und Forschens, also
die Freigeisterei, zur Eigenschaft des Charakters geworden, macht im
Handeln mässig: denn sie schwächt die Begehrlichkeit, zieht viel von
der vorhandenen Energie an sich, zur Förderung geistiger Zwecke, und
zeigt das Halbnützliche oder Unnütze und Gefährliche aller plötzlichen
Veränderungen. 465. Auferstehung des Geistes. - Auf dem politischen Krankenbette verjüngt
ein Volk gewöhnlich sich selbst und findet seinen Geist wieder, den
es im Suchen und Behaupten der Macht allmählich verlor. Die Cultur
verdankt das Allerhöchste den politisch geschwächten Zeiten. 466. Neue Meinungen im alten Hause. - Dem Umsturz der Meinungen folgt der
Umsturz der Institutionen nicht sofort nach, vielmehr wohnen die neuen
Meinungen lange Zeit im verödeten und unheimlich gewordenen Hause
ihrer Vorgängerinnen und conserviren es selbst, aus Wohnungsnoth. 467. Schulwesen. - Das Schulwesen wird in grossen Staaten immer höchstens
mittelmässig sein, aus dem selben Grunde, aus dem in grossen Küchen
besten Falls mittelmässig gekocht wird. 468. Unschuldige Corruption. - In allen Instituten, in welche nicht
die scharfe Luft der öffentlichen Kritik hineinweht, wächst eine
unschuldige Corruption auf, wie ein Pilz (also zum Beispiel in
gelehrten Körperschaften und Senaten). 469. Gelehrte als Politiker. - Gelehrten, welche Politiker werden, wird
gewöhnlich die komische Rolle zugetheilt, das gute Gewissen einer
Politik sein zu müssen. 470. | 2,854 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_447 | 397 |
7207-8-8 | Gutenberg | 9,991 | Der Wolf hinter dem Schafe versteckt. - Fast jeder Politiker hat unter
gewissen Umständen einmal einen ehrlichen Mann so nöthig, dass er,
gleich einem heisshungrigen Wolfe, in einen Schafstall bricht: nicht
aber um dann den geraubten Widder zu fressen, sondern um sich hinter
seinen wolligen Rücken zu verstecken. 471. Glückszeiten. - Ein glückliches Zeitalter ist desshalb gar nicht
möglich, weil die Menschen es nur wünschen wollen, aber nicht haben
wollen und jeder Einzelne, wenn ihm gute Tage kommen, förmlich um
Unruhe und Elend beten lernt. Das Schicksal der Menschen ist auf
glückliche Augenblicke eingerichtet - jedes Leben hat solche -,
aber nicht auf glückliche Zeiten. Trotzdem werden diese als "das
jenseits der Berge" in der Phantasie des Menschen bestehen bleiben,
als Erbstück der Urväter; denn man hat wohl den Begriff des
Glückszeitalters seit uralten Zeiten her jenem Zustande entnommen, in
dem der Mensch, nach gewaltiger Anstrengung durch Jagd und Krieg, sich
der Ruhe übergiebt, die Glieder streckt und die Fittige des Schlafes
um sich rauschen hört. Es ist ein falscher Schluss, wenn der Mensch
jener alten Gewöhnung gemäss sich vorstellt, dass er nun auch nach
ganzen Zeiträumen der Noth und Mühsal eines Zustandes des Glücks in
entsprechender Steigerung und Dauer theilhaftig werden könne. 472. Religion und Regierung. - Solange der Staat oder, deutlicher, die
Regierung sich als Vormund zu Gunsten einer unmündigen Menge bestellt
weiss und um ihretwillen die Frage erwägt, ob die Religion zu erhalten
oder zu beseitigen sei: wird sie höchst wahrscheinlich sich immer für
die Erhaltung der Religion entscheiden. Denn die Religion befriedigt
das einzelne Gemüth in Zeiten des Verlustes, der Entbehrung, des
Schreckens, des Misstrauens, also da, wo die Regierung sich ausser
Stande fühlt, direct Etwas zur Linderung der seelischen Leiden des
Privatmannes zu thun: ja selbst bei allgemeinen, unvermeidlichen und
zunächst unabwendbaren Uebeln (Hungersnöthen, Geldkrisen, Kriegen)
gewährt die Religion eine beruhigte, abwartende, vertrauende Haltung
der Menge. Ueberall, wo die nothwendigen oder zufälligen Mängel der
Staatsregierung oder die gefährlichen Consequenzen dynastischer
Interessen dem Einsichtigen sich bemerklich machen und ihn
widerspänstig stimmen, werden die Nicht-Einsichtigen den Finger Gottes
zu sehen meinen und sich in Geduld den Anordnungen von Oben (in
welchem Begriff göttliche und menschliche Regierungsweise gewöhnlich
verschmelzen) unterwerfen: so wird der innere bürgerliche Frieden und
die Continuität der Entwickelung gewahrt. | 2,577 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_448 | 374 |
7207-8-8 | Gutenberg | 9,991 | Die Macht, welche in der
Einheit der Volksempfindung, in gleichen Meinungen und Zielen für
Alle, liegt, wird durch die Religion beschützt und besiegelt,
jene seltenen Fälle abgerechnet, wo eine Priesterschaft mit der
Staatsgewalt sich über den Preis nicht einigen kann und in Kampf
tritt. Für gewöhnlich wird der Staat sich die Priester zu gewinnen
wissen, weil er ihrer allerprivatesten, verborgenen Erziehung der
Seelen benöthigt ist und Diener zu schätzen weiss, welche scheinbar
und äusserlich ein ganz anderes Interesse vertreten. Ohne Beihülfe
der Priester kann auch jetzt noch keine Macht "legitim" werden: wie
Napoleon begriff. - So gehen absolute vormundschaftliche Regierung und
sorgsame Erhaltung der Religion nothwendig mit einander. Dabei ist
vorauszusetzen, dass die regierenden Personen und Classen über den
Nutzen, welchen ihnen die Religion gewährt, aufgeklärt werden und
somit bis zu einem Grade sich ihr überlegen fühlen, insofern sie
dieselbe als Mittel gebrauchen: wesshalb hier die Freigeisterei ihren
Ursprung hat. - Wie aber, wenn jene ganz verschiedene Auffassung des
Begriffes der Regierung, wie sie in demokratischen Staaten gelehrt
wird, durchzudringen anfängt? Wenn man in ihr Nichts als das Werkzeug
des Volkswillen sieht, kein Oben im Vergleich zu einem Unten, sondern
lediglich eine Function des alleinigen Souverains, des Volkes? Hier
kann auch nur die selbe Stellung, welche das Volk zur Religion
einnimmt, von der Regierung eingenommen werden; jede Verbreitung von
Aufklärung wird bis in ihre Vertreter hineinklingen müssen, eine
Benutzung und Ausbeutung der religiösen Triebkräfte und Tröstungen zu
staatlichen Zwecken wird nicht so leicht möglich sein (es sei denn,
dass mächtige Parteiführer zeitweilig einen Einfluss üben, welcher
dem des aufgeklärten Despotismus ähnlich sieht). Wenn aber der Staat
keinen Nutzen mehr aus der Religion selber ziehen darf oder das Volk
viel zu mannichfach über religiöse Dinge denkt, als dass es der
Regierung ein gleichartiges, einheitliches Vorgehen bei religiösen
Maassregeln gestatten dürfte, - so wird nothwendig sich der Ausweg
zeigen, die Religion als Privatsache zu behandeln und dem Gewissen
und der Gewohnheit jedes Einzelnen zu überantworten. Die Folge ist zu
allererst diese, dass das religiöse Empfinden verstärkt erscheint,
insofern versteckte und unterdrückte Regungen desselben, welchen der
Staat unwillkürlich oder absichtlich keine Lebensluft gönnte, jetzt
hervorbrechen und bis in's Extreme ausschweifen; später erweist sich,
dass die Religion von Secten überwuchert wird und dass eine Fülle
von Drachenzähnen in dem Augenblicke gesät worden ist, als man die
Religion zur Privatsache machte. | 2,683 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_449 | 386 |
7207-8-8 | Gutenberg | 9,991 | Der Anblick des Streites, die
feindselige Bloslegung aller Schwächen religiöser Bekenntnisse lässt
endlich keinen Ausweg mehr zu, als dass jeder Bessere und Begabtere
die Irreligiosität zu seiner Privatsache macht: als welche Gesinnung
nun auch in dem Geiste der regierenden Personen die Ueberhand
bekommt und, fast wider ihren Willen, ihren Maassregeln einen
religionsfeindlichen Charakter giebt. Sobald diess eintritt, wandelt
sich die Stimmung der noch religiös bewegten Menschen, welche früher
den Staat als etwas Halb- oder Ganzheiliges adorirten, in eine
entschieden staatsfeindliche um; sie lauern den Maassregeln der
Regierung auf, suchen zu hemmen, zu kreuzen, zu beunruhigen, so viel
sie können, und treiben dadurch die Gegenpartei, die irreligiöse,
durch die Hitze ihres Widerspruchs in eine fast fanatische
Begeisterung für den Staat hinein; wobei im Stillen noch mitwirkt,
dass in diesen Kreisen die Gemüther seit der Trennung von der Religion
eine Leere spüren und sich vorläufig durch die Hingebung an den Staat
einen Ersatz, eine Art von Ausfüllung zu schaffen suchen. Nach diesen,
vielleicht lange dauernden Uebergangskämpfen entscheidet es sich
endlich, ob die religiösen Parteien noch stark genug sind, um einen
alten Zustand heraufzubringen und das Rad zurückzudrehen: in welchem
Falle unvermeidlich der aufgeklärte Despotismus (vielleicht weniger
aufgeklärt und ängstlicher, als früher) den Staat in die Hände
bekommt, - oder ob die religionslosen Parteien sich durchsetzen und
die Fortpflanzung ihrer Gegnerschaft, einige Generationen hindurch,
etwa durch Schule und Erziehung, untergraben und endlich unmöglich
machen. Dann aber lässt auch bei ihnen jene Begeisterung für den
Staat nach: immer deutlicher tritt hervor, dass mit jener religiösen
Adoration, für welche er ein Mysterium, eine überweltliche Stiftung
ist, auch das ehrfürchtige und pietätvolle Verhältniss zu ihm
erschüttert ist. Fürderhin sehen die Einzelnen immer nur die Seite an
ihm, wo er ihnen nützlich oder schädlich werden kann, und drängen sich
mit allen Mitteln heran, um Einfluss auf ihn zu bekommen. Aber diese
Concurrenz wird bald zu gross, die Menschen und Parteien wechseln zu
schnell, stürzen sich gegenseitig zu wild vom Berge wieder herab,
nachdem sie kaum oben angelangt sind. Es fehlt allen Maassregeln,
welche von einer Regierung durchgesetzt werden, die Bürgschaft ihrer
Dauer; man scheut vor Unternehmungen zurück, welche auf Jahrzehnte,
Jahrhunderte hinaus ein stilles Wachsthum haben müssten, um reife
Früchte zu zeitigen. | 2,533 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_450 | 365 |
7207-8-8 | Gutenberg | 9,991 | Niemand fühlt eine andere Verpflichtung gegen
ein Gesetz mehr, als die, sich augenblicklich der Gewalt, welche ein
Gesetz einbrachte, zu beugen: sofort geht man aber daran, es durch
eine neue Gewalt, eine neu zu bildende Majorität zu unterminiren. Zuletzt - man kann es mit Sicherheit aussprechen - muss das Misstrauen
gegen alles Regierende, die Einsicht in das Nutzlose und Aufreibende
dieser kurzathmigen Kämpfe die Menschen zu einem ganz neuen
Entschlusse drängen: zur Abschaffung des Staatsbegriffs, zur Aufhebung
des Gegensatzes "privat und öffentlich". Die Privatgesellschaften
ziehen Schritt vor Schritt die Staatsgeschäfte in sich hinein:
selbst der zäheste Rest, welcher von der alten Arbeit des Regierens
übrigbleibt (jene Thätigkeit zum Beispiel welche die Privaten gegen
die Privaten sicher stellen soll), wird zu allerletzt einmal durch
Privatunternehmer besorgt werden. Die Missachtung, der Verfall und
der Tod des Staates, die Entfesselung der Privatperson (ich hüte mich
zu sagen: des Individuums) ist die Consequenz des demokratischen
Staatsbegriffes; hier liegt seine Mission. Hat er seine Aufgabe
erfüllt - die wie alles Menschliche viel Vernunft und Unvernunft im
Schoosse trägt -, sind alle Rückfälle der alten Krankheit überwunden,
so wird ein neues Blatt im Fabelbuche der Menschheit entrollt, auf dem
man allerlei seltsame Historien und vielleicht auch einiges Gute lesen
wird. - Um das Gesagte noch einmal kurz zu sagen: das Interesse der
vormundschaftlichen Regierung und das Interesse der Religion gehen mit
einander Hand in Hand, so dass, wenn letztere abzusterben beginnt,
auch die Grundlage des Staates erschüttert wird. Der Glaube an eine
göttliche Ordnung der politischen Dinge, an ein Mysterium in der
Existenz des Staates ist religiösen Ursprungs: schwindet die Religion,
so wird der Staat unvermeidlich seinen alten Isisschleier verlieren
und keine Ehrfurcht mehr erwecken. Die Souveränität des Volkes, in
der Nähe gesehen, dient dazu, auch den letzten Zauber und Aberglauben
auf dem Gebiete dieser Empfindungen zu verscheuchen; die moderne
Demokratie ist die historische Form vom Verfall des Staates. - Die
Aussicht, welche sich durch diesen sichern Verfall ergiebt, ist aber
nicht in jedem Betracht eine unglückselige: die Klugheit und der
Eigennutz der Menschen sind von allen ihren Eigenschaften am besten
ausgebildet; wenn den Anforderungen dieser Kräfte der Staat nicht mehr
entspricht, so wird am wenigsten das Chaos eintreten, sondern eine
noch zweckmässigere Erfindung, als der Staat es war, zum Siege
über den Staat kommen. | 2,570 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_451 | 379 |
7207-8-8 | Gutenberg | 9,991 | Wie manche organisirende Gewalt hat
die Menschheit schon absterben sehen, - zum Beispiel die der
Geschlechtsgenossenschaft, als welche Jahrtausende lang viel mächtiger
war, als die Gewalt der Familie, ja längst, bevor diese bestand, schon
waltete und ordnete. Wir selber sehen den bedeutenden Rechts- und
Machtgedanken der Familie, welcher einmal, so weit wie römisches Wesen
reichte, die Herrschaft besass, immer blasser und ohnmächtiger werden. So wird ein späteres Geschlecht auch den Staat in einzelnen Strecken
der Erde bedeutungslos werden sehen, - eine Vorstellung, an welche
viele Menschen der Gegenwart kaum ohne Angst und Abscheu denken
können. An der Verbreitung und Verwirklichung dieser Vorstellung zu
arbeiten, ist freilich ein ander Ding: man muss sehr anmaassend von
seiner Vernunft denken und die Geschichte kaum halb verstehen, um
schon jetzt die Hand an den Pflug zu legen, - während noch Niemand die
Samenkörner aufzeigen kann, welche auf das zerrissene Erdreich nachher
gestreut werden sollen. Vertrauen wir also "der Klugheit und dem
Eigennutz der Menschen", dass jetzt noch der Staat eine gute Weile
bestehen bleibt und zerstörerische Versuche übereifriger und
voreiliger Halbwisser abgewiesen werden! 473. Der Socialismus in Hinsicht auf seine Mittel. - Der Socialismus ist
der phantastische jüngere Bruder des fast abgelebten Despotismus, den
er beerben will; seine Bestrebungen sind also im tiefsten Verstande
reactionär. Denn er begehrt eine Fülle der Staatsgewalt, wie sie nur
je der Despotismus gehabt hat, ja er überbietet alles Vergangene
dadurch, dass er die förmliche Vernichtung des Individuums anstrebt:
als welches ihm wie ein unberechtigter Luxus der Natur vorkommt und
durch ihn in ein zweckmässiges Organ des Gemeinwesens umgebessert
werden soll. Seiner Verwandtschaft wegen erscheint er immer in der
Nähe aller excessiven Machtentfaltungen, wie der alte typische
Socialist Plato am Hofe des sicilischen Tyrannen; er wünscht (und
befördert unter Umständen) den cäsarischen Gewaltstaat dieses
Jahrhunderts, weil er, wie gesagt, sein Erbe werden möchte. Aber
selbst diese Erbschaft würde für seine Zwecke nicht ausreichen, er
braucht die allerunterthänigste Niederwerfung aller Bürger vor dem
unbedingten Staate, wie niemals etwas Gleiches existirt hat; und da er
nicht einmal auf die alte religiöse Pietät für den Staat mehr rechnen
darf, vielmehr an deren Beseitigung unwillkürlich fortwährend arbeiten
muss - nämlich weil er an der Beseitigung aller bestehenden Staaten
arbeitet -, so kann er sich nur auf kurze Zeiten, durch den äussersten
Terrorismus, hie und da einmal auf Existenz Hoffnung machen. | 2,642 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_452 | 387 |
7207-8-8 | Gutenberg | 9,991 | Desshalb
bereitet er sich im Stillen zu Schreckensherrschaften vor und treibt
den halb gebildeten Massen das Wort "Gerechtigkeit" wie einen Nagel in
den Kopf, um sie ihres Verstandes völlig zu berauben (nachdem dieser
Verstand schon durch die Halbbildung sehr gelitten hat) und ihnen
für das böse Spiel, das sie spielen sollen, ein gutes Gewissen zu
schaffen. - Der Socialismus kann dazu dienen, die Gefahr aller
Anhäufungen von Staatsgewalt recht brutal und eindringlich zu lehren
und insofern vor dem Staate selbst Misstrauen einzuflössen. Wenn seine
rauhe Stimme in das Feldgeschrei "so viel Staat wie möglich" einfällt,
so wird dieses zunächst dadurch lärmender, als je: aber bald dringt
auch das entgegengesetzte mit um so grösserer Kraft hervor: "so wenig
Staat wie möglich". 474. Die Entwickelung des Geistes, vom Staate gefürchtet. - Die griechische
Polis war, wie jede organisirende politische Macht, ausschliessend
und misstrauisch gegen das Wachsthum der Bildung, ihr gewaltiger
Grundtrieb zeigte sich fast nur lähmend und hemmend für dieselbe. Sie
wollte keine Geschichte, kein Werden in der Bildung gelten lassen; die
in dem Staatsgesetz festgestellte Erziehung sollte alle Generationen
verpflichten und auf Einer Stufe festhalten. Nicht anders wollte es
später auch noch Plato für seinen idealen Staat. Trotz der Polis
entwickelte sich also die Bildung: indirect freilich und wider Willen
half sie mit, weil die Ehrsucht des Einzelnen in der Polis auf's
Höchste angereizt wurde, so dass er, einmal auf die Bahn geistiger
Ausbildung gerathen, auch in ihr bis in's letzte Extrem fortgieng. Dagegen soll man sich nicht auf die Verherrlichungsrede des Perikles
berufen: denn sie ist nur ein grosses optimistisches Trugbild über den
angeblich nothwendigen Zusammenhang von Polis und athenischer Cultur;
Thukydides lässt sie, unmittelbar bevor die Nacht über Athen kommt
(die Pest und der Abbruch der Tradition), noch einmal wie eine
verklärende Abendröthe aufleuchten, bei der man den schlimmen Tag
vergessen soll, der ihr vorangieng. 475. Der europäische Mensch und die Vernichtung der Nationen. - Der Handel
und die Industrie, der Bücher- und Briefverkehr, die Gemeinsamkeit
aller höheren Cultur, das schnelle Wechseln von Ort und Landschaft,
das jetzige Nomadenleben aller Nicht-Landbesitzer, - diese Umstände
bringen nothwendig eine Schwächung und zuletzt eine Vernichtung der
Nationen, mindestens der europäischen, mit sich: so dass aus ihnen
allen, in Folge fortwährender Kreuzungen, eine Mischrasse, die des
europäischen Menschen, entstehen muss. | 2,563 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_453 | 377 |
7207-8-8 | Gutenberg | 9,991 | Diesem Ziele wirkt jetzt
bewusst oder unbewusst die Abschliessung der Nationen durch Erzeugung
nationaler Feindseligkeiten entgegen, aber langsam geht der Gang jener
Mischung dennoch vorwärts, trotz jener zeitweiligen Gegenströmungen:
dieser künstliche Nationalismus ist übrigens so gefährlich wie der
künstliche Katholicismus es gewesen ist, denn er ist in seinem Wesen
ein gewaltsamer Noth- und Belagerungszustand, welcher von Wenigen über
Viele verhängt ist, und braucht List, Lüge und Gewalt, um sich in
Ansehen zu halten. Nicht das Interesse der Vielen (der Völker),
wie man wohl sagt, sondern vor Allem das Interesse bestimmter
Fürstendynastien, sodann das bestimmter Classen des Handels und der
Gesellschaft, treibt zu diesem Nationalismus; hat man diess einmal
erkannt, so soll man sich nur ungescheut als guten Europäer ausgeben
und durch die That an der Verschmelzung der Nationen arbeiten: wobei
die Deutschen durch ihre alte bewährte Eigenschaft, Dolmetscher und
Vermittler der Völker zusein, mitzuhelfen vermögen. - Beiläufig: das
ganze Problem der Juden ist nur innerhalb der nationalen Staaten
vorhanden, insofern hier überall ihre Thatkräftigkeit und höhere
Intelligenz, ihr in langer Leidensschule von Geschlecht zu Geschlecht
angehäuftes Geist- und Willens-Capital, in einem neid- und
hasserweckenden Maasse zum Uebergewicht kommen muss, so dass die
litterarische Unart fast in allen jetzigen Nationen überhand nimmt -
und zwar je mehr diese sich wieder national gebärden -, die Juden als
Sündenböcke aller möglichen öffentlichen und inneren Uebelstände zur
Schlachtbank zu führen. Sobald es sich nicht mehr um Conservirung
von Nationen, sondern um die Erzeugung einer möglichst kräftigen
europäischen Mischrasse handelt, ist der Jude als Ingredienz ebenso
brauchbar und erwünscht, als irgend ein anderer nationaler Rest. Unangenehme, ja gefährliche Eigenschaften hat jede Nation, jeder
Mensch; es ist grausam, zu verlangen, dass der Jude eine Ausnahme
machen soll. Jene Eigenschaften mögen sogar bei ihm in besonderem
Maasse gefährlich und abschreckend sein; und vielleicht ist
der jugendliche Börsen-Jude die widerlichste Erfindung des
Menschengeschlechtes überhaupt. Trotzdem möchte ich wissen, wie viel
man bei einer Gesammtabrechnung einem Volke nachsehen muss, welches,
nicht ohne unser Aller Schuld, die leidvollste Geschichte unter allen
Völkern gehabt hat und dem man den edelsten Menschen (Christus), den
reinsten Weisen (Spinoza), das mächtigste Buch und das wirkungsvollste
Sittengesetz der Welt verdankt. | 2,536 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_454 | 355 |
7207-8-8 | Gutenberg | 9,991 | Ueberdiess: in den dunkelsten Zeiten
des Mittelalters, als sich die asiatische Wolkenschicht schwer
über Europa gelagert hatte, waren es jüdische Freidenker, Gelehrte
und Aerzte, welche das Banner der Aufklärung und der geistigen
Unabhängigkeit unter dem härtesten persönlichen Zwange festhielten und
Europa gegen Asien vertheidigten; ihren Bemühungen ist es nicht am
wenigsten zu danken, dass eine natürlichere, vernunftgemässere und
jedenfalls unmythische Erklärung der Welt endlich wieder zum Siege
kommen konnte und dass der Ring der Cultur, welcher uns jetzt mit
der Aufklärung des griechisch-römischen Alterthums zusammenknüpft,
unzerbrochen blieb. Wenn das Christenthum Alles gethan hat, um den
Occident zu orientalisiren, so hat das judenthum wesentlich mit
dabei geholfen, ihn immer wieder zu occidentalisiren: was in einem
bestimmten Sinne so viel heisst als Europa's Aufgabe und Geschichte zu
einer Fortsetzung der griechischen zumachen. 476. Scheinbare Ueberlegenheit des Mittelalters. - Das Mittelalter zeigt
in der Kirche ein Institut mit einem ganz universalen, die gesammte
Menschheit in sich begreifenden Ziele, noch dazu einem solchen,
welches den - vermeintlich - höchsten Interessen derselben galt:
dagegen gesehen, machen die Ziele der Staaten und Nationen, welche die
neuere Geschichte zeigt, einen beklemmenden Eindruck; sie erscheinen
kleinlich, niedrig, materiell, räumlich beschränkt. Aber dieser
verschiedene Eindruck auf die Phantasie soll unser Urtheil ja nicht
bestimmen; denn jenes universale Institut entsprach erkünstelten,
auf Fictionen beruhenden Bedürfnissen, welche es, wo sie noch nicht
vorhanden waren, erst erzeugen musste (Bedürfniss der Erlösung); die
neuen Institute helfen wirklichen Nothzuständen ab; und die Zeit
kommt, wo Institute entstehen, um den gemeinsamen wahren Bedürfnissen
aller Menschen zu dienen und das phantastische Urbild, die katholische
Kirche, in Schatten und Vergessenheit zu stellen. 477. Der Krieg unentbehrlich. - Es ist eitel Schwärmerei und
Schönseelenthum, von der Menschheit noch viel (oder gar: erst
recht viel) zu erwarten, wenn sie verlernt hat, Kriege zu führen. | 2,139 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_455 | 295 |
7207-8-8 | Gutenberg | 9,991 | Einstweilen kennen wir keine anderen Mittel, wodurch mattwerdenden
Völkern jene rauhe Energie des Feldlagers, jener tiefe unpersönliche
Hass, jene Mörder-Kaltblütigkeit mit gutem Gewissen, jene gemeinsame
organisirende Gluth in der Vernichtung des Feindes, jene stolze
Gleichgültigkeit gegen grosse Verluste, gegen das eigene Dasein und
das der Befreundeten, jenes dumpfe erdbebenhafte Erschüttern der Seele
ebenso stark und sicher mitgetheilt werden könnte, wie diess jeder
grosse Krieg thut: von den hier hervorbrechenden Bächen und Strömen,
welche freilich Steine und Unrath aller Art mit sich wälzen und
die Wiesen zarter Culturen zu Grunde richten, werden nachher unter
günstigen Umständen die Räderwerke in den Werkstätten des Geistes mit
neuer Kraft umgedreht. Die Cultur kann die Leidenschaften, Laster und
Bosheiten durchaus nicht entbehren. - Als die kaiserlich gewordenen
Römer der Kriege etwas müde wurden, versuchten sie aus Thierhetzen,
Gladiatorenkämpfen und Christenverfolgungen sich neue Kraft zu
gewinnen. Die jetzigen Engländer, welche im Ganzen auch dem Kriege
abgesagt zu haben scheinen, ergreifen ein anderes Mittel, um
jene entschwindenden Kräfte neu zu erzeugen: jene gefährlichen
Entdeckungsreisen, Durchschiffungen, Erkletterungen, zu
wissenschaftlichen Zwecken, wie es heisst, unternommen, in Wahrheit,
um überschüssige Kraft aus Abenteuern und Gefahren aller Art mit nach
Hause zu bringen. Man wird noch vielerlei solche Surrogate des Krieges
ausfindig machen, aber vielleicht durch sie immer mehr einsehen, dass
eine solche hoch cultivirte und daher nothwendig matte Menschheit, wie
die der jetzigen Europäer, nicht nur der Kriege, sondern der grössten
und furchtbarsten Kriege - also zeitweiliger Rückfälle in die Barbarei
- bedarf, um nicht an den Mitteln der Cultur ihre Cultur und ihr
Dasein selber einzubüssen. 478. Fleiss im Süden und Norden. - Der Fleiss entsteht auf zwei ganz
verschiedene Arten. Die Handwerker im Süden werden fleissig, nicht aus
Erwerbstrieb, sondern aus der beständigen Bedürftigkeit der Anderen. Weil immer Einer kommt, der ein Pferd beschlagen, einen Wagen
ausbessern lassen will, so ist der Schmied fleissig. Käme Niemand, so
würde er auf dem Markte herumlungern. Sich zu ernähren, das hat in
einem fruchtbaren Lande wenig Noth, dazu brauchte er nur ein sehr
geringes Maass von Arbeit, jedenfalls keinen Fleiss; schliesslich
würde er betteln und zufrieden sein. - Der Fleiss englischer Arbeiter
hat dagegen den Erwerbssinn hinter sich: er ist sich seiner selbst und
seiner Ziele bewusst und will mit dem Besitz die Macht, mit der Macht
die grösstmögliche Freiheit und individuelle Vornehmheit. 479. Reichthum als Ursprung eines Geblütsadels. | 2,702 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_456 | 388 |
7207-8-8 | Gutenberg | 9,991 | - Der Reichthum erzeugt
nothwendig eine Aristokratie der Rasse, denn er gestattet die
schönsten Weiber zu wählen, die besten Lehrer zu besolden, er gönnt
dem Menschen Reinlichkeit, Zeit zu körperlichen Uebungen und vor Allem
Abwendung von verdumpfender körperlicher Arbeit. Soweit verschafft er
alle Bedingungen, um, in einigen Generationen, die Menschen vornehm
und schön sich bewegen, ja selbst handeln zu machen: die grössere
Freiheit des Gemüthes, die Abwesenheit des Erbärmlich-Kleinen, der
Erniedrigung vor Brodgebern, der Pfennig-Sparsamkeit. - Gerade diese
negativen Eigenschaften sind das reichste Angebinde des Glückes für
einen jungen Menschen; ein ganz Armer richtet sich gewöhnlich durch
Vornehmheit der Gesinnung zu Grunde, er kommt nicht vorwärts und
erwirbt Nichts, seine Rasse ist nicht lebensfähig. - Dabei ist aber zu
bedenken, dass der Reichthum fast die gleichen Wirkungen ausübt, wenn
Einer dreihundert Thaler oder dreissigtausend jährlich verbrauchen
darf: es giebt nachher keine wesentliche Progression der
begünstigenden Umstände mehr. Aber weniger zu haben, als Knabe zu
betteln und sich zu erniedrigen, ist furchtbar: obwohl für Solche,
welche ihr Glück im Glanze der Höfe, in der Unterordnung unter
Mächtige und Einflussreiche suchen oder welche Kirchenhäupter werden
wollen, es der rechte Ausgangspunct sein mag. (- Es lehrt, gebückt
sich in die Höhlengänge der Gunst einzuschleichen.)
480. Neid und Trägheit in verschiedener Richtung. - Die beiden gegnerischen
Parteien, die socialistische und die nationale - oder wie die Namen
in den verschiedenen Ländern Europa's lauten mögen - sind einander
würdig: Neid und Faulheit sind die bewegenden Mächte in ihnen beiden. In jenem Heerlager will man so wenig als möglich mit den Händen
arbeiten, in diesem so wenig als möglich mit dem Kopf; in letzterem
hasst und neidet man die hervorragenden, aus sich wachsenden
Einzelnen, welche sich nicht gutwillig in Reih und Glied zum Zwecke
einer Massenwirkung stellen lassen; in ersterem die bessere,
äusserlich günstiger gestellte Kaste der Gesellschaft, deren
eigentliche Aufgabe, die Erzeugung der höchsten Culturgüter, das Leben
innerlich um so viel schwerer und schmerzensreicher macht. Gelingt es
freilich, jenen Geist der Massenwirkung zum Geiste der höheren Classen
der Gesellschaft zu machen, so sind die socialistischen Schaaren
ganz im Rechte, wenn sie auch äusserlich zwischen sich und jenen zu
nivelliren suchen, da sie ja innerlich, in Kopf und Herz, schon mit
einander nivellirt sind. | 2,519 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_457 | 368 |
7207-8-8 | Gutenberg | 9,991 | - Lebt als höhere Menschen und thut immerfort
die Thaten der höheren Cultur, - so gesteht euch Alles, was da lebt,
euer Recht zu, und die Ordnung der Gesellschaft, deren Spitze ihr
seid, ist gegen jeden bösen Blick und Griff gefeit! 481. Grosse Politik und ihre Einbussen. - Ebenso wie ein Volk die grössten
Einbussen, welche Krieg und Kriegsbereitschaft mit sich bringen, nicht
durch die Unkosten des Krieges, die Stauungen im Handel und Wandel
erleidet, ebenso nicht durch die Unterhaltung der stehenden Heere - so
gross diese Einbussen auch jetzt sein mögen, wo acht Staaten Europa's
jährlich die Summe von zwei bis drei Milliarden darauf verwenden -,
sondern dadurch, dass Jahr aus Jahr ein die tüchtigsten, kräftigsten,
arbeitsamsten Männer in ausserordentlicher Anzahl ihren eigentlichen
Beschäftigungen und Berufen entzogen werden, um Soldaten zu sein:
ebenso erleidet ein Volk, welches sich anschickt, grosse Politik zu
treiben und unter den mächtigsten Staaten sich eine entscheidende
Stimme zu sichern, seine grössten Einbussen nicht darin, worin man
sie gewöhnlich findet. Es ist wahr, dass es von diesem Zeitpuncte ab
fortwährend eine Menge der hervorragendsten Talente auf dem "Altar
des Vaterlandes" oder der nationalen Ehrsucht opfert, während früher
diesen Talenten, welche jetzt die Politik verschlingt, andere
Wirkungskreise offen standen. Aber abseits von diesen öffentlichen
Hekatomben, und im Grunde viel grauenhafter als diese, begiebt
sich ein Schauspiel, welches fortwährend in hunderttausend Acten
gleichzeitig sich abspielt: jeder tüchtige, arbeitsame, geistvolle,
strebende Mensch eines solchen nach politischen Ruhmeskränzen
lüsternen Volkes wird von dieser Lüsternheit beherrscht und gehört
seiner eigenen Sache nicht mehr, wie früher, völlig an: die täglich
neuen Fragen und Sorgen des öffentlichen Wohles verschlingen eine
tägliche Abgabe von dem Kopf- und Herz-Capitale jedes Bürgers:
die Summe all dieser Opfer und Einbussen an individueller Energie
und Arbeit ist so ungeheuer, dass das politische Aufblühen eines
Volkes eine geistige Verarmung und Ermattung, eine geringere
Leistungsfähigkeit zu Werken, welche grosse Concentration und
Einseitigkeit verlangen, fast mit Nothwendigkeit nach sich zieht. Zuletzt darf man fragen: lohnt sich denn all diese Blüthe und Pracht
des Ganzen (welche ja doch nur als Furcht der anderen Staaten vor
dem neuen Coloss und als dem Auslande abgerungene Begünstigung der
nationalen Handels- und Verkehrs-Wohlfahrt zu Tage tritt), wenn
dieser groben und buntschillernden Blume der Nation alle die edleren,
zarteren, geistigeren Pflanzen und Gewächse, an welchen ihr Boden
bisher so reich war, zum Opfer gebracht werden müssen? 482. Und nochmals gesagt. | 2,720 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_458 | 394 |
7207-8-8 | Gutenberg | 9,991 | - Oeffentliche Meinungen - private Faulheiten. Neuntes Hauptstück. Der Mensch mit sich allein. 483. Feinde der Wahrheit. - Ueberzeugungen sind gefährlichere Feinde der
Wahrheit, als Lügen. 484. Verkehrte Welt. - Man kritisirt einen Denker schärfer, wenn er einen
uns unangenehmen Satz hinstellt; und doch wäre es vemünftiger, diess
zu thun, wenn sein Satz uns angenehm ist. 485. Charaktervoll. - Charaktervoll erscheint ein Mensch weit häufiger,
weil er immer seinem Temperamente, als weil er immer seinen Principien
folgt. 486. Das Eine, was Noth thut. - Eins muss man haben: entweder einen von
Natur leichten Sinn oder einen durch Kunst und Wissen erleichterten
Sinn. 487. Die Leidenschaft für Sachen. - Wer seine Leidenschaft auf Sachen
(Wissenschaften, Staatswohl, Culturinteressen, Künste) richtet,
entzieht seiner Leidenschaft für Personen viel Feuer (selbst wenn sie
Vertreter jener Sachen sind, wie Staatsmänner, Philosophen, Künstler
Vertreter ihrer Schöpfungen sind). 488. Die Ruhe in der That. - Wie ein Wasserfall im Sturz langsamer und
schwebender wird, so pflegt der grosse Mensch der That mit mehr Ruhe
zu handeln, als seine stürmische Begierde vor der That es erwarten
liess. 489. Nicht zu tief. - Personen, welche eine Sache in aller Tiefe erfassen,
bleiben ihr selten auf immer treu. Sie haben eben die Tiefe an's Licht
gebracht: da giebt es immer viel Schlimmes zu sehen. 490. Wahn der Idealisten. - Alle Idealisten bilden sich ein, die Sachen,
welchen sie dienen, seien wesentlich besser, als die anderen Sachen
in der Welt, und wollen nicht glauben, dass wenn ihre Sache überhaupt
gedeihen soll, sie genau des selben übel riechenden Düngers bedarf,
welchen alle anderen menschlichen Unternehmungen nöthig haben. 491. Selbstbeobachtung. - Der Mensch ist gegen sich selbst, gegen
Auskundschaftung und Belagerung durch sich selber, sehr gut
vertheidigt, er vermag gewöhnlich nicht mehr von sich, als
seine Aussenwerke wahrzunehmen. Die eigentliche Festung ist ihm
unzugänglich, selbst unsichtbar, es sei denn, dass Freunde und Feinde
die Verräther machen und ihn selber auf geheimem Wege hineinführen. 492. Der richtige Beruf. - Männer halten selten einen Beruf aus, von dem
sie nicht glauben oder sich einreden, er sei im Grunde wichtiger, als
alle anderen. Ebenso geht es Frauen mit ihren Liebhabern. 493. Adel der Gesinnung. - Der Adel der Gesinnung besteht zu einem grossen
Teil aus Gutmüthigkeit und Mangel an Misstrauen, und enthält also
gerade Das, worüber sich die gewinnsüchtigen und erfolgreichen
Menschen so gerne mit Ueberlegenheit und Spott ergehen. 494. Ziel und Wege. | 2,601 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_459 | 396 |
7207-8-8 | Gutenberg | 9,991 | - Viele sind hartnäckig in Bezug auf den einmal
eingeschlagenen Weg, Wenige in Bezug auf das Ziel. 495. Das Empörende an einer individuellen Lebensart. - Alle sehr
individuellen Maassregeln des Lebens bringen die Menschen gegen Den,
der sie ergreift, auf; sie fühlen sich durch die aussergewöhnliche
Behandlung, welche jener sich angedeihen lässt, erniedrigt, als
gewöhnliche Wesen. 496. Vorrecht der Grösse. - Es ist das Vorrecht der Grösse, mit geringen
Gaben hoch zu beglücken. 497. Unwillkürlich vornehm. - Der Mensch beträgt sich unwillkürlich
vornehm, wenn er sich gewöhnt hat, von den Menschen Nichts zu wollen
und ihnen immer zu geben. 498. Bedingung des Heroenthums. - Wenn Einer zum Helden werden will, so
muss die Schlange vorher zum Drachen geworden sein, sonst fehlt ihm
sein rechter Feind. 499. Freund. - Mit Freude, nicht Mitleiden, macht den Freund. 500. Ebbe und Fluth zu benutzen. - Man muss zum Zwecke der Erkenntniss jene
innere Strömung zu benutzen wissen, welche uns zu einer Sache hinzieht
und wiederum jene, welche uns nach einer Zeit von der Sache fortzieht. 501. Freude an sich.- "Freude an der Sache" so sagt man: aber in Wahrheit,
ist es Freude an sich vermittelst einer Sache. 502. Der Bescheidene. - Wer gegen Personen bescheiden ist, zeigt gegen
Sachen (Stadt, Staat, Gesellschaft, Zeit, Menschheit) um so stärker
seine Anmaassung. Das ist seine Rache. 503. Neid und Eifersucht. - Neid und Eifersucht sind die Schamtheile der
menschlichen Seele. Die Vergleichung kann vielleicht fortgesetzt
werden. 504. Der vornehmste Heuchler. - Gar nicht von sich zu reden, ist eine sehr
vornehme Heuchelei. 505. Verdruss. - Der Verdruss ist eine körperliche Krankheit, welche
keineswegs dadurch schon gehoben ist, dass die Veranlassung zum
Verdruss hinterdrein beseitigt wird. 506. Vertreter der Wahrheit. - Nicht wenn es gefährlich ist, die Wahrheit
zu sagen, findet sie am seltensten Vertreter, sondern wenn es
langweilig ist. 507. Beschwerlicher noch, als Feinde. - Die Personen, von deren
sympathischem Verhalten wir nicht unter allen Umständen überzeugt
sind, während uns irgend ein Grund (z.B. Dankbarkeit) verpflichtet,
den Anschein der unbedingten Sympathie unsererseits aufrecht zu
erhalten, quälen unsere Phantasie viel mehr, als unsere Feinde. 508. Die freie Natur. - Wir sind so gern in der freien Natur, weil diese
keine Meinung über uns hat. 509. Jeder in Einer Sache überlegen. | 2,411 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_460 | 373 |
7207-8-8 | Gutenberg | 9,991 | - In civilisirten Verhältnissen fühlt
sich Jeder jedem Anderen in Einer Sache wenigstens überlegen: darauf
beruht das allgemeine Wohlwollen, insofern Jeder einer ist, der unter
Umständen helfen kann und desshalb sich ohne Scham helfen lassen darf. 510. Trostgründe. - Bei einem Todesfall braucht man zumeist Trostgründe,
nicht sowohl um die Gewalt des Schmerzes zu lindern, als um zu
entschuldigen, dass man sich so leicht getröstet fühlt. 511. Die Ueberzeugungstreuen. - Wer viel zu thun hat, behält seine
allgemeinen Ansichten und Standpuncte fast unverändert bei. Ebenso
jeder, der im Dienst einer Idee arbeitet: er wird die Idee selber
nie mehr prüfen, dazu hat er keine Zeit mehr; ja es geht gegen sein
Interesse, sie überhaupt noch für discutirbar zu halten. 512. Moralität und Quantität. - Die höhere Moralität des einen Menschen, im
Vergleich zu der eines anderen, liegt oft nur darin, dass die Ziele
quantitativ grösser sind. Jenen zieht die Beschäftigung mit dem
Kleinen, im engen Kreise, nieder. 513. Das Leben als Ertrag des Lebens. - Der Mensch mag sich noch so weit
mit seiner Erkenntniss ausrecken, sich selber noch so objectiv
vorkommen: zuletzt trägt er doch Nichts davon, als seine eigene
Biographie. 514. Die eherne Nothwendigkeit. - Die eherne Nothwendigkeit ist ein Ding,
von dem die Menschen im Verlauf der Geschichte einsehen, dass es weder
ehern noch nothwendig ist. 515. Aus der Erfahrung. - Die Unvernunft einer Sache ist kein Grund gegen
ihr Dasein, vielmehr eine Bedingung desselben. 516. Wahrheit. - Niemand stirbt jetzt an tödtlichen Wahrheiten: es giebt zu
viele Gegengifte. 517. Grundeinsicht. - Es giebt keine prästabilirte Harmonie zwischen der
Förderung der Wahrheit und dem Wohle der Menschheit. 518. Menschenloos. - Wer tiefer denkt, weiss, dass er immer Unrecht hat, er
mag handeln und urtheilen, wie er will. 519. Wahrheit als Circe. - Der Irrthum hat aus Thieren Menschen gemacht;
sollte die Wahrheit im Stande sein, aus dem Menschen wieder ein Thier
zu machen? 520. Gefahr unserer Cultur. - Wir gehören einer Zeit an, deren Cultur in
Gefahr ist, an den Mitteln der Cultur zu Grunde zu gehen. 521. Grösse heisst: Richtung-geben. - Kein Strom ist durch sich selber
gross und reich: sondern dass er so viele Nebenflüsse aufnimmt und
fortführt, das macht ihn dazu. So steht es auch mit allen Grössen des
Geistes. | 2,350 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_461 | 376 |
7207-8-8 | Gutenberg | 9,991 | Nur darauf kommt es an, dass Einer die Richtung angiebt,
welcher dann so viele Zuflüsse folgen müssen; nicht darauf, ob er von
Anbeginn arm oder reich begabt ist. 522. Schwaches Gewissen. - Menschen, welche von ihrer Bedeutung für
die Menschheit sprechen, haben in Bezug auf gemeine bürgerliche
Rechtlichkeit im Halten von Verträgen, Versprechungen, ein schwaches
Gewissen. 523. Geliebt sein wollen. - Die Forderung, geliebt zu werden, ist die
grösste der Anmaassungen. 524. Menschenverachtung. - Das unzweideutigste Anzeichen von einer
Geringschätzung der Menschen ist diess, dass man Jedermann nur als
Mittel zu seinem Zwecke oder gar nicht gelten lässt. 525. Anhänger aus Widerspruch. - Wer die Menschen zur Raserei gegen sich
gebracht hat, hat sich immer auch eine Partei zu seinen Gunsten
erworben. 526. Erlebnisse vergessen. - Wer viel denkt, und zwar sachlich denkt,
vergisst leicht seine eigenen Erlebnisse, aber nicht so die Gedanken,
welche durch jene hervorgerufen wurden. 527. Festhalten einer Meinung. - Der Eine hält eine Meinung fest, weil er
sich Etwas darauf einbildet, von selbst auf sie gekommen zu sein, der
Andere, weil er sie mit Mühe gelernt hat und stolz darauf ist, sie
begriffen zu haben: Beide also aus Eitelkeit. 528. Das Licht scheuen. - Die gute That scheut ebenso ängstlich das Licht,
als die böse That: diese fürchtet, durch das Bekanntwerden komme der
Schmerz (als Strafe), jene fürchtet, durch das Bekanntwerden schwinde
die Lust (jene reine Lust an sich selbst nämlich, welche sofort
aufhört, sobald eine Befriedigung der Eitelkeit hinzutritt). 529. Die Länge des Tages. - Wenn man viel hineinzustecken hat, so hat ein
Tag hundert Taschen. 530. Tyrannengenie. - Wenn in der Seele eine unbezwingliche Lust dazu rege
ist, sich tyrannisch durchzusetzen, und das Feuer beständig unterhält,
so wird selbst eine geringe Begabung (bei Politikern, Künstlern)
allmählich zu einer fast unwiderstehlichen Naturgewalt. 531. Das Leben des Feindes. - Wer davon lebt, einen Feind zu bekämpfen, hat
ein Interesse daran, dass er am Leben bleibt. 532. Wichtiger. - Man nimmt die unerklärte dunkle Sache wichtiger, als die
erklärte helle. 533. Abschätzung erwiesener Dienste. - Dienstleistungen, die uns jemand
erweist, schätzen wir nach dem Werthe, den Jener darauf legt, nicht
nach dem, welchen sie für uns haben. 534. Unglück. - Die Auszeichnung, welche im Unglück liegt (als ob es ein
Zeichen von Flachheit, Anspruchslosigkeit, Gewöhnlichkeit sei, sich
glücklich zu fühlen), ist so gross, dass wenn Jemand Einem sagt: "Aber
wie glücklich Sie sind!" man gewöhnlich protestirt. | 2,596 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_462 | 399 |
7207-8-8 | Gutenberg | 9,991 | 535. Phantasie der Angst. - Die Phantasie der Angst ist jener böse äffische
Kobold, der dem Menschen gerade dann noch auf den Rücken springt, wenn
er schon am schwersten zu tragen hat. 536. Werth abgeschmackter Gegner. - Man bleibt mitunter einer Sache nur
desshalb treu, weil ihre Gegner nicht aufhören, abgeschmackt zu sein. 537. Werth eines Berufes. - Ein Beruf macht gedankenlos; darin liegt
sein grösster Segen. Denn er ist eine Schutzwehr, hinter welche
man sich, wenn Bedenken und Sorgen allgemeiner Art Einen anfallen,
erlaubtermaassen zurückziehen kann. 538. Talent. - Das Talent manches Menschen erscheint geringer als es ist,
weil er sich immer zu grosse Aufgaben gestellt hat. 539. Jugend. - Die Jugend ist unangenehm; denn in ihr ist es nicht möglich
oder nicht vernünftig, productiv zu sein, in irgend einem Sinne. 540. Zugrosse Ziele. - Wer sich öffentlich grosse Ziele stellt und
hinterdrein im Geheimen einsieht, dass er dazu zu schwach ist, hat
gewöhnlich auch nicht Kraft genug, jene Ziele öffentlich zu widerrufen
und wird dann unvermeidlich zum Heuchler. 541. Im Strome. - Starke Wasser reissen viel Gestein und Gestrüpp mit sich
fort, starke Geister viel dumme und verworrene Köpfe. 542. Gefahren der geistigen Befreiung. - Bei der ernstlich gemeinten
geistigen Befreiung eines Menschen hoffen im Stillen auch seine
Leidenschaften und Begierden ihren Vortheil sich zu ersehen. 543. Verkörperung des Geistes. - Wenn Einer viel und klug denkt, so bekommt
nicht nur sein Gesicht, sondern auch sein Körper ein kluges Aussehen. 544. Schlecht sehen und schlecht hören. - Wer wenig sieht, sieht immer
weniger; wer schlecht hört, hört immer Einiges noch dazu. 545. Selbstgenuss in der Eitelkeit. - Der Eitele will nicht sowohl
hervorragen, als sich hervorragend fühlen, desshalb verschmäht er kein
Mittel des Selbstbetruges und der Selbstüberlistung. Nicht die Meinung
der Anderen, sondern seine Meinung von Deren Meinung liegt ihm am
Herzen. 546. Ausnahmsweise eitel. - Der für gewöhnlich Selbstgenügsame ist
ausnahmsweise eitel und für Ruhm- und Lobsprüche empfänglich, wenn
er körperlich krank ist. In dem Maasse, in welchem er sich verliert,
muss er sich aus fremder Meinung, von Aussen her, wieder zu gewinnen
suchen. 547. Die "Geistreichen". - Der hat keinen Geist, welcher den Geist sucht. 548. Wink für Parteihäupter. - Wenn man die Leute dazu treiben kann, sich
öffentlich für Etwas zu erklären, so hat man sie meistens auch dazu
gebracht, sich innerlich dafür zu erklären; sie wollen fürderhin als
consequent erfunden werden. 549. Verachtung. | 2,567 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_463 | 399 |
7207-8-8 | Gutenberg | 9,991 | - Die Verachtung durch Andere ist dem Menschen
empfindlicher, als die durch sich selbst. 550. Schnur der Dankbarkeit. - Es giebt sclavische Seelen, welche die
Erkenntlichkeit für erwiesene Wohlthaten so weit treiben, dass sie
sich mit der Schnur der Dankbarkeit selbst erdrosseln. 551. Kunstgriff des Propheten. - Um die Handlungsweise gewöhnlicher
Menschen im Voraus zu errathen, muss man annehmen, dass sie immer den
mindesten Aufwand an Geist machen, um sich aus einer unangenehmen Lage
zu befreien. 552. Das einzige Menschenrecht. - Wer vom Herkömmlichen abweicht, ist das
Opfer des Aussergewöhnlichen; wer im Herkömmlichen bleibt, ist der
Sclave desselben. Zu Grunde gerichtet wird man auf jeden Fall. 553. Unter das Thier hinab. - Wenn der Mensch vor Lachen wiehert,
übertrifft er alle Thiere durch seine Gemeinheit. 554. Halbwissen. - Der, welcher eine fremde Sprache wenig spricht, hat mehr
Freude daran, als Der, welcher sie gut spricht. Das Vergnügen ist bei
den Halbwissenden. 555. Gefährliche Hülfbereitschaft. - Es giebt Leute, welche das Leben den
Menschen erschweren wollen, aus keinem andern Grunde, als um ihnen
hinterdrein ihre Recepte zur Erleichterung des Lebens, zum Beispiel
ihr Christenthum, anzubieten. 556. Fleiss und Gewissenhaftigkeit. - Fleiss und Gewissenhaftigkeit sind
oftmals dadurch Antagonisten, dass der Fleiss die Früchte sauer vom
Baume nehmen will, die Gewissenhaftigkeit sie aber zu lange hängen
lässt, bis sie herabfallen und sich zerschlagen. 557. Verdächtigen. - Menschen, welche man nicht leiden kann, sucht man sich
zu verdächtigen. 558. Die Umstände fehlen. - Viele Menschen warten ihr Leben lang auf die
Gelegenheit, auf ihre Art gut zu sein. 559. Mangel an Freunden. - Der Mangel an Freunden lässt auf Neid oder
Anmaassung schliessen. Mancher verdankt seine Freunde nur dem
glücklichen Umstande, dass er keinen Anlass zum Neide hat. 560. Gefahr in der Vielheit. - Mit einem Talente mehr steht man oft
unsicherer, als mit einem weniger: wie der Tisch besser auf drei, als
auf vier Füssen steht. 561. Den Andern zum Vorbild. - Wer ein gutes Beispiel geben will, muss
seiner Tugend einen Gran Narrheit zusetzen: dann ahmt man nach und
erhebt sich zugleich über den Nachgeahmten, - was die Menschen lieben. 562. Zielscheibe sein. - Die bösen Reden Anderer über uns gelten oft nicht
eigentlich uns, sondern sind die Aeusserungen eines Aergers, einer
Verstimmung aus ganz anderen Gründen. 563. Leicht resignirt. - Man leidet wenig an versagten Wünschen, wenn man
seine Phantasie geübt hat, die Vergangenheit zu verhässlichen. 564. In Gefahr. | 2,583 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_464 | 398 |
7207-8-8 | Gutenberg | 9,991 | - Man ist am Meisten in Gefahr, überfahren zu werden, wenn
man eben einem Wagen ausgewichen ist. 565. Je nach der Stimme die Rolle. - Wer gezwungen ist, lauter zu reden,
als er gewohnt ist (etwa vor einem Halb-Tauben oder vor einem grossen
Auditorium), übertreibt gewöhnlich die Dinge, welche er mitzutheilen
hat. - Mancher wird zum Verschwörer, böswilligen Nachredner,
Intriguanten, blos weil seine Stimme sich am besten zu einem Geflüster
eignet. 566. Liebe und Hass. - Liebe und Hass sind nicht blind, aber geblendet vom
Feuer, das sie selber mit sich tragen. 567. Mit Vortheil angefeindet. - Menschen, welche der Welt ihre Verdienste
nicht völlig deutlich machen können, suchen sich eine starke
Feindschaft zu erwecken. Sie haben dann den Trost, zu denken, dass
diese zwischen ihren Verdiensten und deren Anerkennung stehe - und
dass mancher Andere das Selbe vermuthe: was sehr vortheilhaft für ihre
Geltung ist. 568. Beichte. - Man vergisst seine Schuld, wenn man sie einem Andern
gebeichtet hat, aber gewöhnlich vergisst der Andere sie nicht. 569. Selbstgenügsamkeit. - Das goldene Vliess der Selbstgenügsamkeit
schützt gegen Prügel, aber nicht gegen Nadelstiche. 570. Schatten in der Flamme. - Die Flamme ist sich selber nicht so hell,
als den Anderen, denen sie leuchtet: so auch der Weise. 571. Eigene Meinungen. - Die erste Meinung, welche uns einfällt, wenn wir
plötzlich über eine Sache befragt werden, ist gewöhnlich nicht unsere
eigene, sondern nur die landläufige, unserer Kaste, Stellung, Abkunft
zugehörige; die eigenen Meinungen schwimmen selten oben auf. 572. Herkunft des Muthes. - Der gewöhnliche Mensch ist muthig und
unverwundbar wie ein Held, wenn er die Gefahr nicht sieht, für sie
keine Augen hat. Umgekehrt: der Held hat die einzig verwundbare Stelle
auf dem Rücken, also dort, wo er keine Augen hat. 573. Gefahr im Arzte. - Man muss für seinen Arzt geboren sein, sonst geht
man an seinem Arzt zu Grunde. 574. Wunderliche Eitelkeit. - Wer dreimal mit Dreistigkeit das Wetter
prophezeit hat und Erfolg hatte, der glaubt im Grunde seiner Seele ein
Wenig an seine Prophetengabe. Wir lassen das Wunderliche, Irrationelle
gelten, wenn es unserer Selbstschätzung schmeichelt. 575. Beruf. - Ein Beruf ist das Rückgrat des Lebens. 576. Gefahr persönlichen Einflusses. - Wer fühlt, dass er auf einen Anderen
einen grossen innerlichen Einfluss ausübt, muss ihm ganz freie
Zügel lassen, ja gelegentliches Widerstreben gern sehen und selbst
herbeiführen: sonst wird er unvermeidlich sich einen Feind machen. 577. | 2,528 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_465 | 396 |
7207-8-8 | Gutenberg | 9,991 | Den Erben gelten lassen. - Wer etwas Grosses in selbstloser Gesinnung
begründet hat, sorgt dafür, sich Erben zu erziehen. Es ist das Zeichen
einer tyrannischen und unedlen Natur, in allen möglichen Erben seines
Werkes seine Gegner zu sehen und gegen sie im Stande der Nothwehr zu
leben. 578. Halbwissen. - Das Halbwissen ist siegreicher, als das Ganzwissen: es
kennt die Dinge einfacher, als sie sind, und macht daher seine Meinung
fasslicher und überzeugender. 579. Nicht geeignet zum Parteimann. - Wer viel denkt, eignet sich nicht zum
Parteimann: er denkt sich zu bald durch die Partei hindurch. 580. Schlechtes Gedächtniss. - Der Vortheil des schlechten Gedächtnisses
ist, dass man die selben guten Dinge mehrere Male zum Ersten Male
geniesst. 581. Sich Schmerzen machen. - Rücksichtslosigkeit des Denkens ist oft
das Zeichen einer unfriedlichen inneren Gesinnung, welche Betäubung
begehrt. 582. Märtyrer. - Der Jünger eines Märtyrers leidet mehr, als der Märtyrer. 583. Rückständige Eitelkeit. - Die Eitelkeit mancher Menschen, die es
nicht nöthig hätten, eitel zu sein, ist die übriggebliebene und gross
gewachsene Gewohnheit aus der Zeit her, wo sie noch kein Recht hatten,
an sich zu glauben und diesen Glauben erst von Andern in kleiner Münze
einbettelten. 584. Punctum saliens der Leidenschaft. - Wer im Begriff ist, in Zorn oder
in einen heftigen Liebesaffect zu gerathen, erreicht einen Punct, wo
die Seele voll ist wie ein Gefäss: aber doch muss ein Wassertropfen
noch hinzukommen, der gute Wille zur Leidenschaft (den man gewöhnlich
auch den bösen nennt). Es ist nur dieses Pünctchen nöthig, dann läuft
das Gefäss über. 585. Gedanke des Unmuthes. - Es ist mit den Menschen wie mit den
Kohlenmeilern im Walde. Erst wenn die jungen Menschen ausgeglüht haben
und verkohlt sind, gleich jenen, dann werden sie nützlich. So lange
sie dampfen und rauchen, sind sie vielleicht interessanter, aber
unnütz und gar zu häufig unbequem. - Die Menschheit verwendet
schonungslos jeden Einzelnen als Material zum Heizen ihrer grossen
Maschinen: aber wozu dann die Maschinen, wenn alle Einzelnen (das
heisst die Menschheit) nur dazu nützen, sie zu unterhalten? Maschinen,
die sich selbst Zweck sind, - ist das die umana commedia? 586. Vom Stundenzeiger des Lebens. - Das Leben besteht aus seltenen
einzelnen Momenten von höchster Bedeutsamkeit und unzählig vielen
Intervallen, in denen uns besten Falls die Schattenbilder jener
Momente umschweben. | 2,445 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_466 | 379 |
7207-8-8 | Gutenberg | 9,991 | Die Liebe, der Frühling, jede schöne Melodie, das
Gebirge, der Mond, das Meer - Alles redet nur einmal ganz zum Herzen:
wenn es überhaupt je ganz zu Worte kommt. Denn viele Menschen haben
jene Momente gar nicht und sind selber Intervalle und Pausen in der
Symphonie des wirklichen Lebens. 587. Angreifen oder eingreifen. - Wir machen häufig den Fehler, eine
Richtung oder Partei oder Zeit lebhaft anzufeinden, weil wir zufällig
nur ihre veräusserlichte Seite, ihre Verkümmerung oder die ihnen
nothwendig anhaftenden "Fehler ihrer Tugenden" zu sehen bekommen, -
vielleicht weil wir selbst an diesen vornehmlich theilgenommen haben. Dann wenden wir ihnen den Rücken und suchen eine entgegengesetzte
Richtung; aber das Bessere wäre, die starken guten Seiten aufzusuchen
oder an sich selber auszubilden. Freilich gehört ein kräftigerer Blick
und besserer Wille dazu, das Werdende und Unvollkommene zu fördern,
als es in seiner Unvollkommenheit zu durchschauen und zu verleugnen. 588. Bescheidenheit. - Es giebt wahre Bescheidenheit (das heisst die
Erkenntniss, dass wir nicht unsere eigenen Werke sind); und recht
wohl geziemt sie dem grossen Geiste, weil gerade er den Gedanken der
völligen Unverantwortlichkeit (auch für das Gute, was er schafft)
fassen kann. Die Unbescheidenheit des Grossen hasst man nicht,
insofern er seine Kraft fühlt, sondern weil er seine Kraft dadurch
erst erfahren will, dass er die Anderen verletzt, herrisch behandelt
und zusieht, wie weit sie es aushalten. Gewöhnlich beweist diess sogar
den Mangel an sicherem Gefühl der Kraft und macht somit die Menschen
an seiner Grösse zweifeln. Insofern ist Unbescheidenheit vom
Gesichtspuncte der Klugheit aus sehr zu widerrathen. 589. Des Tages erster Gedanke. - Das beste Mittel, jeden Tag gut zu
beginnen, ist: beim Erwachen daran zu denken, ob man nicht wenigstens
einem Menschen an diesem Tage eine Freude machen könne. Wenn diess als
ein Ersatz für die religiöse Gewöhnung des Gebetes gelten dürfte, so
hätten die Mitmenschen einen Vortheil bei dieser Aenderung. 590. Anmaassung als letztes Trostmittel. - Wenn man ein Missgeschick,
seinen intellectuellen Mangel, seine Krankheit sich so zurecht legt,
dass man hierin sein vorgezeichnetes Schicksal, seine Prüfung oder
die geheimnissvolle Strafe für früher Begangenes sieht, so macht man
sich sein eigenes Wesen dadurch interessant und erhebt sich in der
Vorstellung über seine Mitmenschen. Der stolze Sünder ist eine
bekannte Figur in allen kirchlichen Secten. 591. Vegetation des Glückes. | 2,514 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_467 | 379 |
7207-8-8 | Gutenberg | 9,991 | - Dicht neben dem Wehe der Welt, und oft auf
seinem vulcanischen Boden, hat der Mensch seine kleinen Gärten des
Glückes angelegt; ob man das Leben mit dem Blicke Dessen betrachtet,
der vom Dasein Erkenntniss allein will, oder Dessen, der sich ergiebt
und resignirt, oder Dessen, der an der überwundenen Schwierigkeit sich
freut, - überall wird er etwas Glück neben dem Unheil aufgesprosst
finden - und zwar um so mehr Glück, je vulcanischer der Boden war nur
wäre es lächerlich, zu sagen, dass mit diesem Glück das Leiden selbst
gerechtfertigt sei. 592. Die Strasse der Vorfahren. - Es ist vernünftig, wenn jemand das
Talent, auf welches sein Vater oder Grossvater Mühe verwendet hat, an
sich selbst weiter ausbildet und nicht zu etwas ganz Neuem umschlägt;
er nimmt sich sonst die Möglichkeit, zum Vollkommenen in irgend einem
Handwerk zu gelangen. Desshalb sagt das Sprüchwort: "Welche Strasse
sollst du reiten? - die deiner Vorfahren."
593. Eitelkeit und Ehrgeiz als Erzieher. - So lange Einer noch nicht zum
Werkzeug des allgemeinen menschlichen Nutzens geworden ist, mag ihn
der Ehrgeiz peinigen; ist jenes Ziel aber erreicht, arbeitet er mit
Nothwendigkeit wie eine Maschine zum Besten Aller, so mag dann die
Eitelkeit kommen; sie wird ihn im Kleinen vermenschlichen, geselliger,
erträglicher, nachsichtiger machen, dann, wenn der Ehrgeiz die grobe
Arbeit (ihn nützlich zu machen) an ihm vollendet hat. 594. Philosophische Neulinge. - Hat man die Weisheit eines Philosophen eben
eingenommen, so geht man durch die Strassen mit dem Gefühle, als sei
man umgeschaffen und ein grosser Mann geworden; denn man findet lauter
Solche, welche diese Weisheit nicht kennen, hat also über Alles eine
neue unbekannte Entscheidung vorzutragen: weil man ein Gesetzbuch
anerkennt, meint man jetzt auch sich als Richter gebärden zu müssen. 595. Durch Missfallen gefallen. - Die Menschen, welche lieber auffallen
und dabei missfallen wollen, begehren das Selbe wie Die, welche nicht
auffallen und gefallen wollen, nur in einem viel höheren Grade und
indirect, vermittelst einer Stufe, durch welche sie sich scheinbar
von ihrem Ziele entfernen. Sie wollen Einfluss und Macht, und zeigen
desshalb ihre Ueberlegenheit, selbst so, dass sie unangenehm empfunden
wird; denn sie wissen, dass Der, welcher endlich zur Macht gelangt
ist, fast in Allem was er thut und sagt, gefällt, und dass selbst, wo
er missfällt, er doch noch zu gefallen scheint. | 2,432 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_468 | 381 |
7207-8-9 | Gutenberg | 7,550 | Indem er die Leidenschaft auf seine Seite zieht,
will er den Verstand und dessen Zweifel betäuben: so gewinnt er das
gute Gewissen und mit ihm den Erfolg bei den Mitmenschen. 598. Kunstgriff des Entsagenden. - Wer gegen die Ehe protestirt nach
Art der katholischen Priester wird diese nach ihrer niedrigsten,
gemeinsten Auffassung zu verstehen suchen. Ebenso wer die Ehre bei den
Zeitgenossen von sich abweist, wird deren Begriff niedrig fassen; so
erleichtert er sich die Entbehrung und den Kampf dagegen. Uebrigens
wird Der, welcher sich im Ganzen viel versagt, sich im Kleinen
leicht Indulgenz geben. Es wäre möglich, dass Der, welcher über den
Beifall der Zeitgenossen erhaben ist, doch die Befriedigung kleiner
Eitelkeiten sich nicht versagen will. 599. Lebensalter der Anmaassung. - Zwischen dem sechsundzwanzigsten und
dreissigsten Jahre liegt bei begabten Menschen die eigentliche Periode
der Anmaassung; es ist die Zeit der ersten Reife, mit einem starken
Rest von Säuerlichkeit. Man fordert auf Grund dessen, was man in sich
fühlt, von Mensen, welche Nichts oder wenig davon sehen, Ehre und
Demüthigung, und rächt sich, weil diese zunächst ausbleiben, durch
jenen Blick, jene Gebärde der Anmaassung, jenen Ton der Stimme, die
ein feines Ohr und Auge an allen Productionen jenes Alters, seien es
Gedichte, Philosophien, oder Bilder und Musik, wiedererkennt. Aeltere
erfahrene Männer lächeln dazu und mit Rührung gedenken sie dieses
schönen Lebensalters, in dem man böse über das Geschick ist, so viel
zu sein und so wenig zu scheinen. Später scheint man wirklich mehr, -
aber man hat den guten Glauben verloren, viel zu sein: man bleibe denn
zeitlebens ein unverbesserlicher Narr der Eitelkeit. 600. Trügerisch und doch haltbar. - Wie man, um an einem Abgrund
vorbeizugehen oder einen tiefen Bach auf einem Balken zu
überschreiten, eines Geländers bedarf, nicht um sich daran
festzuhalten, - denn es würde sofort mit Einem zusammenbrechen,
sondern um die Vorstellung der Sicherheit für das Auge zu erwecken, -
so bedarf man als Jüngling solcher Personen, welche uns unbewusst den
Dienst jenes Geländers erweisen; es ist wahr, sie würden uns nicht
helfen, wenn wir uns wirklich, in grosser Gefahr, auf sie stützen
wollten, aber sie geben die beruhigende Empfindung des Schutzes in
der Nähe (zum Beispiel Väter, Lehrer, Freunde, wie sie, alle drei,
gewöhnlich sind). 601. Lieben lernen. | 2,394 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_469 | 373 |
7207-8-9 | Gutenberg | 7,550 | - Man muss lieben lernen, gütig sein lernen, und diess
von Jugend auf; wenn Erziehung und Zufall uns keine Gelegenheit zur
Uebung dieser Empfindungen geben, so wird unsere Seele trocken und
selbst zu einem Verständnisse jener zarten Erfindungen liebevoller
Menschen ungeeignet. Ebenso muss der Hass gelernt und genährt werden,
wenn Einer ein tüchtiger Hasser werden will: sonst wird auch der Keim
dazu allmählich absterben. 602. Die Ruine als Schmuck. - Solche, die viele geistige Wandlungen
durchmachen, behalten einige Ansichten und Gewohnheiten früherer
Zustände bei, welche dann wie ein Stück unerklärlichen Alterthums und
grauen Mauerwerks in ihr neues Denken und Handeln hineinragen: oft zur
Zierde der ganzen Gegend. 603. Liebe und Ehre. - Die Liebe begehrt, die Furcht meidet. Daran liegt
es, dass man nicht zugleich von derselben Person wenigstens in dem
selben Zeitraume, geliebt und geehrt werden kann. Denn der Ehrende
erkennt die Macht an, das heisst er fürchtet sie: sein Zustand
ist Ehrfurcht. Die Liebe aber erkennt keine Macht an, Nichts was
trennt, abhebt, über- und unterordnet. Weil sie nicht ehrt, so sind
ehrsüchtige Menschen insgeheim oder öffentlich gegen das Geliebtwerden
widerspänstig. 604. Vorurtheil für die kalten Menschen. - Menschen, welche rasch Feuer
fangen, werden schnell kalt und sind daher im Ganzen unzuverlässig. Desshalb giebt es für alle Die, welche immer kalt sind oder sich so
stellen, das günstige Vorurtheil, dass es besonders vertrauenswerthe
zuverlässige Menschen seien: man verwechselt sie mit Denen, welche
langsam Feuer fangen und es lange festhalten. 605. Das Gefährliche an freien Meinungen. - Das leichte Befassen mit freien
Meinungen giebt einen Reiz, wie eine Art jucken; giebt man ihm mehr
nach, so fängt man an, die Stellen zu reiben; bis zuletzt eine offene
schmerzende Wunde entsteht, das heisst: bis die freie Meinung uns in
unserer Lebensstellung, unsern menschlichen Beziehungen zu stören, zu
quälen beginnt. 606. Begierde nach tiefem Schmerz. - Die Leidenschaft lässt, wenn sie
vorüber ist, eine dunkele Sehnsucht nach sich selber zurück und wirft
im Verschwinden noch einen verführerischen Blick zu. Es muss doch eine
Art von Lust gewährt haben, mit ihrer Geissel geschlagen worden zu
sein. Die mässigeren Empfindungen erscheinen dagegen schaal; man will,
wie es scheint, die heftigere Unlust immer noch lieber als die matte
Lust. 607. Unmuth über andere und die Welt. | 2,434 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_470 | 372 |
7207-8-9 | Gutenberg | 7,550 | - Wenn wir, wie so häufig, unsern
Unmuth an Anderen auslassen, während wir ihn eigentlich über uns
empfinden, erstreben wir im Grunde eine Umnebelung und Täuschung
unseres Urtheils: wir wollen diesen Unmuth a posteriori motiviren
durch die Versehen, Mängel der Anderen und uns selber so aus den Augen
verlieren. - Die religiös strengen Menschen, welche gegen sich selber
unerbittliche Richter sind, haben zugleich am meisten Uebles der
Menschheit überhaupt nachgesagt: ein Heiliger, welcher sich die Sünden
und den Anderen die Tugenden vorbehält, hat nie gelebt: ebensowenig
wie jener, welcher nach Buddha's Vorschrift sein Gutes vor den Leuten
verbirgt und ihnen sein Böses allein sehen lässt. 608. Ursache und Wirkung verwechselt. - Wir suchen unbewusst die Grundsätze
und Lehrmeinungen, welche unserem Temperamente angemessen sind, so
dass es zuletzt so aussieht, als ob die Grundsätze und Lehrmeinungen
unseren Charakter geschaffen, ihm Halt und Sicherheit gegeben hätten:
während es gerade umgekehrt zugegangen ist. Unser Denken und Urtheilen
soll nachträglich, so scheint es, zur Ursache unseres Wesens gemacht
werden: aber thatsächlich ist unser Wesen die Ursache, dass wir so
und so denken und urtheilen. - Und was bestimmt uns zu dieser fast
unbewussten Komödie? Die Trägheit und Bequemlichkeit und nicht am
wenigsten der Wunsch der Eitelkeit, durch und durch als consistent,
in Wesen und Denken einartig erfunden zu werden: denn diess erwirbt
Achtung, giebt Vertrauen und Macht. 609. Lebensalter und Wahrheit. - junge Leute lieben das Interessante und
Absonderliche, gleichgültig wie wahr oder falsch es ist. Reifere
Geister lieben Das an der Wahrheit, was an ihr interessant und
absonderlich ist. Ausgereifte Köpfe endlich lieben die Wahrheit auch
in Dem, wo sie schlicht und einfältig erscheint und dem gewöhnlichen
Menschen Langeweile macht, weil sie gemerkt haben, dass die Wahrheit
das Höchste an Geist, was sie besitzt, mit der Miene der Einfalt zu
sagen pflegt. 610. Die Menschen als schlechte Dichter. - So wie schlechte Dichter im
zweiten Theil des Verses zum Reime den Gedanken suchen, so pflegen die
Menschen in der zweiten Hälfte des Lebens, ängstlicher geworden, die
Handlungen, Stellungen, Verhältnisse zu suchen, welche zu denen ihres
früheren Lebens passen, so dass äusserlich Alles wohl zusammenklingt:
aber ihr Leben ist nicht mehr von einem starken Gedanken beherrscht
und immer wieder neu bestimmt, sondern an die Stelle desselben tritt
die Absicht, einen Reim zu finden. 611. Langeweile und Spiel. | 2,529 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_471 | 383 |
7207-8-9 | Gutenberg | 7,550 | - Das Bedürfniss zwingt uns zur Arbeit, mit
deren Ertrage das Bedürfniss gestillt wird; das immer neue Erwachen
der Bedürfnisse gewöhnt uns an die Arbeit. In den Pausen aber,
in welchen die Bedürfnisse gestillt sind und gleichsam schlafen,
überfällt uns die Langeweile. Was ist diese? Es ist die Gewöhnung
an Arbeit überhaupt, welche sich jetzt als neues, hinzukommendes
Bedürfniss geltend macht; sie wird um so stärker sein, je stärker
Jemand gewöhnt ist zu arbeiten, vielleicht sogar je stärker Jemand an
Bedürfnissen gelitten hat. Um der Langeweile zu entgehen, arbeitet der
Mensch entweder über das Maass seiner sonstigen Bedürfnisse hinaus
oder er erfindet das Spiel, das heisst die Arbeit, welche kein anderes
Bedürfniss stillen soll, als das nach Arbeit überhaupt. Wer des
Spieles überdrüssig geworden ist und durch neue Bedürfnisse keinen
Grund zur Arbeit hat, den überfällt mitunter das Verlangen nach einem
dritten Zustand, welcher sich zum Spiel verhält, wie Schweben zum
Tanzen, wie Tanzen zum Gehen, nach einer seligen, ruhigen Bewegtheit:
es ist die Vision der Künstler und Philosophen von dem Glück. 612. Lehre aus Bildern. - Betrachtet man eine Reihe Bilder von sich selber,
von den Zeiten der letzten Kindheit bis zu der der Mannesreife, so
findet man mit einer angenehmen Verwunderung, dass der Mann dem Kinde
ähnlicher sieht, als der Mann dem Jünglinge: dass also, wahrscheinlich
diesem Vorgange entsprechend, inzwischen eine zeitweilige Alienation
vom Grundcharakter eingetreten ist, über welche die gesammelte,
geballte Kraft des Mannes wieder Herr wurde. Dieser Wahrnehmung
entspricht die andere, dass alle die starken Einwirkungen von
Leidenschaften, Lehrern, politischen Ereignissen, welche in dem
Jünglingsalter uns herumziehen, später wieder auf ein festes Maass
zurückgeführt erscheinen: gewiss, sie leben und wirken in uns fort,
aber das Grundempfinden und Grundmeinen hat doch die Uebermacht und
benutzt sie wohl als Kraftquellen, nicht aber mehr als Regulatoren,
wie diess wohl in den zwanziger Jahren geschieht. So erscheint auch
das Denken und Empfinden des Mannes dem seines kindlichen Lebensalters
wieder gemässer, - und diese innere Thatsache spricht sich in der
erwähnten äusseren aus. 613. Stimmklang der Lebensalter. | 2,255 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_472 | 336 |
7207-8-9 | Gutenberg | 7,550 | - Der Ton, indem Jünglinge reden, loben,
tadeln, dichten, missfällt dem Aelter gewordenen, weil er zu laut ist
und zwar zugleich dumpf und undeutlich wie der Ton in einem Gewölbe,
der durch die Leerheit eine solche Schallkraft bekommt; denn das
Meiste, was Jünglinge denken, ist nicht aus der Fülle ihrer eigenen
Natur herausgeströmt, sondern ist Anklang, Nachklang von dem, was in
ihrer Nähe gedacht, geredet, gelobt, getadelt worden ist. Weil aber
die Empfindungen (der Neigung und Abneigung) viel stärker, als die
Gründe für jene, in ihnen nachklingen, so entsteht, wenn sie ihre
Empfindung wieder laut werden lassen, jener dumpfe, hallende Ton,
welcher für die Abwesenheit oder die Spärlichkeit von Gründen das
Kennzeichen abgiebt. Der Ton des reiferen Alters ist streng, kurz
abgebrochen, mässig laut, aber, wie alles deutlich Articulirte, sehr
weit tragend. Das Alter endlich bringt häufig eine gewisse Milde und
Nachsicht in den Klang und verzuckert ihn gleichsam: in manchen Fällen
freilich versäuert sie ihn auch. 614. Zurückgebliebene und vorwegnehmende Menschen. - Der unangenehme
Charakter, welcher voller Misstrauen ist, alles glückliche Gelingen
der Mitbewerbenden und Nächsten mit Neid fühlt, gegen abweichende
Meinungen gewaltthätig und aufbrausend ist, zeigt, dass er einer
früheren Stufe der Cultur zugehört, also ein Ueberbleibsel ist: denn
die Art, in welcher er mit den Menschen verkehrt, war die rechte und
zutreffende für die Zustände eines Faustrecht-Zeitalters; es ist ein
zurückgebliebener Mensch. Ein anderer Charakter, welcher reich an
Mitfreude ist, überall Freunde gewinnt, alles Wachsende und Werdende
liebevoll empfindet, alle Ehren und Erfolge Anderer mitgeniesst und
kein Vorrecht, das Wahre allein zu erkennen, in Anspruch nimmt,
sondern voll eines bescheidenen Misstrauens ist, - das ist ein
vorwegnehmender Mensch, welcher einer höheren Cultur der Menschen
entgegenstrebt. Der unangenehme Charakter stammt aus den Zeiten, wo
die rohen Fundamente des menschlichen Verkehrs erst zu bauen waren,
der andere lebt auf deren höchsten Stockwerken, möglichst entfernt von
dem wilden Thier, welches in den Kellern, unter den Fundamenten der
Cultur, eingeschlossen wüthet und heult. 615. Trost für Hypochonder. | 2,238 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_473 | 326 |
7207-8-9 | Gutenberg | 7,550 | - Wenn ein grosser Denker zeitweilig
hypochondrischen Selbstquälereien unterworfen ist, so mag er sich
zum Troste sagen: "es ist deine eigene grosse Kraft, von der dieser
Parasit sich nährt und wächst; wäre sie geringer, so würdest du
weniger zu leiden haben." Ebenso mag der Staatsmann sprechen, wenn
Eifersucht und Rachegefühl, überhaupt die Stimmung des bellum omnium
contra omnes, zu der er als Vertreter einer Nation nothwendig
eine starke Begabung haben muss, sich gelegentlich auch in seine
persönlichen Beziehungen eindrängt und ihm das Leben schwer macht. 616. Der Gegenwart entfremdet. - Es hat grosse Vortheile, seiner Zeit sich
einmal in stärkerem Maasse zu entfremden und gleichsam von ihrem Ufer
zurück in den Ocean der vergangenen Weltbetrachtungen getrieben zu
werden. Von dort aus nach der Küste zu blickend, überschaut man wohl
zum ersten Male ihre gesammte Gestaltung und hat, wenn man sich ihr
wieder nähert, den Vortheil, sie besser im Ganzen zu verstehen, als
Die, welche sie nie verlassen haben. 617. Auf persönlichen Mängeln säen und ernten. - Menschen wie Rousseau
verstehen es, ihre Schwächen, Lücken, Laster gleichsam als Dünger
ihres Talentes zu benutzen. Wenn jener die Verdorbenheit und Entartung
der Gesellschaft als leidige Folge der Cultur beklagt, so liegt hier
eine persönliche Erfahrung zu Grunde; deren Bitterkeit giebt ihm die
Schärfe seiner allgemeinen Verurtheilung und vergiftet die Pfeile, mit
denen er schiesst; er entlastet sich zunächst als ein Individuum und
denkt ein Heilmittel zu suchen, das direct der Gesellschaft, aber
indirect und vermittelst jener, auch ihm zu Nutze ist. 618. Philosophisch gesinnt sein. - Gewöhnlich strebt man darnach, für alle
Lebenslagen und Ereignisse eine Haltung des Gemüthes, eine Gattung
von Ansichten zu erwerben, - das nennt man vornehmlich philosophisch
gesinnt sein. Aber für die Bereicherung der Erkenntniss mag es höheren
Werth haben, nicht in dieser Weise sich zu uniformiren, sondern auf
die leise Stimme der verschiedenen Lebenslagen zu hören; diese bringen
ihre eigenen Ansichten mit sich. So nimmt man erkennenden Antheil
am Leben und Wesen Vieler, indem man sich selber nicht als starres,
beständiges, Eines Individuum behandelt. 619. Im Feuer der Verachtung. - Es ist ein neuer Schritt zum
Selbständigwerden, wenn man erst Ansichten zu äussern wagt, die als
schmählich für Den gelten, welcher sie hegt; da pflegen auch die
Freunde und Bekannten ängstlich zu werden. Auch durch dieses Feuer
muss die begabte Natur hindurch; sie gehört sich hinterdrein noch
vielmehr selber an. 620. Aufopferung. | 2,587 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_474 | 394 |
7207-8-9 | Gutenberg | 7,550 | - Die grosse Aufopferung wird, im Falle der Wahl, einer
kleinen Aufopferung vorgezogen: weil wir für die grosse uns durch
Selbstbewunderung entschädigen, was uns bei der kleinen nicht möglich
ist. 621. Liebe als Kunstgriff. - Wer etwas Neues wirklich kennen lernen will
(sei es ein Mensch, ein Ereigniss, ein Buch), der thut gut, dieses
Neue mit aller möglichen Liebe aufzunehmen, von Allem, was ihm daran
feindlich, anstössig, falsch vorkommt, schnell das Auge abzuwenden, ja
es zu vergessen: so dass man zum Beispiel dem Autor eines Buches den
grössten Vorsprung giebt und geradezu, wie bei einem Wettrennen, mit
klopfendem Herzen danach begehrt, dass er sein Ziel erreiche. Mit
diesem Verfahren dringt man nähmlich der neuen Sache bis an ihr Herz,
bis an ihren bewegenden Punct: und diess heisst eben sie kennen
lernen. Ist man soweit, so macht der Verstand hinterdrein seine
Restrictionen; jene Ueberschätzung, jenes zeitweilige Aushängen des
kritischen Pendels war eben nur der Kunstgriff, die Seele einer Sache
herauszulocken. 622. Zu gut und zu schlecht von der Welt denken. - Ob man zu gut oder zu
schlecht von den Dingen denkt, man hat immer den Vortheil dabei, eine
höhere Lust einzuernten: denn bei einer vorgefassten zu guten Meinung
legen wir gewöhnlich mehr Süssigkeit in die Dinge (Erlebnisse) hinein,
als sie eigentlich enthalten. Eine vorgefasste zu schlechte Meinung
verursacht eine angenehme Enttäuschung: das Angenehme, das an sich
in den Dingen lag, bekommt einen Zuwachs durch das Angenehme der
Ueberraschung. - Ein finsteres Temperament wird übrigens in beiden
Fällen die umgekehrte Erfahrung machen. 623. Tiefe Menschen. - Diejenigen, welche ihre Stärke in der Vertiefung der
Eindrücke haben - man nennt sie gewöhnlich tiefe Menschen - sind bei
allem Plötzlichen verhältnissmässig gefasst und entschlossen: denn im
ersten Augenblick war der Eindruck noch flach, er wird dann erst tief. Lange vorhergesehene, erwartete Dinge oder Personen regen aber solche
Naturen am meisten auf und machen sie fast unfähig, bei der endlichen
Ankunft derselben noch Gegenwärtigkeit des Geistes zu haben. 624. Verkehr mit dem höheren Selbst. - Ein jeder hat seinen guten Tag,
wo er sein höheres Selbst findet; und die wahre Humanität verlangt,
jemanden nur nach diesem Zustande und nicht nach den Werktagen der
Unfreiheit und Knechtung zu schätzen. Man soll zum Beispiel einen
Maler nach seiner höchsten Vision, die er zu sehen und darzustellen
vermochte, taxiren und verehren. | 2,484 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_475 | 384 |
7207-8-9 | Gutenberg | 7,550 | Aber die Menschen selber verkehren
sehr verschieden mit diesem ihrem höheren Selbst und sind häufig ihre
eigenen Schauspieler, insofern sie Das, was sie in jenen Augenblicken
sind, später immer wieder nachmachen. Manche leben in Scheu und Demuth
vor ihrem Ideale und möchten es verleugnen: sie fürchten ihr höheres
Selbst, weil es, wenn es redet, anspruchsvoll redet. Dazu hat es eine
geisterhafte Freiheit zu kommen und fortzubleiben wie es will; es wird
desswegen häufig eine Gabe der Götter genannt, während eigentlich
alles Andere Gabe der Götter (des Zufalls) ist: jenes aber ist der
Mensch selber. 625. Einsame Menschen. - Manche Menschen sind so sehr an das Alleinsein mit
sich selber gewöhnt, dass sie sich gar nicht mit Anderen vergleichen,
sondern in einer ruhigen, freudigen Stimmung, unter guten Gesprächen
mit sich, ja mit Lachen ihr monologisches Leben fortspinnen. Bringt
man sie aber dazu, sich mit Anderen zu vergleichen, so neigen sie zu
einer grübelnden Unterschätzung ihrer selbst: so dass sie gezwungen
werden müssen, eine gute, gerechte Meinung über sich erst von Anderen
wieder zu lernen: und auch von dieser erlernten Meinung werden sie
immer wieder Etwas abziehen und abhandeln wollen. - Man muss also
gewissen Menschen ihr Alleinsein gönnen und nicht so albern sein, wie
es häufig geschieht, sie desswegen zu bedauern. 626. Ohne Melodie. - Es giebt Menschen, denen ein stätiges Beruhen in sich
selbst und ein harmonisches Sich-zurecht-legen aller ihrer Fähigkeiten
so zu eigen ist, dass ihnen jede zielesetzende Thätigkeit widerstrebt. Sie gleichen einer Musik, welche aus lauter langgezogenen harmonischen
Accorden besteht, ohne dass je auch nur der Ansatz zu einer
gegliederten bewegten Melodie sich zeigte. Alle Bewegung von Aussen
her dient nur, dem Kahne sofort wieder sein neues Gleichgewicht auf
dem See harmonischen Wohlklangs zu geben. Moderne Menschen werden
gewöhnlich auf's Aeusserste ungeduldig, wenn sie solchen Naturen
begegnen, aus denen Nichts wird, ohne dass man ihnen sagen dürfte,
dass sie Nichts sind. Aber in einzelnen Stimmungen erregt ihr Anblick
jene ungewöhnliche Frage: wozu überhaupt Melodie? Warum genügt es uns
nicht, wenn das Leben sich ruhevoll in einem tiefen See spiegelt? -
Das Mittelalter war reicher an solchen Naturen als unsere Zeit. | 2,299 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_476 | 352 |
7207-8-9 | Gutenberg | 7,550 | Wie
selten trifft man noch auf einen, der so recht friedlich und froh mit
sich auch im Gedränge fortleben kann, zu sich redend wie Goethe: "das
Beste ist die tiefe Stille, in der ich gegen die Welt lebe und wachse,
und gewinne, was sie mir mit Feuer und Schwert nicht nehmen können."
627. Leben und Erleben. - Sieht man zu, wie Einzelne mit ihren Erlebnissen
- ihren unbedeutenden alltäglichen Erlebnissen - umzugehen wissen, so
dass diese zu einem Ackerland werden, das dreimal des Jahres Frucht
trägt; während Andere - und wie Viele! - durch den Wogenschlag
der aufregendsten Schicksale, der mannigfaltigsten Zeit- und
Volksströmungen hindurchgetrieben werden und doch immer leicht,
immer obenauf, wie Kork, bleiben: so ist man endlich versucht, die
Menschheit in eine Minorität (Minimalität) Solcher einzutheilen,
welche aus Wenigem Viel zu machen verstehen: und in eine Majorität
Derer, welche aus Vielem Wenig zu machen verstehen; ja man trifft auf
jene umgekehrten Hexenmeister, welche, anstatt die Welt aus Nichts,
aus der Welt ein Nichts schaffen. 628. Ernst im Spiele. - In Genua hörte ich zur Zeit der Abenddämmerung von
einem Thurme her ein langes Glockenspiel: das wollte nicht enden und
klang, wie unersättlich an sich selber, über das Geräusch der Gassen
in den Abendhimmel und die Meerluft hinaus, so schauerlich, so
kindisch zugleich, so wehmuthsvoll. Da gedachte ich der Worte Plato's
und fühlte sie auf einmal im Herzen: alles Menschliche insgesammt ist
des grossen Ernstes nicht werth; trotzdem--
629. Von der Ueberzeugung und der Gerechtigkeit. - Das, was der Mensch in
der Leidenschaft sagt, verspricht, beschliesst, nachher in Kälte und
Nüchternheit zu vertreten - diese Forderung gehört zu den schwersten
Lasten, welche die Menschheit drücken. Die Folgen des Zornes, der
aufflammenden Rache, der begeisterten Hingebung in alle Zukunft hin
anerkennen zu müssen - das kann zu einer um so grösseren Erbitterung
gegen diese Empfindungen reizen, je mehr gerade mit ihnen allerwärts
und namentlich von den Künstlern ein Götzendienst getrieben wird. Diese züchten die Schätzung der Leidenschaften gross und haben
es immer gethan; freilich verherrlichen sie auch die furchtbaren
Genugthuungen der Leidenschaft, welche Einer an sich selber nimmt,
jene Racheausbrüche mit Tod, Verstümmelung, freiwilliger Verbannung
im Gefolge, und jene Resignation des zerbrochnen Herzens. Jedenfalls:
halten sie die Neugierde nach den Leidenschaften wach, es ist, als ob
sie sagen wollten: ihr habt ohne Leidenschaften gar Nichts erlebt. | 2,540 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_477 | 386 |
7207-8-9 | Gutenberg | 7,550 | -
Weil man Treue geschworen, vielleicht gar einem rein fingirten Wesen,
wie einem Gotte, weil man sein Herz hingegeben hat, einem Fürsten,
einer Partei, einem Weibe, einem priesterlichen Orden, einem Künstler,
einem Denker, im Zustande eines verblendeten Wahnes, welcher
Entzückung über uns legte und jene Wesen als jeder Verehrung, jedes
Opfers würdig erscheinen liess - ist man nun unentrinnbar fest
gebunden? Ja haben wir uns denn damals nicht selbst betrogen? War es
nicht ein hypothetisches Versprechen, unter der freilich nicht laut
gewordenen Voraussetzung, dass jene Wesen, denen wir uns weihten
wirklich die Wesen sind, als welche sie in unserer Vorstellung
erschienen? Sind wir verpflichtet, unsern Irrthümern treu zu sein,
selbst mit der Einsicht, dass wir durch diese Treue an unserem
höheren Selbst Schaden stiften? - Nein, es giebt kein Gesetz, keine
Verpflichtung der Art, wir müssen Verräther werden, Untreue üben,
unsere Ideale immer wieder preisgeben. Aus einer Periode des Lebens
in die andere schreiten wir nicht, ohne diese Schmerzen des Verrathes
zu machen und auch daran wieder zu leiden. Wäre es nöthig, dass wir
uns, um diesen Schmerzen zu entgehen, vor den Aufwallungen unserer
Empfindung hüten müssten? Würde dann die Welt nicht zu öde, zu
gespenstisch für uns werden? Vielmehr wollen wir uns fragen, ob diese
Schmerzen bei einem Wechsel der Ueberzeugung nothwendig sind oder ob
sie nicht von einer irrthümlichen Meinung und Schätzung abhängen. Warum bewundert man Den, welcher seiner Ueberzeugung treu bleibt, und
verachtet Den, welcher sie wechselt? Ich fürchte, die Antwort muss
sein: weil Jedermann voraussetzt, dass nur Motive gemeineren Vortheils
oder persönlicher Angst einen solchen Wechsel veranlassen. Das heisst:
man glaubt im Grunde, dass Niemand seine Meinungen verändert, so lange
sie ihm vortheilhaft sind, oder wenigstens so lange sie ihm keinen
Schaden bringen. Steht es aber so, so liegt darin ein schlimmes
Zeugniss über die intellectuelle Bedeutung aller Ueberzeugungen. Prüfen wir einmal, wie Ueberzeugungen entstehen, und sehen wir zu,
ob sie nicht bei Weitem überschätzt werden: dabei wird sich ergeben,
dass auch der Wechsel von Ueberzeugungen unter allen Umständen nach
falschem Maasse bemessen wird und dass wir bisher zu viel an diesem
Wechsel zu leiden pflegten. 630. Ueberzeugung ist der Glaube, in irgend einem Puncte der Erkenntniss
im Besitze der unbedingten Wahrheit zu sein. | 2,436 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_478 | 368 |
7207-8-9 | Gutenberg | 7,550 | Dieser Glaube setzt also
voraus, dass es unbedingte Wahrheiten gebe; ebenfalls, dass jene
vollkommenen Methoden gefunden seien, um zu ihnen zu gelangen;
endlich, dass jeder, der Ueberzeugungen habe, sich dieser vollkommenen
Methoden bediene. Alle drei Aufstellungen beweisen sofort, dass der
Mensch der Ueberzeugungen nicht der Mensch des wissenschaftlichen
Denkens ist; er steht im Alter der theoretischen Unschuld vor uns
und ist ein Kind, wie erwachsen er auch sonst sein möge. Ganze
Jahrtausende aber haben in jenen kindlichen Voraussetzungen gelebt
und aus ihnen sind die mächtigsten Kraftquellen der Menschheit
herausgeströmt. jene zahllosen Menschen, welche sich für ihre
Ueberzeugungen opferten, meinten es für die unbedingte Wahrheit zu
thun. Sie alle hatten Unrecht darin: wahrscheinlich hat noch nie ein
Mensch sich für die Wahrheit geopfert; mindestens wird der dogmatische
Ausdruck seines Glaubens unwissenschaftlich oder halbwissenschaftlich
gewesen sein. Aber eigentlich wollte man Recht behalten, weil man
meinte, Recht haben zu müssen. Seinen Glauben sich entreissen lassen,
das bedeutete vielleicht seine ewige Seligkeit in Frage stellen. Bei
einer Angelegenheit von dieser äussersten Wichtigkeit war der "Wille"
gar zu hörbar der Souffleur des Intellects. Die Voraussetzung jedes
Gläubigen jeder Richtung war, nicht widerlegt werden zu können;
erwiesen sich die Gegengründe als sehr stark, so blieb ihm immer
noch übrig, die Vernunft überhaupt zu verlästern und vielleicht gar
das "credo quia absurdum est" als Fahne des äussersten Fanatismus
aufzupflanzen. Es ist nicht der Kampf der Meinungen, welcher die
Geschichte so gewaltthätig gemacht hat, sondern der Kampf des Glaubens
an die Meinungen, das heisst der Ueberzeugungen. Wenn doch alle Die,
welche so gross von ihrer Ueberzeugung dachten, Opfer aller Art ihr
brachten und Ehre, Leib und Leben in ihrem Dienste nicht schonten, nur
die Hälfte ihrer Kraft der Untersuchung gewidmet hätten, mit welchem
Rechte sie an dieser oder jener Ueberzeugung hiengen, auf welchem Wege
sie zu ihr gekommen seien: wie friedfertig sähe die Geschichte der
Menschheit aus! Wieviel mehr des Erkannten würde es geben! Alle die
grausamen Scenen bei der Verfolgung der Ketzer jeder Art wären uns
aus zwei Gründen erspart geblieben: einmal weil die Inquisitoren vor
Allem in sich selbst inquirirt hätten und über die Anmaassung, die
unbedingte Wahrheit zu vertheidigen, hinausgekommen wären; sodann
weil die Ketzer selber so schlecht begründeten Sätzen, wie die Sätze
aller religiösen Sectirer und "Rechtgläubigen" sind, keine weitere
Theilnahme geschenkt haben würden, nachdem sie dieselben untersucht
hätten. 631. | 2,667 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_479 | 386 |
7207-8-9 | Gutenberg | 7,550 | Aus den Zeiten her, in welchen Menschen daran gewöhnt waren, an
den Besitz der unbedingten Wahrheit zu glauben, stammt ein tiefes
Missbehagen an allen skeptischen und relativistischen Stellungen zu
irgendwelchen Fragen der Erkenntniss; man zieht meistens vor, sich
einer Ueberzeugung, welche Personen von Autorität haben (Väter,
Freunde, Lehrer, Fürsten), auf Gnade oder Ungnade zu ergeben, und hat,
wenn man diess nicht thut, eine Art von Gewissensbissen. Dieser Hang
ist ganz begreiflich und seine Folgen geben kein Recht zu heftigen
Vorwürfen gegen die Entwickelung der menschlichen Vernunft. Allmählich
muss aber der wissenschaftliche Geist im Menschen jene Tugend der
vorsichtigen Enthaltung zeitigen, jene weise Mässigung, welche im
Gebiet des praktischen Lebens bekannter ist, als im Gebiet des
theoretischen Lebens, und welche zum Beispiel Goethe im Antonio
dargestellt hat, als einen Gegenstand der Erbitterung für alle
Tasso's, das heisst für die unwissenschaftlichen und zugleich
thatlosen Naturen. Der Mensch der Ueberzeugung hat in sich ein Recht,
jenen Menschen des vorsichtigen Denkens, den theoretischen Antonio,
nicht zu begreifen; der wissenschaftliche Mensch hinwiederum hat kein
Recht, jenen desshalb zu tadeln, er übersieht ihn und weiss ausserdem,
im bestimmten Falle, dass jener sich an ihn noch anklammern wird, so
wie es Tasso zuletzt mit Antonio thut. 632. Wer nicht durch verschiedene Ueberzeugungen hindurchgegangen ist,
sondern in dem Glauben hängen bleibt, in dessen Netz er sich zuerst
verfieng, ist unter allen Umständen eben wegen dieser Unwandelbarkeit
ein Vertreter zurückgebliebener Culturen; er ist gemäss diesem Mangel
an Bildung (welche immer Bildbarkeit voraussetzt) hart, unverständig,
unbelehrbar, ohne Milde, ein ewiger Verdächtiger, ein Unbedenklicher,
der zu allen Mitteln greift, seine Meinung durchzusetzen, weil er gar
nicht begreifen kann, dass es andere Meinungen geben müsse; er ist, in
solchem Betracht, vielleicht eine Kraftquelle und in allzu frei und
schlaff gewordenen Culturen sogar heilsam, aber doch nur, weil er
kräftig anreizt, ihm Widerpart zu halten: denn dabei wird das zartere
Gebilde der neuen Cultur, welche zum Kampf mit ihm gezwungen ist,
selber stark. 633. Wir sind im Wesentlichen noch dieselben Menschen, wie die des
Zeitalters der Reformation: wie sollte es auch anders sein? Aber dass
wir uns einige Mittel nicht mehr erlauben, um mit ihnen unsrer Meinung
zum Siege zu verhelfen, das hebt uns gegen jene Zeit ab und beweist,
dass wir einer höhern Cultur angehören. | 2,539 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_480 | 373 |
7207-8-9 | Gutenberg | 7,550 | Wer jetzt noch, in der
Art der Reformations-Menschen, Meinungen mit Verdächtigungen, mit
Wuthausbrüchen bekämpft und niederwirft, verräth deutlich, dass er
seine Gegner verbrannt haben würde, falls er in anderen Zeiten gelebt
hätte, und dass er zu allen Mitteln der Inquisition seine Zuflucht
genommen haben würde, wenn er als Gegner der Reformation gelebt hätte. Diese Inquisition war damals vernünftig, denn sie bedeutete nichts
Anderes, als den allgemeinen Belagerungszustand, welcher über den
ganzen Bereich der Kirche verhängt werden musste, und der, wie jeder
Belagerungszustand, zu den äussersten Mitteln berechtigte, unter der
Voraussetzung nämlich (welche wir jetzt nicht mehr mit jenen Menschen
theilen), dass man die Wahrheit, in der Kirche, habe, und um jeden
Preis mit jedem Opfer zum Heile der Menschheit bewahren müsse. Jetzt
aber giebt man Niemandem so leicht mehr zu, dass er die Wahrheit
habe: die strengen Methoden der Forschung haben genug Misstrauen und
Vorsicht verbreitet, so dass Jeder, welcher gewaltthätig in Wort
und Werk Meinungen vertritt, als ein Feind unserer jetzigen Cultur,
mindestens als ein zurückgebliebener empfunden wird. In der That:
das Pathos, dass man die Wahrheit habe, gilt jetzt sehr wenig im
Verhältniss zu jenem freilich milderen und klanglosen Pathos des
Wahrheit-Suchens, welches nicht müde wird, umzulernen und neu zu
prüfen. 634. Uebrigens ist das methodische Suchen der Wahrheit selber das Resultat
jener Zeiten, in denen die Ueberzeugungen mit einander in Fehde lagen. Wenn nicht dem Einzelnen an seiner "Wahrheit", das heisst an seinem
Rechtbehalten gelegen hätte, so gebe es überhaupt keine Methode der
Forschung; so aber, bei dem ewigen Kampfe der Ansprüche verschiedener
Einzelner auf unbedingte Wahrheit, gieng man Schritt vor Schritt
weiter, um unumstössliche Prinzipien zu finden, nach denen das Recht
der Ansprüche geprüft und der Streit geschlichtet werden könne. Zuerst entschied man nach Autoritäten, später, kritisirte man sich
gegenseitig die Wege und Mittel, mit denen die angebliche Wahrheit
gefunden worden war; dazwischen gab es eine Periode, wo man die
Consequenzen des gegnerischen Satzes zog und vielleicht sie als
schädlich und unglücklich machend erfand: woraus dann sich für
Jedermanns Urtheil ergeben sollte, dass die Ueberzeugung des Gegners
einen Irrthum enthalte. Der persönliche Kampf der Denker hat
schliesslich die Methoden so verschärft, dass wirklich Wahrheiten
entdeckt werden konnten und dass die Irrgänge früherer Methoden vor
Jedermanns Blicken blosgelegt sind. 635. | 2,557 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_481 | 373 |
7207-8-9 | Gutenberg | 7,550 | Im Ganzen sind die wissenschaftlichen Methoden mindestens ein ebenso
wichtiges Ergebniss der Forschung als irgend ein sonstiges Resultat:
denn auf der Einsicht in die Methode beruht der wissenschaftliche
Geist, und alle Resultate der Wissenschaft könnten, wenn jene Methoden
verloren giengen, ein erneutes Ueberhandnehmen des Aberglaubens und
des Unsinns nicht verhindern. Es mögen geistreiche Leute von den
Ergebnissen der Wissenschaft lernen so viel sie wollen: man merkt es
immer noch ihrem Gespräche und namentlich den Hypothesen in demselben
an, dass ihnen der wissenschaftliche Geist fehlt: sie haben nicht
jenes instinctive Misstrauen gegen die Abwege des Denkens, welches in
der Seele jedes wissenschaftlichen Menschen in Folge langer Uebung
seine Wurzeln eingeschlagen hat. Ihnen genügt es, über eine Sache
überhaupt irgendeine Hypothese zu finden, dann sind sie Feuer und
Flamme für dieselbe und meinen, damit sei es gethan. Eine Meinung
haben heisst bei ihnen schon: dafür sich fanatisiren und sie als
Ueberzeugung fürderhin sich an's Herz legen. Sie erhitzen sich bei
einer unerklärten Sache für den ersten Einfall ihres Kopfes, der einer
Erklärung derselben ähnlich sieht: woraus sich, namentlich auf dem
Gebiete der Politik, fortwährend die schlimmsten Folgen ergeben. -
Desshalb sollte jetzt Jedermann mindestens eine Wissenschaft von Grund
aus kennen gelernt haben: dann weiss er doch, was Methode heisst und
wie nöthig die äusserste Besonnenheit ist. Namentlich ist den Frauen
dieser Rath zu geben; als welche jetzt rettungslos die Opfer aller
Hypothesen sind, zumal wenn diese den Eindruck des Geistreichen,
Hinreissenden, Belebenden, Kräftigenden machen. Ja bei genauerem
Zusehen bemerkt man, dass der allergrösste Theil aller Gebildeten noch
jetzt von einem Denker Ueberzeugungen und Nichts als Ueberzeugungen
begehrt, und dass allein eine geringe Minderheit Gewissheit will. Jene
wollen stark fortgerissen werden, um dadurch selber einen Kraftzuwachs
zu erlangen; diese Wenigen haben jenes sachliche Interesse, welches
von persönlichen Vortheilen, auch von dem des erwähnten Kraftzuwachses
absieht. Auf jene bei Weitem überwiegende Classe wird überall dort
gerechnet, wo der Denker sich als Genie benimmt und bezeichnet,
also wie ein höheres Wesen drein schaut, welchem Autorität zukommt. Insofern das Genie jener Art die Glut der Ueberzeugungen unterhält
und Misstrauen gegen den vorsichtigen und bescheidenen Sinn der
Wissenschaft weckt, ist es ein Feind der Wahrheit und wenn es sich
auch noch so sehr als deren Freier glauben sollte. 636. | 2,564 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_482 | 372 |
7207-8-9 | Gutenberg | 7,550 | Es giebt freilich auch eine ganz andere Gattung der Genialität, die
der Gerechtigkeit; und ich kann mich durchaus nicht entschliessen,
dieselbe niedriger zu schätzen, als irgend eine philosophische,
politische oder künstlerische Genialität. Ihre Art ist es, mit
herzlichem Unwillen Allem aus dem Wege zu gehen, was das Urtheil über
die Dinge blendet und verwirrt; sie ist folglich eine Gegnerin der
Ueberzeugungen, denn sie will Jedem, sei es ein Belebtes oder Todtes,
Wirkliches oder Gedachtes, das Seine geben - und dazu muss sie es rein
erkennen; sie stellt daher jedes Ding in das beste Licht und geht
um dasselbe mit sorgsamem Auge herum. Zuletzt wird sie selbst ihrer
Gegnerin, der blinden oder kurzsichtigen "Ueberzeugung" (wie Männer
sie nennen: - bei Weibern heisst sie "Glaube") geben was der
Ueberzeugung ist - um der Wahrheit willen. 637. Aus den Leidenschaften wachsen die Meinungen; die Trägheit des Geistes
lässt diese zu Ueberzeugungen erstarren. - Wer sich aber freien,
rastlos lebendigen Geistes fühlt, kann durch beständigen Wechsel
diese Erstarrung verhindern; und ist er gar insgesammt ein denkender
Schneeballen, so wird er überhaupt nicht Meinungen, sondern nur
Gewissheiten und genau bemessene Wahrscheinlichkeiten in seinem
Kopfe haben. - Aber wir, die wir gemischten Wesens sind und bald vom
Feuer durchglüht, bald vom Geiste durchkältet sind, wollen vor der
Gerechtigkeit knieen, als der einzigen Göttin, welche wir über uns
anerkennen. Das Feuer in uns macht uns für gewöhnlich ungerecht und,
im Sinne jener Göttin, unrein; nie dürfen wir in diesem Zustande ihre
Hand fassen, nie liegt dann das ernste Lächeln ihres Wohlgefallens auf
uns. Wir verehren sie als die verhüllte Isis unsers Lebens; beschämt
bringen wir ihr unsern Schmerz als Busse und Opfer dar, wenn das Feuer
uns brennt und verzehren will. Der Geist ist es, der uns rettet, dass
wir nicht ganz verglühen und verkohlen; er reisst uns hier und da fort
von dem Opferaltare der Gerechtigkeit oder hüllt uns in ein Gespinnst
aus Asbest. Vom Feuer erlöst, schreiten wir dann, durch den Geist
getrieben von Meinung zu Meinung, durch den Wechsel der Parteien, als
edle Verräther aller Dinge, die überhaupt verrathen werden können -
und dennoch ohne ein Gefühl von Schuld. 638. Der Wanderer. - Wer nur einigermaassen zur Freiheit der Vernunft
gekommen ist, kann sich auf Erden nicht anders fühlen, denn als
Wanderer, - wenn auch nicht als Reisender nach einem letzten Ziele:
denn dieses giebt es nicht. | 2,487 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_483 | 393 |
7207-8-9 | Gutenberg | 7,550 | Wohl aber will er zusehen und die Augen
dafür offen haben, was Alles in der Welt eigentlich vorgeht; desshalb
darf er sein Herz nicht allzufest an alles Einzelne anhängen; es muss
in ihm selber etwas Wanderndes sein, das seine Freude an dem Wechsel
und der Vergänglichkeit habe. Freilich werden einem solchen Menschen
böse Nächte kommen, wo er müde ist und das Thor der Stadt, welche ihm
Rast bieten sollte, verschlossen findet; vielleicht, dass noch dazu,
wie im Orient, die Wüste bis an das Thor reicht, dass die Raubthiere
bald ferner bald näher her heulen, dass ein starker Wind sich erhebt,
dass Räuber ihm seine Zugthiere wegführen. Dann sinkt für ihn wohl die
schreckliche Nacht wie eine zweite Wüste auf die Wüste, und sein Herz
wird des Wanderns müde. Geht ihm dann die Morgensonne auf, glühend wie
eine Gottheit des Zornes, öffnet sich die Stadt, so sieht er in den
Gesichtern der hier Hausenden vielleicht noch mehr Wüste, Schmutz,
Trug, Unsicherheit, als vor den Thoren - und der Tag ist fast
schlimmer, als die Nacht. So mag es wohl einmal dem Wanderer ergehen;
aber dann kommen, als Entgelt, die wonnevollen Morgen anderer Gegenden
und Tage, wo er schon im Grauen des Lichtes die Musenschwärme im Nebel
des Gebirges nahe an sich vorübertanzen sieht, wo ihm nachher, wenn
er still, in dem Gleichmaass der Vormittagsseele, unter Bäumen sich
ergeht, aus deren Wipfeln und Laubverstecken heraus lauter gute und
helle Dinge zugeworfen werden, die Geschenke aller jener freien
Geister, die in Berg, Wald und Einsamkeit zu Hause sind und welche,
gleich ihm, in ihrer bald fröhlichen bald nachdenklichen Weise,
Wanderer und Philosophen sind. Geboren aus den Geheimnissen der Frühe,
sinnen sie darüber nach, wie der Tag zwischen dem zehnten und zwölften
Glockenschlage ein so reines, durchleuchtetes, verklärt-heiteres
Gesicht haben könne: - sie suchen die Philosophie des Vormittages. Unter Freunden. Ein Nachspiel. 1. Schön ist's, mit einander schweigen,
Schöner, mit einander lachen, -
Unter seidenem Himmels-Tuche
Hingelehnt zu Moos und Buche
Lieblich laut mit Freunden lachen
Und sich weisse Zähne zeigen. Macht' ich's gut, so woll'n wir schweigen;
Macht' ich's schlimm -, so woll'n wir lachen
Und es immer schlimmer machen, Schlimmer machen,
schlimmer lachen, Bis wir in die Grube steigen. Freunde! ja! So soll's geschehn? -
Amen! Und auf Wiedersehn! 2. | 2,401 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_484 | 378 |
7207-8-9 | Gutenberg | 7,550 | Kein Entschuld'gen! Kein Verzeihen! Gönnt ihr Frohen, Herzens-Freien
Diesem unvernünft'gen Buche
Ohr und Herz und Unterkunft! Glaubt mir, Freunde, nicht zum Fluche
Ward mir meine Unvernunft! Was ich finde, was ich suche -
Stand das je in einem Buche? Ehrt in mir die Narren-Zunft! Lernt aus diesem Narrenbuche,
Wie Vernunft kommt - "zur Vernunft"! Also, Freunde, soll's geschehn? -
Amen! Und auf Wiedersehn! Thus, we usually do not
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which is only about 4% of the present number of computer users. | 2,158 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_485 | 359 |
7207-8-9 | Gutenberg | 7,550 | We need your donations more than ever! As of February, 2002, contributions are being solicited from people
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6640-0-1 | Gutenberg | 9,983 | If you are not located in the United States, you
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using this eBook. Title: Märchen-Almanach auf das Jahr 1828
Author: Wilhelm Hauff
Release Date: January 9, 2003 [eBook #6640]
[Most recently updated: July 31, 2021]
Language: German
Character set encoding: UTF-8
Produced by: Delphine Lettau
*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK MÄRCHEN-ALMANACH AUF DAS JAHR 1828 ***
Märchen-Almanach auf das Jahr 1828
Wilhelm Hauff
Inhalt
Das Wirtshaus im Spessart (Rahmenerzählung)
Die Sage vom Hirschgulden
Das kalte Herz I
Saids Schicksale
Die Höhle von Steenfoll—Eine schottländische Sage
Das kalte Herz II
Das Wirtshaus im Spessart
Vor vielen Jahren, als im Spessart die Wege noch schlecht und nicht so
häufig als jetzt befahren waren, zogen zwei junge Burschen durch diesen
Wald. Der eine mochte achtzehn Jahre alt sein und war ein
Zirkelschmied, der andere, ein Goldarbeiter, konnte nach seinem
Aussehen kaum sechzehn Jahre haben und tat wohl jetzt eben seine erste
Reise in die Welt. Der Abend war schon heraufgekommen, und die Schatten
der riesengroßen Fichten und Buchen verfinsterten den schmalen Weg, auf
dem die beiden wanderten. Der Zirkelschmied schritt wacker vorwärts und
pfiff ein Lied, schwatzte auch zuweilen mit Munter, seinem Hund, und
schien sich nicht viel darum zu kümmern, daß die Nacht nicht mehr fern,
desto ferner aber die nächste Herberge sei; aber Felix, der
Goldarbeiter, sah sich oft ängstlich um. Wenn der Wind durch die Bäume
rauschte, so war es ihm, als höre er Tritte hinter sich; wenn das
Gesträuch am Wege hin und her wankte und sich teilte, glaubte er
Gesichter hinter den Büschen lauern zu sehen. Der junge Goldschmied war sonst nicht abergläubisch oder mutlos. In
Würzburg, wo er gelernt hatte, galt er unter seinen Kameraden für einen
unerschrockenen Burschen, dem das Herz am rechten Fleck sitze; aber
heute war ihm doch sonderbar zumute. Man hatte ihm vom Spessart so
mancherlei erzählt; eine große Räuberbande sollte dort ihr Wesen
treiben, viele Reisende waren in den letzten Wochen geplündert worden,
ja man sprach sogar von einigen greulichen Mordgeschichten, die vor
nicht langer Zeit dort vorgefallen seien. Da war ihm nun doch etwas
bange für sein Leben, denn sie waren ja nur zu zweit und konnten gegen
bewaffnete Räuber gar wenig ausrichten. | 2,381 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_489 | 378 |
6640-0-1 | Gutenberg | 9,983 | Oft gereute es ihn, daß er dem
Zirkelschmied gefolgt war, noch eine Station zu gehen, statt am Eingang
des Waldes über Nacht zu bleiben. „Und wenn ich heute nacht totgeschlagen werde und um Leben und alles
komme, was ich bei mir habe, so ist’s nur deine Schuld, Zirkelschmied;
denn du hast mich in den schrecklichen Wald hereingeschwätzt.“
„Sei kein Hasenfuß“, erwiderte der andere, „ein rechter
Handwerksbursche soll sich eigentlich gar nicht fürchten. Und was
meinst du denn? Meinst du, die Herren Räuber im Spessart werden uns die
Ehre antun, uns zu überfallen und totzuschlagen? Warum sollten sie sich
diese Mühe geben? Etwa wegen meines Sonntagsrocks, den ich im Ranzen
habe, oder wegen des Zehrpfennigs von einem Taler? Da muß man schon mit
Vieren fahren, in Gold und Seide gekleidet sein, wenn sie es der Mühe
wert finden, einen totzuschlagen.“
„Halt! Hörst du nicht etwas pfeifen im Wald?“ rief Felix ängstlich. „Das war der Wind, der um die Bäume pfeift, geh nur rasch vorwärts,
lange kann es nicht mehr dauern.“
„Ja, du hast gut reden wegen des Totschlagens“, fuhr der Goldarbeiter
fort. „Dich fragen sie, was du hast, durchsuchen dich und nehmen dir
allenfalls den Sonntagsrock und den Gulden und dreißig Kreuzer; aber
mich, mich schlagen sie gleich anfangs tot, nur weil ich Gold und
Geschmeide mit mir führe. „
„Ei, warum sollten sie dich totschlagen deswegen? Kämen jetzt vier oder
fünf dort aus dem Busch mit geladenen Büchsen, die sie auf uns
anlegten, und fragten ganz höflich: „Ihr Herren, was habt ihr bei
euch?“ und „Machet es euch bequem, wir wollen’s euch tragen helfen“,
und was dergleichen anmutige Redensarten sind; da wärest du wohl kein
Tor, machtest dein Ränzchen auf und legtest die gelbe Weste, den blauen
Rock, zwei Hemden und alle Halsbänder und Armbänder und Kämme, und was
du sonst noch hast, höflich auf die Erde und bedanktest dich fürs
Leben, das sie dir schenkten.“
„So, meinst du“, entgegnete Felix sehr eifrig, „den Schmuck für meine
Frau Pate, die vornehme Gräfin, soll ich hergeben? Eher mein Leben;
eher laß ich mich in kleine Stücke zerschneiden. | 2,096 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_490 | 346 |
6640-0-1 | Gutenberg | 9,983 | Hat sie nicht
Mutterstelle an mir vertreten und seit meinem zehnten Jahr mich
aufziehen lassen? Hat sie nicht die Lehre für mich bezahlt und Kleider
und alles? Und jetzt, da ich sie besuchen darf und etwas mitbringe von
meiner eigenen Arbeit, das sie beim Meister bestellt hat, jetzt, da ich
ihr an dem schönen Geschmeide zeigen könnte, was ich gelernt habe,
jetzt soll ich das alles hergeben und die gelbe Weste dazu, die ich
auch von ihr habe? Nein, lieber sterben, als daß ich den schlechten
Menschen meiner Frau Pate Geschmeide gebe!“
„Sei kein Narr!“ rief der Zirkelschmied. „Wenn sie dich totschlagen,
bekommt die Frau Gräfin den Schmuck dennoch nicht. Drum ist es besser,
du gibst ihn her und erhältst dein Leben.“
Felix antwortete nicht; die Nacht war jetzt ganz heraufgekommen, und
bei dem ungewissen Schein des Neumonds konnte man kaum auf fünf
Schritte vor sich sehen; er wurde immer ängstlicher, hielt sich näher
an seinen Kameraden und war mit sich uneinig, ob er seine Reden und
Beweise billigen sollte oder nicht. Noch eine Stunde beinahe waren sie
fortgegangen, da erblickten sie in der Ferne ein Licht. Der junge
Goldschmied meinte aber, man dürfe nicht trauen, vielleicht könnte es
ein Räuberhaus sein, aber der Zirkelschmied belehrte ihn, daß die
Räuber ihre Häuser oder Höhlen unter der Erde haben, und dies müsse das
Wirtshaus sein, das ihnen ein Mann am Eingang des Waldes beschrieben. Es war ein langes, aber niedriges Haus, ein Karren stand davor, und
nebenan im Stalle hörte man Pferde wiehern. Der Zirkelschmied winkte
seinen Gesellen an ein Fenster, dessen Laden geöffnet waren. Sie
konnten, wenn sie sich auf die Zehen stellten, die Stube übersehen. Am
Ofen in einem Armstuhl schlief ein Mann, der seiner Kleidung nach ein
Fuhrmann und wohl auch der Herr des Karrens vor der Türe sein konnte. An der andern Seite des Ofens saßen ein Weib und ein Mädchen und
spannen; hinter dem Tisch an der Wand saß ein Mensch, der ein Glas Wein
vor sich, den Kopf in die Hände gestützt hatte, so daß sie sein Gesicht
nicht sehen konnten. Der Zirkelschmied aber wollte aus seiner Kleidung
bemerken, daß es ein vornehmer Herr sein müsse. Als sie so noch auf der Lauer standen, schlug ein Hund im Hause an. Munter, des Zirkelschmieds Hund, antwortete, und eine Magd erschien in
der Türe und schaute nach den Fremden heraus. | 2,336 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_491 | 393 |
6640-0-1 | Gutenberg | 9,983 | Man versprach, ihnen Nachtessen und Betten geben zu können; sie traten
ein und legten die schweren Bündel, Stock und Hut in die Ecke und
setzten sich zu dem Herrn am Tische. Dieser richtete sich bei ihrem
Gruße auf, und sie erblickten einen feinen jungen Mann, der ihnen
freundlich für ihren Gruß dankte. „Ihr seid spät auf der Bahn“, sagte er, „habt Ihr Euch nicht
gefürchtet, in so dunkler Nacht durch den Spessart zu reisen? Ich für
meinen Teil habe lieber mein Pferd in dieser Schenke eingestellt, als
daß ich nur noch eine Stunde geritten wäre.“
„Da habt Ihr allerdings recht gehabt, Herr!“ erwiderte der
Zirkelschmied. „Der Hufschlag eines schönen Pferdes ist Musik in den
Ohren dieses Gesindels und lockt sie auf eine Stunde weit; aber wenn
ein paar arme Burschen wie wir durch den Wald schleichen, Leute,
welchen die Räuber eher selbst etwas schenken könnten, da heben sie
keinen Fuß auf!“
„Das ist wohl wahr“, entgegnete der Fuhrmann, der, durch die Ankunft
der Fremden erweckt, auch an den Tisch getreten war, „einem armen Mann
können sie nicht viel anhaben seines Geldes willen; aber man hat
Beispiele, daß sie arme Leute nur aus Mordlust niederstießen oder sie
zwangen, unter die Bande zu treten und als Räuber zu dienen.“
„Nun, wenn es so aussieht mit diesen Leuten im Wald“, bemerkte der
junge Goldschmied, „so wird uns wahrhaftig auch dieses Haus wenig
Schutz gewähren. Wir sind nur zu viert und mit dem Hausknecht fünf;
wenn es ihnen einfällt, zu zehnt uns zu überfallen, was können wir
gegen sie? Und überdies“, setzte er leise und flüsternd hinzu, „wer
steht uns dafür, daß diese Wirtsleute ehrlich sind?“
„Da hat es gute Wege“, erwiderte der Fuhrmann. „Ich kenne diese
Wirtschaft seit mehr als zehn Jahren und habe nie etwas Unrechtes darin
verspürt. Der Mann ist selten zu Hause, man sagt, er treibe Weinhandel;
die Frau aber ist eine stille Frau, die niemand Böses will; nein,
dieser tut Ihr unrecht, Herr!“
„Und doch“, nahm der junge vornehme Herr das Wort, „doch möchte ich
nicht so ganz verwerfen, was er gesagt. Erinnert Euch an die Gerüchte
von jenen Leuten, die in diesem Wald auf einmal spurlos verschwunden
sind. | 2,147 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_492 | 360 |
6640-0-1 | Gutenberg | 9,983 | Mehrere davon hatten vorher gesagt, sie würden in diesem
Wirtshaus übernachten, und als man nach zwei oder drei Wochen nichts
von ihnen vernahm, ihrem Weg nachforschte und auch hier im Wirtshaus
nachfragte, da soll nun keiner gesehen worden sein; verdächtig ist es
doch.“
„Weiß Gott“, rief der Zirkelschmied, „da handelten wir ja vernünftiger,
wenn wir unter dem nächsten Baum unser Nachtlager nähmen als hier in
diesen vier Wänden, wo an kein Entspringen zu denken ist, wenn sie
einmal die Türe besetzt haben; denn die Fenster sind vergittert.“
Sie waren alle durch diese Reden nachdenklich geworden. Es schien gar
nicht unwahrscheinlich, daß die Schenke im Wald, sei es gezwungen oder
freiwillig, im Einverständnis mit den Räubern war. Die Nacht schien
ihnen daher gefährlich; denn wie manche Sage hatten sie gehört von
Wanderern, die man im Schlaf überfallen und gemordet hatte; und sollte
es auch nicht an ihr Leben gehen, so war doch ein Teil der Gäste in der
Waldschenke von so beschränkten Mitteln, daß ihnen ein Raub an einem
Teil ihrer Habe sehr empfindlich gewesen wäre. Sie schauten
verdrießlich und düster in ihre Gläser. Der junge Herr wünschte, auf
seinem Roß durch ein sicheres, offenes Tal zu traben, der Zirkelschmied
wünschte sich zwölf seiner handfesten Kameraden, mit Knütteln
bewaffnet, als Leibgarde, Felix, der Goldarbeiter, trug bange mehr um
den Schmuck seiner Wohltäterin als um sein Leben; der Fuhrmann aber,
der einigemal den Rauch seiner Pfeife nachdenklich vor sich
hingeblasen, sprach leise: „Ihr Herren, im Schlaf wenigstens sollen sie
uns nicht überfallen. Ich für meinen Teil will, wenn nur noch einer mit
mir hält, die ganze Nacht wach bleiben.“
„Das will ich auch“—„ich auch“, riefen die drei übrigen; „schlafen
könnte ich doch nicht“, setzte der junge Herr hinzu. „Nun, so wollen wir etwas treiben, daß wir wach bleiben“, sagte der
Fuhrmann, „ich denke, weil wir doch gerade zu viert sind, könnten wir
Karten spielen, das hält wach und vertreibt die Zeit.“
„Ich spiele niemals Karten“, erwiderte der junge Herr, „darum kann ich
wenigstens nicht mithalten.“
„Und ich kenne die Karten gar nicht“, setzte Felix hinzu. „Was können wir denn aber anfangen, wenn wir nicht spielen“, sprach der
Zirkelschmied, „singen? Das geht nicht und würde nur das Gesindel
herbeilocken; einander Rätsel und Sprüche aufgeben zum Erraten? Das
dauert auch nicht lange. | 2,388 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_493 | 378 |
6640-0-1 | Gutenberg | 9,983 | Wißt ihr was? Wie wäre es, wenn wir uns etwas
erzählten? Lustig oder ernsthaft, wahr oder erdacht, es hält doch wach
und vertreibt die Zeit so gut wie Kartenspiel.“
„Ich bin’s zufrieden, wenn Ihr anfangen wolltet“, sagte der junge Herr
lächelnd. „Ihr Herren vom Handwerk kommt in allen Ländern herum und
könnet schon etwas erzählen; hat doch jede Stadt ihre eigenen Sagen und
Geschichten.“
„Ja, ja, man hört Manches“, erwiderte der Zirkelschmied, „dafür
studieren Herren wie Ihr fleißig in den Büchern, wo gar wundervolle
Sachen geschrieben stehen; da wüßtet Ihr noch Klügeres und Schöneres zu
erzählen als ein schlichter Handwerksbursche wie unsereiner. Mich müßte
alles trügen, oder Ihr seid ein Student, ein Gelehrter.“
„Ein Gelehrter nicht“, lächelte der junge Herr, „wohl aber ein Student
und will in den Ferien nach der Heimat reisen; doch was in unsern
Büchern steht, eignet sich weniger zum Erzählen, als was Ihr hier und
dort gehöret. Darum hebet immer an, wenn anders diese da gerne
zuhören!“
„Noch höher als Kartenspiel“, erwiderte der Fuhrmann, „gilt bei mir,
wenn einer eine schöne Geschichte erzählt. Oft fahre ich auf der
Landstraße lieber im elendesten Schritt und höre einem zu, der
nebenhergeht und etwas Schönes erzählt; manchen habe ich schon im
schlechten Wetter auf den Karren genommen, unter der Bedingung, daß er
etwas erzähle, und einen Kameraden von mir habe ich, glaube ich, nur
deswegen so lieb, weil er Geschichten weiß, die sieben Stunden lang und
länger dauern.“
„So geht es auch mir“, setzte der junge Goldarbeiter hinzu, „erzählen
höre ich für mein Leben gerne, und mein Meister in Würzburg mußte mir
die Bücher ordentlich verbieten, daß ich nicht zuviel Geschichten las
und die Arbeit darüber vernachlässigte. Darum gib nur etwas Schönes
preis, Zirkelschmied, ich weiß, du könntest erzählen von jetzt an, bis
es Tag wird, ehe dein Vorrat ausginge.“
Der Zirkelschmied trank, um sich zu seinem Vortrag zu stärken, und hub
alsdann also an:
Die Sage vom Hirschgulden
In Oberschwaben stehen noch heutzutage die Mauern einer Burg, die einst
die stattlichste der Gegend war, Hohenzollern. Sie erhebt sich auf
einem runden, steilen Berg, und von ihrer schroffen Höhe sieht man weit
und frei ins Land. So weit und noch viel weiter, als man diese Burg im
Land umher sehen kann, ward das tapfere Geschlecht der Zollern
gefürchtet, und ihren Namen kannte und ehrte man in allen deutschen
Landen. | 2,430 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_494 | 390 |
6640-0-1 | Gutenberg | 9,983 | Nun lebte vor vielen hundert Jahren, ich glaube, das
Schießpulver war noch nicht einmal erfunden, auf dieser Feste ein
Zollern, der von Natur ein sonderbarer Mensch war. Man konnte nicht
sagen, daß er seine Untertanen hart gedrückt oder mit seinen Nachbarn
in Fehde gelebt hätte, aber dennoch traute ihm niemand über den Weg ob
seinem finsteren Auge, seiner krausen Stirne und seinem einsilbigen,
mürrischen Wesen. Es gab wenige Leute außer dem Schloßgesinde, die ihn
je hatten ordentlich sprechen hören wie andere Menschen, denn wenn er
durch das Tal ritt, einer ihm begegnete und schnell die Mütze abnahm,
sich hinstellte und sagte: „Guten Abend, Herr Graf, heute ist es schön
Wetter“, so antwortete er „dummes Zeug“, oder „weiß schon“. Hatte aber
einer etwas nicht recht gemacht für ihn oder seine Rosse, begegnete ihm
ein Bauer im Hohlweg mit dem Karren, daß er auf seinem Rappen nicht
schnell genug vorüberkommen konnte, so entlud sich sein Ingrimm in
einem Donner von Flüchen; doch hat man nie gehört, daß er bei solchen
Gelegenheiten einen Bauern geschlagen hätte. In der Gegend aber hieß
man ihn „das böse Wetter von Zollern“. „Das böse Wetter von Zollern“ hatte eine Frau, die der Widerpart von
ihm und so mild und freundlich war wie ein Maitag. Oft hatte sie Leute,
die ihr Eheherr durch harte Reden beleidigt hatte, durch freundliche
Worte und ihre gütigen Blicke wieder mit ihm ausgesöhnt; den Armen aber
tat sie Gutes, wo sie konnte, und ließ es sich nicht verdrießen, sogar
im heißen Sommer oder im schrecklichsten Schneegestöber den steilen
Berg herabzugehen, um arme Leute oder kranke Kinder zu besuchen. Begegnete ihr auf solchen Wegen der Graf, so sagte er mürrisch: „Weiß
schon, dummes Zeug“. Manch andere Frau hätte dieses mürrische Wesen abgeschreckt oder
eingeschüchtert; die eine hätte gedacht, was gehen mich die armen Leute
an, wenn mein Herr sie für dummes Zeug hält; die andere hätte
vielleicht aus Stolz oder Unmut die Liebe gegen einen so mürrischen
Gemahl erkalten lassen; doch nicht also Frau Hedwig von Zollern. Die
liebte ihn nach wie vor, suchte mit ihrer schönen weißen Hand die
Falten von seiner braunen Stirn zu streichen und liebte und ehrte ihn;
als aber nach Jahr und Tag der Himmel ein junges Gräflein zum Angebinde
bescherte, liebte sie ihren Gatten nicht minder, indem sie ihrem
Söhnlein dennoch alle Pflichten einer zärtlichen Mutter erzeigte. | 2,388 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_495 | 389 |
6640-0-1 | Gutenberg | 9,983 | Drei
Jahre lang vergingen, und der Graf von Zollern sah seinen Sohn nur alle
Sonntage nach Tische, wo er ihm von der Amme dargereicht wurde. Er
blickte ihn dann unverwandt an, brummte etwas in den Bart und gab ihn
der Amme zurück. Als jedoch der Kleine „Vater“ sagen konnte, schenkte
der Graf der Amme einen Gulden—dem Kinde machte er kein fröhlicher
Gesicht. An seinem dritten Geburtstag aber ließ der Graf seinem Sohn die ersten
Höslein anziehen und kleidete ihn prächtig in Samt und Seide; dann
befahl er, seinen Rappen und ein anderes schönes Pferd vorzufahren,
nahm den Kleinen auf den Arm und fing an, mit klirrenden Sporen die
Wendeltreppe hinabzusteigen. Frau Hedwig erstaunte, als sie dies sah. Sie war sonst gewohnt, nicht zu fragen, wo aus und wann heim, wenn er
ausritt; aber diesmal öffnete die Sorge um ihr Kind ihre Lippen. „Wollet Ihr ausreiten, Herr Graf?“ sprach sie.—Er gab keine Antwort. „Wozu denn den Kleinen?“ fragte sie weiter. „Kuno wird mit mir
spazierengehen.“
„Weiß schon“, entgegnete das böse Wetter von Zollern und ging weiter;
und als er im Hof stand, nahm er den Knaben bei einem Füßlein, hob ihn
schnell in den Sattel, band ihn mit einem Tuch fest, schwang sich
selbst auf den Rappen und trabte zum Burgtore hinaus, indem er den
Zügel vom Rosse seines Söhnleins in die Hand nahm. Dem Kleinen schien es anfangs großes Vergnügen zu gewähren, mit dem
Vater den Berg hinabzureiten. Er klopfte in die Hände, er lachte und
schüttelte sein Rößlein an den Mähnen, damit es schneller laufen
sollte, und der Graf hatte seine Freude daran, rief auch einigemal:
„Kannst ein wackerer Bursche werden!“
Als sie aber in die Ebene angekommen waren und der Graf statt Schritt
Trab anschlug, da vergingen dem Kleinen die Sinne; er bat anfangs ganz
bescheiden, sein Vater möchte langsamer reiten, als es aber immer
schneller ging und der heftige Wind dem armen Kuno beinahe den Atem
nahm, da fing er an, still zu weinen, wurde immer ungeduldiger und
schrie am Ende aus Leibeskräften. „Weiß schon, dummes Zeug!“ fing jetzt sein Vater an. | 2,052 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_496 | 345 |
6640-0-1 | Gutenberg | 9,983 | „Heult der Junge
beim ersten Ritt; schweig oder—“ Doch den Augenblick, als er mit einem
Fluche sein Söhnlein aufmuntern wollte, bäumte sich sein Roß; der Zügel
des andern entfiel seiner Hand, er arbeitete sich ab, Meister seines
Tieres zu werden, und als er es zur Ruhe gebracht hatte und sich
ängstlich nach seinem Kind umsah, erblickte er dessen Pferd, wie es
ledig und ohne den kleinen Reiter der Burg zulief. So ein harter, finsterer Mann der Graf von Zollern sonst war, so
überwand doch dieser Anblick sein Herz; er glaubte nicht anders, als
sein Kind liege zerschmettert am Weg; er raufte sich den Bart und
jammerte. Aber nirgends, so weit er zurückritt, sah er eine Spur von
dem Knaben; schon stellte er sich vor, das scheu gewordene Roß habe ihn
in einen Wassergraben geschleudert, der neben dem Wege lag. Da hörte er
von einer Kinderstimme hinter sich seinen Namen rufen, und als er sich
flugs umwandte—sieh, da saß ein altes Weib unweit der Straße unter
einem Baum und wiegte den Kleinen auf ihren Knien. „Wie kommst du zu dem Knaben, alte Hexe?“ schrie der Graf in großem
Zorn, „sogleich bringe ihn heran zu mir!“
„Nicht so rasch, nicht so rasch, Euer Gnaden!“ lachte die alte,
häßliche Frau. „Könntet sonst auch ein Unglück nehmen auf Eurem stolzen
Roß! Wie ich zu dem Junkerlein kam, fraget Ihr? Nun, sein Pferd ging
durch, und er hing nur noch mit einem Füßchen angebunden, und das Haar
streifte fast am Boden; da habe ich ihn aufgefangen in meiner Schürze.“
„Weiß schon!“ rief der Herr von Zollern unmutig, „gib ihn jetzt her;
ich kann nicht wohl absteigen; das Roß ist wild und könnte ihn
schlagen.“
„Schenket mir einen Hirschgulden!“ erwiderte die Frau, demütig bittend. „Dummes Zeug!“ schrie der Graf und warf ihr einige Pfennige unter den
Baum. „Nein, einen Hirschgulden könnte ich gut brauchen“, fuhr sie fort. „Was, Hirschgulden! Bist selbst keinen Hirschgulden wert“, eiferte der
Graf. | 1,911 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_497 | 321 |
6640-0-1 | Gutenberg | 9,983 | „Schnell das Kind her, oder ich hetze die Hunde auf dich!“
„So? Bin ich keinen Hirschgulden wert“, antwortete jene mit höhnischem
Lächeln, „na, man wird ja sehen, was von Eurem Erbe einen Hirschgulden
wert ist; aber da, die Pfennige behaltet für Euch!“ Indem sie dies
sagte, warf sie die drei kleinen Kupferstücke dem Grafen zu, und so gut
konnte die Alte werfen, daß alle drei ganz gerade in den kleinen
Lederbeutel fielen, den der Graf noch in der Hand hielt. Der Graf wußte einige Minuten vor Staunen über diese wunderbare
Geschicklichkeit kein Wort hervorzubringen; endlich aber löste sich
sein Staunen in Wut auf. Er faßte seine Büchse, spannte den Hahn und
zielte dann auf die Alte. Diese herzte und küßte ganz ruhig den kleinen
Grafen, indem sie ihn so vor sich hin hielt, daß ihn die Kugel zuerst
hätte treffen müssen. „Bist ein guter, frommer Junge“, sprach sie,
„bleibe nur so, und es wird dir nicht fehlen.“ Dann ließ sie ihn los,
dräute dem Grafen mit dem Finger: „Zollern, Zollern, den Hirschgulden
bleibt Ihr mir noch schuldig“, rief sie und schlich, unbekümmert um die
Schimpfworte des Grafen, an einem Buchsbaumstäbchen in den Wald. Konrad, der Knappe, aber stieg zitternd von seinem Roß, hob das
Herrlein in den Sattel, schwang sich hinter ihm auf und ritt seinem
Gebieter nach, den Schloßberg hinauf. Es war dies das erste- und letztemal gewesen, daß das böse Wetter von
Zollern sein Söhnlein mitnahm zum Spazierenreiten; denn er hielt ihn,
weil er geweint und geschrien, als die Pferde im Trab gingen, für einen
weichlichen Jungen, aus dem nicht viel Gutes zu machen sei, sah ihn nur
mit Unlust an, und so oft der Knabe, der seinen Vater herzlich liebte,
schmeichelnd und freundlich zu seinen Knien kam, winkte er ihm,
fortzugehen und rief: „Weiß schon, dummes Zeug!“ Frau Hedwig hatte alle
bösen Launen ihres Gemahls gerne getragen; aber dieses unfreundliche
Benehmen gegen das unschuldige Kind kränkte sie tief; sie erkrankte
mehrere Male aus Schrecken, wenn der finstere Graf den Kleinen wegen
irgendeines geringen Fehlers hart abgestraft hatte, und starb endlich
in ihren besten Jahren, von ihrem Gesinde und der ganzen Umgegend, am
schmerzlichsten aber von ihrem Sohn, beweint. | 2,203 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_498 | 361 |
6640-0-1 | Gutenberg | 9,983 | Von jetzt an wandte sich der Sinn des Grafen nur noch mehr von dem
Kleinen ab; er gab ihn seiner Amme und dem Hauskaplan zur Erziehung und
sah nicht viel nach ihm um, besonders, da er bald darauf wieder ein
reiches Fräulein heiratete, die ihm nach Jahresfrist Zwillinge, zwei
junge Gräflein, schenkte. Kunos liebster Spaziergang war zu dem alten Weiblein, die ihm einst das
Leben gerettet hatte. Sie erzählte ihm immer vieles von seiner
verstorbenen Mutter, und wieviel Gutes diese an ihr getan habe. Die
Knechte und Mägde warnten ihn oft, er solle nicht soviel zu der Frau
Feldheimerin, so hieß die Alte, gehen, weil sie nichts mehr und nichts
weniger als eine Hexe sei, aber der Kleine fürchtete sich nicht, denn
der Schloßkaplan hatte ihn gelehrt, daß es keine Hexen gebe, und daß
die Sage, daß gewisse Frauen zaubern können und auf der Ofengabel durch
die Luft und auf den Brocken reiten, erlogen sei. Zwar sah er bei der
Frau Feldheimerin allerlei Dinge, die er nicht begreifen konnte; des
Kunststückchens mit den drei Pfennigen, die sie seinem Vater so
geschickt in den Beutel geworfen, erinnerte er sich noch ganz wohl,
auch konnte sie allerhand künstliche Salben und Tränklein bereiten,
womit sie Menschen und Vieh heilte, aber das war nicht wahr, was man
ihr nachsagte, daß sie eine Wetterpfanne habe, und wenn sie diese über
das Feuer hänge, komme ein schreckliches Donnerwetter. Sie lehrte den
kleinen Grafen mancherlei, was ihm nützlich war, zum Beispiel allerlei
Mittel für kranke Pferde, einen Trank gegen die Hundswut, eine
Lockspeise für Fische und viele andere nützliche Sachen. Die Frau
Feldheimerin war auch bald seine einzige Gesellschaft, denn seine Amme
starb, und seine Stiefmutter kümmerte sich nicht um ihn. Als seine Brüder nach und nach heranwuchsen, hatte Kuno ein noch
traurigeres Leben als zuvor, sie hatten das Glück, beim ersten Ritt
nicht vom Pferd zu stürzen, und das böse Wetter von Zollern hielt sie
daher für ganz vernünftige und taugliche Jungen, liebte sie
ausschließlich, ritt alle Tage mit ihnen aus und lehrte sie alles, was
er selbst verstand. | 2,087 | gutenberg_chunkingprocessed_de-00000-of-00003-f8e581c008ccc7f2_499 | 343 |
Subsets and Splits
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